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Inhaltsverzeichnis
 
Titel
Vorwort
 
TEIL I - MYTHOS HABSBURG
WELTFIRMA MIT CHARAKTER
»DER NAME POLARISIERT NOCH«
 
TEIL II - AUFSTIEG ZUR MACHT
ANGRIFF AUF DER FLANKE
SAGENHAFTE SCHÄTZE
REHPFEFFER »RADBOT«
ZAUBER DER VOKALE
 
TEIL III - DAS EUROPÄISCHE WELTREICH
KRAFTPROTZ UND SPIELER
AN DIE GRENZEN DER MACHT
FÜRST DER SCHWERMUT
BUTTER AUF DIE DECKS
DER KRIEGSUNTERNEHMER
 
TEIL IV - SPANIEN UND ÖSTERREICH
POLSTER FÜRS PRESTIGE
VOM PECH VERFOLGT
ZITADELLE DER EINSAMKEIT
PINSELSTRICHE DER POLITIK
STURM AUF DEN »GOLDENEN APFEL«
UNTERDRÜCKUNG AN DER DONAU
 
TEIL V - VIELVÖLKERREICH UND KULTURNATION
EIN DIADEM ALS KRONE
TROMMELN FÜR DEN THRON
IMPERIUM DER IMMOBILIEN
DER VOLKSERZIEHER
BUSINESS MIT TRADITION
WALZER UNTER DER KÄSEGLOCKE
LANDGANG OHNE FORTUNE
 
TEIL VI - DIE DOPPELMONARCHIE
FREI UNTER ERLOSCHENER SONNE
DER ABENTEUERLICHE PRINZ
»WENN ER NUR KEIN KAISER WÄRE«
AUGEN VOLL KÜNSTLICHER GÜTE
BADEN OHNE HOSE
»HABEN GEWÄHLT?«
DAS ERBE DER HOFZWERGE
DIE HINTERNATIONALE
 
ZEITTAFEL
BUCHHINWEISE
AUTORENVERZEICHNIS
Danksagung
PERSONENREGISTER
Copyright

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VORWORT
Kaum ein mittelgroßer Ort in Mitteleuropa, an dem man nicht auf ihre Spuren stößt, kein Buch über die Weltgeschichte, in dem ihr Name fehlen dürfte: Unter den vielen Herrschersippen der Menschheit sind wenige in ihrer historischen Langzeitwirkung so unangefochten wie die Habsburger. Hütet diese Familie ein Geheimnis - oder hat sie einfach seit dem Mittelalter sehr viel Glück gehabt? Wie konnte ein Grafengeschlecht aus dem Aargau zur weltweit mächtigen, jahrhundertelang regierenden Dynastie aufsteigen? Genügten monarchische Zähigkeit, Geld und diplomatische Finesse, oder waltet hinter der erstaunlichen Beharrungskraft und Prachtliebe dieses Hauses gar eine Art Regenten-Gen?
In vielen Porträts und Geschichten versuchen SPIEGEL-Autoren auf den folgenden Seiten, Erklärungen für das erstaunliche Phänomen zu finden - auch mit der Hilfe namhafter Kenner wie Brigitte Hamann, Sigrid Löffler und Eberhard Straub. Kleine Seitenblicke und historische Zeugnisse beleben die Erzählung; immer wieder fangen Nahaufnahmen - von der Seeschlacht bei Lepanto bis zu den noch heute standesbewussten Wiener Hoflieferanten - etwas vom Flair des Herrschergeschlechts ein. Bereitwillig ließ sich derjenige befragen, in dessen Hand mittlerweile das ideelle Erbe der Habsburger liegt: Karl von Habsburg, Enkel des letzten Kaisers Karl I. und Sohn des Politikers Otto von Habsburg, der sich mit seiner Paneuropa-Union früh für die Integration des Kontinents einsetzte. Souverän weiß der heutige Chef des etwa 600-köpfigen Hauses zu begründen, warum es »nur logisch« ist, »dass ein Habsburger sich als Europäer versteht«.
Natürlich sollen die finsteren und fatalen Seiten der Geschichte nicht verschwiegen werden: Die Chuzpe, mit der Rudolf der Stifter im intellektuell zerrissenen, von Krieg heimgesuchten 14. Jahrhundert den Titel »Erzherzog« und entsprechende Vorrechte für die Seinen sicherte, ist Teil der wechselvollen Chronik, aber auch die üblen Erbfolgen fortgesetzter Verwandtenehen oder das kaum je von Milde geprägte Regime in Ungarn. Die geistigen Traumwelten Rudolfs II. und der geradezu verbissene Reformeifer Josephs II. gehören ebenso zum Gesamtbild wie der tragisch scheiternde Versuch des Erzherzogs Maximilian, als Kaiser von Mexiko zu regieren.
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Jahrhunderte kaiserlichen Prunks lassen die Hauptstadt Österreichs bis heute als Habsburger-Metropole erscheinen - Kaffeehauskultur und Fiaker-Nostalgie inbegriffen.
In der Summe allerdings wirkt das Porträt-Mosaik dennoch erstaunlich eindrucksvoll - vor allem wohl dank der überdauernden Kulturleistungen im Namen Habsburgs. Schlösser und Gemälde, Dichtungen und prachtvolle Musik lassen den drückenden Alltag von einst vergessen. Die schon rein physisch exorbitanten Leistungen des »letzten Ritters« Maximilian I., des Weltregenten Karl V., von dem weit über 100 000 Briefe bekannt sind, oder der gütig-energischen Maria Theresia können auch überzeugten Antimonarchisten Respekt abnötigen. Selbst das vielfach unglückliche, isolierte Leben der angeheirateten Elisabeth (»Sisi«) wird seit kurzem in einem eigenen Trakt der Wiener Hofburg museal aufbereitet.
Mehr als eine möglichst reichhaltige historische Spurensuche will dieser Band nicht anbieten: Bündige Urteile in Sachen Habsburg, wenn dergleichen überhaupt möglich sein kann, wird jeder Leser für sich finden müssen. So oder so aber begibt er sich dabei auf den Weg historischen Verstehens, das im Kern ein Nachdenken über Identität bleibt. Ob das heutige Europa von Habsburg kulturell, vielleicht sogar politisch noch etwas lernen kann, ist eine der Fragen, die sich vor solchem Hintergrund stellen. Neugier und Sachkunde dafür möchte das bunte Historien-Panorama dieses Buches vermitteln.
 
Hamburg, im Frühjahr 2010
Dietmar Pieper
Johannes Saltzwedel

Das Grabmonument Maximilians I. in der Innsbrucker Hofkirche beeindruckt mit 28 überlebensgroßen Standbildern. Die Bronzeporträts zeigen Vorfahren und Vorbilder des großen Habsburgers (historisches Foto, um 1875).
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TEIL I
MYTHOS HABSBURG

WELTFIRMA MIT CHARAKTER
Was machte Habsburg groß?
Maßgeblich für den Erfolg war wohl
die gelassen österreichische Mischung aus
Pracht und Menschlichkeit, in der Nostalgie
und Spott gleichermaßen erlaubt sind.
Von Johannes Saltzwedel
 
 
 
Ein Gedränge wie an diesem Morgen des 12. Juni 1908 hatte die Ringstraße noch nicht erlebt. Karten wurden verkauft, Tribünen füllten sich, auf Balkons prüfte man die Sicht, während 24 Militärkapellen Stimmung verbreiteten. Tausende waren angereist, so manche Familie hatte seit Mitternacht auf ihrem Ausguckposten kampiert. Schließlich säumte über eine halbe Million Menschen Wiens majestätischen Boulevard. Alle wollten miterleben, wie sich Habsburg feierte.
Fast ein Jahr war der »Kaiserhuldigungsfestzug« zum 60. Thronjubiläum des greisen Franz Joseph akribisch geplant worden; neben den Wünschen des Monarchen hatten Organisatoren und Künstler sogar Leserbriefe berücksichtigt. Nun formierte sich seit Tagesanbruch im Prater ein sieben Kilometer langer Zug aus 12000 Darstellern, der bis zum frühen Nachmittag in Glanz und Gloria den Stadtkern Wiens umrundete.
Erntewagen, Hochzeitsgruppen, Hofjagden, Winzer- und Schützentrupps aus allen Winkeln der Donaumonarchie defilierten vorbei, säuberlich choreografiert und in originalem Kostüm. Vom Salzburger Glöcknerlauf bis zur slowenischen Heimatsage reichte das üppig-exakte Panorama der Kulturen. Tschechen, Kroaten, Ruthenen, Huzulen, alle begrüßten den Kaiser in ihrer Muttersprache. »Es war eine Völkerparade, wie sie reicher und mannigfaltiger sich nicht denken lässt und wie sie sicher kein anderer Staat der Welt aufzuweisen hat«, jubelte die tonangebende »Neue Freie Presse« tags darauf und feierte patriotisch das »Gefühl der Zusammengehörigkeit«, das der dreistündige Vorbeimarsch ausgelöst habe.
Einmütigkeit inmitten der Vielfalt, so die propagandistisch-festliche Botschaft, war das Hauptverdienst des jahrhundertelangen Habsburger-Regiments. Seine wichtigsten Etappen stellte das vordere Drittel des gewaltigen Umzugs nach. Acht berittene Fanfarenbläser intonierten zum ersten Tableau: König Rudolf mit Rittern und Gefolge. Nach ihm, Habsburgs erstem Throninhaber Ende des 13. Jahrhunderts, porträtierte der Zug den Glanz des Hauses Österreich, der zeitweilig mächtigsten Dynastie Europas, in vielen bedeutenden Episoden.
Da wurde vom Kampf gegen Raubritter unter König Albrecht I. und der Grundsteinlegung des Stephansdoms durch Rudolf den Stifter erzählt. Friedrich III., Habsburgs erster Kaiser, entfaltete Herrscherpracht; Maximilian I. setzte mit der Doppelhochzeit seiner Kinder noch eins drauf. Wiens zweimalige Belagerung durch die Osmanen und die Eroberungen auf dem Balkan waren zu sehen, aber auch die Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges. Gleich in mehreren Szenen erschien Maria Theresia als gütig-energische Landesmutter.
Selbst der Siebenjährige Krieg, die Schlacht bei Aspern - einziger echter Sieg über Napoleon -, Andreas Hofers Tiroler Landsturm und das bunt-gemütliche Wien der Kongress- und Biedermeiertage bekamen ihren Auftritt; natürlich durfte der beliebte Feldmarschall Radetzky zum Schluss nicht fehlen. Zentrum der Parade aber war Prinz Eugen, Kulturmäzen und Sieger über die Türken.
Dass man ausgerechnet diesen Nicht-Habsburger besonders feierte, hätte einen Franzosen oder Engländer sicher verwundert. Doch für Bewohner des k. u. k. Reiches, ob bäuerlich oder intellektuell, war die Entscheidung plausibel. Habsburg, das war eben mehr als eine alte Dynastie angestammter Regenten oder eine Adelsfamilie mit zäher Fortune. Es war ein Mythos, eine Stimmung, ein Lebensgefühl über jede Einzelgröße hinaus. Habsburg, das bedeutete Stärke und Menschlichkeit, Kunstsinn, Toleranz und Heldenmut zugleich - wenigstens für die, die es liebten.
»Ein halb imaginäres, halb reales Ganzes« habe er entstehen lassen wollen, schrieb der Dichter Hugo von Hofmannsthal über seine »Spieloper« von 1911 namens »Der Rosenkavalier«. Vage im Wien von 1740 angesiedelt, sollte das Werk »eine ganze Stadt mit ihren Ständen … mit ihrem Zeremoniell, ihrer sozialen Stufung … mit der geahnten Nähe des großen Hofes« und »mit der immer gefühlten Nähe des Volkselementes« abbilden, ein völlig selbstverständlich aristokratisches Gebilde, das jedem seine Rolle zuweist und gerade so die Aura zeitloser Harmonie vermittelt.
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Erntewagen im Kaiserhuldigungsfestzug 1908.
Dutzende von Operetten, Hunderte von Kitschgemälden, Büchern und Filmen, Tausende von Gruppenreisen haben diese scheinbar heile Welt der Donaumonarchie ausgebeutet und tun es noch immer. Eine CD mit der einzigen Tonauf-nahme von Kaiser Franz Josephs Stimme, wenige Sekunden ödes Amtsdeutsch in leierndem Ton, umstellt von devoten Kommentaren und der unvermeidlichen Marschmusik, ist weiterhin ein begehrtes Andenken für Touristen.
Eine Familie von kontinentaler Bedeutung
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Woher dieser Erfolg? Was kann ein Fürstenhaus, das wie manches andere europäische Herrschergeschlecht durch List und Ränke, Glück und Strategie die Macht eroberte und an ihr festhielt, anderen voraushaben, dass sein Name fast schon zur rückwärtsgewandten Utopie wird?
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Wer sich in Sachen Habsburg auf die Spurensuche begibt, hat viel zu tun. Jahrhundertelange Regentschaft, leutselige und rätselhafte Charaktere, ein Stammbaum mit mehr Verästelungen, als jedes Gedächtnis fassen könnte, erst recht die endlosen territorialen Teilungen und Eroberungen, Erbgewinne, Kriegsverluste und Abspaltungen quer durch Europa, ja noch darüber hinaus, ergeben einen Faktenberg, dessen schiere Durchdringung die Kraft eines Einzelnen übersteigt. Und dennoch zeigt sich fern aller Werbebotschaften in den zahllosen Einzelheiten eine ideelle Kontur. In erster Näherung könnte sie lauten: kultivierte Superiorität, Dominanz mit Charakter.
Natürlich sind diese Eigenschaften nicht von Anfang an zu spüren. Der Aufstieg eines nach mittelalterlichen Maßstäben drittrangigen Grafenhauses zur Macht im Süden des deutschen Sprachgebiets vollzieht sich geradezu lehrbuchhaft nach den Regeln der Epoche: Heirat hier, Erbvertrag dort, diplomatischer und kriegerischer Druck stets inbegriffen. Selbst dass die Landesherren von dienstwilligen Genealogen ihre Herkunft auf antike Helden zurückführen ließen, bleibt völlig im Rahmen einer Prestigepolitik, wie sie das ganze Mittelalter hindurch nur zu gängig gewesen war.
Oder bildet die Suche nach großen Ahnen doch schon den ersten Schritt jener Verklärung, die dann im vielsinnigen Motto »A.E.I.O.V.« (gedeutet etwa mit »Austriae est imperare orbi universo« - »Österreich ist bestimmt, die Welt zu beherrschen«, bei Hofmannsthal bescheidener: »Aller Ehren ist Österreich voll«) ihren unübertroffenen Wahlspruch findet? Für den barocken Erzähler Wolfgang Helmhard von Hohberg zumindest entwickelte sich das genealogische Netz zu einer Spielwiese abenteuerlicher Phantasie.
Fest entschlossen, das Staatstragend-Lehrhafte mit farbiger Unterhaltung zu verbinden, schrieb Hohberg (1612 bis 1688), Gutsherr des kleinen Landsitzes Oberthumeritz in Niederösterreich, um 1660 ein ausuferndes Versepos unter dem programmatischen Titel »Der Habspurgische Ottobert«. Stattliche 400 Alexandriner galten darin der Tatsache, dass und wie der merowingisch geborene Ottobert - »Ein recter Stamm von unserm Erzhaus«, den Habsburgern - Nachfahre des schon bei Homer erwähnten Trojaners Antenor sei.
Die Handlung der 39 570 Verse langen Geschichtssaga war frei erfunden: Inmitten einer Unzahl von Figuren jagten einander Schiffbrüche und Liebeszauber, Schlachtgetümmel und Maskentricks wie im wildesten Ritterroman. Sogar der Erzengel Raphael musste einmal den Helden retten. Dennoch lag der Fabulierer keineswegs daneben. Hatte nicht schon Kaiser Maximilian fast 150 Jahre zuvor mit der Mythisierung angefangen, indem er bei den besten Bild- und Schriftkünstlern seines Reiches zwei Werke bestellte, die ihn symbolisch als »Weißkunig« und tadellosen Ritter »Theuerdank« feiern sollten?
Erzählen ließ sich vielerlei, auch eine erkleckliche Zahl brauchbarer Heldinnen hatte Habsburg schon aufzuweisen. Agnes (1280 bis 1364) beispielsweise, die Tochter Albrechts I., Witwe des ungarischen Königs und Schirmherrin des Klosters Königsfelden, das von ihrer Mutter als Mahnstätte für den Mord an Albrecht (1308) gestiftet worden war, lenkte jahrzehntelang weise aus dem Hintergrund das Geschick der Ihrigen. Oder Maximilians Tochter Margarete (1480 bis 1530): Die geistreiche Statthalterin der Niederlande erwarb in Mecheln großen Respekt, bereitete den künftigen Weltherrscher Karl V. samt zweien seiner Schwestern auf ihre Rollen vor und prägte so maßgeblich die Geistesart des Hauses.
Als füge jede neue Gestalt dem Bild der idealen Regentenfamilie eine neue Facette hinzu, hatten es die Habsburger verstanden, ein Pantheon der Charaktere zu bevölkern: Draufgängerisch (Rudolf I.) oder strategisch (Karl V.), glückhaft-visionär (Maximilian I.), grüblerisch verschattet (Rudolf II.) oder zäh-pragmatisch (Friedrich III.): Alle Spielarten herrscherlicher Kunst schienen vertreten. Stets blieben dabei Technik und Augenmaß der Macht gewahrt. Mochte auch der Humanist Francesco Petrarca über das plump gefälschte »Privilegium maius« Rudolf des Stifters laut loslachen - Habsburg blieb obenauf, der keck erfundene Titel »Erzherzog« setzte sich durch.
Die offenbar angeborene Lust an Kunst und Kultur, Sprachsinn und - so denn das Geld reichte - Prachtentfaltung machte aus der Dynastie sogar eine Art Ideal-Adel. Offenbar waren die Habsburger ziemlich genau jene schlagfertigen Wesen, die seit alters vom knifflig-brutalen Turnier bis zur diplomatischen Intrige jeder Herausforderung gewachsen schienen und folglich mit einigem Recht das Sagen hatten.
Längst haben Historiker enttarnt, wie geschickte Ideologie dieses familiäre Image stützte und ausbaute. Hofkapellen und Feuerwerk, Prunkmäntel und die Liturgie des Zeremoniells, alles war darauf angelegt, Habsburgs Superiorität zu stärken. Noch die legendäre Vielsprachigkeit etlicher Regenten, ihre Aufträge an Künstler von Weltruf und der erdrückende Überfluss an Schönem in Wien lassen sich durchaus als planvollselbstläuferische Propaganda buchen. Eines jedoch werden selbst hartnäckige Zweifler zugestehen müssen: Mindestens so stark, wie sie ihre Vormachtstellung zu nutzen wussten, haben die Habsburger das Bild des neuzeitlichen Regenten selbst geprägt. Gerade an ihrer familiären Bindung sind Kraft wie Grenzen dieser theatralischen Daseinsform besonders gut abzulesen.
Dass die über viele Generationen praktizierte Ehe unter engen Verwandten, ein spätestens seit Ägyptens Ptolemäern erprobtes Rezept der Machterhaltung, irgendwann genetisch üble Folgen haben musste, ließ sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich beweisen. Zu ahnen gewesen war das Problem aber schon mehrere hundert Jahre früher: nicht nur in der ausgeprägten Unterlippe und dem allzu vorstehenden Kinn vieler Sprösslinge des Kaiserhauses, sondern auch an der geistigen Grenzgängerei eines guten Teils seiner Mitglieder.
Von Johanna der Wahnsinnigen, die fast 50 Jahre bis zu ihrem Tod auf dem Schloss von Tordesillas interniert blieb, über den verkrüppelten, geistig zurückgebliebenen letzten spanischen Habsburger Karl II. schien sich die schicksalhafte Spur bis zu den spleenigen Erzherzögen um Kaiser Franz Joseph fortzusetzen. Doch selbst das ergänzte als bedauernswerte Folge langer Exponiertheit die Aura der »Casa d’Austria« um einen wichtigen Wesenszug: Hinfälligkeit auf hohem Niveau.
Wie ein Syndrom bündelt das Stichwort Habsburg so eine monarchisch geprägte Weltsicht, die sich scheinbar mühelos zwischen Opulenz und Bodenständigkeit, menschlicher Schwäche und eminenten Gaben bewegt. Österreichs Erzklassiker Franz Grillparzer, durchaus kein Hurrapatriot, legte ausgerechnet im Unruhejahr 1848 dem gefährdeten Rudolf II. die Prophezeiung in den Mund, Habsburg werde »bleiben immerdar«, weil es »einig mit dem Geist des All« sei, weil sein Haus »durch Klug und scheinbar Unklug, rasch und zögernd, / den Gang nachahmt der ewigen Natur«.
Noch weit unterhalb derart kosmischer Sympathien wirkte und wirkt der »habsburgische Mythos« auf die Gemüter. Der Triestiner Literaturwissenschaftler Claudio Magris, durch seinen Geburtsort zur Hellsicht in Sachen Österreich prädestiniert, hat schon 1963 mit der Verve des angehenden Experten eine Fülle oft widersprüchlicher Merkmale aufgelistet, die den k. u. k. Staat zum Refugium liebenswert versponnener Gemüter werden ließen. Wie wenn die Untertanen ihre Charaktere nach historischen Mustern formten, ist da ein wahrer Kosmos von Kavalieren und Käuzen versammelt, der fließend ins reale Leben überzugehen scheint.
Von Grillparzers kessem Küchenjungen Leon in der Komödie »Weh dem, der lügt« und Johann Nestroys unfreiwillig weisen Kleinbürgern bis zur Gefängnissause von Johann Strauß’ Operetten-Klassiker »Die Fledermaus«, aber auch vom eremitenhaft Rosen züchtenden Freiherrn von Risach in Adalbert Stifters Resignations-Roman »Der Nachsommer« bis zu Heimito von Doderers Amtsrat Julius Zihal, der anhand der »k. k. Dienstpragmatik« und eines Feldstechers die erleuchteten Fenster seines Hinterhofs nach ihrem Gehalt an entblößter weiblicher Haut taxiert: Nichts Menschliches scheint hier zu fehlen, sofern es nur irgendwie »Antititanentum« (Magris) ausstrahlt. Dazu gehören selbst die von Doderer unversöhnlich als »Hausmeister« etikettierten Nörgler.
Zugegeben: Wo sich noch die öffentliche Zensur in Komödienstoff und das verbale Weltgericht eines Karl Kraus zum Feuilleton-Amüsement verwandelte, da mag ironiesatte Lässigkeit auch weiterhin voller Grandezza über alle früheren Verhängnisse und jede kommende Tragik hinweggehen. Doch vom alten Syndrom Habsburg erfasst solch eine Diagnose dann doch bestenfalls den Ausschnitt geistreichen Schlendrians, gewissermaßen die Kaffeehaus-Variante.
Ein Reich, das sich einmal von den Niederlanden bis Sizilien und von der neuen Welt bis zur Ukraine erstreckte, wurde nicht bei einer Schale Braunem gewonnen, auch nicht mit der Grazie edler Lipizzanerpferde. Mochten skeptische Zeitgenossen den »Kaiserhuldigungsfestzug« von 1908 als militaristische Protzerei verdammen, rein sachlich stimmte das Bild: Ohne Waffengewalt und Machtpolitik wäre Habsburgs Ruhm undenkbar gewesen.
Das entscheidend andere, Einzigartige dieses Herrschergeschlechts hat Rainer Maria Rilke in seiner frühen Prosadichtung »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« angedeutet. Da sitzen Offiziere im Feldlager tief auf dem Balkan beieinander und fühlen sich einander verblüffend nah, »diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold«.
Seit der Epoche Maximilians I. und Karls V. ist solches Gefühl nie mehr ganz entschwunden: Lange vor den Exzessen nationalstaatlicher Absonderung hatte Habsburg ein Mitteleuropa geschaffen, das mehr war als Planspiel und Zwangsanstalt. Prinz Eugen, schrieb Hugo von Hofmannsthal in der Kriegseuphorie des Jahres 1915, habe »die Spuren vorgegraben, die unbewußt alles beste Wollen und Denken bei uns immer wieder geht, sie führen über Triest aufs Meer hinaus und führen donauabwärts« - aber das waren bloß aktuelle Expansionsrichtungen, der doch eher pflichtschuldig säbelrasselnde Dichter meinte mehr.
Er meinte ungefähr, was der greise Kaiser Franz Joseph väterlich-beschwichtigend anklingen ließ, wenn er inmitten nationalistischer Ressentiments weiterhin seine Verlautbarungen »An meine Völker« richtete. Vielleicht meinte er sogar, was ungarische Paneuropa-Aktivisten am 19. August 1989 in Gang brachten, als direkt an der Grenze Ungarns zu Österreich ein »paneuropäisches Picknick« stattfand.
Symbolisch sollte an diesem Tag ein Stacheldraht zwischen Ost und West durchtrennt werden. Am Ende hatten 680 Bürger des Ostblocks, vor allem aus der DDR, den Westen erreicht, ohne dass ein Schuss fiel - ein kräftiger Impuls hin zur politischen Wende, die die jahrzehntelange Teilung Europas beenden sollte. Präsident der Paneuropa-Union, die das »Picknick« auf österreichischer Seite organisiert hatte, war damals der CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg, ein Urgroßneffe des Kaisers Franz Joseph; seine Tochter Walburga Habsburg Douglas durchschnitt den Stacheldraht.
Als Ottos Vater, Österreichs letzter Kaiser Karl I., am 11. November 1918 auf seinen Thron verzichtete, war damit die längste Regentschaft einer Familie in Europa beendet. Nur zehn Jahre nach dem gewaltigen Wiener Festzug, der Leistung und Erbe der Habsburger feierte, hatten sich Kaisermacht und herrschaftlicher Glanz in nichts aufgelöst. Doch die Familie Habsburg, nach den Worten ihres heute 97-jährigen Nestors Otto »seit 800 Jahren Berufspolitiker« (siehe das Gespräch mit seinem Sohn Karl im folgenden Abschnitt), existiert fort, ja sie hat den Wandel der Zeiten erstaunlich gut überstanden.
Natürlich wird es kein aristokratisches Reich in katholischer Tradition mehr geben, gelenkt von kunstbegeisterten Monarchen. Natürlich sind Hoflieferanten, Ritterorden und vieles andere bestenfalls liebenswerte Anachronismen. Aber dass in dieser Weltfirma bei allem Machtbewusstsein immer wieder auch »tausendjähriges Ringen um Europa, tausendjährige Sendung durch Europa, tausendjähriger Glaube an Europa« (Hofmannsthal) mitgeschwungen haben, gibt ihrer Tradition mittlerweile ein regelrecht zukunftsweisendes Aussehen.
In einem Moment der Strenge hat Hofmannsthal im Kontrast zur »harten Übertreibung« und »Streberei« der Preußen bei den Österreichern »Genußsucht« und »Ironie bis zur Auflösung« erkennen wollen. Zugleich jedoch attestierte er seinen Landsleuten etwas Unvergleichliches: »historischen Instinkt«. Suchte jemand in diesem Sinne ein Motto für die lange, immer wieder faszinierende Geschichte Habsburgs, käme dabei vielleicht ein versöhnliches Paradox heraus wie: Alles ewig, alles vergänglich - aber alles auch nicht so tragisch.

»DER NAME POLARISIERT NOCH«
Karl von Habsburg, 48, über Hausgesetze, visionäres Rittertum und die politisch-moralische Verpflichtung seiner Familie
 
Das Gespräch führten Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel.
SPIEGEL: Herr von Habsburg, seit nun drei Jahren sind Sie offiziell der Chef des Hauses Habsburg. Was ist da Ihre Aufgabe?
HABSBURG: Zuerst muss man wohl erklären, was das Haus Habsburg ist: eine sehr große Familie. Momentan führen den Namen schätzungsweise 600 Personen. Der Chef - bislang war das meist ein Staatsoberhaupt - ist Sprecher der Familie, er kümmert sich darum, dass die Hausgesetze eingehalten werden und à jour sind.
SPIEGEL: Sie haben also ein eigenes Gesetzbuch?
HABSBURG: Stellen Sie es sich nicht so kompliziert vor. Die meisten Erbbestimmungen und Verhaltensnormen früherer Jahrhunderte sind heute, nach dem Verschwinden der Monarchie, eh überholt. Finanziell etwa ist seit der Enteignung 1918 jeder sein eigener Herr. Heute fungieren die Gesetze als Leitfaden, als Verhaltenskodex mit Richtlinien, worin natürlich die kirchliche Bindung und andere Wertvorstellungen eine Rolle spielen.
SPIEGEL: Gibt es Familientreffen?
HABSBURG: Ja. Alle paar Jahre, bei hohen Feierlichkeiten wie zur Seligsprechung meines Großvaters, machen wir das.
SPIEGEL: Könnte eigentlich auch eine Frau Chefin des Hauses werden?
HABSBURG: Theoretisch ja, wenn die Männer aussterben. Allerdings sieht es momentan nicht danach aus. Ich freue mich, dass ich meinen Sohn Ferdinand auf die Nachfolge vorbereiten kann; hätte ich keinen Sohn, dann wäre mein Neffe an der Reihe.
SPIEGEL: Und die Frauen drängen nicht auf Gleichberechtigung?
HABSBURG: Nein, aber es gibt ja auch nichts zu verteilen. Mit dem Amt ist keine wirkliche Macht verbunden.
SPIEGEL: Das liegt vor allem daran, dass die Habsburger nach dem Ersten Weltkrieg enteignet wurden; bis heute schränkt in Österreich ein Sondergesetz ihre Rechte ein. Es darf beispielsweise keiner der Familie für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidieren. Einer Ihrer Verwandten klagt jetzt dagegen.
HABSBURG: Grundrechtlich und menschenrechtlich liegt der Fall ziemlich klar, denke ich. Aber natürlich ist es letztlich weniger eine juristische, sondern eine politische Frage. Man wollte damals ein Wiederaufleben der Monarchie verhindern und das quasi mit allen Mitteln. Das wirkt bis heute nach. Ich könnte Ihnen meinen ersten Pass zeigen. Ausgestellt wurde er vom österreichischen Generalkonsulat in München, und als Sonderbestimmung steht darin: gültig für jedes Land der Welt, ausgenommen Österreich. Diese Absurdität ist zum Glück erledigt, aber andere sind es eben noch nicht.
SPIEGEL: Gibt es denn weiterhin richtige Habsburg-Hasser in Österreich?
HABSBURG: Sagen wir es so: Der Name polarisiert schon noch, für einen Habsburger ist die Welt dort relativ schwarzweiß. Für manche ist man die Kaiserliche Hoheit - aber als der Erzbischof von Wien einmal diese Wörter benutzte, gab es einen öffentlichen Aufschrei.
SPIEGEL: Schlägt da auch die traditionelle Papstbindung der Habsburger durch?
HABSBURG: Kaum. Das Verhältnis zum Papst war allerdings immer etwas Besonderes, und es gibt momentan eine echte persönliche Beziehung - schließlich hat mein Vater … SPIEGEL: … Otto von Habsburg, jetzt 98 und der älteste Sohn des letzten Kaisers der Donaumonarchie …
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Kronprinz Otto mit Eltern 1916.
HABSBURG: … seit vielen Jahrzehnten mit dem heutigen Benedikt XVI. guten Kontakt gehabt. Als Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt wurde, war ich zuerst bass erstaunt und dann natürlich sehr glücklich.
SPIEGEL: Muss ein Habsburger katholisch sein?
HABSBURG: I wo, in der Familie gibt es etliche Konfessionen. Meine Frau ist aus der Church of Scotland zum Katholizismus übergetreten, aber das war ihr freier Entschluss. Weder verlangten es die Hausgesetze noch gar mein Vater, dessen Offenheit und Liberalität ich natürlich nacheifere. SPIEGEL: Hat er Ihnen auch die Familiengeschichte nahegebracht?
HABSBURG: Ja, und noch eine Menge anderes. Das fängt schon bei den Sprachen an; er spricht ja legendär viele. Als ich klein war, haben wir uns daheim manchmal jeden Tag der Woche in einer anderen Sprache unterhalten - stellen Sie sich diese kulturelle Breitenerfahrung vor! Er brachte uns Geografie, Geschichte und Religion bei, ganz spielerisch. Auf Auslandsfahrten errieten wir um die Wette anhand der Kennzeichen, woher die Autos kamen, bis wir beispielsweise alle französischen Départements auswendig wussten. Und wenn wir durch Burgund oder Lothringen oder Katalonien fuhren, erzählte er natürlich von den großen Herzögen. So habe ich die familiären Hintergründe kennengelernt.
SPIEGEL: Klingt beneidenswert. Welchen Ihrer Vorfahren halten Sie denn für den bedeutendsten?
HABSBURG: Auf Anhieb würde ich da Philipp den Guten von Burgund nennen. Das war ein unglaublich moderner Politiker, ein weitblickender Verwaltungsreformer, der am Übergang zur Renaissance Wegweisendes für Europa getan hat. Er steht mir auch deshalb besonders nahe, weil er 1430 den Orden vom Goldenen Vlies gegründet hat, dessen Ordenssouverän ich bin.
SPIEGEL: Noch ein Amt, das Sie von Ihrem Vater übernommen haben. Was tut der Orden?
HABSBURG: Philipp der Gute gründete ihn nicht als neue Dekoration oder gar Kostümverein, sondern politisch-strategisch, als Bündnis der Herrscher Europas. Eine souveräne, also überstaatliche Organisation - undenkbar für die absolutistische Zeit! Bis heute sind etliche europäische Herrscher bei uns Mitglied, vom belgischen Monarchen bis zum Großmeister der Malteser. Wie eine heldenhafte Artus-Ritterschar sollten die Ordensbrüder für Glauben und Frieden eintreten. SPIEGEL: Und das tun Sie immer noch?
HABSBURG: Durchaus. Die Ordensregeln sind trotz aller politischen Veränderungen bis heute unverändert, das bewundere ich zutiefst.
SPIEGEL: Nun war Ihr Ordensgründer Philipp der Gute kein Habsburger im engeren Sinne. Wer aus diesen Kreisen steht Ihnen besonders nah?
HABSBURG: Auch wenn das nicht sehr originell klingen mag, ich bewundere Maria Theresia. Nicht umsonst nennt man sie Kaiserin: Sie war es, die regierte, während erst ihr Gemahl die Krone trug und dann ihr Sohn. Diese Lebensleistung als Frau, dieser breite Horizont und politische Verstand, ihre vielen Kinder, mit denen sie so liebevoll umging, überhaupt ihre Briefe, dann die echte Liebesehe mit ihrem Franz von Lothringen, der so ganz anders war, all das ist faszinierend. Allein ihr Zeitmanagement, wie sie alles bewältigte - fast unglaublich.
SPIEGEL: Spüren Sie das Erbe solcher Gestalten auch persönlich?
HABSBURG: Gewiss. Mein Vater hat immer gesagt: Ich bin ein politischer Mensch, wir sind eine politische Familie. Immerhin waren wir 800 Jahre lang Berufspolitiker, so ist es nun einmal. Und ebenso ist es nur logisch, dass ein Habsburger sich als Europäer versteht. Mein Vater war darin ein Visionär, er hat sein Paneuropäertum während des Nationalsozialismus und dann gegen den Kommunismus oft verteidigen müssen.
SPIEGEL: Klingt ja gut. Aber der Europäische Sanct Georgs-Orden, dessen Großmeister Sie sind, unterstützt laut eigener Darstellung speziell »den übernationalen alt-österreichischen vaterländischen Staatsgedanken« und beruft sich auf das Erbe der Kreuzritter. Was soll das heißen? Wollen Sie behaupten, Traditionalismus ist zukunftsweisend?
HABSBURG: Gewiss, sobald man nicht schematisch denkt. Mein Vater war Europaparlamentarier und ich auch; er hat sich für die Völker Osteuropas engagiert, ich bin für unterdrückte Volksgruppen und Nationen weltweit eingetreten. Das knüpft an habsburgische Tradition an: Im Kaiserreich Franz Josephs galt ein besonderer Respekt gegenüber ethnischen wie religiösen Minderheiten, der heute regelrecht multikulturell wirkt. Ist Vielfalt zu schützen nicht zukunftsweisend?
SPIEGEL: Also gut, aber wo ziehen Sie die Grenze? Die aktuelle Testfrage für bekennende Europäer betrifft einen früheren Erzfeind des Habsburgerreiches: Wie halten Sie es mit der Türkei? Gehört sie zu Europa, und wenn ja, wie? HABSBURG: Von welchem Europa reden wir? Christlichkeit kann allein kein Kriterium mehr sein; kulturell betrachtet ist die Türkei seit Römerzeiten sowieso ein europäisches Land. Das Staatswesen hingegen entspricht in vielem nicht den Gepflogenheiten der Europäischen Union. Ich bin sehr gern in der Türkei und habe gute Freunde dort. Das Land hat eine europäische Zukunft, aber ich glaube, nicht übermorgen. Es gibt ja auch große regionale Unterschiede. Wir könnten ganz ähnlich über Russland diskutieren - St. Petersburg als klar europäische Metropole ist nun einmal etwas anderes als Wladiwostok.
SPIEGEL: St. Petersburg weckt als Zarenstadt bei vielen Nostalgie. Auch bei Ihnen? War es ein Unglück, dass 1918 die großen europäischen Monarchien verschwanden?
HABSBURG: Vieles, was nach 1918 in Verträgen festgeschrieben wurde, war zweifellos ein Unglück für Europa. Künstliche Gebilde wie die Tschechoslowakei, der Irak und später Jugoslawien wurden politisch zu Gefahrenherden. Nationalismus und Fanatismus kosteten in einem weiteren Weltkrieg Millionen das Leben, und vielfach sind sie bis heute nicht überwunden. Andererseits: Die historische Entwicklung ist eine Tatsache, und auf die Freiheiten, die ich heute genieße, würde ich ungern verzichten. Reisefreiheit und Redefreiheit sind mir etwas enorm Wertvolles.
SPIEGEL: Sie sind also nicht neidisch auf die heutigen Monarchen in Europa?
HABSBURG: Persönlich ganz gewiss nicht.
SPIEGEL: Welche Rolle wünschen Sie sich denn für die Habsburger in der modernen Welt?
HABSBURG: Sie sollten ein Beispiel geben dafür, was es heißt, als Familie - nicht nur im Großen, auch in der Kleinfamilie - wertbewusst zusammenzuleben.
SPIEGEL: Herr von Habsburg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

In der Schlacht bei Mühldorf 1322 setzt sich Ludwig der Bayer gegen den Habsburger Friedrich den Schönen im Kampf um die Königswürde durch (zeitgenössische Darstellung).
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TEIL II
AUFSTIEG ZUR MACHT

ANGRIFF AUF DER FLANKE
Zäh und manchmal hinterhältig wuchsen
die Habsburger vom Grafenhaus zur europäischen
Großmacht heran: Selbst schwere Rückschläge bremsten
ihren Aufstieg zur Kaiserwürde nur vorübergehend.
Von Christoph Gunkel
 
 
 
Es war ein blutiger Hinterhalt, der den Habsburgern ihren kometenhaften Aufstieg ermöglichte. Aus heutiger Sicht ein genialer militärischer Schachzug - doch nach damaligem Verständnis ein unerhörter Verstoß gegen Ehre und Ritterlichkeit. Ein Bruch mit traditionellen Werten, der früh zeigte, was die Habsburger einmal zur erfolgreichsten Familiendynastie Europas werden ließ, die im Lauf der Jahrhunderte 21 Könige und 16 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs stellen sollte: kluges Taktieren, kalte Machtpolitik, unbedingter Herrschaftswille - und Krieg.
26. August 1278. Nervös stehen sich auf dem Marchfeld zwischen den österreichischen Dörfern Dürnkrut und Jedenspeigen in der Nähe Wiens die riesigen Heere zweier Könige gegenüber: Auf der einen Seite die Ritter des Habsburgers Rudolf I., 1273 überraschend von den Kurfürsten zum König des Römischen Reichs gewählt. Zwar gilt er als mächtigster Mann im Südwesten des locker verbundenen Imperiums, er verfügt aber nur über eine begrenzte Hausmacht und ist lediglich einfacher Graf. Auf der anderen Seite warten die Krieger des böhmischen Königs Ottokar II., der Rudolfs Krönung als persönlichen Affront empfunden hatte. Denn der mächtige Ottokar wollte selbst römisch-deutscher Herrscher werden. Frustriert hatte er sich sogar beim Papst über den »wenig geeigneten« Habsburger beschwert und Rudolf als »armen Grafen« verspottet.
Tatsächlich aber war Rudolf durchaus wohlhabend und setzte als König zielstrebig seine Machtpolitik fort. Sofort ging er mit allen Mitteln gegen seinen gefährlichsten Widersacher vor: Er ließ Ottokar ächten, als der sich weigerte, ihn als König anzuerkennen, er besetzte dessen Ländereien und zwang ihn 1276 im »Frieden von Wien«, auf die Herzogtümer Österreich, Kärnten und Steiermark zu verzichten.
»Mit gebeugtem Sinn und gekrümmten Knien«, so ein Augenzeuge, musste Ottokar Rudolf doch noch huldigen, um wenigstens seine verbliebenen Lehen zu retten. Zur symbolischen Demütigung empfing der »arme Graf« den prächtig gekleideten Böhmenkönig angeblich nur in einem einfachen grauen Lederwams. So konnte der Frieden nicht lange halten. Im August 1278 rüsteten sich die Rivalen zur Entscheidungsschlacht.
Es wurde einer der gewaltigsten Ritterkämpfe: Ottokar befehligte zwar mehr schwergepanzerte Reiter, Rudolf machte dies aber mit flinken und treffsicheren Reitern aus dem Steppenvolk der Kumanen wett, die berüchtigt für ihren tödlichen Pfeilregen waren. Rudolfs stärkster Trumpf jedoch waren etwa 60 Ritter, die er auf einer Anhöhe westlich des Schlachtfeldes verstecken ließ. Sie sollten Ottokars Truppen im entscheidenden Moment in die Flanke fallen. Die Taktik war so unkonventionell, dass Rudolf zunächst keinen Kommandanten fand, der bereit für den Hinterhalt war. Erst nach langem Zögern stimmten zwei Adlige widerwillig dem Spezialauftrag zu - nicht ohne sich vorher bei ihren Kampfgefährten dafür zu entschuldigen.
Diese 60 Männer entschieden die Schlacht. Zwar hatten Ottokars Kämpfer Rudolfs Truppen zurückgedrängt und den Habsburgerkönig sogar einmal in akute Lebensgefahr gebracht, als sie im Schlachtgetümmel sein Pferd töteten. Doch als plötzlich Rudolfs Ritter hervorstürmten, brach unter Ottokars Truppen Chaos aus. Durch die engen Sehschlitze ihrer Topfhelme erkannten die böhmischen Ritter die überraschende Flankenattacke zu spät, um sich rechtzeitig in Kampfposition manövrieren zu können. Erschöpft von stundenlangen Gefechten, waren sie den Hieben ausgeruhter Angreifer ausgeliefert. Und die sorgten mit einer weiteren Finte vollends für Verwirrung: »Sie fliehen, sie fliehen!«, schrien sie lauthals ins Kampfgetöse - und lösten damit tatsächlich eine panische Massenflucht von Ottokars Heer aus.
Für die Böhmen endete das Gefecht im Debakel: Tausende von Kriegern, berichten Chronisten, wurden niedergemetzelt oder ertranken auf der Flucht mit ihren schweren Rüstungen im Fluss March. Ottokar selbst wurde gefangen genommen und kurz danach ermordet - wohl nicht auf Befehl Rudolfs, sondern aus persönlichen Rachegelüsten seiner Häscher.
Ottokars Tod und seine verheerende Niederlage deuteten die Zeitgenossen als Gottesurteil. Um auch letzte Zweifler zu überzeugen, ließ Rudolf die entstellte Leiche seines Widersachers 30 Wochen lang in Wien ausstellen. Schon bald wurde die Schlacht zum Gründungsmythos der Habsburger, festgehalten in bombastischen Gemälden, überhöht in blumigen Erzählungen: Demnach soll Rudolf, so eine Version, Ottokar in einem Duell eigenhändig getötet haben. Bilder zeigen ihn mal in nachdenklicher, mal in triumphierender Pose neben Ottokars Leiche.
Tatsächlich sorgte Rudolfs Sieg dafür, dass die erste Königsherrschaft eines Habsburgers keine kurze, unbedeutende Episode blieb. Im Gegenteil: Jetzt konnte der Monarch ungestört an einer neuen Machtarchitektur feilen. Er verheiratete eine Tochter und einen Sohn mit den Erben Ottokars, söhnte damit beide Herrscherhäuser aus und erweiterte zudem geschickt seinen Einfluss. 1282 belehnte er seine beiden Söhne unter anderem mit den Herzogtümern Österreich und Steiermark - es sollte der Auftakt einer gleichsam schicksalhaften Verbindung mit Österreich werden.
Von nun an verlagerten die Habsburger ihr Machtzentrum langsam nach Osten, fort aus ihrem Kernland im schweizerischen Aargau, wo sie im 11. Jahrhundert ihren Stammsitz, die »Habichtsburg«, errichtet hatten. Von dort hatten sie sich ins Oberelsass und nach Schwaben ausgedehnt. Nach Rudolfs Triumph waren aus ländlichen Grafen plötzlich mächtige Herzöge geworden, die Wien zum Zentrum ihrer Herrschaft ausbauen sollten. Wie selbstverständlich sprachen die Habsburger schon im 14. Jahrhundert vom »Casa Austriae«, ihrem »Haus Österreich«. Habsburg und Österreich waren zur Einheit verschmolzen - und nur mit dieser Hausmacht im Rücken konnte langfristig der Sprung zur Großmacht gelingen.
Rudolfs Triumph auf dem Marchfeld machte dies natürlich weder absehbar noch wahrscheinlicher - im Gegenteil: Seine neue Macht schürte Bedenken unter den Kurfürsten. Die hatten ihn 1273 wohl auch deshalb zum König gewählt, weil sie nicht an einer starken Zentralmacht interessiert waren. Zu sehr hatten Fürsten, Grafen, Vögte oder Bischöfe von dem Machtvakuum profitiert, das es seit 1245 gab, nachdem der letzte Stauferkaiser vom Papst abgesetzt worden war. Als der Vatikan auf der Wahl eines neuen Königs bestand, einigten sich die Kurfürsten auf den scheinbar bequemsten Kandidaten: Rudolf, damals bereits 55 Jahre alt und möglicherweise nur ein schwacher Übergangskandidat.
Es lag nahe, dass die Kurfürsten nicht zwangsläufig seinen Sohn Albrecht zum Nachfolger wählen würden. Da es im Reich keine Erbmonarchie gab, stand Rudolf vor einem grundsätzlichen Problem, das immer wieder die Habsburger Ambitionen gefährden sollte: Der König musste unbedingt die Gunst des Papstes gewinnen, um von ihm zum Kaiser gekrönt zu werden. Denn nur ein Kaiser durfte schon zu Lebzeiten seinen Sohn zum König wählen lassen - es war der einzige Weg, risikolos die Nachfolge im Sinne der Dynastie zu regeln.
Nicht selten gerieten Verhandlungen um die Kaiserkrönung zur zähen Kraftprobe mit dem Vatikan, bei der es um die komplizierte Machtbalance zwischen Reich und Kirchenstaat ging. Für den schon betagten Rudolf begann ein Wettlauf gegen die Zeit - den er verlor: Termine platzten, allein zweimal starb ein Habsburg-freundlicher Papst kurz vor der vereinbarten Kaiserkrönung. Als Rudolf spürte, dass es auch mit ihm bald vorbei sein werde, versuchte er 1291, wenigstens symbolisch den zukünftigen Anspruch der Habsburger zu untermauern: Todkrank ritt er nach Speyer, um genau dort zu sterben, »wo viele meiner Vorfahren liegen, die auch Könige waren«. Im Dom wurde er neben berühmten Herrschern der Staufer und Salier beigesetzt.
Es half nichts: Wie Rudolf befürchtet hatte, wählten die Kurfürsten nicht seinen Sohn Albrecht, sondern den unbekannten Grafen Adolf von Nassau zum neuen König. Der unterlegene Herzog Albrecht befand sich plötzlich in derselben Herausfordererposition wie einst Ottokar - nur ging er weit klüger vor: Er huldigte König Adolf und vermied jede Provokation, weil er wusste, dass sich die Verhältnisse schnell ändern konnten. Das zahlte sich aus: Schon bald fiel Adolf bei den Kurfürsten in Ungnade, weil er zu rücksichtslos versuchte, eine neue Machtbasis in Mitteldeutschland aufzubauen.
So kam es am 23. Juni 1298 in Mainz zur Revolte einiger Kurfürsten gegen den König. Erzbischof Gerhard von Mainz beschuldigte Adolf etlicher »Verbrechen« und »heidnischer Untaten«: Mehrfach habe »dieser Zwietrachtstifter«, so der mächtige Geistliche, versucht, die Menschen »ihrer Ehren und Würden, Güter und Rechte zu berauben, und zwar mit Trug und teuflischer List, gegen Gott und Gerechtigkeit«. Weil König Adolf starrsinnig abgelehnt habe, sich zu bessern und »seine Frevel zu sühnen«, setzten ihn die Kurfürsten kurzerhand ab und wählten nun doch Albrecht zum König.
Der Habsburger nutzte die Chance: Als Gegenkönig halbwegs legitimiert, konnte er nun offen gegen Adolf vorgehen. Keine zwei Wochen nach dem Putsch von Mainz kam es zur Entscheidungsschlacht. Wieder waren es die Habsburger, die den Kampf gewannen, wieder fiel ihr härtester Rivale noch auf dem Schlachtfeld - und erneut kursierten Legenden von einem persönlichen Duell zwischen den beiden Rivalen.