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Joy Fielding

Lauf, Jane, lauf!



Roman

Aus dem Amerikanischen
von Mechthild Sandberg-Ciletti




Inhaltsverzeichnis


Das Buch
Die Autorin
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Copyright
Joy Fielding

gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller „Lauf, Jane, lauf“ waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de

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(alle auch als E-Book erhältlich)

1

An einem Nachmittag im Frühsommer ging Jane Whittaker zum Einkaufen und vergaß, wer sie war.

Sie stand an der Ecke Cambridge und Bowdoin Street mitten in Boston und wurde sich plötzlich ohne jede Vorwarnung bewußt, daß sie zwar genau wußte, wo sie war, aber keine Ahnung hatte, wer sie war. Sie wußte, daß sie auf dem Weg ins Lebensmittelgeschäft war, um Milch und Eier zu besorgen. Die brauchte sie für den Schokoladenkuchen, den sie backen wollte; warum sie ihn hatte backen wollen und für wen, konnte sie aber nicht sagen. Sie wußte genau, wieviel Gramm Schokoladenpulver das Rezept vorschrieb, aber ihr eigener Name fiel ihr nicht mehr ein. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie verheiratet oder alleinstehend, verwitwet oder geschieden, kinderlos oder Mutter von Zwillingen war. Sie wußte weder ihre Größe noch ihr Gewicht noch ihre Augenfarbe. Sie wußte ihren Geburtstag nicht und nicht ihr Alter. Sie konnte die Farben der Blätter an den Bäumen benennen, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob sie blond oder brünett war. Sie wußte, wohin sie wollte, aber sie hatte keine Ahnung, woher sie kam.

Der Verkehrsstrom in der Bowdoin Street floß langsamer und kam zum Stillstand. Rechts und links lösten sich Menschen von ihrer Seite, wie von einem Magneten zur anderen Straßenseite hinübergezogen. Sie allein stand wie festgewachsen, nicht imstande, einen Schritt zu tun, kaum fähig zu atmen. Vorsichtig, bewußt langsam, den Kopf im Kragen ihres Trenchcoats versteckt, blickte sie verstohlen erst über die eine, dann über die andere Schulter. Passanten schossen an ihr vorbei, als sei sie gar nicht vorhanden, Männer und Frauen, deren Gesichter keinerlei äußere Zeichen von Selbstzweifel zeigten, deren Schritt kein Zögern verriet. Sie allein stand völlig still, nicht willens – nicht fähig –, sich zu bewegen. Sie nahm Geräusche wahr – Motorengebrumm, Hupen, das Gelächter von Menschen, den Klang ihrer Schritte, der abrupt abbrach, als die Autoschlangen sich wieder in Bewegung setzten.

Sie hörte das giftige Flüstern einer Frau – »diese kleine Nutte«, zischte sie – und glaubte einen Moment lang, die Frau spräche von ihr. Aber sie war offenkundig im Gespräch mit ihrer Begleiterin, und keine der beiden schien sich auch nur im geringsten bewußt, daß sie neben ihnen stand. War sie unsichtbar?

Eine irrwitzige Sekunde lang dachte sie, sie wäre vielleicht tot, so wie in einer dieser alten Twilight Zone Episoden, in der eine Frau sich mutterseelenallein irgendwo auf einer nächtlichen Straße wiederfindet und verzweifelt bei ihren Eltern anruft, nur um von ihnen hören zu müssen, daß ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei und was ihr überhaupt einfiele, sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen? Aber dann bestätigte die Frau, deren Mund sich eben noch geringschätzig um das Wort ›Nutte‹ gekräuselt hatte, ihre Existenz mit einem freundlichen Lächeln, wandte sich wieder ihrer Begleiterin zu und ging mit ihr über die Straße.

Tot war sie also offensichtlich nicht. Und unsichtbar auch nicht. Wieso konnte sie sich an etwas so Blödsinniges wie eine Szene aus Twilight Zone erinnern, aber nicht an ihren Namen?

Neue Menschen sammelten sich um sie und warteten, mit den Schuhspitzen aufs Pflaster trommelnd, ungeduldig darauf, die Straße überqueren zu können. Wer auch immer sie war, sie war nicht in Begleitung. Es war niemand da, bereit, ihren Arm zu nehmen; niemand, der besorgt von der anderen Straßenseite herüberspähte und sich wunderte, wieso sie zurückgeblieben war. Sie war allein, und sie wußte nicht, wer sie war.

»Bleib ruhig«, flüsterte sie sich zu und suchte im Klang ihrer Stimme nach einem Fingerzeig, aber selbst die Stimme war ihr fremd. Sie verriet nichts über Alter oder Personenstand, ihr Akzent war nichtssagend, bemerkenswert allenfalls der Unterton der Panik. Sie hob eine Hand zum Mund und sprach hinein, um nicht unnötig aufzufallen. »Keine Panik. In ein paar Minuten ist alles wieder klar.« War es eine Gewohnheit von ihr, mit sich selbst zu sprechen? »Alles schön der Reihe nach«, fuhr sie fort und fragte sich, was das bedeuten sollte. Wie sollte sie der Reihe nach vorgehen, wenn sie völlig im dunkeln tappte? »Nein, das stimmt nicht«, korrigierte sie sich. »Einiges weißt du. Du weißt sogar eine ganze Menge. Überleg mal«, ermahnte sie sich lauter und sah sich sofort hastig um, aus Angst, jemand könnte sie gehört haben.

Eine Gruppe von vielleicht zehn Personen bewegte sich auf sie zu. Die wollen mich holen und dorthin zurückbringen, von wo ich entsprungen bin, war ihr erster und einziger Gedanke. Aber dann begann die Führerin der Gruppe, eine junge Frau Anfang Zwanzig, in dem vertrauten breiten Bostoner Tonfall zu sprechen, der ihrer eigenen Stimme merkwürdigerweise fehlte, und sie erkannte, daß sie für diese Leute ebenso belanglos war wie zuvor für die beiden Frauen, deren Gespräch sie mitangehört hatte. War sie überhaupt für jemanden von Belang?

»Sie sehen«, sagte die junge Frau, »Beacon Hill ist ein Viertel, von dem aus die Bewohner bequem zu Fuß zur Arbeit gehen können. Es galt lange Zeit als das beste Wohnviertel der Stadt. Seine steilen Straßen sind mit Kopfstein gepflastert, und die Bauten, die sie säumen, sind teils private Stadthäuser aus Backstein, teils kleinere Mietshäuser, deren Erbauung in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann und bis zum Ende des Jahrhunderts fortgesetzt wurde.«

Alle nahmen die privaten Stadthäuser aus Backstein und die kleinen Mietshäuser gebührend zur Kenntnis, dann fuhr die junge Frau in ihrem sorgfältig eingeübten Vortrag fort. »Eine Anzahl der größeren und eleganteren Häuser ist in den letzten Jahren wegen der Wohnungsknappheit und der explodierenden Immobilienpreise in Eigentumswohnanlagen umgewandelt worden. Beacon Hill war früher eine Hochburg der Yankees, auch heute leben hier noch viele der alten Bostoner Familien, aber mittlerweile sind Mitbürger jeglicher Herkunft willkommen  – vorausgesetzt, sie können die Hypotheken beziehungsweise die Mieten bezahlen.«

Mildes Gelächter und eifriges Nicken quittierten ihre Worte, ehe die Gruppe Anstalten machte weiterzugehen. »Entschuldigen Sie, Madam«, sagte die Führerin, wobei sie die Augen weit öffnete und den Mund zu einem übertrieben breiten Lächeln verzog, so daß ihr Gesicht einem dieser sonnengelben Smilie-Anstecker glich. »Ich glaube, Sie gehören nicht zu unserer Gruppe?« Die Feststellung kam als Frage heraus, bei der sich die letzten Worte parallel zu den Mundwinkeln der Sprecherin aufwärts schwangen. »Wenn Sie sich für einen Stadtrundgang interessieren, sollten Sie sich an den Bostoner Verkehrsverein wenden. – Madam?«

Die Strahlefrau war in ernster Gefahr, ihre gute Laune zu verlieren.

»Der Verkehrsverein?« fragte sie die junge Frau, deren selbstverständlicher Gebrauch der Anrede ›Madam‹ die Vermutung nahelegte, daß sie sie für mindestens dreißig hielt.

»Gehen Sie die Bowdoin Street in südlicher Richtung bis zur Beacon Street – am State House vorbei, das ist das mit der goldenen Kuppel. Da ist es dann gleich. Es ist leicht zu finden.«

Hast du eine Ahnung, dachte sie, während sie der Gruppe nachsah, die die Fahrbahn überquerte und in der nächsten Seitenstraße verschwand. Wo ich mich nicht mal selbst finden kann!

Einen Fuß zaghaft vor den anderen setzend, als wate sie durch unbekannte und möglicherweise gefährliche Gewässer, ging sie die Bowdoin Street hinunter. Sie achtete kaum auf die ehrwürdigen Bauten aus dem vergangenen Jahrhundert, sondern konzentrierte sich auf den Weg, der vor ihr lag. Sie überquerte die Derne Street, dann Ashburton Place, alles ohne Zwischenfall, aber keine der Straßen und auch nicht das State House, das plötzlich vor ihr aufragte, weckten irgendeine Ahnung, wer sie sein könnte. Sie bog in die Beacon Street ein.

Vor ihr dehnte sich, genau wie die Strahlefrau verheißen hatte, der Boston Common. Ohne dem Granary-Friedhof Beachtung zu schenken, auf dem, wie sie sich ohne Mühe erinnerte, Berühmtheiten so unterschiedlicher Natur wie Paul Revere und Mother Goose ihre Gräber hatten, eilte sie am Besucherzentrum vorbei zum Park und wußte instinktiv, daß sie das in der Vergangenheit viele Male getan hatte. Die Stadt Boston war ihr nicht fremd, ganz gleich, wie fremd sie selbst sich war.

Sie merkte, wie ihr die Knie weich wurden, und dirigierte sich zu einer Bank, auf der sie sich niedersinken ließ. »Keine Panik«, wiederholte sie mehrmals laut, sprach die Worte wie ein Mantra vor sich hin, da sie wußte, daß niemand nahe genug war, sie zu hören. Dann begann sie eine lautlose Rekapitulation aller ihr bekannten  – wenn auch größtenteils unwichtigen – Fakten. Es war Montag, der 18. Juni 1990. Die Temperatur, für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, lag bei 68 Grad Fahrenheit. 32 Grad Fahrenheit war der Gefrierpunkt von Wasser. Bei 100 Grad Celsius konnte man ein Ei kochen. Zweimal zwei war vier; vier mal vier war sechzehn; zwölf mal zwölf war 144. Das Hypotenusenquadrat war gleich der Summe der Kathetenquadrate. E = mc2. Die Quadratwurzel aus 365 war ... sie wußte es nicht, aber irgend etwas sagte ihr, daß das ganz in Ordnung war – sie hatte es nie gewußt. »Keine Panik«, hörte sie sich von neuem sagen, während sie die Falten aus ihrem beigefarbenen Mantel strich und schlanke Oberschenkel unter ihren Händen fühlte. Die Tatsache, daß sie ein wahrer Quell an nutzlosen Informationen war, beruhigte sie; wenn ein Mensch solches Wissen behalten konnte, dann mußte er sich irgendwann auch seines eigenen Namens erinnern können. Sie würde sich erinnern. Es war lediglich eine Frage der Zeit.

Ein kleines Mädchen kam mit ausgebreiteten Armen über die Wiese auf sie zugelaufen, gefolgt von ihrer behäbigen schwarzen Kinderfrau. Flüchtig schoß ihr die Frage durch den Kopf, ob das ihr kleines Mädchen sein könnte, und sie streckte unwillkürlich die Arme aus. Aber die Kinderfrau zog die Kleine hastig weg und schleppte sie mit einem argwöhnischen Blick zur Bank zu den Schaukeln in der Nähe. Habe ich Kinder? überlegte sie und fragte sich, wie eine Mutter ihr Kind vergessen könnte.

Sie blickte auf ihre Hände. Ein Ring am Finger würde ihr wenigstens verraten, ob sie verheiratet war. Aber ihre Hände waren schmucklos, wenn auch am Ringfinger ihrer Linken eine dünne Linie zu erkennen war, vielleicht ein Zeichen, daß dort früher ein Ring gesessen hatte. Sie musterte die Stelle genau, aber es ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen. Ihr fiel auf, daß der dezente korallenrote Nagellack stellenweise abgeblättert und ihre Fingernägel bis zum Fleisch hinunter abgenagt waren. Sie senkte den Blick zu ihren Füßen. Sie hatte flache, cremefarbene Lackschuhe an, von denen der rechte etwas eng war und an der großen Zehe drückte. Sie zog ihn aus, erkannte den Namen Charles Jourdan auf der Innensohle, stellte fest, daß er Größe 38 hatte, und schloß daraus, daß sie wahrscheinlich mindestens einsfünfundsechzig groß war. An der Art, wie ihre Arme an ihrem Körper entlangglitten, spürte sie trotz des zugeknöpften Mantels, daß sie schlank war. Was sonst wußte sie über sich selbst, abgesehen von der Tatsache, daß sie weißer Hautfarbe und weiblichen Geschlechts und, wenn die Strahlefrau und die Haut ihrer Hände ein Indiz waren, deutlich über zwanzig Jahre alt war?

Zwei Frauen kamen vorüber, eingehakt, große Handtaschen baumelten an ihrer Seite. Meine Handtasche! dachte sie voller Erleichterung und tastete nach einem Riemen über der Schulter. Die Handtasche würde ihr alle Fragen beantworten – wer sie war, wo sie lebte, welche Lippenstiftfarbe sie trug. Sie würde eine Brieftasche mit ihren Papieren enthalten, den Führerschein, die Kreditkarten. Sie würde ihren Namen und ihre Adresse wieder wissen, ihren Geburtstag, was für einen Wagen sie fuhr – wenn sie überhaupt Auto fuhr. In ihrer Handtasche steckten alle Geheimnisse ihres Lebens. Sie brauchte sie nur zu öffnen.

Sie brauchte sie nur zu finden.

Hastig schob sie den Fuß wieder in den Schuh, lehnte sich an die stumpfgrünen Leisten der Parkbank und blickte der Tatsache ins Gesicht, vor der sie in ihrer Angst bisher beharrlich die Augen verschlossen hatte – daß sie gar keine Handtasche hatte. Die Ausweispapiere, die sie vielleicht zu Beginn dieser verwirrenden Odyssee bei sich gehabt hatte, waren jetzt nicht mehr in ihrem Besitz. Nur um ganz sicher zu sein, um sich zu vergewissern, daß sie die Tasche beim Hinsetzen nicht achtlos hatte fallen lassen, sah sie sich aufmerksam zu ihren Füßen um. Sie ging sogar mehrmals um die Bank herum, wodurch sie erneut den argwöhnischen Blick der schwarzen Kinderfrau auf sich zog, die ihren kleinen Schützling auf der Schaukel anstieß. Sie lächelte der dunkelhäutigen Frau zu, fragte sich, was sie überhaupt zu lächeln hatte, und wandte sich ab. Als sie einige Sekunden später wieder hinübersah, war die Kinderfrau dabei, das laut protestierende Kind vom Schaukelplatz wegzuziehen. »Siehst du, du hast ihr angst gemacht«, sagte sie laut zu sich selbst und tastete automatisch ihr Gesicht nach Spuren von Entstellungen ab. Sie fand keine, versuchte jedoch weiter wie eine Blinde mit den Fingern in ihrem Gesicht zu lesen.

Es war schmal und oval, mit hohen Wangenknochen, die vielleicht eine Spur zu stark hervorsprangen, und kräftigen, ungezupften Augenbrauen. Die Nase war klein, und die Wimpern waren von Tusche verklebt. Vielleicht, dachte sie, hatte sie sich die Augen gerieben und dabei die Tusche verschmiert. Vielleicht hatte sie geweint.

Mit einem Ruck straffte sie die Schultern, sprang auf und rannte aus dem Park. Ohne auf das Rotlicht zu achten, lief sie durch den Verkehr zu einer Bank an der Ecke Beacon Street. Sie klopfte so kräftig an die Glastür, daß sie die Aufmerksamkeit des Filialleiters auf sich zog, eines vorzeitig kahlen jungen Mannes, dessen Kopf im Verhältnis zu seinem Körper um einige Nummern zu groß schien. Sie hielt ihn für den Filialleiter, weil er einen Anzug mit Krawatte trug und das einzige männliche Wesen in einem Raum voller Frauen war.

»Tut mir leid«, sagte er freundlich, wobei er die Tür gerade so weit aufzog, daß er seine große Nase durch den Spalt stecken konnte, »aber es ist nach vier. Wir schließen um drei.«

»Wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie verzweifelt, erstaunt über die Frage, die sie gar nicht hatte stellen wollen.

Das Stirnrunzeln des Mannes verriet, daß er ihre Frage als eine Forderung nach Sonderbehandlung auslegte. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er, einen Anflug unmißverständlicher Schärfe in der Stimme. »Wir sind gern bereit, Sie zu bedienen, wenn Sie morgen wiederkommen. Dann lächelte er ein abschließendes Lächeln, das jede weitere Diskussion verbat, und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Sie blieb an der Glastür stehen und starrte in den Schalterraum, bis die Frauen drüben zu tuscheln begannen. Wußten sie, wer sie war? Wenn ja, so wurden sie ihres Anblicks bald müde und wandten sich, von ihrem wild gestikulierenden Chef angetrieben, wieder ihren Computern und Bilanzen zu. Sie schien für sie nicht mehr zu existieren.

Sie atmete ein paarmal tief durch, dann ging sie die Beacon Street hinunter zur River Street, zurück zu den von privaten Stadthäusern und kleinen Mietshäusern gesäumten Kopfsteinpflasterstraßen. Wohnte sie in einem dieser alten Häuser? Hatte sie genug Geld, um die Hypotheken beziehungsweise die Miete zu bezahlen? Arbeitete sie für ihren Lebensunterhalt, oder ließ sie andere für sich arbeiten? Vielleicht wohnte sie gar nicht in einem dieser edlen alten Häuser, sondern ging nur zum Putzen dorthin.

Nein, für eine Putzfrau war sie zu teuer gekleidet, und ihre Hände waren, wenn auch unbestreitbar ungepflegt, zu weich und zu glatt für jemanden, der körperliche Arbeit verrichtete. Vielleicht putzte sie diese Häuser nicht, sondern verkaufte sie. Vielleicht war sie hergekommen, um sich mit einem Interessenten zu treffen, um ihm ein kürzlich renoviertes Haus zu zeigen, und hatte – was? Einen herabfallenden Ziegelstein auf den Kopf bekommen? Unwillkürlich tastete sie ihren Kopf nach Beulen ab, fand keine, stellte nur fest, daß ihr Haar sich aus der Spange gelöst hatte und ihr nun in vereinzelten dünnen Strähnen in den Nacken hing.

Sie bog nach rechts in die Mt. Vernon Street ab, dann nach links in die Cedar Street, immer in der Hoffnung, daß irgend etwas ihrem Gehirn ein Startsignal geben würde. »Gebt mir doch bitte einen Anstoß«, flehte sie die baumbestandenen Straßen an, als sie an der Revere Street wiederum abbog und zur Embankment Road weiterging. Die Sonne war hinter einer dicken grauen Wolke verschwunden, und ihr war kalt, obwohl die Temperatur unverändert blieb. Sie erinnerte sich, daß der Winter verhältnismäßig mild gewesen war und die Experten einen weiteren heißen Sommer vorhersagten. Sie führten es auf den Treibhauseffekt zurück. Treibhaus. Treibgas. Ozonloch. Saurer Regen. Rettet den Regenwald. Rettet die Wale. Spart Wasser – duscht zu zweit.

Sie fühlte sich plötzlich völlig erschöpft. Die Füße taten ihr weh, die große Zehe ihres rechten Fußes war völlig taub. Ihr Magen knurrte. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Was aß sie übrigens gern? Konnte sie kochen? Vielleicht machte sie gerade irgendeine verrückte Diät, die ihr Hirn in Mitleidenschaft gezogen hatte. Oder vielleicht war sie high. Von Drogen. Oder von Alkohol. War sie betrunken? War sie jemals betrunken gewesen ? Wie sollte sie merken, ob sie betrunken war oder nicht?

Sie bedeckte die Augen mit den Händen und wünschte sich den eindeutigen dumpfen Kopfschmerz, der einem Kater vorauszugehen pflegte. Ray Millands Verlorenes Wochenende, dachte sie und fragte sich, wie alt sie sein mußte, um sich an Ray Millands zu erinnern. »Helft mir doch«, flüsterte sie in ihre Hände. »Bitte, hilf mir doch einer.«

Reflexartig blickte sie auf ihr Handgelenk, um nach der Zeit zu sehen, und stellte fest, daß es fast fünf war. Seit beinahe einer Stunde irrte sie herum und hatte in der ganzen Zeit nichts gesehen, das ihr auch nur den geringsten Hinweis darauf geben konnte, wer sie war. Nichts erschien ihr vertraut. Niemand hatte sie erkannt.

Sie erreichte die Charles Street, eine bunte Vielfalt von Läden und Geschäften, das Lebensmittelgeschäft neben dem Juwelier, Haushaltswaren Tür an Tür mit Kunst und Antiquitäten. War sie auf dem Weg hierher gewesen, um ihre Milch und ihre Eier einzukaufen?

Ein Mann drängte sich an ihr vorbei und lächelte, aber es war das Lächeln, das am Ende eines anstrengenden Tages eine matte Seele mit der anderen tauscht, und sagte nichts von Bekanntschaft. Dennoch war sie versucht, den Mann festzuhalten und ihm ein Zeichen des Erkennens abzubetteln, wenn nötig eine Identität aus ihm herauszuschütteln. Aber sie ließ ihn unbelästigt vorübergehen, und die Gelegenheit war versäumt. Aber sie konnte ja auch nicht einfach wildfremde Menschen auf der Straße angehen. Die würden womöglich die Polizei holen und sie einsperren lassen. Schon wieder so eine Verrückte auf dem Selbstfindungstrip.

War sie vielleicht wirklich verrückt? Gerade aus einer Anstalt ausgebrochen? Aus dem Gefängnis? War sie auf der Flucht? Sie lachte über so viel Melodramatik. Wenn sie nicht schon verrückt gewesen war, bevor das alles angefangen hatte, würde sie es ganz bestimmt werden, ehe es vorüber war. Würde es überhaupt vorübergehen?

Sie stieß die Tür zu einem Tante-Emma-Laden auf und trat ein. Wenn sie in diesem Viertel wohnte, war es gut möglich, daß sie öfter hier einkaufte; oft genug hoffentlich, um dem Inhaber bekannt zu sein. Langsam ging sie zwischen den Regalen mit den Konserven auf ihn zu.

Der Inhaber, ein junger Mann mit Pferdeschwanz und schmalem Mund, war mit mehreren Kunden beschäftigt, von denen jeder behauptete, zuerst dagewesen zu sein. Sie stellte sich hinten an, hoffte auf einen Blick des Erkennens, wünschte sich inbrünstig ein freundliches »Hallo, Mrs. Smith. Ich komme sofort«. Aber sie hörte nur eine fremde Stimme, die eine Packung Zigaretten verlangte, und sah nur den mageren Rücken des Verkäufers, als dieser sich umdrehte, um die Zigaretten aus dem Regal zu holen.

Über die linke Schulter warf sie einen Blick auf eine Reihe unwahrscheinlich schöner junger Frauen, die sie von den Titelblättern diverser Zeitschriften anlächelten. Sie ließ sich hinüberziehen zum Zeitungsständer und starrte wie gebannt auf ein Gesicht von feuriger Schönheit. ›Cindy Crawford‹ stand in leuchtend pinkfarbenen Lettern neben dem Gesicht. ›Supermodel‹. Kein Zweifel, wer sie war.

Sie zog das Heft heraus und studierte das Gesicht des Models: braune Augen, braunes Haar, links von den leicht geöffneten Lippen ein Leberfleck, der sie von den Hunderten gleichermaßen hübscher Gesichter ringsum unterschied. So schön, dachte sie. So jung. So selbstsicher.

Wieder wurde ihr bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wie sie selbst aussah, keine Vorstellung, wie alt sie war. Sie umklammerte die Zeitschrift so fest, daß ihre Ränder sich nach innen bogen. »Hey, Lady!« Sie drehte sich um und sah den warnend wackelnden Zeigefinger des Ladeninhabers. »Die Zeitschriften nur rausnehmen, wenn Sie sie kaufen wollen.«

Sie nickte schuldbewußt wie ein Kind, das beim Einstecken eines Kaugummis ertappt worden ist, und drückte die Zeitschrift an die Brust, als wäre sie ihr einziger Halt.

»Also, kaufen Sie sie oder nicht?« fragte der junge Mann. Die anderen Kunden waren gegangen, sie waren allein im Laden. Jetzt bot sich ihr die beste, vielleicht einzige Gelegenheit zur Konfrontation.

Sie stürzte zur Theke und sah, wie er hastig zurückwich. »Kennen Sie mich?« fragte sie, mit Mühe die Panik in ihrer Stimme unterdrückend.

Er musterte sie konzentriert, mit zusammengekniffenen Augen. Dann neigte er den Kopf zur Seite, so daß ihm der Pferdeschwanz auf die rechte Schulter hing, und ein Lächeln kroch ihm über den schmalen Mund und krümmte ihn leicht. »Sind Sie wer Berühmtes?« fragte er.

Sie sagte nichts, wartete mit angehaltenem Atem.

Er mißverstand ihr Schweigen als Bestätigung. »Ja, ich hab schon gehört, daß sie hier in Boston zur Zeit ein paar Filme machen«, sagte er und ging ein paar Schritte nach rechts, um sie im Profil zu begutachten, »aber ich geh selten ins Kino, und aus dem Fernsehen kenn ich Sie nicht. Spielen Sie in einer von den Seifenopern mit? Ich weiß schon, daß die Schauspieler immer in die Einkaufszentren kommen und so. Ich mußte mal mit meiner Schwester zu so ’ner Veranstaltung. Sie wollte unbedingt Ashley Abbot aus Jung und Rastlos sehen. Jung und Nutzlos, sag ich immer. Machen Sie da mit?«

Sie schüttelte den Kopf. Welchen Sinn hatte es, diese Farce weiterzuführen? Er kannte sie offensichtlich so wenig wie sie sich selbst.

Sie sah, wie sein Körper sich straffte, abweisend wurde. »Aber für die Zeitschrift müssen Sie trotzdem bezahlen, auch wenn Sie noch so berühmt sind. Sie macht zwei fünfundneunzig.«

»Ich – ich habe meine Handtasche vergessen«, sagte sie leise.

Jetzt sah der Mann ärgerlich aus. »Ja, glauben Sie vielleicht, nur weil Sie in irgendeiner blöden Fernsehserie mitspielen, können Sie ohne Geld rumlaufen? Bilden Sie sich ein, bloß weil Sie ’n ganz hübsches Gesicht haben, schenk ich Ihnen alles, was Sie haben wollen?«

»Nein, natürlich nicht...«

»Entweder Sie zahlen jetzt für das Heft, oder Sie verschwinden aus meinem Laden. Ich hab was Besseres zu tun, als meine Zeit mit Ihnen zu vertun. Und Leute, die mich verarschen, brauch ich schon gar nicht.«

»Das wollte ich doch gar nicht. Ehrlich.«

»Zwei Dollar fünfundneunzig«, sagte er wieder und hielt ihr die geöffnete Hand hin.

Sie wußte, sie hätte ihm einfach die Zeitschrift zurückgeben sollen, aber sie tat es nicht. ›Cindy Crawford‹ sah so schön aus, so glücklich, so verdammt selbstsicher. Hoffte sie vielleicht, daß etwas von dieser grenzenlosen Selbstsicherheit auf sie abfärben würde? In der Hoffnung, etwas Kleingeld zu finden, griff sie hastig in die Taschen ihres Trenchcoats, erst in die eine, dann in die andere, und konnte nicht glauben, was sie fand. Ihre Hand war voll knisternder neuer Hundert-Dollar-Scheine.

»Wau!« Der Mann hinter der Theke pfiff durch die Zähne. »Haben Sie vielleicht ’ne Bank ausgeraubt oder so was?« Dann: »Oder haben Sie die selbst gedruckt?«

Sie sagte nichts, starrte nur auf das Geld in ihrer Hand.

»Ist ja auch egal. Mit Hundert-Dollar-Scheinen kann ich jedenfalls nichts anfangen. Wenn ich Ihnen jetzt einen Hunderter kleinmach, hab ich nachher kein Wechselgeld mehr. Wieviele von den Dingern haben Sie überhaupt?«

Sie spürte, wie der Atem in kurzen, flachen Stößen aus ihrer Brust herausgepreßt wurde. Was in aller Welt tat sie mit zwei Taschen voller Hundert-Dollar-Noten? Woher kam das viele Geld?

»Hey, alles in Ordnung, Lady?« Der Mann hinter der Theke sah ängstlich zur Tür. »Sie werden mir doch hier nicht umkippen?«

»Haben Sie eine Toilette?«

»Nur privat«, sagte er stur.

»Bitte!«

Die Verzweiflung in ihrer Stimme überzeugte ihn offenbar, denn er hob hastig den Arm und wies zu dem Lagerraum zu seiner Rechten. »Aber da hab ich gerade saubergemacht. Versauen Sie mir nicht den frisch geschrubbten Boden, wenn’s geht.«

Sie fand die Toilette neben dem Lagerraum ohne Mühe. Es war eine enge Kammer mit einer alten Toilette und einem gesprungenen Spiegel über einem fleckigen Waschbecken. An den Wänden waren Kartons mit Vorräten gestapelt. Neben der Tür stand ein zur Hälfte mit Wasser gefüllter Eimer, daneben lehnte ein Schrubber.

Sie rannte zum Becken und drehte das kalte Wasser auf. Die Zeitschrift unter den Arm geklemmt, fing sie den eisigen Strahl mit beiden Händen und schwappte sich das Wasser ins Gesicht, bis sie das Gefühl hatte, wieder gerade stehen zu können, ohne ohnmächtig zu werden.

Langsam hob sie das Gesicht zum Spiegel und fuhr zurück. Die Frau, die sie anblickte, war eine Fremde. Nichts an ihren Zügen war auch nur vage vertraut. Sie betrachtete die helle Haut und die dunkelbraunen Augen, die kleine, etwas aufgeworfene Nase und den vollen Mund, der im gleichen Korallenton gemalt war wie ihre Nägel. Das braune Haar war vielleicht eine Nuance heller als die Augen, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und von einer straßbesetzten Spange gehalten, die sich gelockert hatte und herauszufallen drohte. Sie zog sie ganz heraus, schüttelte den Kopf und sah, wie ihr Haar weich und locker auf ihre Schultern fiel.

Ein anziehendes Gesicht, dachte sie, es mit Abstand taxierend, als ziere es wie Cindy Crawfords das Titelblatt einer Zeitschrift. Ganz hübsch, hatte der junge Mann gesagt. Vielleicht etwas mehr. Es war makellos. Nichts war zu groß oder zu klein. Nichts stach unangenehm heraus. Alles war da, wo es sein mußte. Sie schätzte ihr Alter auf Mitte Dreißig und fragte sich gleich darauf, ob sie älter oder jünger aussah, als sie wirklich war. »Das ist alles so verwirrend«, flüsterte sie ihrem Abbild zu, das den Atem anzuhalten schien. »Wer bist du?«

»Ich kenne dich nicht«, antwortete ihr Spiegelbild, und beide Frauen senkten die Köpfe und starrten in das fleckige Becken aus weißem Porzellan.

»O Gott«, flüsterte sie, als eine Hitzewallung in ihr hochschoß. »Werd jetzt nicht ohnmächtig!« rief sie sich zu. »Werd jetzt bloß nicht ohnmächtig.«

Doch die Hitzewelle flutete durch ihren ganzen Körper, durch die Beine und den Magen in die Arme und den Hals, und staute sich in ihrer Kehle. Sie hatte das Gefühl, von innen heraus zu schmelzen, ein Gefühl, als würde sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Wieder spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, aber es kühlte sie nicht ab und machte sie nicht ruhig. Sie riß an den Knöpfen ihres Mantels, um ihrem Körper Luft zu geben, mehr Raum zum Atmen. Die Zeitschrift unter ihrem Arm fiel zu Boden, sie bückte sich hastig nach ihr und zog im Aufstehen ihren Mantel auseinander.

Sie holte tief Luft und erstarrte.

Langsam, wie eine Marionette, die von fremder Hand geführt wird, senkte sie in nahtloser Bewegung den Kopf zur Brust. Was sie sah – schon gesehen, aber nicht zur Kenntnis genommen hatte, als sie in die Knie gegangen war, um die Zeitschrift aufzuheben  –, war ein schlichtes blaues Kleid, das vorn blutdurchtränkt war.

Sie schnappte erschrocken nach Luft, ein Laut wie der eines kleinen Tiers, das in eine Falle geraten ist. Der Schreckenslaut wurde zum Stöhnen und steigerte sich zum Entsetzensschrei. Sie hörte Schritte, Stimmen, sah sich umringt, überwältigt.

»Was ist hier los?« begann der Ladeninhaber und brach ab, ohne den Mund zu schließen.

»Um Gottes willen!« rief ein Junge, der neben ihm stand.

»Wahnsinn!« sagte sein Begleiter.

»Was haben Sie getan?« fragte der Mann mit dem Pferdeschwanz, während sein Blick durch die Kammer schweifte, zweifellos auf der Suche nach zerbrochenem Glas.

Sie sagte nichts.

»Jetzt hören Sie mal her, Lady«, begann er von neuem, während er gleichzeitig seine zwei halbwüchsigen Kunden von der Tür wegscheuchte. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, und ich will’s auch nicht wissen. Verschwinden Sie aus meinem Laden, ehe ich die Polizei hole.«

Sie rührte sich nicht.

»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt hab? Ich hol die Bullen, wenn Sie nicht auf der Stelle abhauen.«

Sie starrte den verschreckten Ladeninhaber an, der plötzlich den Schrubber packte und damit auf sie losging, als wäre er ein Matador und sie der Stier. »Blut«, flüsterte sie und sah ungläubig an sich hinunter. Es war frisches Blut, sogar noch ein wenig feucht. War es ihr eigenes Blut oder das eines anderen? »Blut«, sagte sie wieder, als könnte die Wiederholung des Wortes alles ins Lot bringen.

»Sie haben genau zehn Sekunden, Lady, dann hol ich die Bullen. Ich will keine Scherereien. Ich will nur, daß Sie aus meinem Laden verschwinden.«

Ihr Blick ging zu ihm, und ihre Stimme war so leise, daß er sich vorbeugen mußte, um sie zu hören. »Ich weiß nicht, wohin«, sagte sie und spürte, wie sie zu schwanken begann.

»Nichts da, kommt nicht in Frage«, sagte der Mann hastig und hielt sie fest, ehe sie umfallen konnte. »In meinem Laden werden Sie nicht ohnmächtig.«

»Bitte«, stieß sie hervor und wußte selbst nicht, ob sie um Verständnis oder um Bewußtlosigkeit bettelte.

Der junge Mann war, obwohl weder sonderlich groß noch muskulös, überraschend kräftig. Er packte sie fest um die Taille und schleppte sie zur Tür. Dort machte er plötzlich halt und sah sich mißtrauisch um. »Ist das vielleicht so ’ne Show wie ›Vorsicht Kamera‹?« fragte er argwöhnisch, einen Unterton von Verlegenheit in der Stimme, als fürchte er, hereingelegt worden zu sein.

»Sie müssen mir helfen«, sagte sie.

»Und Sie müssen aus meinem Laden verschwinden«, entgegnete er wieder beruhigt und stieß sie hinaus. Sie hörte die Tür hinter sich zufallen und sah ihn zornig die Arme schwenken, um sie zu vertreiben.

»Mein Gott, was soll ich denn jetzt tun?« fragte sie die geschäftige Straße. Wieder übernahm der Puppenspieler das Kommando, knöpfte ihren Mantel zu, klemmte ihr die Zeitschrift unter den Arm, lenkte ihren Blick auf die Fahrbahn. Als ein Taxi sich näherte, wurde der Faden, der ihren rechten Arm dirigierte, mit einem Ruck in die Höhe gezogen. Das Taxi hielt am Straßenrand vor ihr an. Ohne weitere Überlegung zog sie die hintere Wagentür auf und stieg ein.