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Versunkenes Sehnsuchtsland
Sommer 1944-lange Zeit schien Ostpreußen im Grauen des Zweiten Weltkriegs eine Insel der Seligen zu sein. Als die Ortsnamen in den Frontnachrichten zunehmend vertrauter klangen und weite Teile Deutschlands wie des übrigen Europa allmählich in Schutt und Asche versanken, suchten Ausgebombte aus Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet in Ostpreußen Zuflucht. Hier, in der ländlichen Abgeschiedenheit des Ostens, weitab von der tödlichen Bedrohung aus der Luft, schienen sie sicher. Doch die Ruhe war trügerisch. Das Jahr 1944 brachte den Krieg auch nach Ostpreußen. Je lauter die nationalsozialistische Propaganda den »Endsieg« ankündigte, desto deutlicher war der Geschützdonner zu vernehmen. Hans Graf Lehndorff hielt die besondere Stimmung des Sommers 1944 fest:
Die Vorboten der Katastrophe machten sich bereits in den letzten Junitagen (…) bemerkbar – leichte, kaum ins Bewußtsein dringende Stöße, die das sonnendurchglühte Land wie von fernem Erdbeben erzittern ließen. Und dann waren die Straßen auf einmal überfüllt mit Flüchtlingen aus Litauen, und herrenloses Vieh streifte quer durch die erntereifen Felder, dem gleichen unwiderstehlichen Drang nach Westen folgend. Noch war es schwer zu begreifen, was da geschah, und niemand durfte es wagen, seinen geheimen Befürchtungen offen Ausdruck zu geben. Aber als der Sommer ging und die Störche zum Abflug rüsteten, ließ sich das bessere Wissen von dem, was bevorstand, nicht länger verborgen halten. Überall in den Dörfern sah man Menschen stehen und zum Himmel starren, wo die großen vertrauten Vögel ihre Kreise zogen, so als sollte es diesmal der letzte Abschied sein. Und jeder mochte bei ihrem Anblick etwa das gleiche empfinden: »Ja, ihr fliegt nun fort! Und wir? Was soll aus uns und unserem Land werden?«
Ostpreußen war die erste Provinz, in die feindliche Truppen eindrangen. Dem Schrecken, den Deutschland über ganz Europa gebracht hatte, folgte nun die Rache, und die traf Ostpreußen besonders hart. Mit dem Untergang und dem endgültigen Verlust der Provinz ging etwas Einzigartiges unwiederbringlich verloren. Ostpreußen, das für Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang verschwand, sollte nach 1945 für die Deutschen zu einem verwunschenen Sehnsuchtsland werden, dessen Hymne – das Ostpreußenlied – oft voller Wehmut erklang:
Land der dunklen Wälder
und kristallnen Seen,
über weite Felder
lichte Wunder gehn.
Starke Bauern schreiten
hinter Pferd und Pflug,
über Ackerbreiten
streicht der Vogelzug.
Und die Meere rauschen
den Choral der Zeit,
Elche stehn und lauschen
in die Ewigkeit.
Tag ist aufgegangen
über Haff und Moor,
Licht hat angefangen,
steigt im Ost empor.
Ostpreußen ist für Millionen Deutsche Heimat oder Land ihrer Vorfahren, für andere eine unvergleichlich schöne Landschaft mit einer einzigartigen Natur. Das versunkene Sehnsuchtsland übt eine große Faszination aus, kaum jemand vermag sich seiner Magie zu entziehen. Ausdruck dafür ist nicht zuletzt das enorme mediale Interesse. Seit der politischen Wende in Ostmitteleuropa hat es Filme und Dokumentationen zuhauf gegeben, die alle eines gemeinsam haben: Sie beeindrucken durch stille, unaufgeregte Sequenzen und sind untermalt von ruhiger Musik. Es scheint, als werde hier ein Nerv getroffen, als wecke die Landschaft Ostpreußen mit ihrem hohen Wolkenhimmel, den endlosen schattenspendenden Alleen, den hügeligen Feldern, Masurens Seen und der Küste der Kurischen Nehrung eine Sehnsucht in uns. In unserer als hektisch empfundenen Welt strahlt Ostpreußen nostalgische Naturromantik aus. Gerade um die Weihnachtszeit häufen sich in den öffentlich-rechtlichen Sendern die Beiträge, die sich mit Ostpreußen beschäftigen: »Weihnachten in Ostpreußen«, »Winter in Masuren«, »Reise durch Ostpreußen«. Ein Blick in die deutschen Buchhandlungen bestätigt, daß Bücher von Marion Gräfin Dönhoff, Klaus Bednarz, Arno Surminski, Siegfried Lenz, Hans Hellmut Kirst und Hans Graf Lehndorff sich großer Nachfrage erfreuen. Aber auch Nicht-Ostpreußen zieht das Land an. Der weitgereiste Journalist Ralph Giordano ist einer von ihnen:
Ich steh hier am Ufer und gebe mir Mühe, meine Bewegung zu verbergen. Der strenge Sarkasmus gegenüber der eigenen Person, die bewährte Selbstironie, die eingefleischte Abneigung gegen jede Form von Sentimentalität, sie sehen sich weit abgeschlagen, alle drei irgendwo untergegangen in der glitzernden Fläche bis zur anderen Seeseite – ich bin da. Ich bin da, wo – hin ich schon als Knabe wollte, aber siebzig werden mußte, um den frühen Wunsch endlich erfüllt zu bekommen – ich bin in Ostpreußen!
Zur ostpreußischen Küste gehörten einst die Keitelkähne auf dem Kurischen Haff. Mit den ostpreußischen Fischern, die nach Westen flohen, verschwanden die Kähne aus dem Bild der Landschaft.
Mit Ostpreußen verbinden wir Königsberger Klopse, Ännchen von Tharau, Bernstein, die Kurische Nehrung, Störche, den Himmel über Masuren, Kant, »So zärtlich war Suleyken«, das Führerhauptquartier »Wolfsschanze«, Tannenberg, weite Landschaften, in denen Elche umherstreifen, gigantische Forsten, Menschen mit merkwürdig anmutenden Namen und Dialekten sowie Tausende von verwunschenen Seen.
Die mehr als 3000 Seen Ostpreußens liegen in den Senken des Preußischen Landrückens, der den Süden Ostpreußens von Westen und Südwesten nach Osten und vom Oberland nach Masuren durchzieht. Die größten und bekanntesten sind der Spirding-, der Löwentin- und der Mauersee. In einem alten Ostpreußenlied heißt es: »Du trägst nicht stolze Bergeshöhn«, doch die Ostpreußen waren stolz, daß ihre Kernsdorfer Höhen im Oberland es immerhin auf 313 Meter brachten. Die Landschaften haben klangvolle alte Namen wie Ermland, Natangen, Nadrauen, Masuren und Samland. Die Flüsse – neben dem Pregel insbesondere die schiffbare Memel – stellen die Verbindung her bis weit nach Litauen und Rußland hinein. Hinter der alten ostpreußisch-litauischen Grenze wurde die Memel zum Njemen, einem Strom, an dem viele Völker und ethnische Gruppen zu Hause waren.
Ostpreußen, im äußersten Osten Deutschlands gelegen, unterhielt gute und fruchtbare Kontakte zu den Nachbarn außerhalb des Reiches. Jahrhundertelang war das Land kulturelle Schnittstelle zu den litauisch-baltischen, polnischen und russischen Regionen, auf der anderen Seite war es wie keine andere Provinz des deutschen Sprachraums geprägt durch die ethnischen Eigenarten seiner Bewohner. Davon legt selbst Ostpreußens Küche Zeugnis ab: Die kulinarische Vielfalt unterstreicht die enge Verbindung zu den litauischen, polnischen und russischen Nachbarn. Neben dem ostpreußischen Küchenschlager, den Königsberger Klopsen, ist es Königsberger Fleck – in Polen »Flaki« genannt, der die Herzen ostpreußischer Feinschmecker höher schlagen läßt, ebenso das Schwarzsauer genannte Geflügel in einer angereicherten Blutsuppe, das im Polnischen »Czarnina« heißt. Ostpreußens Sauerampfersuppe entspricht der polnisch-litauischen »Szczawina«, und der köstliche Betenbartsch, hergestellt aus Roten Beten, ist als »Borscht«, »Barszcz« oder »Botwinka« aus der russischen, litauischen und polnischen Küche nicht wegzudenken.
Man schaute aber nicht nur in die Kochtöpfe der Nachbarn, man entlehnte auch Wörter aus deren Sprachen. Auf diese Weise konnte das Prußische, die Sprache der baltischen Ureinwohner, im Ostpreußischen bis 1945 fortleben. Der Flurname »Palwe« etwa stammt aus dem Prußischen und bezeichnet Heideland. Mit dem Aussterben der letzten Ostpreußen wird für immer in Vergessenheit geraten, wie das ostpreußische Wort für Wacholder lautet: »Kaddig« (pruß. Kadegis), im Litauischen »Kadagys«. Prußische, litauische und polnische Einflüsse haben mit der deutschen Amtssprache zuweilen eine derart exotische Melange gebildet, daß Besucher ins Schmunzeln gerieten. Der aus Masuren gebürtige Robert Budzinski hat die landschaftliche Namensvielfalt 1913 in einer humorvollen Liebeserklärung an seine Heimat festgehalten und damit etwas Unverwechselbares überliefert, das wenige Jahre später dem Germanisierungswahn zum Opfer fallen sollte:
Bei meinen Wanderungen stieß ich wiederholt auf Ortschaften mit nicht sehr bekannten, aber desto klangvolleren Namen, so dass ich oft glaubte, mich in einer verzauberten Landschaft herumzutreiben. So fuhr ich einmal mit der Bahn von Groß-Aschnaggern nach Liegetrocken, Willpischken, Pusperschkallen und Katrinigkeiten, frühstückte in Karkeln, kam über Pissanitzen, Bammeln, Babbeln und abendbrotete in Pschintschiskowsken, übernachten wollte ich in Karßamupchen. An dem folgenden Tage lernte ich noch kennen: Plampert, Purtzunsken, Kotzlauken, Mierunsken, Spirokeln, Wannagupchen, Meschkrupchen, Salvarschienen, hörte noch von Spucken, Maulen, Puspern, Plumpern, Schnabbeln, Wabbeln, wurde ohnmächtig und erwachte in Mierodunsken, wo mich der Landjäger von Uschpiauschken hingebracht hatte. Es dauerte lange, bis ich meine Sprache beherrschte, denn meine Zunge drehte sich fortgesetzt im Leibe rum.
Der Aufstieg des Nationalismus bedeutete das Ende dieser exotischen Welt. Die unverwechselbaren Ortsnamen verschwanden, denn sie galten als unzeitgemäß. Manche historisch gewachsenen Ortsnamen hatten schon dem germanisierenden Zeitgeist weichen müssen, aber den Höhepunkt erreichten die wahnwitzigen Umtaufaktionen im Nationalsozialismus, als sämtliche Ortsnamen mit litauischen und masurisch-polnischen Ursprüngen ausgelöscht wurden. In manchen Landkreisen wurden mehr als siebzig Prozent aller Dörfer willkürlich umbenannt. Siegfried Lenz nannte das in dem Roman »Heimatmuseum« die »Taufkrankheit«. Sie hat dieser seit alters her multiethnischen Kulturlandschaft die Seele genommen.
Ostpreußen ist für viele Deutsche immer noch Heimat – verlorene Heimat. Der Verlust verursacht auch nach mehr als einem halben Jahrhundert Schmerz und Trauer. Man muß erzählen von Flucht und Vertreibung, vom Untergang des alten Ostpreußen, wenn man dieses Leid bewältigen will. Ostpreußen hat von allen deutschen Ländern den größten Verlust an Menschenleben erlitten. Von seinen fast 2 490 000 Einwohnern überlebte gut ein Fünftel – davon mehr als die Häfte Zivilisten – Kampf, Flucht, Verschleppung, Lagerinternierung, Hunger und Kälte nicht. Das Land versank in dem Krieg, der von Deutschland ausging und Terror und Verbrechen über ganz Europa brachte.
Siebenhundert Jahre deutscher Geschichte in Ostpreußen sind unter den Trümmern des »Dritten Reiches« verschüttet. Die Menschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern haben über die Kriegsverluste und Bombardierungen hinaus, die sie mit allen Deutschen teilten, mit dem Verlust von Haus und Hof und allen sozialen Bindungen für den von Deutschland ausgehenden Krieg bezahlt. Derartig tiefgreifende Lebenseinschnitte blieben den Bewohnern von Hochschwarzwald, Bayerischem Wald und Lüneburger Heide erspart, doch viele dieser Glücklicheren haben weggesehen, als die Heimatlosen kamen, ja, sie haben sie sogar wie Aussätzige behandelt und beschimpft. Die nach der Flucht in den vier alliierten Besatzungszonen Gestrandeten waren zwar gerettet, aber bei ihren Landsleuten nicht wohlgelitten.
Ohne Zweifel war die materielle Integration durch den Lastenausgleich eine große Leistung, aber es blieb ein weites Feld unbestellt: Der seelische Schmerz wurde verdrängt. Lange Zeit verweigerten sich gerade die Intellektuellen diesem Teil der eigenen Geschichte und überließen die Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der politischen Rechten. Deutsche Opfer waren nicht opportun. Das starre Klischee von »den« Vertriebenen saß tief in den Köpfen. Günter Grass hat dazu durchaus selbstkritisch in seinem Roman »Im Krebsgang« angemerkt: »Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht.« Wer sich dieser Haltung nicht anschloß, wer hören wollte, machte die Erfahrung, daß das Fragen einem politischen Drahtseilakt glich. Grass hat das nachträglich bedauert: »Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.« Genau diese »Schuld« hat dazu beigetragen, daß es an Verständnis für das Leid der Vertriebenen fehlte. Diese Ausblendung führte schließlich zur Arroganz gegenüber dem Leid der Menschen, die ihre Heimat verlassen mußten. Verlust, Trauer und Schmerz prägten und prägen bis heute ihr Leben.
Mit dem Verlust Ostpreußens und anderer Teile Deutschlands haben nicht nur die Menschen, die von dort stammen, sondern alle Deutschen viel verloren. Deutschland verfügt nicht mehr über diese Brückenbauer, die seit Jahrhunderten mit den östlichen Nachbarn vertraut waren. Doch ganz gleichgültig, ob wir den Verlust empfinden oder nicht: Ostpreußen bleibt eine der großen Stätten deutscher und europäischer Geistesgeschichte. Herzog Albrecht, Simon Dach, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Hermann Sudermann, Ernst Wiechert, Hannah Arendt, Erich Mendelsohn, Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz und Lea Rabin, sie alle werden immer Teil des Kulturerbes bleiben, das Ostpreußen uns allen vermacht hat. Hannah Arendt hat lange nach Krieg und Emigration ausgedrückt, was das bedeutet: »In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg.«
Ostpreußen hat mit dem Exodus der Deutschen aber nicht aufgehört zu existieren, auch wenn rückwärtsgewandte Nostalgiker das vorgaukeln mögen. Vielmehr erleben wir eine neue, zuweilen schmerzhafte kulturelle Aneignung durch seine jetzigen Bewohner, die sich in einem atemberaubenden Tempo vollzieht. Wenn sich deutsche Kinder und Enkelkinder aufmachen, die Geburtsorte ihrer Eltern und Großeltern und damit die Wurzeln ihrer Familien kennenzulernen, kehren mit diesen Familiengeschichten längst vergessen geglaubte Landschaften ins Gedächtnis zurück. Ostpreußen – das versunkene Land zwischen Weichsel und Memel – lädt zu einer Wiederentdeckung seiner reichen Geschichte und Kultur und dem unvergänglichen Zauber seiner Landschaft ein.
Der lange Weg ins Deutsche Reich
Die Ursprünge Preußens
Die Geschichte Ostpreußens vor der Landnahme durch den Deutschen Orden liegt weitgehend im dunkeln. Zwischen Weichsel und Memel lebten einst die Prußen, die zu den baltischen Völkern gehörten. Ihre Existenz ist bereits – wenn auch kaum konkret nachweisbar – in antiken Quellen bei Tacitus und Ptolemäus bezeugt.
Bis zur Ordensherrschaft waren die Vorstellungen vom Siedlungsgebiet der Prußen eher vage. Erste Berichte über direkte Kontakte mit den Prußen stammen aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende. Der römisch-deutsche Kaiser Otto III. richtete damals sein Augenmerk auf die christliche Mission der östlich des Reiches gelegenen Gebiete. In Bischof Adalbert von Prag fand der Kaiser einen idealen Verbündeten für seinen Plan. Adalbert (tschechisch Vojtech, polnisch Wojciech, ungarisch Bela), der aus altböhmischem Adel stammte, begab sich auf Missionsreise in das Land der Prußen, wo er 997 von den heidnischen Bewohnern ermordet wurde. Der polnische König Bolesław I. Chrobry sorgte für die Überführung des Leichnams nach Gnesen. Kaiser Otto III. nahm dort im Jahr 1000 an der Beisetzung teil. Schon bald erfolgte die Heiligsprechung Adalberts, der zum polnischen Nationalheiligen aufstieg. Die Verehrung für diesen Heiligen stärkte Gnesens Bedeutung als erstes selbständiges römisches Erzbistum in Polen ganz erheblich. 1039 überführte man die sterblichen Überreste des Bischofs nach Prag, wo Adalbert im Veitsdom seine letzte Ruhestätte fand. Als Missionar hat der Heilige indes wenig erreicht: Die Prußen blieben bis zur Ankunft des Deutschen Ordens im 13. Jahrhundert Heiden.
Unmittelbar vor der Eroberung Preußens durch den Deutschen Orden gliederte sich die Region in zwölf historische Landschaften, die Peter von Dusberg in seiner »Chronik des Preußenlandes« im 14. Jahrhundert aufzählt: Pomesanien, Warmien, Natangen, Samland, Kulmer Land, Löbau, Pogesanien, Nadrauen, Schalauen, Sudauen, Galinden und Barten. Diese wurden – so Dusberg – von Völkern (nationes) bewohnt, was den eigenständigen Charakter der einzelnen Regionen unterstreicht. Obwohl sie über Seehandelsplätze, etwa Truso bei Elbing, verfügten, waren die Prußen keine Seefahrernation, sondern eine ländliche Gemeinschaft, die ihre Geschäfte im Handel mit anderen Völkern hauptsächlich mit Bernstein und Pelzen machte. Den teilweise nicht unbedeutenden Reichtum, den sie dabei anhäuften, belegen Silberfunde aus der Zeit unmittelbar vor der Eroberung durch den Deutschen Orden.
Verschiedenen Orten in Ostpreußen wird eine mythenumwobene prußische Kultstätte »Romuva« zugewiesen, deren oberster Priester, Krivė, hohes Ansehen genoß. Die prußische Götterwelt und die Religion der Prußen sind nur ungenau überliefert. Aus der vielfach getrübten Überlieferung heben sich die Götternamen Perkuns, Natrimpe oder Patrimpe und Patollu ab. Naturkräfte wie Götter verehrten die Prußen in heiligen Hainen und an geweihten Gewässern. Sie praktizierten eine Brandbestattung, die heimlich noch bis ins 15. Jahrhundert hinein vorgenommen wurde. Der Tempel des Kriegsgottes Perkunoi (oder Perjuns, Perkunas, Perkunos), der in Donner und Blitz erschien, lag vermutlich am See Perkune. Perkunoi wurde auch in Litauen verehrt, wo in der vorchristlichen Welt Litauens identische oder ganz ähnliche Gottheiten bekannt waren. Daher finden sich in der litauischen Kultur und Sprache viele Übereinstimmungen mit der prußischen Tradition. Der bis 1945 in Ostpreußen als heilig geltende Berg Rombinus an der Memel wird von den Litauern noch immer verehrt. Über den auf einer Anhöhe stehenden Opferstein des prußisch-litauischen Gottes Perkun hieß es 1834:
Schräge der Stadt Ragnit gegenüber an der andern Seite der Memel erhebt sich hart an dem Ufer des Stroms ein ziemlicher Berg, mit vielen Spitzen und Löchern und bewachsen mit Fichten. Der Berg heißt der Rombinus. Hier war vor Zeiten der heiligste Ort, den die alten Litthauer hatten, denn dort war der große Opferstein, auf welchem ganz Litthauen dem Ersten seiner Götter, dem Perkunos, opferte; von dort aus wurde Heil und Segen über das ganze Land verbreitet. Der Opferstein stand auf der Spitze des Berges. Der Gott Perkunos hatte ihn selbst noch dort hingelegt. Unter dem Stein war eine goldene Schüssel und eine silberne Egge vergraben; denn Perkunos war der Gott der Fruchtbarkeit; darum begaben auch bis in die späteste Zeit die Litthauer sich zum Rombinus und opferten dort, besonders junge Eheleute, um Fruchtbarkeit im Hause und auf dem Felde zu gewinnen.
Das Prußische bildete mit dem Litauischen, dem Lettischen und dem Kurischen die Gruppe der baltischen Sprachen. Da die Prußen im Laufe der Zeit weitgehend germanisiert wurden, überdauerte sie nur in wenigen Zeugnissen. Bis zum Untergang des deutschen Ostpreußen 1945 haben sich jedoch erstaunlich viele Orts- und Flurnamen erhalten, die auf prußische Ursprünge zurückzuführen sind. Insgesamt sind nur 1800 Wörter aus dem Prußischen überliefert, das bis zum 16. Jahrhundert keine eigene Schrift besaß. Erst mit der Reformation erfolgte durch drei Übersetzungen des lutherischen Katechismus unter Herzog Albrecht von Preußen eine Verschriftlichung, die aber den Untergang der prußischen Sprache im 17. Jahrhundert nicht abwenden konnte. Die Prußen selbst gingen indes nicht unter, sondern verschwanden im Laufe eines langen Assimilierungsprozesses, in dem sie ihre kulturellen Eigenarten und ihre Sprache zugunsten der deutschsprachigen Kultur in Ostpreußen aufgaben.
Der Deutsche Orden
Kurz vor der Eroberung Preußens durch den Deutschen Orden verstärkte der Papst seine Missionierungsversuche in Ostmitteleuropa, wobei er auch die heidnischen Prußen im Blick hatte. Da Preußens Nachbarn immer wieder von den Prußen heimgesucht wurden, bat Herzog Konrad von Masowien 1226 den Deutschen Orden um Hilfe. Da die Prußen über kein einheitliches Staatswesen verfügten, sondern in einzelnen Stammes- und Familienverbänden lebten, fiel es dem Deutschen Orden leicht, sie zu unterwerfen. Für die nächsten dreihundert Jahre sollte er die gestaltende Kraft des Landes sein.
Nach der Gründung des Ordens 1198 im Heiligen Land hatten die Ordensritter zunächst in Siebenbürgen gewirkt, waren dann aber von dem ungarischen König Andreas II. des Landes verwiesen worden und suchten seither nach neuen Aufgaben. Hochmeister Hermann von Salza war daher schnell bereit gewesen, das Angebot des masowischen Herzogs Konrad zu akzeptieren, zumal es die Schenkung des Kulmer Landes beinhaltete. Bevor der Deutsche Orden die Prußenmissionierung übernahm, suchte er sich jedoch sowohl beim Papst als auch beim römisch-deutschen Kaiser rechtlich abzusichern. Kaiser Friedrich II. bestätigte ihm schließlich in der Goldenen Bulle von Rimini seine zukünftigen Aufgaben in Preußen, sicherte ihm dort alle Eroberungen zu und hob ihn in den Stand eines Reichsfürsten.
Im Jahre 1230 begann der Deutsche Orden von seiner ersten Burg in Thorn aus das Kulmer Land in Besitz zu nehmen. 1233 erfolgte die Gründung der Städte Kulm und Thorn, dem sich der Vorstoß längs der Weichsel und halbkreisförmig weiter an der Ostseeküste entlang anschloß. Im Jahr 1255 legte man auf einer Erhebung oberhalb der Pregelmündung eine Ordensburg an, die zu Ehren des Kreuzzugsführers König Ottokar II. von Böhmen »Königsberg« genannt wurde. Von Anfang an beabsichtigte der Orden, unabhängig von äußeren Einflüssen als Souverän zu agieren und die Abhängigkeiten von Polen und dem Reich auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Bis das Land 1283 vollständig in seiner Hand war, mußte er sich mehrerer prußischer Aufstände erwehren. Nach der Eroberung Pommerellens 1308 verlegte der Orden den Sitz seines Hochmeisters von Venedig in die Marienburg. Im 14. Jahrhundert erfolgte die Konsolidierung der Herrschaft. Unter Hochmeister Winrich von Kniprode (1351-1382), der als geschickter Diplomat und Verwalter die Interessen der ritterlichen Gemeinschaft brillant vertrat, erreichte der Deutsche Orden den Höhepunkt seiner Macht.
Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn Polen, der in der zunehmenden Machtkonzentration beim Orden eine gefährliche Bedrohung sah. Im Mai 1409 brach ein offener Kampf Polen-Litauens mit dem Deutschen Orden aus. Die Schlacht auf einem Feld zwischen den Dörfern Tannenberg und Grünfelde – weshalb die Polen bis heute von der Schlacht bei Grunwald sprechen – bildete den Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen dem Ordensstaat und der aufstrebenden Jagiellonen-Dynastie um die Vorherrschaft im Ostseeraum. In den heißen Julitagen des Jahres 1410 unterlag der Deutsche Orden unter seinem Hochmeister Ulrich von Jungingen einem Heer unter Führung des polnischen Königs Władysław II. Jagiełło und des litauischen Großfürsten Vytautas. Das Heer des Hochmeisters wurde umzingelt und vernichtet, wobei außer Ulrich von Jungingen und anderen hohen Repräsentanten über 200 Ordensbrüder den Tod fanden, fast ein Drittel aller Ordensritter in Preußen. Die eroberten Fahnen des Ordensheeres wurden nach Krakau und Wilna gebracht und dort in den Kathedralen als Siegestrophäen präsentiert.
Schwarzes Kreuz auf weißem Grund – das Symbol des Deutschen Ordens erlebte seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und Polen eine Renaissance. Historisierend verfälscht, diente es den jeweiligen nationalen Ansprüchen. Dem polnischen Nationalismus galt das Ordenskreuz als Verkörperung des Bösen schlechthin, es war das Zeichen für den deutschen Eroberungszug, den immer wieder zitierten Drang nach Osten. Für die Deutschen hingegen stand das schwarze Ritterkreuz für einstige Größe und die deutsche Kulturträgerschaft im Osten. Erniedrigung und Überhöhung, diese zwei extremen Positionen erlebten eine Renaissance in der Zeit des Nationalismus.
Polen wie Deutsche erwiesen sich als äußerst phantasievoll, wenn es darum ging, den Deutschen Orden für die eigenen Ziele zu vereinnahmen. Kaum etwas spaltete die deutsche und polnische Nation so sehr wie die Geschichte des Deutschen Ordens. Für Polen war Grunwald in der Zeit der Teilungen der nationale Gedächtnisort, mit dem sich die Hoffnung auf die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit verband. Deutlich kam das zum Ausdruck in Jan Matejkos monumentalem Gemälde »Die Schlacht von Grunwald« (1878, heute im Nationalmuseum in Warschau) sowie in Henryk Sienkiewiczs Roman »Die Kreuzritter«, der 1960 aufwendig von Aleksander Ford verfilmt wurde. Auf dem Schlachtfeld – oder jedenfalls dort, wo polnische Historiker das Schlachtfeld vermuteten – wurde 1960 nach einem Beschluß der polnischen Regierung eine nationale Gedenkstätte errichtet.
Zurück zum Jahr 1410. Dem neuen Hochmeister Heinrich von Plauen gelang nach der vernichtenden Niederlage bei Tannenberg ein moderater Friedensschluß, der Erste Thorner Frieden von 1411. Bis auf kleinere Gebietsverluste und ein Strafgeld behielt der Orden sein ursprüngliches Territorium. Polen konnte von dem Sieg materiell zwar nicht profitieren, doch sein Prestigegewinn war gewaltig, während der Deutsche Orden politisch und moralisch nachhaltig geschwächt wurde.
Schon bald kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen Polen und dem Ordensstaat. Im Zentrum des Konflikts stand der Anspruch beider Seiten auf Sudauen, zu dem das östliche Masuren gehörte. Nach erbitterten Kämpfen endete dieser Krieg im Frieden von Melnosee 1422. Der Orden verzichtete auf die von ihm besetzten litauischen Gebiete und stimmte einer Teilung Sudauens zu. Die Grenzziehung wurde 1435 im Frieden von Brest bestätigt. Der in den beiden Friedensschlüssen beschriebene Grenzverlauf zwischen Ostpreußen und Polen – die polnisch-ostpreußische Südgrenze – behielt Gültigkeit bis 1939.
Der überwiegend deutsche Adel sowie die an Einfluß gewinnenden Städte im Ordensgebiet – etwa Danzig, Elbing, Thorn und Kulm – meldeten seit dem 15. Jahrhundert eigene Interessen an, die sie gegen den zunehmend anmaßend auftretenden Deutschen Orden durchzusetzen versuchten. 1440 schlossen sie sich im »Preußischen Bund« zusammen, der für die Herrschaft des Ordens eine ernst zu nehmende innenpolitische Bedrohung darstellte. 1454 eskalierte der Konflikt. Als Alternative zum restriktiven Orden erschien den Ständen der polnische König Kazimierz IV. Jagiellończyk, dem sie die Oberherrschaft über Preußen anboten. Dieser vereinnahmte 1454 das gesamte Ordensgebiet, wobei er Adel und Städten die zugesicherten Rechte bestätigte.
Der Deutsche Orden, der die innenpolitischen Tumulte als Provokation empfand und seinen Einfluß schwinden sah, weigerte sich beharrlich, die Option der preußischen Stände für die polnischlitauische Union anzuerkennen. Der Kampf um die Oberherrschaft in Preußen wurde schließlich im Dreizehnjährigen Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden entschieden, in dem der Deutsche Orden unterlag. Mit dem Zweiten Thorner Frieden von 1466 zerfiel Preußen in zwei Teile, nämlich in das Königliche Preußen und das Preußen, das beim Deutschen Orden blieb. Das des Königliche Preußen umfaßte 23 900 Quadratkilometer, der Deutsche Orden behielt ein Gebiet von 32 000 Quadratkilometern. Zum Königlichen Preußen gehörten das Kulmer Land, Pommerellen und Gebiete auf dem rechten Weichselufer mit Marienburg und Elbing sowie das bischöfliche Ermland, wodurch sich dem ostmitteleuropäische Großreich Polen-Litauen ein Zugang zur Ostsee eröffnete. Die neu geschaffenen Wojewodschaften Pommerellen, Kulm und Marienburg wurden dagegen als »Preußen königlichen Anteils« nicht direkt der Krone Polens unterstellt, sondern erhielten einen auf weitgehenden Freiheiten basierenden Sonderstatus, der den deutsch geprägten Hansestädten eine ungeahnte Blüte bescheren sollte, während für den Deutschen Orden in Preußen der Niedergang begann.
Im Jahr 1511 wählte das Kapitel des Deutschen Ordens Albrecht von Brandenburg aus der jüngeren Linie Hohenzollern-Ansbach zum Hochmeister, der zugleich Reichsfürst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war. Zehn Jahre später zählte der Orden, politisch längst am Ende, nur noch etwa fünfzig Ritter. Luther, mit dem Albrecht im lebhaften Briefwechsel stand, riet dem Hochmeister 1523, den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln und der Krone Polens zu unterstellen. Albrecht folgte dem Rat und huldigte am 10. April 1525 feierlich seinem Onkel, dem polnischen König Zygmunt I. Stary. Dieser belehnte ihn offiziell mit dem Herzogtum Preußen. Damit war der Deutschordensstaat ein weltliches Herzogtum.
Die Inschrift auf dem Grenzstein in der Nähe von Prostken, wo einst die polnisch-preußische Grenze verlief, kündet von dem Grenzstreit zwischen den beiden Ländern, den der polnische König Zygmunt I. Stary und sein Neffe, Markgraf Albrecht von Brandenburg, 1545 friedlich beilegten. In lateinischer Sprache ist dort zu lesen:»Einst, als Sigismund II. August in dem väterlichen Grenzlande und Markgraf Albrecht I. die Rechte ausübten und jener die alten Städte des Jagiello, dieser die Macht der Preußen in Frieden regierte, da ward diese Säule errichtet, welche die Grenzen genau bezeichnet und den Länderbesitz der beiden Herzöge trennt.«
Der fromme Landesherr Albrecht von Brandenburg-Ansbach schrieb mit der Bekehrung zur Lehre Luthers Weltgeschichte, denn durch seinen ungewöhnlichen Schritt wurde das am südöstlichen Rand der Ostsee gelegene Preußen der erste protestantische Staat der Welt. Von diesem unscheinbaren europäischen Herzogtum sollten im 16., 17. und 18. Jahrhundert geistige Impulse in alle Welt ausgehen.
Die Krakauer Huldigung Albrechts vor seinem Lehnsherrn, dem polnischen König Zygmunt I. Stary, war ein brillanter Schachzug, durch den das nicht mehr zu rettende Staatswesen des maroden Ordensstaates als weltliches Herzogtum bewahrt wurde. Erstmals wurde ein festes Lehnsband zwischen einem evangelischen Fürsten und einem katholischen Lehnsherrn geknüpft. Die nationale polnische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts feierte die Lehnsabhängigkeit als nationalen Triumph, woran noch heute ein Gedenkstein auf dem Krakauer Marktplatz erinnert, doch im Grunde profitierten beide Seiten sehr nachhaltig von dieser Verbindung. Nicht zuletzt dürften die verwandtschaftlichen Bande zwischen dem Hohenzollernherzog und Zygmunt I. Stary für die preußischpolnische Zusammenarbeit fruchtbar gewesen sein.
Das Herzogtum Preußen
Nachdem er den säkularisierten Staat der Lehre Luthers zugeführt hatte, heiratete der ehemalige Hochmeister und jetzige erbliche Herzog Albrecht. 57 Jahre lagen die Geschicke Preußens in seinen Händen, 14 Jahre in denen des Hochmeisters, 43 Jahre in denen des weltlichen Herzogs. Wäre ihm weniger Zeit an der Spitze des Staates vergönnt gewesen, wäre der radikale Prozeß der Veränderung schwieriger verlaufen.
Die Nachfolgesicherung in der eigenen Dynastie erwies sich dann aber als äußerst problematisch. Albrechts einziger überlebender Sohn Albrecht Friedrich war regierungsunfähig. Zwar leistete er 1569 auf dem polnischen Reichstag in Lublin den Lehnseid, aber mit ihm wurden zur weiteren Absicherung der Herrschaft auch sein Vetter Georg Friedrich von Ansbach und der Kurfürst Joachim II. von Brandenburg belehnt.
Nach Albrechts Tod im Jahr 1568 hatten Vertreter der preußischen Stände, also des Adels und der Stadt Königsberg, zunächst versucht, ihre Machtbasis auf der Grundlage einer Kuratorenherrschaft auszubauen. Das gefährliche Machtvakuum konnte schließlich beseitigt werden, da es dem letzten aus der Linie der Ansbacher Hohenzollern, Markgraf Georg Friedrich, gelang, die vormundschaftliche Regierung im Herzogtum zu übernehmen. 1578 erfolgte die offizielle Bestätigung seiner Belehnung mit dem preußischen Herzogstitel. Der polnische König Stefan Báthory wirkte direkt bei der Herrschaftssicherung des Hauses Hohenzollern mit und verhinderte damit einen weiteren Machtzugewinn der preußischen Stände. Als Georg Friedrich das Herzogtum 1586 ohne Nachkommenschaft verließ, um sich seinen Ansbacher Stammlanden zu widmen, stand die Erbfolgefrage jedoch wieder im Raum. Obwohl er sich nicht mehr in Preußen aufhielt, gelang es Georg Friedrich, das Land bis zu seinem Tod 1603 in halbwegs stabiler Ordnung zu halten. Danach fiel das Herzogtum in die Vormundschaft der brandenburgischen Kurfürsten, wo es von nun an verbleiben sollte.
Noch war es nicht soweit. Zunächst einmal verschrieb sich der erste Herzog von Preußen mit ganzem Herzen der Reformation und der Verbreitung des Evangeliums. Bereits 1525 plante Albrecht unter Mithilfe Luthers die Ausarbeitung einer neuen Kirchenordnung. Luther selbst hat das Land am Pregel nie persönlich in Augenschein nehmen können, da der Ausbruch der Bauernkriege ihm die Reise dorthin unmöglich machte. Das konnte den Herzog aber nicht von seinem Vorhaben abhalten. Nach der Verabschiedung der preußischen Kirchenordnung Repetitio corporis doctrinae Prutenicae erfolgte die theologische Ausrichtung Preußens auf eine streng lutherische Lehre. Mit der Gründung der lutherischen Universität Königsberg 1544 dokumentierte er zudem deutlich seinen landesherrlichen und kirchenpolitischen Anspruch. Königsberg war nach Marburg die zweite Universitätsgründung eines evangelischen Landesfürsten. Ihr theologischer Einfluß reichte weit über die Landesgrenzen bis Polen und Litauen, ja in den gesamten Ostseeraum hinein.
Herzog Albrecht von Preußen hat mit Luther die Suche nach dem rechten Glauben erörtert, selbst religiöse Texte und Lieder verfaßt und sich nach Kräften bemüht, das Evangelium allen seinen Untertanen nahezubringen, indem er Übersetzungen in ihre Sprachen förderte. Das Porträt von Lucas Cranach d. Ä. stammt aus dem Jahr 1528.
Sollte die Reformation in allen Landesteilen durchgreifenden Erfolg haben, mußte der reformatorische Geist alle erreichen, das Evangelium also in der Muttersprache verkündet werden. Herzog Albrecht, Spiritus rector der Reformation in Preußen, legte daher großen Wert auf Übersetzungen der wichtigsten Werke Luthers in die polnische, litauische und prußische Sprache. 1545 erschien der von Albrecht in Auftrag gegebene Katechismus in prußischer Sprache und verlieh dieser damit Schriftform.
Von Anfang an herrschte Mangel an qualifizierten polnisch- und litauischsprachigen Pfarrern, der sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzen sollte. Man behalf sich zunächst mit Übersetzern, sogenannten Tolken. Die mühselige Übersetzung während der Gottesdienste förderte die Begeisterung für den neuen Glauben freilich nicht. Albrecht stiftete daher herzogliche Stipendien für 24 Theologen an der Universität Königsberg, von denen jeweils sieben für polnischund litauischsprachige Kandidaten vorbehalten waren.
Insbesondere für den südlichen Landesteil Masuren war die Verbreitung der reformatorischen Schriften in polnischer Sprache von grundlegender Bedeutung. Bereits 1533 wurde der polnische »Kleine Katechismus« in Königsberg gedruckt. Der aus Polen geflohene Jan Seclutian erstellte 1547 die erste Übersetzung des »Großen Katechismus«, 1559 das erste polnische Gesangbuch. Dank Albrechts Initiative wurde Preußen darüber hinaus zum Zentrum des litauischen Buchdrucks; Katechismen, Gesangbücher, Gebetbücher nahmen von hier aus ihren Weg in die Nachbarländer. Die erste litauische Grammatik, die »Grammatica Lituanica«, erschien 1653 in lateinischer Sprache in Königsberg. War das Litauische bis dahin nur für geistliche Texte und amtliche Schriften gebraucht worden, machten die Grammatik-Lehrbücher des Tilsiter Pfarrers Daniel Klein diese auch für Anderssprachige verständlich und zugänglich. Ostpreußen wurde zur Wiege der litauischen Schriftsprache.
Im Ostpreußen des 17. Jahrhundert wurden aber nicht nur religiöse Werke verfaßt. Es war auch die Heimat des »Ännchen von Tharau«. Das ursprüngliche Liebesgedicht fand später in Liedform weite Verbreitung. Ännchen wurde 1619 in Tharau als Tochter des Pfarrers Neander geboren. Mit siebzehn Jahren heiratete das Mädchen 1636 den Pfarrer Johannes Portatius, einen Studienfreund Simon Dachs in Königsberg. Aus diesem Anlaß entstand das 1642 erstmals veröffentlichte Gedicht. Ännchen starb im Alter von siebzig Jahren und wurde an der Seite des Sohnes Friedrich aus erster Ehe, der ein Jahr zuvor verstorben war, in Insterburg begraben. 1827 erhielt das Gedicht die uns bekannte Melodie von Friedrich Silcher. Das barocke Gelegenheitsgedicht, geschaffen von dem großen ostpreußischen Dichter Simon Dach, ist ein bedeutendes Zeugnis deutscher Lyrik. Der Glanz der höfischen Repräsentationskultur hatte inzwischen auf die bürgerlich-städtischen Milieus ausgestrahlt, wo man die Feste mit derartigen Dichtungen ausgestaltete. Die heutige Fassung des Textes geht auf Johann Gottfried Herders neuhochdeutsche Übertragung für seine Liedersammlung »Stimmen der Völker in Liedern« von 1778/79 zurück.
Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt;
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
Auf mich gerichtet in Lieb’ und in Schmerz.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!
Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,
Wir sind gesinnt, beieinander zu stahn.
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein
Soll unsrer Liebe Verknotigung sein.
Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
Je mehr ihn Hagel und Regen anficht:
So wird die Lieb’ in uns mächtig und groß
Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Not.
Würdest du gleich einmal von mir getrennt,
Lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt;
Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer,
Durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer.
Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn’
Mein Leben schließ’ ich um deines herum.
Das fruchtbare, hügelige Ermland ist seit dem Zweiten Thorner Frieden von 1466, als es dem Königlichen Preußen zugesprochen wurde, einen anderen Weg gegangen als das übrige Preußen. Insbesondere die konfessionelle Andersartigkeit machte das Ermland und die Ermländer zu einer besonderen Erscheinung im ostpreußischen Schmelztiegel. Noch heute reiben sich Besucher im Herzen Ostpreußens die Augen: Heiligelinde, eine barocke Wallfahrtskirche inmitten der hügeligen Moränenlandschaft, Wahrzeichen des katholischen Ermland inmitten des evangelischen Preußen! Eine solche Architektur erwartete man in der östlichen Weite, die durch norddeutsche Backsteingotik geprägt ist, nicht.
Das zum polnischen Königreich gehörende Ermland war mit umfangreichen autonomen Privilegien ausgestattet. Die Grenzen seiner politischen Selbständigkeit im polnischen Staatsverband wurden jedoch schon bei der ersten Neuberufung des ermländischen Bischofs deutlich. Während das Domkapitel wie gewohnt in Ausübung seines freien Wahlrechts Nikolaus von Tüngen zum Bischof erkor, nahm der König das ihm in Polen zustehende Nominationsrecht bei der Bischofseinsetzung wahr und ernannte den Polen und bisherigen Kulmer Bischof Vincent Kielbassa zum ermländischen Bischof. Die Folge war der Pfaffenkrieg (1467 – 1479), in dessen Verlauf das Ermland noch einmal seine außenpolitische Selbständigkeit demonstrierte, aber schließlich die Oberhoheit Polens anerkennen mußte. Der ermländische Bischof war gleichzeitig Mitglied des polnischen Senats und mußte König und Krone Polens in allen Kriegen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Hochstift geriet damit in eine Abhängigkeit, die es beim Deutschen Orden nicht gekannt hatte.
Der evangelische Herzog Albrecht unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu den katholischen Bischöfen Ermlands; eine Wende trat erst mit Bischof Hosius ein, der als gegenreformatorisches Instrumentarium den Jesuitenorden in das Hochstift holte, der 1565 in Braunsberg ein Gymnasium und ein Priesterseminar gründete. Als darüber hinaus 1579 am Braunsberger Jesuitenkolleg ein päpstliches Missionsseminar eingerichtet wurde, stieg die ermländische Stadt zu einem geistigen Zentrum des Katholizismus im Ostseeraum auf.
In engem humanistischen Austausch mit Königsberg stand auch Heilsberg mit seiner wehrhaften Bischofsburg. Hierher rief Bischof Lukas Watzenrode Nikolaus Kopernikus, seinen 1473 in Thorn geborenen Neffen. Dieser hatte in Krakau, Bologna, Padua und Ferrara studiert und einen juristischen Doktorgrad erworben. Schon während seines Studiums war er Domherr im ermländischen Frauenburg geworden. Sein astronomisches Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium sollte die Welt verändern. Kopernikus kehrte 1503 aus Italien in das Ermland zurück und siedelte 1510 von Heilsberg nach Frauenburg über. Im dortigen ehrwürdigen Dom – dem Zentrum des ermländischen Katholizismus – am Frischen Haff fand er seine letzte Ruhestätte.
Unter der Herrschaft der Hohenzollern
Nach dem Aussterben der herzoglichen Linie ging das Herzogtum Preußen 1603 vorläufig und 1618 endgültig in den Besitz der brandenburgischen Linie der Hohenzollern über. Doch Kurbrandenburg tat sich schwer mit Preußen. Der ständische Widerstand in Ostpreußen gegen die nach absolutistischer Macht strebenden Brandenburger war ungebrochen, alte Freiheiten wurden erbittert verteidigt.
Der erste preußische Herzog aus der Kurlinie war Joachim Friedrich (1598-1608). Ihm folgten Johann Sigismund (1608-1619), der 1613 zum Calvinismus übertrat, und Georg Wilhelm (1619-1640), der erste erbliche Herzog in Preußen. Nach ihm kamen Friedrich Wilhelm (1640-1688) und Friedrich III., der 1701 – als Friedrich I. König in Preußen – die Verschmelzung Brandenburgs und Preußens endgültig besiegelte.
Preußen zeigte sich im 17. Jahrhundert widerspenstig gegenüber den neuen brandenburgischen Landesherren. Die Rechte des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm blieben vielfach beschränkt, denn nach dem Tod Herzog Albrechts war es den preußischen Ständen gelungen, die Macht des Landesherrn einzuschränken. Doch außen- wie innenpolitisch lief die Zeit für den brandenburgischen Kurfürsten, da die Neuordnung Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648 den Aufbau absolutistischer Strukturen ermöglichte. Sein Souveränitätsdrang brachte Friedrich Wilhelm während des Zweiten Schwedisch-Polnischen Krieges aber in eine gefährliche Lage. Als Schwedens König Karl X. Gustav 1655 den Krieg gegen Polen aufnahm, stellte sich der brandenburgische Kurfürst nämlich auf dessen Seite in der Hoffnung, die polnische Lehnsherrschaft abschütteln zu können. Um dieses ehrgeizige Vorhaben zu realisieren, mußte er jedoch vorübergehend die schwedische Lehnshoheit anerkennen. Kaum hatte er diese nach dem schwedisch-preußischen Sieg bei Warschau im Vertrag von Labiau (20. November 1656) abgeschüttelt, zog er an der Seite Polens und Rußlands gegen Schweden. Der strategische Seitenwechsel bescherte ihm mit den Verträgen von Wehlau (19. September 1657) und Bromberg (6. November 1657) am Ende tatsächlich die Souveränität in Preußen.