Der magische Zirkel
Der Verrat
Foto: © privat
Lisa J. Smith hat schon früh mit dem Schreiben begonnen. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie bereits während ihres Studiums. Sie lebt mit einem Hund, einer Katze und ungefähr 10 000 Büchern im Norden Kaliforniens.
Weitere lieferbare Titel von Lisa J. Smith bei cbt:
Die Tagebuch eines Vampirs-Serie
Im Zwielicht (30497)
Bei Dämmerung (30498)
In der Dunkelheit (30499)
In der Schattenwelt (30500)
Rückkehr bei Nacht (30664)
Die Nightworld-Reihe
Engel der Verdammnis (30633)
Prinz des Schattenreichs (30634)
Jägerin der Dunkelheit (30635)
Der magische Zirkel
Die Ankunft (30660, Band 1)
Die Erlösung (30662, Band 3)
1. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch September 2010
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 1992 by Lisa Smith and Daniel Weiss Associates, Inc.
Published by Arrangement with
ALLOY ENTERTAINMENT LLC, New York, NY, USA
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem
Titel »The Secret Circle – The Captive Part 1 & 2«
bei HarperTeen, New York
Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 unter dem Titel
»Die Hexen von Salem – Halloween«
bei CORA Verlag GmbH & Co. KG
Alle deutschsprachigen Rechte dieser Ausgabe
vorbehalten durch cbt in der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische
Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Ingrid Gross
Neu bearbeitet von: Kerstin Windisch
he · Herstellung: AnG
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-04942-3
www.cbt-jugendbuch.de
Feuer, dachte Cassie. Überall um sie herum sah sie die glühenden Farben des Herbstes. Das Orangegelb des Zuckerahorns, das leuchtende Rot des Sassafraslorbeers und das Karmesin des Sumachbuschs. Es schien, als würde Fayes Element die ganze Welt zum Lodern bringen.
Und ich bin mittendrin gefangen.
Mit jedem Schritt, den Cassie die Crowhaven Road hinunterging, wurde die Übelkeit in ihrem Magen schlimmer.
Das gelbe viktorianische Haus am unteren Ende der Straße sah wie immer hübsch aus. Sonnenlicht wurde in glitzernden Regenbogenfarben von einem Glasprisma zurückgeworfen, das im obersten Fenster eines der Türmchen des Hauses hing. Ein Mädchen mit langen hellbraunen Haaren rief von der Veranda her: »Beeil dich, Cassie! Du bist spät!«
»Tut mir leid«, antwortete Cassie und zwang sich, schneller zu gehen, obwohl sie sich am liebsten umgedreht hätte und geflohen wäre. Sie hatte plötzlich das unerklärliche Gefühl, dass Laurel sie nur anzusehen brauchte, um ihr die geheimsten Gedanken vom Gesicht abzulesen. Laurel würde einen Blick auf sie werfen und alles wissen, was letzte Nacht zwischen ihr und Adam geschehen war … Und auch alles über ihr Abkommen mit Faye. Aber Laurel packte sie nur um die Hüfte, schubste sie ins Haus, die Treppe hinauf und in Dianas Zimmer. Diana stand vor einem großen Schrank aus Walnussholz, Melanie saß auf dem Bett. Sean hockte unruhig auf dem Rand des Fensterbretts und rieb sich nervös die Knie.
Adam stand neben ihm.
Er sah auf, als Cassie hereinkam.
Cassie blickte nur für einen Moment in seine blaugrauen Augen, aber das war lange genug. Sie hatten die Farbe des Ozeans, wenn er am geheimnisvollsten war: wenn die Oberfläche in der Sonne glitzerte, doch unergründliche Tiefen darunter warteten. Sein Gesicht war interessant und fesselnd wie immer, mit den stolzen Wangenknochen und dem entschlossenen Mund, doch auch Empfindsamkeit und Humor spiegelten sich in seinen Zügen wider. Aber für Cassie hatte Adam sich verändert, denn sie hatte ihn letzte Nacht anders gesehen; seine Augen waren dunkelblau vor Leidenschaft gewesen und sein Mund …
Weder durch Wort noch Tat, ermahnte sie sich streng und starrte auf den Boden, weil sie es nicht wagte, wieder aufzusehen. Aber ihr Herz klopfte derart heftig, dass sie fürchtete, die anderen könnten es merken. Oh Gott, wie sollte sie es nur schaffen, so weiterzumachen, als wenn nichts geschehen wäre, und ihren Schwur halten? Es kostete sie eine ungeheure Überwindung, sich neben Melanie zu setzen, Adam nicht anzuschauen und seine fast unwiderstehliche Anziehungskraft aus ihren Gedanken zu verdrängen.
Du gewöhnst dich besser daran, dachte sie. Denn von jetzt an wird es immer so sein.
»Gut, wir sind alle versammelt«, sagte Diana. Sie schloss die Tür. »Dieses Treffen findet unter Ausschluss der anderen statt. Sie wurden nicht eingeladen, weil ich nicht sicher bin, ob sie wirklich dieselben Ziele verfolgen wie wir.«
»Ums höflich auszudrücken«, stieß Laurel leise hervor.
»Sie werden ganz schön wütend sein, wenn sie es herausfinden«, gab Sean zu bedenken. Der Blick seiner dunklen Augen schweifte hektisch zwischen Diana und Adam hin und her.
»Sollen sie doch«, erwiderte Melanie nüchtern. Mit ihren kühlen grauen Augen sah sie Sean forschend an und er wurde knallrot. »Das hier ist viel wichtiger als irgendein Wutausbruch von Faye. Wir müssen herausfinden, was mit der schwarzen Energie passiert ist … und zwar jetzt.«
»Ich glaube, ich weiß auch schon, wie«, begann Diana. Aus einem weißen Samtbeutel zog sie einen schimmernden grünen Stein hervor, der an einer Silberkette hing.
»Ein Pendel«, sagte Melanie sofort.
»Ja. Das ist ein Peridot – auch Olivin genannt«, erklärte Diana, an Cassie gerichtet. »Normalerweise benutzen wir klaren Quarz als Pendel, aber diesmal ist Peridot besser – stimmt’s, Melanie? Er wird eher die Spuren der schwarzen Energie aufspüren. Wir gehen jetzt hinunter in die Garage, genau an den Platz, an dem das Böse entwichen ist. Der Anhänger wird sich auf die Richtung einstellen, die die Energie genommen hat, und beginnen auszuschwingen.«
»Hoffen wir jedenfalls«, murmelte Laurel.
»Theoretisch gesehen«, fügte auch Melanie hinzu.
Diana schaute Adam an, der ungewöhnlich still geblieben war. »Nun, was denkst du?«
»Ich glaube, es ist einen Versuch wert. Trotzdem wird es eine Menge geistiger Kraft erfordern, das Ding zu unterstützen. Wir müssen uns alle konzentrieren – besonders da wir kein vollständiger Zirkel sind.« Seine Stimme klang ruhig und gelassen. Cassie bewunderte ihn deswegen. Sie hatte ihr Gesicht Diana zugewandt, doch ihre Augen waren fest auf den Walnussholzschrank an der Wand gerichtet.
Diana wandte sich an Cassie. »Nun, was ist mit dir?«
»Mit mir?« Cassie zuckte erschrocken zusammen und riss ihren Blick von dem Schrank los. Sie hatte die Frage nicht erwartet, schließlich hatte sie keine Ahnung von Pendeln und solchen Sachen. Zu ihrem Entsetzen fühlte sie, wie sie rot wurde.
»Ja, mit dir. Die Methoden, die wir benutzen, mögen zwar neu für dich sein, aber du hast doch sehr oft Vorahnungen.«
»Oh. Nun …« Cassie versuchte, ihre Gefühle zu ergründen, etwas anderes zu spüren als Schuld, Verwirrung und Panik. »Ich halte es … es ist eine gute Idee«, sagte sie schließlich und merkte selbst, wie lahm sie klang.
Melanie rollte die Augen gen Himmel, aber Diana nickte ernst. »Gut, machen wir einen Versuch.« Sie ließ den Peridotanhänger in ihre linke Hand fallen und packte ihn fest. »Gehen wir.«
Cassie konnte kaum atmen. Ihr war immer noch ganz schwindlig von der Wirkung, die Dianas klare grüne Augen auf sie gehabt hatten. Sie waren etwas dunkler als der Peridot, aber von derselben zerbrechlichen Durchsichtigkeit, als ob dahinter ein Licht scheinen würde.
Ich kann nicht, dachte sie und war überrascht, wie einfach nun plötzlich alles war, nachdem sie Diana nun tatsächlich in die Augen geschaut hatte. Ich kann das nicht. Ich werde es Faye sagen müssen – nein, ich werde es Diana beichten. Das ist die Lösung. Ich werde Diana alles selbst gestehen, bevor Faye eine Chance hat. Und ich werde sie überzeugen. Sie wird es verstehen. Diana hat ein so gutes Herz, sie muss es einfach verstehen.
Alle waren aufgestanden. Cassie ebenfalls. Sie wandte sich rasch zur Tür, um ihre innere Aufgewühltheit zu verbergen. Soll ich es ihr jetzt gleich sagen? Sie bitten, noch eine Minute zu bleiben? Da flog die Tür direkt vor ihr auf.
Faye stand auf der Schwelle.
Suzan und Deborah waren hinter ihr. Die Rotblonde sah böse aus und die mürrische Miene der Motorradfahrerin wirkte düsterer denn je. Hinter ihnen standen die Henderson-Zwillinge. Chris runzelte die Stirn, und Doug grinste in einer wilden, verrückten Art, die nichts Gutes verhieß.
»Wollt ihr etwa ohne uns irgendwohin?«, fragte Faye. Sie sprach zu Diana, doch ihr Blick blieb auf Cassie gerichtet.
»Jetzt nicht mehr«, murmelte Laurel.
Diana atmete tief aus. »Ich dachte nicht, dass es euch interessieren würde. Wir wollen die schwarze Energie aufspüren.«
»Nicht interessieren? Wenn der Rest von euch so damit beschäftigt ist? Ich kann natürlich nur für mich selbst sprechen, aber ich bin an allem interessiert, was den Zirkel betrifft. Was ist mit dir, Deborah?«
Die Motorradfahrerin lächelte boshaft. »Ich brenne förmlich darauf.«
»Suzan?«
»Ich auch!«
»Wie sieht’s bei dir aus, Chris?«, setzte Faye ihre Befragung mit hochgezogenen Augenbrauen fort.
»Ich …«
»Schon gut.« Diana hob abwehrend die Hände. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Adam war an ihre Seite getreten. »Wir haben verstanden. Mit dem vollständigen Zirkel haben wir ohnehin größere Chancen. Aber wo steckt Nick?«
»Keine Ahnung«, sagte Faye kühl. »Zu Hause ist er jedenfalls nicht.«
Diana zögerte, dann zuckte sie mit den Schultern. »Wir werden eben das Beste aus dem machen, was wir haben. Gehen wir in die Garage.«
Sie deutete auf Laurel und Melanie. Die beiden traten als Erste aus dem Zimmer und bahnten sich mit den Ellbogen einen Weg durch Fayes Gruppe, die anscheinend gern noch geblieben und sich weiter gestritten hätte. Adam packte Sean und bugsierte ihn aus der Tür. Dann kümmerte er sich um die Hendersons. Deborah und Suzan schauten Faye an und folgten der Gruppe.
Cassie war zurückgeblieben und hatte auf eine Chance gehofft, Diana allein sprechen zu können. Aber Diana schien sie vergessen zu haben. Sie war völlig in ein Blickduell mit Faye vertieft. Schließlich schritt sie mit hocherhobenem Kopf an dem Mädchen vorbei, das noch immer halb den Eingang blockierte.
»Diana …!«, rief Faye. Diese sah nicht zurück, aber ihre Schultern spannten sich an. Sie hörte zu.
»Du wirst sie alle verlieren.« Faye lachte heiser, während Diana zur Treppe ging.
Cassie biss sich auf die Lippe und machte wütend einen Schritt nach vorn. Sie hatte vor, Faye einen ordentlichen Stoß in den Magen zu versetzen. Doch Faye wich geschmeidig aus und versperrte dann ganz die Tür.
»Oh nein, meine Liebe. Wir haben noch ein Wörtchen miteinander zu reden.«
»Ich will aber nicht!«
Faye ignorierte ihren Protest völlig. »Ist er hier drin?« Sie lief schnell zu dem Walnussschrank und zog an einem Griff, aber die Schublade war, wie auch alle anderen, verschlossen. »Verdammt. Aber du kannst herausfinden, wo sie den Schlüssel versteckt. Ich möchte es so schnell wie möglich wissen, kapiert?«
»Faye! Du hörst mir überhaupt nicht zu! Ich habe meine Meinung geändert. Ich werde es doch nicht tun.«
Faye, die wie ein Panther im Zimmer herumgestreift war, um von der einzigartigen Gelegenheit Gebrauch zu machen, sich Dianas Sachen näher anzusehen, blieb abrupt stehen. Sie wandte sich langsam zu Cassie um und lächelte.
»Oh, Cassie«, sagte sie. »Du bringst mich noch ins Grab.«
»Es ist mir ernst. Ich habe meine Meinung geändert.«
Faye lächelte sie nur an, lehnte sich an eine Wand und schüttelte langsam den Kopf. Ihre goldenen Augen unter den schweren Lidern blitzten vor Vergnügen, die lange pechschwarze Mähne fiel ihr über die Schultern, als sie den Kopf bewegte. Sie hatte niemals schöner – oder gefährlicher – ausgesehen.
»Cassie, komm her.« Ihr Ton klang milde, doch leicht ungeduldig, wie der eines Lehrers, der sich mit einem begriffsstutzigen Schüler abgeben muss. »Lass mich dir etwas zeigen.« Sie packte Cassie bei den Schultern und zog sie ans Fenster. »Schau hinunter. Was siehst du?«, wollte sie wissen.
Cassie hörte auf, sich zu wehren, und gehorchte. Sie sah den Klub, die absolute In-Clique der New Salem Highschool, die Kids, die von Schülern und Lehrern gleichermaßen mit Ehrfurcht betrachtet und gefürchtet wurden. Sie waren in Dianas Einfahrt versammelt, ihre Köpfe glänzten im letzten Licht der untergehenden Sonne. Suzans rotblonder Schopf wurde zu schimmerndem Rot, auf Deborahs dunklen Locken tanzten rubinfarbene Lichter, Laurels hellbraunes, langes und Melanies kastanienbraunes, kurzes Haar, die wirren hellblonden Mähnen der Henderson-Zwillinge – alle wurden hell erleuchtet vom rötlichen Glanz am Himmel.
Und dann sah Cassie Adam und Diana, die eng zusammenstanden. Diana hatte ihren Kopf mit dem langen goldblonden Haar auf Adams Schulter gelegt. Er hielt sie beschützend im Arm. Sein eigenes Haar war dunkel wie schwerer roter Wein.
»Wenn du es ihr erzählst, wird es sie umbringen«, ertönte Fayes Stimme hinter Cassie. »Du wirst ihr Vertrauen in alles, woran sie je geglaubt hat, zerstören. Und du wirst ihr den einzigen Menschen wegnehmen, auf den sie sich blind verlassen und an den sie sich lehnen kann. Ist es das, was du willst?«
»Faye …« Cassie kochte vor Wut.
»Und natürlich wirst du aus dem Klub verbannt. Das weißt du doch, oder? Was glaubst du, was Melanie und Laurel empfinden werden, wenn sie hören, dass du mit Dianas Freund herumgeknutscht hast? Keine von beiden wird jemals wieder ein Wort mit dir wechseln, selbst nicht, um die Zahl der Mitglieder vollständig zu erhalten. Der Zirkel wird also ebenfalls zerstört.«
Cassie hatte die Zähne fest zusammengebissen. Sie hatte große Lust, Faye zu schlagen, aber was würde das schon bringen. Denn Faye hatte recht. Cassie glaubte, dass sie es aushalten würde, aus dem Klub ausgestoßen und wieder zur Außenseiterin in der Schule zu werden; sie könnte es auch ertragen, diejenige zu sein, die dem Zirkel den Todesstoß versetzte. Aber die Vorstellung von Dianas Gesicht, wenn sie erfuhr …
Diana würde es nicht verkraften. Und sie würde Cassie kein Wort mehr glauben. Ihre hoffnungsvollen Fantasien, Diana alles zu beichten und auf ihr Verständnis zu hoffen, zerplatzten wie eine Seifenblase.
»Und was ich will, ist doch ganz vernünftig«, fuhr Faye sanft und fast einschmeichelnd fort. »Ich möchte mir den Schädel nur eine kleine Weile ansehen. Ich weiß schon, was ich tue. Du wirst ihn doch für mich holen, nicht wahr, Cassie? Noch heute?«
Cassie schloss die Augen. Hinter ihren geschlossenen Lidern glühte ein Licht, rot wie Feuer.