Inhaltsverzeichnis
VORWORT
»Grüß Gott!«, sagen die Menschen in Süddeutschland gerne zueinander. Freilich meist ohne über das eine wie das andere nachzudenken, verbinden sie damit doch tagtäglich einen Segenswunsch mit dem Bekenntnis zur Kultur, zu der sie gehören, vielleicht sogar zu ihrer Heimat. Muslime fühlen sich kulturellen Wurzeln häufig stark verbunden, und Muslime sprechen gern und jeden Tag von, über und mit Gott.
Was also überrascht an der Formulierung »Grüß Gott, Herr Imam«? Das wird nicht nur an dem immer noch anzutreffenden Irrglauben liegen, es existiere eine Spannung zwischen dem »Gott der Christen« und einem »islamischen Allah«. Dabei ist Letzteres nur die wunderbar wohlklingende, arabische Vokabel für denselben, weil einzigen Schöpfer und Herrn der Welt. Es kommt hier sicherlich hinzu, dass das Bild von einem Imam hierzulande noch weit davon entfernt ist, als Bestandteil des kulturellen Wir-Gefühls wahrgenommen zu werden.
In unserer kleinen oberbayerischen Stadt Penzberg, rund 50 km südlich von München, vielen nur im Vorbeifahren auf der A95 München-Garmisch bekannt, höre ich diesen Gruß tatsächlich tagtäglich. Nicht anders als das für meine katholischen und evangelischen Kollegen in der Seelsorge gilt, ist es hier in den letzten zehn, fünfzehn Jahren selbstverständlich geworden, dass der Imam seinen Platz im gesellschaftlichen und kulturellen Gefüge der Stadt einnimmt, dass er – und mit ihm seine Islamische Gemeinde – ein Teil davon ist.
Dieses Buch geht von dem aus, was in Penzberg gelungen ist. Aber es begnügt sich nicht damit, eine oberbayerisch-muslimische Erfolgsgeschichte zu erzählen. Es ist getragen von der Überzeugung, dass die Muslime in Deutschland – wann und weshalb auch immer sie gerufen wurden oder selbstbestimmt gekommen sind – an der Zukunft dieses Landes ihren Anteil haben. Dass damit schwierige, ja enorme Herausforderungen verbunden sind, wissen und spüren wir alle. Erfolgreich bewältigen können wir sie nur gemeinsam.
Zum ersten Mal im deutschen Sprachraum unternimmt es ein Imam, der von sich sagen darf, ein Hafis zu sein (jemand, der den Koran vollständig auswendig beherrscht), zu den drängenden Fragen, die die Diskussion um den Islam in Europa beherrschen, auf Grundlage seiner theologischen Ausbildung und jahrelangen Praxiserfahrung Stellung zu beziehen. Meine eigenen Wurzeln liegen in Europa. Im mazedonischen Skopje wuchs ich in einem mehrsprachigen Haus auf und in eine viele Generationen zurückreichende, ehrwürdige Reihe von Imamen hinein. Das multiethnische und -religiöse Gepräge des damaligen Jugoslawiens, besonders auch Bosnien-Herzegowinas, woher meine Frau stammt, die Selbstverständlichkeit des Miteinanders, prägt meine Biografie. Die Sorgen vor den Gefahren, die es zerstören können, mit verheerenden Folgen – auch sie haben ihren Anteil daran.
Dieses Buch will Wege aufzeigen, wie Verständigung zu schaffen ist und Gefahren entgegengewirkt werden kann. Trotzdem wird dieses Buch auch Widerspruch ernten. Es beansprucht natürlich nicht, »den Islam« letztgültig für alle Zeiten und Kulturen zu erläutern. Gottes Offenbarung an die Menschen, aus der die Quellen des Islam schöpfen, ist für alle Zeiten unveränderlich. Doch jede Zeit, jede Kultur, hat diese Quellen immer wieder neu befragt. Das hat zu keiner Zeit zu einer Spaltung der Ummah (der Gesamtheit der Muslime) geführt und niemals dem Islam geschadet. Im Gegenteil. Als vitale Religion hat sich der Islam immer dann und dort erwiesen, wo sich die Muslime nicht an die Traditionen anderer Kulturräume und vergangener Epochen gekettet haben, sondern neue Antworten für ihre Lebenswirklichkeit suchten und fanden. Dieses Buch sucht nicht nach Lösungen für die Probleme anderer Völker. Ganz bewusst befasst es sich nicht mit der Arabischen Welt, mit der Türkei oder mit Südostasien, auch wenn immer wieder Aspekte aus der weiten Islamischen Welt einbezogen werden und manche Impulse auch über Deutschland und Europa hinaus von Interesse sein mögen. Das zu beurteilen bleibt den Glaubensgeschwistern überlassen, die in ihrer Kultur das jeweilige Antlitz des Islam reflektieren. Dieses Buch ist an Muslime und Nicht-Muslime in Deutschland im Europa des 21. Jahrhunderts gerichtet. Es stellt sich den Fragen, die diese Generation bewegen, und versucht Antworten zu geben. Diese Antworten sind in den Quellen des Islam verwurzelt und von unserer Lebenswirklichkeit gespeist.
Gleichzeitig verstehen sich die Positionen, die dieses Buch entwickelt, als Beitrag zu einem Prozess, der nie abgeschlossen sein wird. Die Debatte ist nicht nur der Weg, sondern in sich schon ein Ziel.
Gerade die zur Zeit des Erscheinens, im Herbst 2010, in Deutschland aufgerührte Integrationsdebatte macht aber auch erschreckend deutlich, wie weit die Gesellschaft vom Ziel eines konstruktiven Miteinanders entfernt ist. Wieder einmal zeigt sich, dass mit populistischer Stimmungsmache sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu ernten ist als mit dem tagtäglichen Bemühen um Besonnenheit und um seriöse Aufklärung. Bundespräsident Christian Wulff hat in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit nichts als Tatsachen beschrieben, als er formulierte: »Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.« Er erntete dafür nicht nur Zustimmung.
Die Debatte um die Integration der Muslime in das europäische Umfeld wird weitergehen. Der Buchmarkt ist bereits überflutet mit den unterschiedlichsten Beiträgen zum Thema Islam. Manche davon sind bewusst provozierend geschrieben, auch in der Absicht, die Integration infrage zu stellen und letztlich die friedliche Koexistenz zu gefährden. Manche zielen auf den eigenen Profit ab, sei es auf politischer oder auch auf kommerzieller Ebene. Die meisten Publikationen benennen zwar explizit und beharrlich bestehende Probleme, aber nur wenige bringen seriöse Lösungsvorschläge ein. Dieses Buch bietet konkrete Modelle zur Lösung der viel diskutierten Probleme. Es will den Unterschied verdeutlichen zwischen denen, die über Muslime reden und zur Eskalation von Konflikten beitragen, und denjenigen, die mit Muslimen reden und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen.
Meine Islamische Gemeinde Penzberg hat den Druck kompromissloser Islamfeindlichkeit in den letzten Jahren zunehmend zu spüren bekommen. Obwohl sie seit vielen Jahren in vorbildlicher Weise für die gelungene Integration steht – oder womöglich gerade deshalb -, ist sie, wie auch meine Person, zur Zielscheibe von Kräften geworden, die dem Islam per se extremistische Züge, Gewaltaffinität und eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit den Werten der freiheitlichen, demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung zuschreiben. Es gibt leider tatsächlich Muslime, die Dschihad mit Gewalt und Terror verwechseln, unter Scharia mittelalterliche Körperstrafen verstehen und einen Konflikt zwischen Islam und so genannter westlicher Kultur propagieren. Aber es gibt auch Nicht-Muslime, die ihnen folgen. Deren Ideologie, die im Europa des 21. Jahrhunderts eine große Minderheit wegen ihrer Religion pauschal diffamiert und ausgrenzt, stellt heute die wohl meistverbreitete Form von Extremismus dar, mit der unsere Gesellschaft insgesamt konfrontiert ist. Islamfeindliche Agitation nimmt zunehmend alarmierende Dimensionen an; die Gesellschaft und ihre öffentlichen Repräsentanten müssen sich dazu durchringen, diese Form von Extremismus als solchen wahrzunehmen und zu brandmarken. Wir alle, Muslime wie Nicht-Muslime, müssen sicher sein, dass die Instanzen des Staates auf der richtigen Seite stehen und niemand mit extremistischer Gesinnung, welcher Art auch immer, von Ministerien, Gerichten, Behörden oder Schulen aus offen oder verdeckt wirken kann.
In meinen wöchentlichen Predigten lege ich den Schwerpunkt auf die universellen Werte, die so alt sind wie unser Kosmos und auf die ich mich auch in diesem Werk stütze. Im Fokus stehen für mich zwei Instanzen, die miteinander harmonisieren: der Koran und der Prophet einerseits und das Grundgesetz andererseits. Die ersten bieten Orientierung für die Beziehung zum Himmel, das zweite für die Beziehung zur Erde. Darauf fußen meine Person und meine Gemeinde.
Zu den Erfahrungen meiner Gemeinde gehört auch ein ganz außerordentliches Maß an Unterstützung, an Sympathie und Freundschaft, die wir weit über das unmittelbar lokale Umfeld hinaus erfahren haben. Auch darauf stützt sich dieses Buch. Deshalb kann ich hier nur stellvertretend für so viele, die dazu beigetragen haben, meinen Dank formulieren an die Bürgerinnen und Bürger von Penzberg, Rechtsanwalt Hildebrecht Braun, Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler (München), Großmufti Dr. Mustafa Cerić (Sarajevo), Ralph Deja (Pax Christi München), Landesbischof Dr. Johannes Friedrich (Ev.-Luth. Kirche in Bayern), Alois Glück (Bayerischer Landtagspräsident a.D. und Präsident des Zentralkomitees der Katholiken), Dr. Friedemann Greiner (Evangelische Akademie Tutzing), Pfrin. Jutta Höcht-Stöhr (Evangelische Stadtakademie München), Pfarrer Joseph Kirchensteiner (Penzberg), Dr. Heiner Köster (Eugen-Biser-Stiftung), Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Landesvorsitzende FDP Bayern), Bürgermeister Hep Monatzeder (München), Bürgermeister Hans Mummert (Penzberg), Dr. Rupert Neudeck (Grünhelme), Dr. Rainer Oechslen (Beauftragter für interreligiösen Dialog und Islamfragen der Ev.-Luth. Kirche in Bayern), Cem Özdemir (Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen), Stadtrat Marian Offman (Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern), Pfarrer Klaus Pfaller (Penzberg), S.H. Scheich Dr. Sultan bin Mohammed Al-Qasimi (Emirat Sharjah), Dr. Andreas Renz (Ökumenereferat des Erzbistums München und Freising), Stadtrat Josef Schmid (Vorsitzender der CSU-Stadtratsfraktion München), Dr. Margret Spohn (Stelle für interkulturelle Arbeit der LH München), Rudolf Stummvoll (Sozialreferat der LH München), Oberbürgermeister Christian Ude (München), Dr. Stefan Jakob Wimmer (Univ. München, Freunde Abrahams), Landrat Friedrich Zeller (Schongau-Weilheim), die Mitglieder des Vereins »Zentrum für Islam in Europa – München (ZIE-M)«, zahlreiche Publizisten und Journalisten und nicht zuletzt an meine Frau Nermina (Referentin für Bildung und Soziales der Islamischen Gemeinde Penzberg) und unsere beiden Söhne Ammar und Emir, an den Gemeindevorstand Bayram Yerli und seine Frau Gönül (Vize-Direktorin des Islamischen Forums Penzberg), die Mitarbeiter und alle Mitglieder der Islamischen Gemeinde Penzberg, die am meisten zu tragen, einzustecken und zu entbehren hatten an ihrem vielbeschäftigten Imam: Vergelt’s Gott! – Noch sehr viel mehr Menschen haben große und kleine Beiträge dazu geleistet, dass wir an der Zuversicht auf eine gelingende, gemeinsame Zukunft in diesem Land festhalten. Ein einfaches Lächeln und ein freundliches »Grüß Gott« zählen dabei nicht zu den geringsten.
Benjamin Idriz
Penzberg im Oktober 2010
IST DER ISLAM INTEGRIERBAR?
Ein arabisches Sprichwort sagt: »Wenn du 40 Tage mit einem Volk lebst, bist du einer von ihnen.« Es sind bereits weit mehr als 40 Tage verstrichen, seit im Jahre 1964 am Kölner Bahnhof der Millionste Gastarbeiter empfangen wurde.
Weder Politik noch Gesellschaft noch die Gäste sprachen damals von einer Integration. Integration ist aber zunehmend und auch zu Recht zu einem Thema geworden, das alle Gesellschaftsschichten berührt und beschäftigt, insbesondere die Politik, Religionsgemeinschaften sowie jeden einzelnen Bürger, den einen mehr, den anderen weniger. Durch die zunehmende Globalisierung und die dadurch entstandene plurale Gesellschaft sehen wir uns immer mehr vor eine Herausforderung gestellt, deren Namen Integration ist.
In aller Munde ist dieser Begriff Integration, jedoch mit unterschiedlichen Deutungen! Was heißt es, integriert zu sein?
Das eingangs erwähnte arabische Sprichwort vereinfacht doch sehr, wird sich manch einer denken. Und manch einer wird sagen: Integration wird uns nicht gelingen, weil der Islam nicht integrierbar ist! Doch zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Integrationspolitik: Während es für die einen eine hundertprozentige Anpassung, also Assimilation bedeutet, gehen die anderen den Weg der Kompromisse und suchen nach Möglichkeiten, die Traditionen zu erhalten und zu integrieren, ohne besonders aufzufallen. Nicht Selbstaufgabe, sondern Selbstentwicklung soll gefördert werden. Das Letztere entspricht eher der menschlichen Natur und dient damit auch dem Gemeinwohl.
Die Integration, aus islamischer Sicht, ist der Weg der Mitte, den der Koran fordert und fördert. Ihr Gegenteil und ihre gefährlichen Gegenpole heißen Assimilation und Isolation. Daher verlangt der Islam von den Gläubigen den Weg der Integration, ohne sich in die Assimilation oder Isolation zu verirren. Zwischen diesen beiden Polen stellt die Integration eine ausgewogene, aber deshalb auch schwierige Lösung dar. Wer dennoch diesen Weg wählt, verdient das Lob des Propheten: »Der Muslim, der sich in die Gemeinschaft einfügt und integriert und so die Beschwernisse auf sich nimmt, die von Menschen kommen könnten, ist besser als diejenigen, die solche Beschwernisse meiden.« Die Integration ist ein ausgewogenes, ein langwieriges und diffiziles Vorgehen. Wer diesen Weg wählt, gelangt letztlich zum Heil.
Die muslimische Gemeinschaft zeichnet sich ohnehin durch ihre Vorliebe für diesen mittleren Weg aus: »Und also haben Wir gewollt, dass ihr eine Gemeinschaft des Wegs der Mitte seid« (Koran: 2/143). Im Laufe der Geschichte haben die Muslime zwar von Zeit zu Zeit den mittleren, gemäßigten Weg (den der Integration) verlassen und sind in Extreme geraten, aber es gab zu jeder Zeit und in jedem Land auch viele Anhänger der moderaten Richtung.
Die Antwort auf die Frage, ob der Islam integrierbar sei, hängt davon ab, welches Islamverständnis sich im Kopf des muslimischen Menschen gebildet hat. Ob er in gesunder Harmonie mit der Gesellschaft lebt und sich integriert oder nicht, liegt am jeweiligen Charakter der/des einzelnen Gläubigen, weniger am Islam selbst. Da die Integration nicht genau definiert und fest umrissen ist, muss die Frage offen bleiben, welches Verständnis des Islam von der Gesellschaft akzeptiert wird. Denn es wird sowohl die Ansicht vertreten, der Islam sei in jeglicher Form unannehmbar und müsse bekämpft werden, als auch die Ansicht, diese Glaubensrichtung sei annehmbar, wenn sie sich den Grundsätzen der Verfassung unterwerfe. Es gibt jedoch auch diejenigen, die keinen Zweifel daran haben, dass der Islam eine Religion des Friedens ist, und jeden friedfertigen muslimischen Menschen in der Gesellschaft willkommen heißen, unter der Voraussetzung, dass auch er die Grundsätze der Verfassung achtet.
Da jede Religion aus soziokulturellen Gründen zu verschiedenen Auffassungen gekommen ist, haben auch die Muslime eine eigene Auffassung ihrer Religion. In seiner über tausendjährigen Geschichte hat der Islam je nach Epoche und Region verschiedene Formen entwickelt. Auch im Islamverständnis der heute in Europa lebenden Muslime spiegeln sich die theologischen Ansichten und Haltungen vieler solcher Schulen und massenwirksamer Religionsgelehrter wider. So handelt es sich bei dem heute in der Welt praktizierten Islam eher um Ausformungen des Islam, die sich nach dem Tod Muhammads gebildet haben, als um das eigentliche Wesen dieser Religion. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Formen des Islam zu tun: eine, die sich im Zuge der Offenbarung gebildet hat, wie sie Muhammad vom Jahre 610 an zuteilwurde, und eine zweite, die nach Muhammads Tod bzw. nach dem Tod des vierten Kalifen Ali im Jahre 661 für politische Zwecke instrumentalisiert und auch in ihren dogmenfreien Aspekten stark dogmatisiert wurde. Der Islam, wie ihn Muhammad interpretiert und gelebt hat, besitzt einen universellen Charakter und hat die Fähigkeit, sich an jede Epoche und an jeden Ort anzupassen. Doch ein Islamverständnis, dem diese universellen Werte fehlen, ist nicht einmal im Orient integrierbar, geschweige denn im Okzident.
Muhammads Erbe: ein integrativer Islam
Muhammad hat im 7. Jahrhundert in Mekka und später in Medina in einem Umfeld arabischer Kultur und Sprache als Gesandter Gottes gewirkt, in einem vorislamischen, gewissenlosen Umfeld, in dem blutige Schlachten zwischen verfeindeten Stämmen stattfanden, unerwünschte Mädchen nach der Geburt bei lebendigem Leibe begraben, Frauen wie Waren auf Märkten verkauft wurden und die Unterdrückung der Schwächeren durch Stärkere als Naturgesetz galt. Und es begann mit Muhammad nicht nur dort, sondern auch in der ganzen Welt eine neue Ära: Als er auf dem Berg Hira in Mekka meditierte, stieg der Erzengel Gabriel zu ihm herab und überbrachte ihm von Gott die Weisung »Lies!« (Koran: 96/1). Es war eine mutige Stimme nötig, die sich im Namen der lebendig begrabenen Mädchen für das Recht auf Leben erheben und fragen sollte: »Für welche Schuld wurden diese Kinder gemordet?« (Koran: 81/9). Eine Stimme, die sich gegen die unmenschliche Unterdrückung der Sklaven erheben und sagen sollte: »Lasst sie frei!« (Koran: 90/13). Zu einer Zeit, da die anders denkenden und kulturell anders gearteten Menschen mit Vorurteilen und Herablassung behandelt wurden, tat eine Stimme not, die sagte: »Verachtet die Andersartigen nicht, denkt nicht böse über die anderen!« (ähnlich Koran: 49/11-13), also eine Stimme, die Vorurteile bekämpfen und Pluralismus propagieren sollte. Eine kräftige Stimme sollte erklingen, um dem Frauenhandel ein Ende zu setzen und um zu fordern, die bisher völlig entrechteten Frauen an der Erbschaft zu beteiligen.
Eine Botschaft sollte verkündet werden, um all das wiederzubeleben, was Abraham, Moses und Jesus der Menschheit an Gutem hinterlassen haben: »Ich bin gekommen, die moralischen Werte zu vollenden.« In der damaligen Welt war eine Stimme der Liebe zur Freiheit bitter nötig, die rufen sollte: »Ich bin gekommen, um euch die Last von euren Schultern fortzunehmen« (ähnlich im Koran: 7/157), dem Gewissen den Weg frei zu räumen und die Verknechtung des Menschen durch den Menschen zu beenden. Eine vereinende Stimme der Brüderlichkeit in einer Region, in der sich die arabischen Stämme aus nichtigen Gründen Schlachten lieferten, in der jeder seinen eigenen Stamm über die anderen stellte und mit aller Brutalität versuchte, dies durchzusetzen, eine Stimme der Versöhnung in einer Welt der Feindschaft und Gewalt, die sagen sollte: »Schlachtet einander nicht ab!« und »Haltet fest, alle zusammen, an der Verbundenheit mit Gott, und entfernt euch nicht voneinander« (Koran: 3/103).
In einer solchen Gesellschaft, in einer Zeit des Unwissens, veralteter Sitten und blinder Nachahmerei beginnt die Ära Muhammads, der aufgeklärten Stimme, die vom Berg Hira in die Gassen von Mekka herabsteigt und verkündet: »Lest!« (Koran: 96/1), »Greift zur Feder!« (Koran: 68/1), »Denkt nach!« (Koran: 6/50), »Erwerbt Kenntnisse!« (Koran: 39/9). Und sie dauert bis zu seinem Tod 23 Jahre später in Medina an. Mit dieser Botschaft beginnt Muhammad die Menschen dazu zu bewegen, der Stimme ihres Gewissens wieder zu folgen, die für Freiheit, Güte, Moral und Gerechtigkeit spricht.
Wir können den Islam, den Muhammad im Laufe seines 23-jährigen Wirkens als Prophet im Lichte der Offenbarung proklamiert hat, folgendermaßen zusammenfassen – so wie ich als Muslim und Theologe es verstanden habe:
Es gibt nur einen Gott, es gibt nichts seinesgleichen, es gibt keinen außer ihm, dem zu gehorchen und zu huldigen ist. Der Mensch ist Gottes Vertreter auf Erden, und derjenige, der an ihn glaubt, kann diesen Glauben durch gute Taten beweisen, die dem Wohl Gottes, des Individuums und der Gemeinschaft dienen. Der Mensch ist das würdigste Geschöpf Gottes. Daher sind seine Vernunft, Freiheit und Würde, sein Glaube und sein Leben unantastbar. Für ein würdevolles Leben des Menschen auf Erden, für die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Gleichheit, muss sich jedermann bemühen. Der Mensch darf nicht Sklave eines anderen Menschen sein. In den Augen Gottes zeichnet sich ein Mensch vor anderen nicht durch sein Geschlecht, seine Rasse, sein Volk, seinen Status oder seine Gedanken aus, sondern durch seine Gotteserkenntnis, sein Wissen, seinen Charakter und Fleiß. Kein Mensch darf sich über die anderen stellen. Die Frau und der Mann sind gleichgestellt, was ihre Aufgaben und ihre Verantwortung Gott gegenüber betrifft ebenso wie ihre Belohnung dafür; sie sind wie Geschwister füreinander. Die Sicherheit des Menschen darf nicht bedroht werden. Der Mensch muss das, was er sich wünscht, auch für die anderen wünschen, und das, was er für sich meidet, auch von den anderen fernhalten. Reinheit ist die Grundlage des Glaubens: Das Herz muss von schlechten Gefühlen, die Gedanken von Vorurteilen, der Körper und die Kleidung müssen von Verunreinigung, die Umwelt von jeglicher Verschmutzung freigehalten werden; die Sauberkeit und Schönheit sind zu pflegen. Alle Propheten sind gleichgestellt, denn sie haben eine gemeinsame Botschaft. Sie müssen ohne Unterschied geachtet werden. Kirchen, Synagogen, Moscheen und Klöster dürfen nicht bedroht werden. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich; niemand kann die Schuld eines anderen auf sich nehmen. Eine Gott gegenüber begangene Sünde kann nur von Gott vergeben werden; ein Mensch darf einen anderen dafür nicht verurteilen; für eine Gott gegenüber begangene Schuld ist nur das Jüngste Gericht zuständig. Alle Menschen sind auf Erden vor dem Recht gleich. Die Vergehen der Menschen gegenüber anderen Menschen müssen durch Rechtsprechung geahndet werden, damit Anarchie und Verbrechen nicht um sich greifen. Bei Strafen geht es nicht um die Methode, sondern um den Zweck. Dieser Zweck besteht in der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Sicherheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft; die Strafordnung ist nur ein Mittel, über das nur die staatliche Autorität zu bestimmen hat. Die Grundlagen der Staatsführung sind Gerechtigkeit, die Beratung mit dem Volk, die Befähigung der Regierenden und das Wohl der Menschen. Der Frieden ist die Grundlage aller Dinge. Aggression und Usurpation sind Vergehen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, Territorien besetzt sind, wenn Menschen und ihr Land zu befreien sind, kann es notwendig sein, Kriege zu führen, um diesen Missständen ein Ende zu setzen und um die Rechtsverletzungen zu beenden. Krieg ist also nur zur Verteidigung legitim, und in diesem Fall dürfen Frauen, Kinder, alte Menschen und all diejenigen nicht angegriffen werden, die sich in Kirchen, Moscheen, Synagogen und anderen heiligen Räumlichkeiten befinden. Schulen, Arbeitsstätten und sonstige Zivilgebäude sind zu verschonen. Selbst Tiere und die Natur sind zu schützen. Der Frieden ist heilig, der Krieg ist zu verabscheuen. In jeder Hinsicht wie auch in Glaubensangelegenheiten ist Maß zu halten, Exzess und Übertreibung sind zu meiden. Die Religion darf nicht missbraucht werden. Über den Glauben oder Unglauben irgendeines Menschen darf durch andere Menschen nicht geurteilt werden. Der Glaube ist eine private Empfindung, die sich zwischen dem Menschen und Gott ereignet, und diese Intimität muss zugestanden und geschützt werden. Niemand darf als Vermittler zwischen Gott und den Menschen treten. Eine Geistlichkeit wird abgelehnt. Im Glauben ist kein Platz für Zwang. Mit der Offenbarung hat Gott seine Botschaft an die Menschen kundgetan, und Gott hat ihnen auch die Freiheit gegeben, diese Botschaft anzunehmen oder abzulehnen. Man soll sich von Speisen, Getränken und Genussmitteln fernhalten, die zu einer Schädigung des Verstandes, der Gesundheit, der Nachkommenschaft und der Seele führen können. In der Familie, bei Geschäften und sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen sind Vertrauen, Gegenseitigkeit, Vertragstreue und Worthalten die Regel; jeglicher Betrug und jegliches Übervorteilen ist verboten. Jeder Mensch entscheidet selbst, wen er heiratet. Für die Ehe und die Beziehungen im sozialen Leben sind Liebe, Respekt und Treue die gültigen Kriterien. Der beste Mensch ist der, der gut zu seinem Ehepartner ist. Bei Zerrüttung wird den Eheleuten die Freiheit der Scheidung eingeräumt. Alle Schwierigkeiten, Engpässe und jegliche Konflikte sind nicht mit Gewalt, sondern mit Geduld, Dialog und Weisheit zu überwinden. Arbeiten ist Dienst an Gott. Wer arbeitet, verdient etwas, und wer etwas verdient, ist verpflichtet, dem etwas von seinem Verdienst abzugeben, der nichts hat. Armut ist zu bekämpfen. Solange es Armut gibt, ist es eine Sünde, Geld zu sparen oder zu verschwenden, anstatt es zu teilen. Die Machtlosen zu unterdrücken ist Grausamkeit, und Grausamkeit endet im Verfall. Die Kinder sind zu lieben, die Alten zu achten, die Beziehungen zwischen Verwandten, Freunden und Nachbarn zu pflegen, das Wissen der Gelehrten und Wissenschaftler wertzuschätzen. Die Tiere sind gut zu behandeln, an der Natur und den Pflanzen ist kein Raubbau zu treiben. Wissen zu erwerben und sich zu bilden ist für alle, ob Frau oder Mann, eine unerlässliche Glaubenspflicht. In Glaubensangelegenheiten sind der Koran und das Beispiel des Propheten maßgeblich; in weltlichen Angelegenheiten hingegen sind es Vernunft und Erfahrung. Die Ersteren sind unveränderlich, die Letzteren dynamisch. Blinde Nachahmung ist tadelnswert; Gott verlangt vom Menschen nachdrücklich, seine Vernunft anzuwenden und Sachverhalte zu hinterfragen.
»Ich scheide und hinterlasse euch das Buch Gottes; ihr müsst an ihm festhalten und eure Vernunft einzusetzen wissen.« »Denkt an den Tod und verhaltet euch in dem Bewusstsein, dass ihr am Jüngsten Tag durch eine Prüfung gehen werdet.« »Ihr dürft nach meinem Tod einander nicht bekämpfen, kein Blut vergießen, nicht in Extreme verfallen, keine Geheimniskrämerei betreiben, nicht neidisch aufeinander sein, sondern sollt Liebe, Frieden und gegenseitige Achtung verbreiten. Oh Diener Gottes (Muslime und Nicht-Muslime), seid Brüder!«
Wenn wir das Leben Muhammads aus der Perspektive des Korans vorurteilsfrei untersuchen, dann ergibt sich die obige Zusammenfassung des Islam. Sie ist die Quintessenz aus den Inhalten, die Muhammad im Laufe seines 23-jährigen Wirkens als Prophet am meisten hervorgehoben hat. Im Abschnitt dieses Buches »Unsere gemeinsamen Werte« werde ich die religiösen Texte zitieren, die diese Gedanken untermauern.
Muhammad selbst akzeptierte die in der Gesellschaft herrschenden Werte, wenn sie weder im Widerspruch zur Offenbarung noch zur Vernunft standen. Die anderen aber hinterfragte er stets, und er bekämpfte sie wo immer nötig. So entwickelte Muhammad dreierlei Verhaltensweisen:
1. Das Gute anzunehmen: Alles, was richtig war, übernahm er so, wie er es vorfand, und setzte es fort, z.B. die sieben Ratschläge von Noah, die Zehn Gebote von Moses und das doppelte Gebot der Gottes- und Nächstenliebe von Jesus oder aber die vorislamische Tradition der Gastfreundschaft bei den Arabern. Also stellte er sich nicht kategorisch gegen alles Vorislamische, sondern er riet, alles fortzuführen, was schön und gut war.
2. Die Abweichungen zu korrigieren: Er kritisierte die Anbetung von Götzen und andere Abweichungen vom monotheistischen Gottesverständnis und rückte abwegige Moralvorstellungen zurecht.
3. Die Fehler zu bekämpfen: Er nahm eine radikal ablehnende Haltung gegen menschenunwürdige Praktiken ein, wie die Tötung von neugeborenen Mädchen, die Nichtanerkennung der Frauen bei einer Erbschaft, Sklaverei und Blutrache. Er verbot diese Sitten ausdrücklich.
Die Stadt Mekka, wo Muhammad geboren wurde, aufwuchs und die Offenbarung zum ersten Mal erhielt, veränderte sich durch seine Botschaft. Die arabischen Stämme, die bisher gewohnt waren, die eigene Überlegenheit auch mit Gewalt durchzusetzen und einander in Rachegelüsten aus nichtigen Gründen bis aufs Messer zu bekämpfen, begannen sich nun zu verändern und über die von Muhammad vorgebrachten Ideen nachzudenken. Während viele der Gesellschaften, die im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel lebten, heidnisch waren, kam jetzt aus ihrer Mitte jemand, der die Offenbarung Gottes erhalten hatte und nicht nur den Anspruch auf eine neue Glaubenswahrheit erhob, sondern mit der Zeit auch Anhänger fand. Diese Entwicklung hatte einen Umbruch in den traditionellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Strukturen zur Folge. Es handelte sich in Mekka um ein gesellschaftliches Umfeld, in dem die Vielgötterei (nicht Christentum oder Judentum) und rücksichtslose und grausame Moralvorstellungen vorherrschten. Nun entstand dort ein neuer Wahrheitsanspruch auf der Grundlage der Einheit Gottes und der Gerechtigkeit. Oder mit den Worten des Korans: Glaube (iman) und rechtschaffene Handlung (amel salih). Muhammad bekämpfte einerseits den Polytheismus und trat die Beweisführung für einen monotheistischen Glauben an und ging andererseits mit Grausamkeit und Ungerechtigkeit hart ins Gericht, wobei er sich stets auf die Seite der Sklaven, der Frauen, der Waisen und der unteren Schichten stellte (Beispiele aus dem Koran: 89/17-20, 90/11-16).
Als Muhammad und seine Anhänger, die diesen Diskurs mitverfochten, von den Herrschenden der Stadt als eine organisierte und ihnen gefährliche Kraft wahrgenommen wurden, begann man sie zu attackieren. Denn die Verbreitung der neuen Botschaft bedeutete einen Niedergang des herrschenden polytheistischen Glaubens und seiner Ideologie und eine Störung der Interessenlage. Einige Stammesführer, die diese Gedankenfreiheit nicht dulden wollten und um ihre despotische Macht besorgt waren, wandten gegen Muhammad und seine Anhänger Gewalt an und vertrieben sie aus Mekka. Ein Teil der Muslime wanderte auf ihrer Suche nach einem sichereren Ort auf Gottes Erde – wie von Muhammad empfohlen – nach Abessinien aus und fanden in diesem christlichen Land Zuflucht, das von einem Priesterkönig regiert wurde. Die Feststellung im Koran, dass die Christen es sind, die den Muslimen am nächsten stehen (Koran: 5/82), wurde so zum ersten Mal im heutigen Äthiopien in die Praxis umgesetzt. Dort wurde durch die Initiative Muhammads und die positive Antwort des Negus, des Herrschers von Abessinien, der Grundstein für den islamischchristlichen Dialog gelegt. Später wird Muhammad für diesen Priesterkönig eine Trauerfeier in Mekka veranstalten, als ihn die Nachricht von dessen Tod erreicht. Abessinien war zwar ein sicheres Land, aber aufgrund der Entfernung hielt Muhammad Ausschau nach einem näher gelegenen Ort. Die Wahl fiel auf eine kosmopolitische Stadt, in der u.a. auch Juden lebten: Medina (damals noch Yathrib genannt).
Der türkische Theologe İlhami Güler stellt Folgendes fest: Die Tatsache, dass die Polytheisten des Stammes Quraisch ihren heidnischen Glauben und ihre Interessen gefährdet sahen, daher in den Muslimen von Anfang an eine politische Gruppierung erblickten und ihnen politisch entgegentraten, machte aus deren Gemeinschaft eine politische Organisation. Doch dieser politische Charakter der frühen Muslime bedeutet nicht, dass die Absicht bestand, einen zentralistischen (Gottes-)Staat nach der Art von Byzanz zu gründen.
Mit der Ankunft Muhammads in Medina beginnt der Islam einen sozialen Charakter anzunehmen. In dieser Stadt, in der 18 Stämme unterschiedlichen Glaubens lebten, herrschte ein Vakuum an zentraler Autorität. Jeder Stamm gehorchte seinem Ältesten, und wenn es zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Stämmen kam, wurde dieser im Allgemeinen mit dem Schwert gelöst. Durch die Einwanderung der Muslime aus Mekka stieg die Bevölkerungszahl Medinas um einiges, und das Problem der heterogenen feudalen Struktur verschärfte sich weiter. Eine gerechte Autorität tat not, die ein Zusammenleben aller Stämme in Frieden gewährleisten sollte. Innerhalb kurzer Zeit machte sich die Anwesenheit Muhammads in Medina durch seine natürliche Autorität und durch eine starke Zunahme der muslimischen Bevölkerung bemerkbar. Eine seiner Reden vor der heterogenen Bevölkerung Medinas beendete Muhammad mit folgenden Worten, in denen er ein uraltes und ewig gültiges Ideal der Menschheit zur Sprache bringt: »Oh Diener Gottes! Seid Brüder!« Dies bedeutete ein Ende aller bestehenden Streitigkeiten, eine Entwertung aller Unterschiede der Hautfarbe, Rasse, Stammeszugehörigkeit und Sprache, sodass der Mensch hervortrat. Der Tugend wurde der Vorrang erteilt, das Teilen wog schwerer als alle Besitzansprüche und die Gerechtigkeit war allen Autoritäten überlegen.
Es wurde ein Garant benötigt, der diesen Idealen zur Verinnerlichung und zur Umsetzung verhelfen sollte, d.h. eine Verfassung, auf die sich die Gesellschaft stützen konnte. Um dies zu verwirklichen, erarbeitete Muhammad einen Vertrag, indem er die 18 muslimischen und nicht-muslimischen Stämme an seine Seite nahm. Dieses Abkommen von Medina, diese weltgeschichtlich bedeutsame schriftliche Verfassung, die im Jahre 1889 von dem evangelischen Theologen Julius Wellhausen (gest. 1918) ins Deutsche übersetzt wurde, hatte zum Ziel, in Medina die gesellschaftliche Ordnung, die Bürgerrechte, den inneren Frieden und die Verteidigung der Stadt gegen Angriffe von außen zu gewährleisten.
Durch diesen Vertrag wurden die unterschiedlichen Gemeinschaften auf bestimmte gemeinsame Werte verpflichtet. Der häufigste Begriff, der im Text vorkommt, ist Gerechtigkeit. Die weiteren Grundbegriffe, von denen der Text spricht, sind Güte, Schutz, Sicherheit, Verteidigung, Glaubensfreiheit sowie Unrecht und Gewalt. Es liegt auf der Hand, dass Muhammad mit diesem Text schon die Ziele der ihm vorschwebenden soziopolitischen Ordnung formulierte: Gerechtigkeit, Güte, Frieden, Freiheit, Sicherheit – d.h. eine Gesellschaft des Rechts, die gegen jegliches Unrecht, jegliche Gewalt und Aggression die Tugend und Aufrichtigkeit setzt. Er unternahm in Medina den Versuch, eine auf Stammesverhältnisse oder den Glauben beruhende gesellschaftliche Struktur durch eine zivile Struktur der Stadt zu ersetzen, die sich auf Werte der Moral und Gerechtigkeit stützte. In diesem Sinne ist das Abkommen von Medina das soziopolitische Dokument eines Staatsverständnisses, das seiner Zeit weit voraus war und im Dunkel der damaligen Zeit wie eine Sonne aufging, deren Licht künftige Generationen erhellte. Das Abkommen sah auch die Notwendigkeit einer Verteidigung vor, sollte dieser Frieden von außen bedroht werden. Und da das medinensische Volk angegriffen wurde, begannen in der Tat eine Reihe unerwünschter Auseinandersetzungen.
Als dieses Abkommen durch einen Teil der jüdischen Stämme dadurch einseitig aufgehoben wurde, dass sie die gemeinsame Verteidigungspflicht verweigerten, bedeutete dies für Muhammad keineswegs, dass die darin proklamierten Werte ihre Gültigkeit verloren. So betonte er in den darauffolgenden Jahren und in seiner berühmten »Abschiedsrede« (khutbatul-wada’) im Jahr 622 wiederholt die Bedeutung dieser Werte und verlangte von seinen Anhängern, ihnen treu zu bleiben. Während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Medina war Muhammad mit vielen sozialen, rechtlichen und politischen Problemen konfrontiert, bei deren Lösung er stets die Gerechtigkeit zur Richtschnur machte.
Er vergriff sich nie am öffentlichen Eigentum, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, kleidete sich wie alle Mitglieder der Gesellschaft und führte ein bescheidenes Leben. Bei seinem Tod hinterließ er kein finanzielles Erbe, da er den Betrag von 7 Drachmen, die er besaß, vor seinem Tod verschenkte. Mit 63 Jahren erkrankte er und starb. Seine Geschichte als Gesandter Gottes beginnt während einer Kontemplation auf einem Berg bei Mekka mit dem Erscheinen des Erzengels Gabriel, der ihm die Aufforderung Lies! verkündete, und endet mit dem Vermächtnis, das er als kranker Mann in den Armen seiner Frau Aischa in Medina aussprach: »Ich rate euch, dass ihr euer Gebet verrichtet [Treue zu Gott] und euch gegenüber euren Frauen und den Menschen unter eurer Verantwortung wohl verhaltet [Frauen- und Menschenrechte].« Wenn wir unser Augenmerk auf die Worte richten, die er zu Beginn, am Ende und während der ganzen Zeit seines Wirkens aussprach, finden wir folgende drei Ratschläge: Lies, bete und tue Gutes! Das ist auch die Quintessenz des Islam.
Ein Muslim oder eine Muslimin, der oder die den Islam von der Perspektive Muhammads aus wahrnimmt, annimmt und praktiziert, wird sich sowohl in eine morgenländische als auch eine abendländische Gesellschaft integrieren können. Er oder sie ist als Mitglied der Gesellschaft eine Persönlichkeit, deren Ziel es ist, in Frieden und Harmonie mit den anderen Mitbürgern der Gesellschaft zusammenzuleben. Diese Persönlichkeit können wir folgendermaßen porträtieren:
Das Porträt der idealen muslimischen Persönlichkeit in Bezug auf Integration
1. Sie kümmert sich um die Bildung ihrer Kinder vom Kindergarten an in allen Stufen der Schullaufbahn, sie bemüht sich insbesondere um ihre sprachliche Entwicklung und nimmt Kontakt mit den Lehrern und der Schulleitung auf; sie arbeitet mit diesen zusammen und nimmt an Elternsprechtagen regelmäßig teil; sie bringt sich in den Familienbeirat ein; sie sorgt bei ihren Kindern für ein gesundes Selbstbewusstsein, für Bildung und Berufsausbildung; sie fördert die künstlerischen Neigungen ihrer Kinder; sie nimmt sich reichlich Zeit, um mit ihnen zu spielen und zu lernen; sie wendet in keiner Weise Gewalt gegen sie an, sondern fördert ihr Selbstvertrauen; sie zieht sie in einer freien, unkomplizierten und transparenten Atmosphäre mit Liebe groß, wobei sie ihnen rät, Freundschaften mit Kindern aus unterschiedlichen Volks- und Glaubenskreisen zu schließen, indem sie sie in universellen moralischen Werten unterrichtet …
2. Sie hält den ersten Befehl des Korans, »Lies!«, hoch als Weisung bei allen Aufgaben, Gedanken, Zielen und Träumen. Sie bemüht sich intensiv in allen Stufen der Schulbildung von der Grund- bis zur Hochschule und zeichnet sich in diesem Prozess durch ihren guten Charakter, ihr Interesse am Lesen, Schreiben und Forschen aus; sie schließt Freundschaften mit gebildeten Menschen und orientiert sich am Erfolg ihrer Bildung …
3. Sie legt Wert auf Hochschulbildung oder Berufsausbildung, verbringt ihre Freizeit mit Aktivitäten, die nützlich für ihre körperliche und geistige Entwicklung sind, wobei sie sich von allen Verhaltensweisen fernhält, die für ihren Glauben, Verstand und Körper schädlich sind; sie fängt mit schlechten Gewohnheiten erst gar nicht an, verabscheut Gewalt und Fanatismus und hält Abstand zu allem, was mit Straftaten zu tun hat …
4. Sie interessiert sich für Politik und Gesellschaft, ist mit den politischen Verhältnissen des Ortes und des Staates, in dem sie lebt, vertraut und kennt die maßgeblichen Mandatsträger entweder persönlich oder dem Namen nach. Sie informiert sich über politische Entscheidungsträger wie den/die Bundespräsidenten /in, den/die Bundeskanzler/in, die Minister dieses Landes und auch anderer Länder; sie nimmt an den Problemen des Landes teil, verfolgt die Medien in der Landessprache, beteiligt sich zusammen mit ihrer Familie an den öffentlichen Veranstaltungen der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen; sie nimmt ihr aktives und passives Wahlrecht in Anspruch und unterstützt bei internationalen Begegnungen das Sportteam des Landes, in dem sie lebt …
5. Sie kennt bezüglich des Landes, in dem sie lebt, die Sprache, Kultur, Verfassung, Gesetze, Staatsstruktur, Werte, Mentalität, Nationalhymne, Geschichte, Identität, Traditionen, bedeutende historische Persönlichkeiten und all die Besonderheiten, die diesem Land seinen spezifischen Charakter verleihen; sie macht sie sich zu eigen und zeigt Respekt davor …
6. Sie misst ihrer Körperpflege und ihrer Kleidung große Bedeutung bei und vermeidet ein Aussehen, das die Toleranz anderer überbeanspruchen würde; mit ihrer sauberen, eleganten, ästhetisch angenehmen, einfachen, modernen Kleidung in gut zusammenpassenden Farben strebt sie eine Harmonie mit der Jahreszeit, dem Zeitalter und der geografischen Region an, in der sie lebt …
7. Sie ist fleißig und aufrichtig, sie verdient ihren Lebensunterhalt im Schweiße ihres Angesichts; sie ist ihrer Beschäftigung treu, führt ihre Arbeit in hoher Qualität aus; sie nimmt nicht unnötig Sozialhilfe in Anspruch und vermeidet es, auf Kosten der Arbeitslosenhilfe zu leben; sie verlässt nicht unerlaubt ihren Arbeitsplatz, um zu beten, sondern sie verrichtet ihre Arbeit zu dieser Stunde, als ob sie ihr Gebet wäre; sie wird ihren Arbeitgeber und die Finanzbehörden des Staates nicht betrügen; sie unterhält gute Beziehungen mit ihren Arbeitskollegen …
8. Sie schafft nach Möglichkeit Arbeitsplätze, die dem wirtschaftlichen Wohl des Landes dienen, sie lässt ihre Beschäftigten nicht schwarzarbeiten; sie schließt für sie alle erforderlichen Versicherungen ab und zahlt ihnen rechtzeitig den Lohn; sie führt ihre Steuern regelmäßig ab; sie unterstützt als Sponsor gemeinnützige Initiativen …