Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
PROLOG
Kapitel 1 – Hamburg, heute
Kapitel 2 – Hamburg
Kapitel 3 – Drisiano, Kalabrien
Kapitel 4 – Hamburg
Kapitel 5 – Prag
Kapitel 6 – Hamburg
Kapitel 7 – Flug 5421, Düsseldorf – Faro, Portugal
Kapitel 8 – Drisiano
Kapitel 9 – Bohrinsel »Ocean Queen«, östlich der Shetlandinseln
Kapitel 10 – Hamburg
Kapitel 11 – Reggio Calabria
Kapitel 12 – Hamburg
Kapitel 13 – Hamburg
Kapitel 14 – Reggio Calabria
Kapitel 15 – Hamburg
Kapitel 16 – Drisiano
Kapitel 17 – Hamburg
Kapitel 18 – Reggio Calabria
Kapitel 19 – Hamburg
Kapitel 20 – Reggio Calabria
Kapitel 21 – Rom
Kapitel 22 – Riga, Lettland
Kapitel 23 – Rom
Kapitel 24 – Hamburg
Kapitel 25 – Riga
Kapitel 26 – Rom
Kapitel 27 – Hamburg
Kapitel 28 – Norditalien
Kapitel 29 – Riga
Kapitel 30 – Hamburg
Kapitel 31 – Rom
Kapitel 32 – Jugla, bei Riga
Kapitel 33 – Hamburg
Kapitel 34 – Rom
Kapitel 35 – Jugla, bei Riga
Kapitel 36 – Hamburg
Kapitel 37 – Frankreich
Kapitel 38 – Nördlich von Warschau
Kapitel 39 – Jugla, bei Riga
Kapitel 40 – Hamburg
Kapitel 41 – Jugla, bei Riga
Kapitel 42 – Budapest
Kapitel 43 – Paris
Kapitel 44 – Budapest
Kapitel 45 – Hamburg
Kapitel 46 – Hannover
Kapitel 47 – Süddeutschland
Kapitel 48 – Paris
Kapitel 49 – Frankreich
Kapitel 50 – Hamburg
Kapitel 51 – Paris
Kapitel 52 – Paris
Kapitel 53 – Paris
Kapitel 54 – Paris
Kapitel 55 – Paris
Kapitel 56 – Paris
EPILOG
Copyright
Das Buch
Im Auftrag eines Hamburger Nachrichtenmagazins soll der Journalist Sebastian Vogler herausfinden, was es mit den Wunderheilungen eines Jungen namens Raffaele im süditalienischen Kalabrien auf sich hat. Vogler hält das zwar alles für Humbug und Aberglaube, doch vor Ort gewinnt er den Eindruck, dass Raffaele tatsächlich Kranke heilen kann und dass es eine Verbindung zu anderen Phänomenen dieser Art zu geben scheint. Nach der Begegnung mit Raffaele erlebt Vogler seltsame Tagträume, nimmt Veränderungen in seinem Denken und Fühlen wahr, die er sich nicht erklären kann. Und damit nicht genug: Zur selben Zeit häufen sich in nahezu allen Ländern Europas mysteriöse Anschläge und Selbstmorde. Als auch Voglers Chef getötet wird, kristallisiert sich ein Zusammenhang mit den Wundern von Kalabrien heraus. Und Vogler muss feststellen, dass er längst Teil eines zerstörerischen Netzwerks geworden ist, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen und das die Zukunft der Menschheit bedroht. Er beginnt eine atemlose Reise quer durch Europa – in der Hoffnung, das Inferno noch aufhalten zu können …
Der Autor
Andreas Brandhorst, 1956 im norddeutschen Sielhorst geboren, schrieb bereits in jungen Jahren Erzählungen für deutsche Verlage. Es folgten zahlreiche phantastische Romane. Zuletzt ist mit dem »Kantaki«-Zyklus eine episch angelegte Zukunftssaga erschienen. Brandhorst lebt als freier Autor und Übersetzer in Norditalien.
»Aus Erde geformt, in Schuld empfangen, zur Strafe geboren, tut der Mensch Böses, das nicht gestattet ist, Schändliches, das sich nicht geziemt, Eitles, das nicht nützt, und wird schließlich zur Nahrung des Feuers, zur Speise der Würmer, zu einem Haufen Fäulnis …«
»De misera conditionis humanae«
(»Über den elenden Zustand des Menschen«, 1194-1195,
Lotàrio di Segni, der spätere Papst Innozenz III.)
PROLOG
Rom, August 1212
Innozenz III., seit vierzehn Jahren Oberhaupt der römischkatholischen Kirche, sah aus dem Fenster. Der Hitzedunst des Hochsommers lag über der Stadt Rom, die in diesen Tagen zu schlafen schien.
»Der Gesandte wartet, Heiliger Vater«, sagte Drusius, einer der Sekretäre. Er stand an der Tür.
»Ich bin gleich so weit«, erwiderte Innozenz, ohne sich umzudrehen. Er seufzte leise. Er empfand seine Verantwortung als schwere Last, die ihn unter sich zu zermalmen drohte. Es galt, die Macht der Kirche zu erweitern und zu festigen, Rom und die katholische Kirche wieder zum einen großen Zentrum der Welt zu machen. Die Bekämpfung der Häresie war eine Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, der Kampf gegen den Islam eine andere. Und jetzt zwangen ihn die Umstände, jemanden zu empfangen, der auf der anderen Seite stand, einen Feind und Ungläubigen. Doch auch dieser Mann hielt sich für einen wahren Gläubigen.
Innozenz drehte sich um und kehrte zu seinem großen Schreibtisch zurück. Dutzende von Dokumenten lagen dort, neben Notizen und Entwürfen. Er hatte schon vor einigen Wochen begonnen, Vorbereitungen für ein neues Laterankonzil zu treffen, das vierte in der Geschichte der katholischen Kirche. Der katholische Glaube musste vor der Bedrohung durch Häretiker geschützt werden, und nach dem missglückten 4. Kreuzzug vor acht Jahren brauchten die Kreuzfahrerstaaten in Palästina Unterstützung; außerdem war es notwendig, die kirchliche Freiheit im Investiturstreit zu bestätigen. Nur drei Punkte auf einer langen Liste von Dingen, die die Aufmerksamkeit des Papstes erforderten. Doch jetzt war ein neuer Punkt hinzugekommen und stand ganz oben, an erster Stelle.
Er nahm den Brief, der aus dem Archiv stammte, und las noch einmal die Worte, die vor achthundert Jahren geschrieben worden waren. Sie stammten von Sophronius Eusebius Hieronymus und waren an Innozenz I. gerichtet.
»Ist es ein Zufall, dass ich den gleichen Namen trage?«, fragte Innozenz III. »Oder müssen wir ein Omen darin sehen?«
Der kleine, schmächtige Drusius stand noch immer an der Tür. »Wenn es ein Omen ist, dann hoffentlich ein gutes«, sagte der Sekretär. »Mit Eurer Erlaubnis, Heiliger Vater: Ihr solltet ihn nicht länger warten lassen. Er ist ein Neffe Saladins, und sein Einfluss im Orient …«
»Einer von fünfunddreißig.« Innozenz seufzte erneut und nickte dem Sekretär zu. »Schick ihn zu mir.«
»Sofort, Heiliger Vater.« Drusius öffnete die Tür und verließ den Raum.
Kurze Zeit später kam ein prächtig gekleideter Mann herein; er trug Ringe an den Fingern, einen Turban und hatte einen dichten schwarzen Bart.
»Salam alaikum«, sagte der Besucher und deutete eine Verbeugung an, trat dann zum Schreibtisch und streckte die Hand aus.
Innozenz berührte die Hand kurz. »Friede sei auch mit Euch, Al-Kamil Muhammad al-Malik.« Er deutete auf den Stuhl. »Bitte nehmt Platz«, sagte er und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
Al-Kamil begann ohne Umschweife. »Ein neuer Kreuzzug ist unterwegs. Eigentlich sind es sogar zwei. Ein französischer und ein deutscher.«
»Ein Kreuzzug der Kinder«, sagte Innozenz.
»Ja, Euer Heiligkeit«, erwiderte der Muslim. »Er darf sein Ziel nicht erreichen.«
»Sie haben mich um die Unterstützung der Kirche gebeten«, sagte Innozenz. »Sie bitten um einen offiziellen päpstlichen Auftrag.« Mutige Kinder, dachte er. Sie wären ein gutes Beispiel für die Erwachsenen.
»Sie dürfen ihn nicht erhalten. Ihr wisst warum.« Al-Kamil fügte den Dokumenten auf dem Schreibtisch einige weitere hinzu, die aus Ägypten stammten. »Das Treffen soll in Jerusalem stattfinden.«
Innozenz blickte in die dunklen Augen des Besuchers und sah dort nicht nur große Intelligenz, sondern auch große Sorge.
»Sogar der genaue Ort ist bekannt«, fügte Al-Kamil hinzu. »Unweit der Tempelruine. Beim alten Kerker.«
»Uns wäre viel erspart geblieben, wenn die Grabräuber ihn damals nicht entdeckt hätten«, sagte Innozenz III.
»Wunschdenken bringt uns kaum weiter, Euer Heiligkeit.«
»Da habt Ihr recht«, bestätigte der Papst. »Und es ist nicht bekannt, mit welcher Identität die Sechs unterwegs sind?«
»Nein, Euer Heiligkeit. Ich nehme an, diese Details fehlen auch in Euren Unterlagen, nicht wahr?«
Innozenz III. legte den Brief beiseite, den Hieronymus vor acht Jahrhunderten dem ersten Innozenz geschrieben hatte. »Das stimmt bedauerlicherweise. Aber die Warnung ist deutlich genug.« Er musterte den Muslim auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Wir sind Feinde«, sagte er langsam, »und doch sitzen wir hier und sprechen über eine … gemeinsame Sache.«
»Wir sind Menschen«, erwiderte Al-Kamil. »Und die Gefahr betrifft uns alle. Ihr wisst, was geschehen wird, wenn sich jene Geschöpfe zum richtigen Zeitpunkt treffen. Es wäre das Ende der uns vertrauten Welt.«
Innozenz III. nickte ernst. »Wir tragen Verantwortung.«
»Ja, Euer Heiligkeit«, sagte der Araber. »Wir tragen Verantwortung, und oft ist sie schwerer als ein Schwert.«
»In diesem besonderen Fall nützen uns Schwerter nicht viel.«
»Ich fürchte, wir hätten nicht genug, Euer Heiligkeit. Nicht einmal dann, wenn wir alle Klingen in Palästina nähmen und sie auf ein gemeinsames Ziel richteten.«
»Sechs Kinder …«, murmelte Innozenz.
»Nicht unbedingt Kinder. Aber Teilnehmer des Kreuzzugs.«
Der Papst richtete erneut einen wachsamen Blick auf sein Gegenüber. »Wie habt Ihr davon erfahren? Und woher kennt Ihr den genauen Treffpunkt?«
Al-Kamil lächelte. »Allah ist mächtig.«
»Viele Wahrheiten könnten ins Wanken geraten«, sagte Innozenz III. »Nicht nur die unsere.«
Der Araber beugte sich ein wenig vor. »Wir stehen an einem Scheideweg, Euer Heiligkeit. Wenn wir jetzt nicht die notwendigen Maßnahmen ergreifen, gerät alles ins Wanken, nicht nur das, was bisher als wahr galt. Lasst uns Bewahrer der Vergangenheit sein und auf ihrem Fundament die Zukunft bauen.«
»Die des Islam und der katholischen Kirche?«
»Die Zukunft der ganzen Welt, Euer Heiligkeit. Die Alternative wäre ein Chaos, dem wir alle zum Opfer fielen. Wir haben gewisse Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen«, sagte Al-Kamil. »Ich bin sicher, das gilt auch für Euch.«
»Sechs Kinder«, wiederholte Innozenz III. mit schwerer Stimme. »Und Tausende sind unterwegs. Sie haben schon viel hinter sich, und es erwartet sie noch mehr Leid.«
»Es ist der Preis für die Zukunft unserer Welt.«
»Ich fürchte, da muss ich Euch zustimmen.« Der Papst atmete tief durch. »Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass der Kinderkreuzzug sein Ziel erreicht.« Eine Entscheidung war getroffen. Leicht fiel sie ihm nicht, aber sie gehorchte dem Gebot der Notwendigkeit. Eine Katastrophe musste verhindert werden.
Er stand auf, und daraufhin erhob sich auch der Besucher.
Al-Kamil deutete erneut eine Verbeugung an. »Ich danke Eurer Heiligkeit für das Gespräch. Wenn es doch nur möglich wäre, alle unsere Probleme auf diese Weise aus der Welt zu schaffen.«
»Oft denken wir voller Sorge an die Zukunft«, sagte Innozenz, ohne auf die letzten Worte des Muslims einzugehen. »Aber manchmal holt uns die Vergangenheit ein.«
Sie verabschiedeten sich, und Al-Kamil Muhammad al-Malik verließ das Arbeitszimmer des Papstes.
Innozenz III. ging zu einer Schüssel mit Wasser und wusch sich die Hände, weil er Al-Kamils Hand berührt hatte.
1
Hamburg, heute
Die Welt war rot von Blut. Die Frau hatte gesehen, wie es aus zwei kleinen Körpern spritzte: über Laken, Decke und Kopfkissen, an die Wand, auf Plüschtiere und eine immer noch leise summende Playstation. Es lief über den kleinen Fernseher, der sinnlose Bilder zeigte, und mit dem rhythmischen Pochen eines Taktgebers tropfte es auf den Boden. Die Frau – sie entsann sich nicht mehr an ihren Namen – hob die rechte Hand, die noch immer das Messer hielt, dann auch die andere. Blut klebte an den Fingern, das Blut ihrer Kinder.
Sie sah auf die beiden Leichen hinab. Das Mädchen war viel zu überrascht gewesen und hatte sich nicht gewehrt, aber der Junge hatte versucht, Widerstand zu leisten. Mama, was machst du da?, hallte ein Echo in ihren Ohren. Mama, leg das Messer weg …
Auch an die Namen der Kinder erinnerte sie sich nicht mehr. Sie hatten sterben müssen, das stand fest. Und es war noch nicht zu Ende.
Die Schlange musste befreit werden. Die Schlange … Sie wollte leben und kriechen.
Die Frau hielt das Messer fest in der rechten Hand, als sie das Schlafzimmer verließ und durch den Flur ins Wohnzimmer ging. Hinter der breiten Fensterfront leuchteten die Lichter der Stadt in der Nacht, und einige von ihnen spiegelten sich auf der Elbe wider. Der große, flache Fernseher an der Wand lief, und Stimmen kamen aus den Lautsprechern, aber sie hatten keine Bedeutung. Wichtig war nur die Schlange, die befreit werden wollte.
Befreiung … Dunkelheit empfängt sie, seit langer Zeit, lange genug, um sie zu schwächen. Sie fühlt, dass sie nicht allein ist. Andere wie sie befinden sich in der Nähe, ohne dass sie mit ihnen kommunizieren kann. Sie wartet in einem Zustand, der dem Schlaf ähnelt, und schließlich wird ihre Geduld belohnt. Über ihr bewegt sich etwas, und Licht fällt auf sie herab. Sie bewegt sich …
Seltsame Bilder zogen durch ihren Kopf. Viele von ihnen verstand sie nicht, aber eins zeigte ihr, wie sie der Schlange Freiheit geben konnte. Im blassen Gesicht der Frau zuckten die Lippen, deuteten fast so etwas wie ein Lächeln an, als sie das Messer beiseitelegte und sich auszog. Wenige Momente später stand sie nackt da, im Schein der kleinen Lampe neben dem Fernseher, dessen Licht durchs Wohnzimmer flackerte. Langsam sank sie zu Boden und kroch über den Teppich, wand sich wie eine Schlange.
Aber das genügte nicht.
Sie verharrte kurz, horchte in sich hinein, stand auf und nahm das Messer, an dem das Blut ihrer Kinder klebte.
Sie streift die Fesseln der Dunkelheit ab, richtet sich auf und klettert nach oben, während weiter unten auch die anderen erwachen. Ein Gesicht erscheint vor ihr, das Gesicht eines Menschen, eines bärtigen, schmutzigen Mannes, und sie sieht, wie er die Augen aufreißt und Entsetzen in ihnen glänzt. Sie greift nach dem Gesicht, reißt es von den Knochen und empfängt den Schmerz, der ihr ein wenig Kraft gibt. Es ist längst nicht genug, doch oben gibt es noch mehr Menschen …
Das Telefon klingelte, und die Frau neigte den Kopf ein wenig zur Seite, lauschte dem Geräusch. Nach dem vierten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter.
»Hallo, hier ist Monika. Leider bin ich zur Zeit nicht zu erreichen. Wenn du das bist, Fabian: Bitte lass mich in Ruhe. Für alle anderen gilt: Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Ich rufe so bald wie möglich zurück.«
Die Frau hörte ihre eigene Stimme, erkannte sie aber nicht. Es klickte, und eine Sekunde später erklang eine andere Stimme, die eines Mannes.
»Verdammt, Moni, warum schottest du dich so vor mir ab? Lass uns darüber reden. Ich meine, man kann doch über alles reden, oder?« Zwei oder drei Sekunden lang schwieg die Stimme, und im Hintergrund erklang Musik. »Morgen habe ich den ganzen Tag zu tun, Moni, aber am Abend könnte ich zu dir kommen. Was hältst du davon? Wir setzen uns in aller Ruhe zusammen und …«
Es klickte erneut. »Vielen Dank für Ihre Nachricht«, sagte der Anrufbeantworter.
Stille folgte. Selbst der Fernseher blieb stumm.
Menschen schreien, als auch die anderen ihren Kerker verlassen. Über ihnen und der Stadt brennt die Sonne am Himmel, heiß und hell, und von der Wüste weht ein trockener Wind. Viele Geräusche erklingen, dominiert von entsetzten Schreien, aber trotzdem herrscht Stille. Es ist jene Art von Stille, die entsteht, wenn keine Stimmen erklingen. Sie horcht, hört aber nur das Flüstern der anderen. Fünf sind es, die Letzten, die Übriggebliebenen, denn der Schar ist es damals gelungen, alle Zugänge zu schließen. Die Stimmen, die einst die Welt erfüllten, sie existieren hier nicht mehr.
Die Frau ging in die Hocke, streckte sich auf dem Teppich aus und hob das Messer. Das Licht der Lampe fiel auf die Klinge, glitzerte auf silbernem Stahl. Sie drehte das Messer, bis die Spitze nach unten zeigte, senkte es dann langsam.
Ihr Herz klopfte schneller.
Die Schlange wartete. Sie wartete in ihr.
Sie hat den Kerker verlassen, der von der Schar geschaffen wurde, aber sie weiß, dass sie und ihre fünf Gefährten noch immer gefangen sind. Es ist eine andere Art von Unfreiheit, und Warten allein genügt nicht, um – vielleicht – in die Freiheit zurückzukehren. Am Rande der Stadt, über einen Soldaten gebeugt, dessen Schwert in seinem Leib steckt, lauscht sie dem langsamer werdenden Herzschlag des Sterbenden und erinnert sich daran, dass es noch einen anderen Herzschlag gibt, den der Welt, ein Herz, das nur einmal in acht Jahrhunderten schlägt …
Die Spitze des Messers berührte ihre Haut, einige Zentimeter über dem Schamhaar, versprach Erleichterung und Befreiung. Langsam drückte sie die Klinge tiefer, Millimeter für Millimeter. Zuerst leistete die Haut Widerstand – so wie der Junge – und wölbte sich unter der Spitze, doch dann gab sie nach und riss.
Und so wie die Haut reißt, begreift die Frau, kann auch eine Membran reißen, dünn wie die Oberflächenspannung des Wassers, und doch so fest wie eine dicke Stahlwand. Aber nicht hier, nicht an diesem Ort und nicht zu dieser Zeit.
Die Frau ächzte leise, und ihre Lider zuckten. Die Hand mit dem Messer verharrte kurz, drückte es dann noch tiefer, etwas schneller als zuvor, bis die Klinge fast bis zum Heft im Unterleib steckte. Sie atmete mehrmals tief durch – der Schmerz spielte keine Rolle, er war sogar willkommen, aber sie fühlte, wie sie Kraft verlor, und sie musste es zu Ende bringen, bevor sie zu schwach dafür war. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als sie das Messer nach oben zog, in Richtung Kinn. Die scharfe Klinge schnitt den Körper auf, und es kam noch mehr Blut.
Und die Schlange.
Als das Messer die Brust erreichte, hielt die Frau inne und ließ es los. Sie hob den Kopf und beobachtete, wie die Gedärme aus dem aufgeschlitzten Bauch quollen und auf den Boden rutschten, sich dort so hin und her wanden wie sie selbst ein oder zwei Minuten zuvor.
Die Frau ließ den Kopf sinken und lächelte.
Das Leben floss warm und rot aus ihr heraus.
Im Tod löste sich etwas von ihren Lippen, grau und vage. Es suchte nach etwas, und als die Suche ohne Erfolg blieb, verschwand es wie in kalter Luft kondensierter Atem.
2
Hamburg
Sebastian saß beim dritten Bier und dem ersten Whisky, von Kopfschmerzen geplagt, als der Typ in der Ecke ausflippte.
Der Kerl schrie seine Begleiterin an – eine Brünette um die dreißig, übertrieben gestylt -, aber leider war die Musik in »Rudis Karussell« so laut, dass Sebastian kein Wort verstand. Sein Instinkt meldete sich und flüsterte ihm zu, dass es hier vielleicht eine interessante Story gab, wenn er aufpasste.
»Gregor ist heute spät dran«, sagte Steffen und kippte den vierten Wodka. Er trank das Zeug wie Wasser. »Aber er kommt bestimmt, glaub mir.«
Gregor, das war ein besserer Laufbursche der Russenmafia, die einen Teil von St. Pauli weiter im Süden kontrollierte. Kein großes Licht beim Iwan, eher eine kleine Laterne in einer abgelegenen Seitengasse. Aber Sebastian hatte seine Quellen und wusste, dass in dieser Nacht bei den Landungsbrücken irgendein Ding steigen sollte. Möglich war alles, von Drogen aus Kolumbien oder dem Iran bis hin zu Waffengeschäften mit Afrika, und Sebastian hatte sich extra eine Digitalkamera ausgeliehen, mit der man auch Infrarotaufnahmen machen konnte.
»Was tut der Bursche da?«, fragte er.
»Welcher Bursche?«
»Dort hinten in der Ecke. Neben Madame Was-bin-ichschön.«
Steffen sah am Karussell mit den Go-go-Girls vorbei, das sich neben der Tanzfläche drehte. Sechs oder sieben Meter trennten sie von dem Kerl in der Ecke, aber Sebastian sah deutlich die Sehnen an seinem Hals, und das Gesicht war rot angelaufen.
»Streitet mit seiner Freundin«, sagte Steffen und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie ihm das Hemd falsch gebügelt.«
»Sie scheint mir nicht der Bügeltyp zu sein. Sieh dir den Kerl nur an. Steht wie unter Strom. Kennst du ihn?«
Steffen sah noch einmal hin. »Nie gesehen. Ein Normalo, wenn du mich fragst. Hat sich mit Pretty Woman hierher verirrt.« Sein Blick kehrte zum Eingang zurück, auf der Suche nach Gregor.
Steffen konnte andere Menschen gut einschätzen; er verstand es fast immer, sie den richtigen Kategorien zuzuordnen. Aber er legte dabei seine eigenen Maßstäbe an, und die unterschieden sich von denen Sebastians. Der Mann in der Ecke – Mitte dreißig, gepflegt, gut gekleidet – war tatsächlich ein »Normalo«, wie Steffen alle nannte, die nichts mit Drogen und Prostitution zu tun hatten, aber er war keineswegs normal. Ob er wirklich unter Strom stand, wusste Sebastian nicht zu sagen – er konnte sich was reingezogen haben, bevor er ins Karussell gekommen war. Aber am Alkohol lag es nicht. Auf dem Tisch standen nur zwei Martini-Gläser, und mehr hatte der Kellner nicht gebracht. Sebastian achtete auf solche Dinge; vielleicht lag es daran, dass die Kellner bei ihm immer mehr Arbeit hatten.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Steffen. »Sonst ist Gregor immer pünktlich. Er wollte um zehn hier sein.« Er drehte den kahlen Kopf mit dem Drachen-Tattoo und sah Sebastian an. »Nur zeigen, Kumpel, mehr nicht. Ein persönlicher Gefallen. Wegen der guten alten Zeiten.«
»Und wegen der zweihundert, die ich dir gegeben habe.«
»Nur zeigen«, wiederholte Steffen und hob sein leeres Wodkaglas, als ein Kellner vorbeikam. »Ich zeige dir, wer Gregor ist, und ich nenne dir den Ort. Der Rest liegt bei dir. Bau keine Scheiße, Bastian. Wir wollen hier keinen Ärger. Und die Russen verstehen keinen Spaß, denk dran.«
Sebastian beobachtete noch immer das Pärchen in der Ecke. »Sag mal … Irre ich mich, oder hat der Bursche wirklich ein Messer in der Hand?«
Das weckte Steffens Aufmerksamkeit. »Ich kümmere mich darum«, sagte er drei Sekunden später und stand auf. »Bin gleich wieder da.« Wieselflink huschte er durch die Lücken zwischen den Tischen und an den Tanzenden vorbei, verschwand dann hinter der Theke.
Sebastian trank einen Schluck Whisky und spülte mit Bier nach, während er weiterhin den Ecktisch im Auge behielt. Die Frau wirkte nicht nur eingeschüchtert, sondern auch verblüfft vom Verhalten ihres Begleiters; der hatte gerade telefoniert und sich anschließend merkwürdig verändert verhalten. Wieder das Blitzen in der linken Hand unterm Tisch – ja, der Kerl hatte tatsächlich ein Messer. Wollte er Jack the Ripper spielen?
Ausgerastete Typen gab es genug. Man brauchte in Hamburg nur zu bestimmten Zeiten durch bestimmte Straßen zu gehen, und man sah sie massenweise. Aber irgendetwas sagte Sebastian, dass der Fall bei diesem Mann anders lag.
Steffen erschien wieder, in Begleitung von zwei Rausschmeißern. Seriös und würdevoll gingen sie zum Ecktisch und sprachen dort den Mann an, der sehr überrascht war, als er sich plötzlich zwei Muskelpaketen in dunklen Anzügen gegenübersah. Einer von ihnen griff nach dem linken Arm mit dem Messer; der andere legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte zu. Sebastian beobachtete, wie Steffen einige Worte an den Burschen richtete; im Gesicht der Frau rangen Erleichterung und Sorge miteinander. Dann sah sie das Messer, riss die Augen auf und wich zurück.
Die Musik wurde lauter, und der DJ rief etwas ins Mikro. Die Leute auf der Tanzfläche bewegten sich noch hektischer im bunten Lampenlicht, das im Takt der harten Techno-Klänge flackerte. Sebastian hob die Hände zu den Schläfen, als die Kopfschmerzen stärker wurden. Diesmal richtete der Alkohol nichts gegen sie aus.
Die beiden Gorillas nahmen dem Typen diskret das Messer ab, zogen ihn dann auf die Beine und eskortierten ihn in Richtung Ausgang. Pretty Woman blieb am Tisch sitzen und starrte ihnen nach.
Den anderen Leuten im Karussell fiel nichts auf. Sie tranken und tanzten, knutschten und koksten, und niemand von ihnen ahnte, dass es fast zu einer Tragödie gekommen wäre. Nur Sebastians Blick folgte dem Trio und natürlich der der Frau.
Er rieb sich erneut die Schläfen, als das stechende Pochen im Kopf stärker wurde, leerte das Whiskyglas und stand auf. Ein Gefühl veranlasste ihn, den beiden Rausschmeißern und ihrem Klienten zu folgen – diese Sache war noch nicht beendet.
Steffen stand neben der Tanzfläche und warf Sebastian einen fragenden Blick zu. Der deutete auf den verhinderten Ripper und gab ihm dann mit einer Geste zu verstehen, dass er die Rechnung später begleichen würde. Steffen hob kurz die Hände: Wie du willst, Kumpel, aber die zweihundert Mäuse kriegst du nicht zurück.
Draußen regnete es, und der nasse Asphalt glänzte im Licht der Straßenlampen. Die beiden Muskelmänner gaben dem Burschen zwischen ihnen einen Stoß, der ihn in eine Pfütze taumeln ließ. Einer richtete einen warnenden Zeigefinger auf ihn, und dann drehten sich die beiden Men in Black um und kehrten ins Karussell zurück.
Sebastian blieb neben dem Eingang stehen und fragte sich, warum er den Platz im Warmen, bei Bier und Whisky, verlassen hatte. Gregor, die Russenmafia und das Ding bei den Landungsbrücken versprachen eine interessante Story, die sich gut bei Kesslers Zack! unterbringen ließ, am besten mit einigen Fotos von Blut und Gewalt. Dieser namenlose Typ hingegen, der in der Pfütze stand und wie ein Betrunkener schwankte … Welche Geschichte hatte er anzubieten, abgesehen von seinem vermasselten Ripper-Auftritt?
Der Mann drehte sich langsam um, blieb in der Pfütze stehen und sah Sebastian an. Sein Gesicht war seltsam leer, aber in den Augen, ganz tief in ihnen, brannte etwas, das Sebastian schaudern ließ. Dieser Bursche, so begriff er, war nicht nur ausgeflippt, sondern vollkommen über der Kippe – selbst ein Wahnsinniger hätte ihn für irre gehalten.
Einige Sekunden verharrte der Mann wie erstarrt, den feurigen Blick auf Sebastian gerichtet. Dann wandte er sich abrupt ab, ging zu einem in der Nähe stehenden Wagen, einem Japaner, öffnete ihn mit der Fernbedienung und stieg ein. Als wenige Sekunden später der Motor aufheulte, lief Sebastian bereits zum nahen Taxistand und sprang ganz vorn auf den Beifahrersitz eines Opel Vectra. Im gleichen Augenblick rauschte ein dunkler Toyota vorbei.
»Folgen Sie dem Wagen«, sagte Sebastian.
»Zu viele Krimis gesehen, wie?«, scherzte der Fahrer, startete den Motor und legte den ersten Gang ein.
»Im Ernst.« Sebastian zeigte durch die Windschutzscheibe in Hamburgs kalte, verregnete Nacht. Der Japaner hatte bereits die Kreuzung erreicht und bog dort nach links ab, ohne Blinker und ohne auf den Gegenverkehr zu achten. »Folgen Sie dem Wagen, na los.«
Sebastian holte einen Fünfziger hervor – der Abend wurde teuer -, und der Fahrer gab Gas.
Als sie die Kreuzung erreichten und dort ebenfalls nach links abbogen, setzte der Japaner gerade zurück und ließ einen halb demolierten Ford Focus am Straßenrand stehen. Ripper gab Gas und fegte wieder los.
»Hören Sie, ich möchte keinen Ärger«, sagte der Taxifahrer und warf Sebastian einen skeptischen Blick zu.
Sebastian legte den Fünfziger auf die Mittelkonsole. »Sie kriegen keinen Ärger, sondern fünfzig Euro und Abwechslung. Was wäre das Leben ohne ein wenig Aufregung?«
Die Fahrt ging nach Süden, in Richtung Altona und St. Pauli, und wie sich herausstellte, war der Taxifahrer kein zweiter Michael Schumacher. Er hatte alle Mühe, dem Irren im Toyota zu folgen, erst recht, als der Verkehr dichter wurde. Eigentlich verlor er ihn nur deshalb nicht aus den Augen, weil der Typ auf der regennassen Fahrbahn mehrmals ins Schleudern geriet und gegen andere Wagen prallte.
»Was ist mit dem Kerl los?«, fragte der Taxifahrer und raste im Zickzack über eine zweispurige Straße. Mehrere überholte Fahrzeuge hupten. »Betrunken?«
»Ich glaube nicht«, sagte Sebastian und versuchte, die Rücklichter des Toyotas im Lichtermeer des Verkehrs nicht aus den Augen zu verlieren. »Einfacher Irrsinn ohne chemische Hilfe.«
Der Fahrer sah kurz zur Seite, noch mehr Skepsis im Gesicht.
»Im Gegensatz zu mir«, sagte Sebastian. »Ich habe was getrunken.«
Vorn sprang die Ampel auf Gelb.
»Lassen Sie sich jetzt bloß nicht abhängen«, warnte Sebastian, als der Toyota über die Kreuzung schoss und fast einen Motorradfahrer rammte. Das Heck prallte gegen einen Pfosten, aber das kümmerte den Irren am Steuer nicht. Er gab erneut Gas und bog nach links.
Die Ampel zeigte Rot. Der Taxifahrer zögerte nur eine Sekunde und entschied dann, den Fuß auf dem Gas zu lassen. Sie klatschten durch eine große Pfütze mitten auf der Kreuzung, und der Gegenverkehr setzte sich in Bewegung, noch bevor sie die gegenüberliegende Seite erreichten.
Sebastian stellte fest, dass der Taxifahrer zu schwitzen begonnen hatte.
Sie rauschten an dem verbogenen Pfosten und einem großen Mercedes vorbei, dessen Fahrer erst versuchte, seine Vorfahrt zu erzwingen, dann aber um seinen teuren Stern fürchtete und so plötzlich bremste, dass der Hintermann fast in seinem Kofferraum gelandet wäre. Ein wildes Hupkonzert ertönte hinter ihnen, und dann erklang auch noch eine Sirene. Sebastian sah in den Außenspiegel auf der Beifahrerseite.
»Polizei«, sagte der Taxifahrer.
Sebastian deutete nach vorn. »Wir bleiben am Ball.«
»Ich habe keine Lust, meinen Führerschein zu verlieren«, sagte der Taxifahrer und nahm ein wenig Gas weg.
»Sagen Sie einfach, ich hätte Sie gezwungen. Na los, Mann, lassen Sie ihn nicht entwischen!«
Der Fahrer gab wieder Gas und überholte. Hinter ihnen erklang weiter die Sirene, und ein Blaulicht blinkte.
»Was soll dieser Unsinn?« Der Taxifahrer überholte erneut; diese Manöver fielen ihm jetzt leichter, denn Martinshorn und Blaulicht veranlassten die anderen Fahrzeuge, an den Straßenrand auszuweichen. »Warum sind Sie überhaupt hinter dem Burschen her?«
»Der Kerl hat meine Frau gebumst«, sagte Sebastian, dachte an Anna und fragte sich, warum er ausgerechnet diese Antwort gab. Vielleicht lag es am Alkohol. Zwei große Bier und ein Whisky auf nüchternen Magen waren selbst für ihn eine ganze Menge. »Dafür möchte ich ihm den verdammten Schwanz abschneiden.«
»Im Ernst?« Der Taxifahrer sah erschrocken zur Seite und fragte sich vermutlich, wer verrückter war: der Stock-Car-Fahrer im Toyota oder der Angetrunkene auf dem Beifahrersitz.
»Was würden Sie tun?«, fragte Sebastian und genoss sein Entsetzen.
Der Taxifahrer sah wieder nach vorn. »Lieber Himmel«, murmelte er und beschleunigte, als könnte er auf diese Weise die Distanz zu dem Mann an seiner Seite vergrößern.
»Was ist denn da los?« Etwa zweihundert Meter vor ihnen standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei und gleich zwei Krankenwagen vor einem gepflegten Apartmenthaus. Ripper hielt genau darauf zu.
»Jetzt bin ich gespannt.« Sebastian holte die IR-Kamera hervor und schoss einige Bilder durch die Windschutzscheibe, nur um sich in die richtige Stimmung zu bringen.
Hinter ihm kam der Streifenwagen näher, und vorn wurde Ripper langsamer, aber nicht langsam genug: Er rammte das Heck eines am Straßenrand stehenden Streifenwagens. Der Knall war so laut, dass sie ihn selbst im Taxi hörten. Einige Uniformierte kamen aus dem Apartmenthaus und starrten wie ungläubig auf das Spektakel.
»Halten Sie dort«, sagte Sebastian und deutete auf den Fünfziger, der es trotz der scharfen Kurven geschafft hatte, auf der Mittelkonsole liegen zu bleiben. »Fünfzig Mäuse für fünf Minuten Arbeit. Kein schlechter Stundenlohn.« Er öffnete die Tür und stieg aus.
Hinter ihnen kam der Streifenwagen zum Stehen, und zwei Beamte sprangen heraus. Sebastian deutete auf den Taxifahrer. »Der Mann ist gemeingefährlich. Seien Sie auf der Hut.«
Im Laufschritt eilte er zum schrottreifen Toyota, dessen Fahrertür gerade aufschwang. Ripper stieg aus, ein wenig lädiert und benommen, aber noch längst nicht außer Gefecht gesetzt. Die Kamera surrte und klickte in seinen Händen, während der Bursche schwankte und sich zu orientieren versuchte. Mehrere Polizisten näherten sich vom Apartmenthaus und sahen sich das zerknautschte Heck des Streifenwagens an. »Sind Sie übergeschnappt?«, wandte sich einer von ihnen an Ripper.
»Das ist er, und nicht zu knapp!«, rief Sebastian den Beamten zu und machte weitere Aufnahmen. Im Zoom sah er, wie ihm der Bursche aus dem Toyota einen seltsamen Blick zuwarf. Dann wankte er den Polizisten entgegen, die ihn argwöhnisch beobachteten und vermutlich für betrunken hielten.
»Er hat mich gezwungen!«, ertönte weiter hinten die Stimme des Taxifahrers. »Wer weiß, was der Kerl mit mir gemacht hätte, wenn ich nicht so schnell gefahren wäre!«
»Führerschein und Fahrzeugpapiere«, sagte einer der beiden Beamten.
»He, Sie dort!«, rief der andere.
Sebastian achtete nicht auf ihn, trat über den Bürgersteig und fotografierte die Szene: der in den Streifenwagen geknallte Toyota; dahinter weitere Einsatzfahrzeuge und die beiden Krankenwagen mit eingeschalteten Blaulichtern; vor dem Eingang glotzende Zivilisten und Uniformierte.
Ripper erreichte den ersten Polizisten, und aus dem wie betrunken torkelnden Mann wurde plötzlich ein Wirbelwind. Die eine Hand traf den Beamten mitten im Gesicht, und Blut spritzte aus der Nase; die andere riss die Pistole aus dem Gürtelhalfter.
Sebastian hatte die Kamera halb sinken lassen und sah, wie der Mann dem Polizisten die Pistole unter die blutige Nase hielt. Stimmen erklangen, unter ihnen eine, die »Weg mit der Waffe! Lassen Sie die Waffe fallen!« rief. Zwei andere Beamte vom Apartmentgebäude, nur wenige Meter entfernt, hatten ihre Pistolen gezogen und auf den Irren gerichtet. Der schenkte ihnen überhaupt keine Beachtung, gab dem Entwaffneten einen Stoß, der ihn zurücktaumeln und stolpern ließ, wirbelte herum und stand nach einigen raschen Schritten vor Sebastian.
Langsam ließ Sebastian die Kamera sinken und blickte in die Mündung der Pistole, nur zwanzig Zentimeter vor seinem Gesicht.
3
Drisiano, Kalabrien
Ich fürchte mich«, sagte der Junge, und seine Worte erstaunten den Priester. Sie standen in Drisianos kleiner Kirche vor dem Altar und blickten zu Jesus am Kreuz hoch. Es war einer der wenigen Momente, die Don Vincenzo ganz allein mit Raffaele hatte, und normalerweise genoss er sie.
»Du fürchtest dich?«, fragte er erstaunt und legte dem Jungen besorgt die Hand auf die Schulter. »Wovor?«
Der zart gebaute, neun Jahre alte Raffaele sah aus großen braunen Augen zu ihm auf. »Bald wird alles anders.«
Don Vincenzo glaubte zu verstehen. Raffaele hatte Gottes besonderen Segen empfangen und brachte den Menschen, die zu ihm kamen, Seine Kraft. »Wenn Bischof Munari zurückkehrt …«
»Das meine ich nicht«, unterbrach der Junge den Priester. »Ich werde mich verändern. Und du. Und Drisiano. Die ganze Welt.«
Don Vincenzo nickte. Genau das hoffte er. »Du bist von Ihm ausersehen«, sagte er. »Was auch immer geschieht, es ist Sein Wille.«
Raffaele blickte erneut zum Gekreuzigten hinter dem Altar. »Alles?«
»Ja, mein Junge. Du bist Sein Bote auf dieser Welt, und sie braucht dich dringend. Wir alle brauchen dich.«
»Aber die Stimmen, die ich höre …«, sagte Raffaele so leise, dass Don Vincenzo Mühe hatte, die Worte zu verstehen. »Nicht alle kommen von Ihm.«
»Der Bischof ist da!«, rief Schwester Luisa aufgeregt. »Der Bischof ist da!«
Vincenzo saß in einer Nische der Kirche neben dem Beichtstuhl; er hatte über Raffaele und seine seltsame Furcht nachgedacht.
»Don Vincenzo!« Die beleibte Nonne schnaufte. »Es ist der Bischof!«
Er stand auf und verließ die Kirche. Es war erst kurz nach neun Uhr morgens, aber die Temperatur war selbst hier, gut sechshundert Meter über dem Meeresspiegel, auf angenehme gut zwanzig Grad gestiegen. Kleine weiße Häuser, von deren Wänden der Putz bröckelte, schmiegten sich aneinander, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Schmale Gassen führten durch den Zweihundert-Seelen-Ort, der sich über mehrere Terrassen erstreckte, an einem westlichen Hang des Aspromonte, nicht weit von Calanna entfernt. Die meisten von ihnen waren mit alten Kopfsteinen gepflastert, einige andere mit Bruchstein ausgelegt. Wer mit dem Auto kam – wie der Bischof und in letzter Zeit die Pilger -, musste sein Fahrzeug weiter unten am Hang auf einem improvisierten Parkplatz zurücklassen und den Rest des Weges zu Fuß gehen. Zusammen mit Schwester Luisa schritt Don Vincenzo übers Kopfsteinpflaster, bis zu der Stelle, an der die kleinen Häuser ein wenig zurückwichen und ein kleiner Platz sich öffnete. Von dort aus reichte der Blick bis nach Villa San Giovanni im Westen und über die Meerenge hinweg bis nach Messina und Sizilien. Blau schimmerte das Meer im Sonnenschein, und Vincenzo erinnerte sich daran, dass er als Kind dort unten geschwommen war, in kristallklarem Wasser und begleitet von bunten Fischen.
Der Wind trug ihnen Stimmen entgegen, und Vincenzo ging zur Treppe. Bischof Munari hatte auf seine Amtstracht verzichtet und trug einen überraschend einfachen Talar. Er war schlank und groß, und alles an ihm wirkte sehr gepflegt. Mit langsamen, würdevollen Schritten stieg er eine Stufe nach der anderen hoch, stützte sich dabei auf einen mit Christusschnitzereien verzierten Stab. Ein Schwarm aus Priestern, Sekretären und auch einigen Journalisten umgab ihn.
»Oh, Don Vincenzo!«, rief er, als sie nur noch wenige Treppenstufen voneinander trennten. »Freut mich, dich wiedersehen.«
Vincenzo ergriff die dargebotene Hand und verbeugte sich. »Die Freude ist ganz meinerseits, Exzellenz.«
»Wie ich sehe, kommen immer mehr Pilger.«
»Sie kommen voller Hoffnung«, sagte Vincenzo.
»Und sie werden nicht enttäuscht, oder? Unser Raffaele enttäuscht niemanden.«
Unser Raffaele, dachte Vincenzo. »Darf ich Sie zu unserem Gemeindehaus begleiten, Exzellenz? Dort gibt es Erfrischungen.«
Sie erreichten den kleinen Platz und gingen durch eine der kopfsteingepflasterten Gassen. In Schwarz gekleidete Alte, mehr Frauen als Männer, standen rechts und links und empfingen dankbar den Segen des Bischofs. Schwester Luisa eilte voraus zum Gemeindehaus, das im vergangenen Jahr mit Spendengeldern am Rand von Drisiano errichtet worden war und in dem Vincenzo nicht nur sein Priesterbüro hatte, sondern auch eine kleine Wohnung.
Vor dem Eingang wartete Bürgermeister Enrico Corrado, genannt »Il Santo«, der Heilige, vielleicht deshalb, weil sein Gesicht etwas von Padre Pio hatte. Bei fast jeder Messe saß er in der ersten Reihe und sang am lautesten, aber Vincenzo wusste aus verschiedenen Quellen, dass er alles andere als ein Heiliger war. Er gehörte zur lokalen Cosca und stand mit einem anderen Don in Verbindung, der nicht zur Kirche gehörte.
Corrado begrüßte den Bischof so überschwänglich, als wäre er sein bester Freund, und führte ihn nach der vierten oder fünften Umarmung ins Gemeindehaus. Drinnen setzten sich die üblichen Begrüßungsrituale fort – bei Wein und Gebäck plauderte man betont entspannt und freundlich miteinander. Vincenzo hielt sich abseits der Gruppe, beobachtete das Geschehen und fragte sich, welche Neuigkeiten der Bischof brachte. Schließlich trat Munari zum Kopfende des langen Tisches und stellte sein Weinglas ab. Einer der Sekretäre läutete eine kleine Glocke und sagte laut: »Ruhe bitte.«
Die Journalisten, die ebenfalls hereingekommen waren, hielten Rekorder und Digitalkameras bereit.
»Meine Damen und Herren, liebe Freunde«, begann der Bischof würdevoll, »ich bringe gute Nachrichten. Der Vatikan erkennt das Wunder von Drisiano an.«
Die Anwesenden applaudierten begeistert.
»In Rom ist man davon überzeugt, dass Gottes Hand den Jungen berührt hat, und durch ihn berührt sie uns sterbliche Sünder.«
»Amen!«, sagte Enrico Corrado laut und bekreuzigte sich.
»Durch Raffaele kommt Gott zu uns«, fuhr der Bischof fort und faltete die Hände. »Der Wille unseres Herrn geschieht durch den Knaben. Die ganze Welt soll es wissen. Die ganze Welt soll daran teilhaben. Das Wunder von Drisiano ist Gottes Wunder in unserer Mitte. Der Herr hat einen einfachen Knaben gewählt, um uns zu sagen: Folgt nicht dem Pfad der falschen Propheten. Folgt dem Weg der Kirche, denn es ist der Weg Gottes, des Schöpfers der Erde und der Menschen.«
»Amen!«, rief Corrado erneut, und die anderen stimmten mit ein.
»Entschuldigen Sie bitte, Euer Exzellenz«, warf einer der Journalisten ein und trat vor. »Als Sie eben von falschen Propheten sprachen … Meinen Sie damit Mohammed und den Islam? Glauben Sie, Gott will uns durch Raffaele zeigen, dass die Lehren des Islam falsch sind und die des Vatikans richtig?«
Es wurde still im Zimmer.
Bischof Munari zögerte und war sich der Brisanz dieses Themas sehr wohl bewusst. »Nur Gott kann wahre Wunder vollbringen«, sagte er ausweichend. »Und das erleben wir hier in Drisiano: wahre Wunder.« Er hob die Hand und kam weiteren Fragen zuvor. »Haben Sie ein wenig Geduld. Sie bekommen später Gelegenheit, Fragen zu stellen. Zuerst möchte ich dieser Gemeinde – und mit Ihrer Hilfe der ganzen Welt – mitteilen, was in naher Zukunft geschehen wird. Es gab Stimmen im Vatikan, die vorschlugen, den Jungen nach Rom zu holen, weil angeblich nur dort ein angemessener Rahmen für das Heil existiert, das er uns bringt. Aber es freut mich sehr, sagen zu können, dass der Heilige Vater meiner Empfehlung gefolgt ist: Raffaele bleibt hier in Kalabrien, wo er seine Wurzeln hat, hier in Drisiano. Aber dieser Ort wird sich verändern. In den nächsten Monaten wird in der Nähe ein großes Wallfahrtszentrum entstehen. Menschen aus aller Welt werden kommen, um das Dorf zu besuchen, in dem Raffaele geboren wurde, und um sich von ihm heilen und segnen zu lassen.«
Wieder ertönte Applaus.
Veränderungen, dachte Don Vincenzo und erinnerte sich an Raffaeles Worte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich Gottes Nähe erhofft, und nun glaubte er, sie endlich gefunden zu haben, aber trotzdem fühlte er sich plötzlich von Unbehagen erfasst. Veränderungen, die nicht nur Drisiano betrafen, sondern die ganze Welt … Und von welchen Stimmen hatte der Junge gesprochen?
4
Hamburg
Von einer sonderbaren Faszination heimgesucht, stellte Sebastian sich vor, wie der Mann abdrückte, wie einen Moment später die Kugel aus dem Lauf der Waffe kam, durch die Stirn in den Kopf schlug – oder durchs Auge; tat das mehr weh? – und seinem Leben, das in den letzten Monaten, nach der Rückkehr aus Italien, recht erbärmlich verlaufen war, ein Ende setzte. Einfach so. Jetzt. Hier. An einem kalten, verregneten Septemberabend in Hamburg. Bumm, Ende des Films. Für immer.
Ihre Blicke trafen sich, und in den Augen des Mannes sah Sebastian eine Verzweiflung, wie sie tiefer und schrecklicher nicht sein konnte, begleitet von einem Schmerz, der die letzten Reste von Rationalität zerfetzt hatte. Worte erübrigten sich, denn es gab niemanden mehr, der sie empfangen und ihre Bedeutung verstehen konnte.
Der Mann schnitt eine Grimasse, und seine Lippen teilten sich zu einem lautlosen Schrei. Dann drehte er die Waffe, steckte sich ihren Lauf in den offenen Mund und drückte ab.
Ein Leben endete, aber nicht das von Sebastian.
Eine Minute verstrich, vielleicht auch zwei, und Sebastian starrte noch immer auf den Mann hinab, der sich selbst eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte.
»Bastian?«
»Er hat es nicht mehr ausgehalten«, sagte er und hörte den rauen Klang seiner Stimme. »Es war zu viel für ihn.«
»Was war zu viel für ihn?«
»Die Verzweiflung.« Das Gesicht des Toten war nicht etwa erschlafft, sondern in einer Grimasse erstarrt. »Und der Schmerz. Er hat ihn um den Verstand gebracht.«
»Es ist nicht nur ihm so ergangen.«
Die Stimme klang vertraut, und als Sebastian den Kopf drehte, sah er, wem sie gehörte: seinem alten Freund Alexander Torensen, Kommissar der Kriminalpolizei. »Nicht nur ihm?«
Torensen deutete zum Apartmenthaus. »Eine junge Mutter hat erst ihre beiden Kinder und dann sich selbst umgebracht. Eine verdammt scheußliche Sache. Kanntest du ihn?« Er zeigte auf den Toten.
»Hab den Burschen heute Abend zum ersten Mal gesehen. Er kam mir komisch vor, und deshalb bin ich ihm gefolgt. Vielleicht ergibt sich was, dachte ich mir.«
»Es hat sich was ergeben, nehme ich an.«
»Ja.« Sebastian erwachte langsam aus der Starre, erinnerte sich an die Kamera und alles andere. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Er nickte in Richtung Gebäude. »Kann ich mir die Sache ansehen?«
»Hast du noch nicht genug?«, fragte Torensen erstaunt. Sebastian zuckte mit den Schultern und wandte sich vom Toten ab. Als sie über den Weg zum Apartmenthaus gingen, regnete es stärker, und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, obwohl das kaum etwas nützte. Bevor sie das Gebäude betraten, sah Sebastian noch einmal zurück. Sein Blick galt den Sanitätern, die die Bahre mit dem Toten in einen der beiden Krankenwagen schoben, aber er bemerkte auch, wie der heftig gestikulierende Taxifahrer von zwei Polizisten vernommen wurde.
Als der Lift sie nach oben in den achten Stock brachte, spürte Sebastian, wie seine Knie zitterten. Um sich abzulenken, musterte er den Mann an seiner Seite. Alexander Torensen trug einen zerknitterten grauen Anzug mit schief sitzender Krawatte – Sebastian hatte ihn nie ohne Krawatte gesehen. Normalerweise lachte und scherzte er gern, aber jetzt war er sehr ernst und blasser als sonst. Und er schien älter geworden zu sein, wirkte trotz seiner siebenundfünfzig Jahre wie Ende sechzig. Zwanzig Jahre trennten sie voneinander, fast eine Generation, und Sebastian hatte sich oft gefragt, wie sich zwei weitere mit schrecklichen Bildern angefüllte Jahrzehnte auf ihn auswirken würden. Er kannte Torensen seit der Universität, als es ihm schwergefallen war, sich zwischen Journalismus und Kriminalistik zu entscheiden. Alexander hatte ihm damals zum Journalismus geraten, aus gutem Grund. Seitdem verband sie eine lockere Freundschaft.
»Du hast wieder getrunken«, sagte Torensen, als Sebastian schwankte.
»Das liegt nicht am Alkohol. Es sind die Knie.« Er stützte sich an der Wand ab. »Als der Kerl die Knarre auf mich richtete … Für einen Moment dachte ich wirklich, es ist aus.«
»Manche Leute haben Glück«, brummte Torensen. »Andere nicht.«
»He«, sagte Sebastian, als sich die Lifttür öffnete, »ich bin doch hier der Zyniker. Was ist los mit dir?«
»Das siehst du gleich.«
Hinten im Flur standen fast zwanzig Personen, mehr als die Hälfte von ihnen Bewohner der Penthouse-Apartments. Die anderen waren Polizisten und medizinisches Personal. Neben dem Eingang der Wohnung am Ende der Diele bemerkte Sebastian drei Särge, zwei kleine und einen großen. Als sie durch die Tür traten, fiel ihm in der Diele ein großes Kreuz an der Wand auf. Daneben hingen zwei Fotos: Das größere von ihnen zeigte den Papst, das andere schräg darunter ein junges Paar mit zwei lächelnden Kindern. Eine Blutspur kam aus einem der Zimmer, in dem zwei kleine Leichen unter Tüchern lagen. Forensische Spezialisten arbeiteten dort.
Sebastian schaltete den Rekorder in seiner Hemdtasche ein und folgte dem Kommissar ins Wohnzimmer, wo eine weitere Leiche unter einem Tuch lag, offenbar die eines Erwachsenen. Sie hielten sich dicht an der Wand und beobachteten die Leute von der Spurensicherung bei der Arbeit.
»Monika Derbach«, sagte Torensen. »Einunddreißig Jahre, seit drei Jahren geschieden. Ihr Ex ist Manager in der Elektronikbranche und überwies ihr monatlich fünftausend Euro.«
»Sehr großzügig«, murmelte Sebastian. Anna bekam keinen Cent von ihm; sie verdiente genug.
»Es gab also keine nennenswerten finanziellen Probleme. Trotzdem beschloss die Frau heute Abend, ihre Kinder und sich zu töten.«
»Fremdverschulden scheidet aus?«
»Darauf deutet bisher alles hin«, sagte Torensen.
»Kann ich sie mir ansehen?«
»Kriegst du nie genug?« Der Kommissar seufzte. »Ich warne dich: Es ist kein angenehmer Anblick.«
Sebastian trat zu der Leiche, ging in die Hocke und hob das Tuch langsam an. Zuerst sah er nur das erschlaffte Gesicht einer Frau, die im Leben sehr schön gewesen sein musste. Als er das Tuch noch etwas weiter hob, sah er die Hand mit dem Messer, den aufgeschlitzten Bauch und die Gedärme. Der Geruch war vielleicht noch scheußlicher als der Anblick. Ihm kam die Galle hoch. Er ließ das Tuch los, richtete sich auf und kehrte zu Torensen zurück.
»Harakiri. Es sieht nach Harakiri aus. Und es gibt einfachere Methoden, sich das Leben zu nehmen.« Eine seltsame Taubheit erfasste Sebastian und dämpfte sogar die Kopfschmerzen. »Sind die Kinder in einem ähnlichen Zustand?«
»Ja.«
»Was wisst ihr über den persönlichen Hintergrund der Frau? Irgendwelche Sekten, esoterische Grüppchen oder etwas in der Art?«
»Die Ermittlungen laufen«, sagte Torensen. »Monika Derbach scheint gläubige Katholikin gewesen zu sein.«
Sebastian schüttelte den Kopf und dachte erneut an Anna. »Katholiken bringen sich und ihre Kinder nicht auf diese Weise um.«
»Für gläubige Katholiken kommt überhaupt kein Selbstmord infrage, gleich auf welche Art«, erwiderte Torensen.
Sebastians Blick galt noch immer dem Tuch. Als die Träger den großen Sarg hereinbrachten, strich sich der Kommissar mit einer Hand über den kahlen Kopf. »Die dritte scheußliche Sache in dieser Woche. Das geht selbst an mir nicht spurlos vorbei. Lothar hatte Schwein, dass ich ihn heute Abend nicht erreichen konnte.«
»Die dritte? Was war mit den beiden anderen?«
»Zwei Fälle drüben in Harvestehude. Suizide mit starken selbstzerstörerischen Elementen.«
Sebastian holte die Kamera hervor. »Kann ich Bilder machen?«
»Beim letzten Mal habe ich deswegen Ärger bekommen.«
»Mir ist nirgends ein Schild aufgefallen, dass hier Journalisten verboten sind.«
Torensen winkte. »Meinetwegen. Aber sei niemandem im Weg.«