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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Danksagung
Lob
Prolog
 
Barrens
Novus Ordo Seclorum
Seegras
VORSTÖSSE
Indigo
DER SAME DES ONAN
Brand
FUSSGÄNGER
Guadalcanal
GALEONE
Albtraum
Londinium
CORREGIDOR
Röhre
Fleisch
Zyklen
In den Lüften
VERTRAULICHKEITSVEREINBARUNG
Ultra
KINAKUTA
Qwghlm House
Electrical Till Corporation
KRYPTA
Echse
Das Schloss
WARUM
Rückzugsmanöver
Huffduff
Seiten
Rammen
SORGFALT
Speerspitze
Morphium
ANZUG
Knacker
DER SULTAN
Hüpfen
KOPFBILDER
Yamamoto
Antaeus
PHREAKEN
Treibgut
Schuhwichse
FEINDSELIGKEITEN
Funkspiel
HEAP
Süchtig
Kannibalen
WRACK
Santa Monica
Vorposten
Meteor
LAVENDER ROSE
Brisbane
Dönitz
CRUNCH
Mädchen
Verschwörung
SCHATZ
Rakete
Auf Freiersfüßen
INRI
KALIFORNIEN
Orgel
ZUHAUSE
Bundok
Rechner
KARAWANE
Der General
URSPRUNG
Golgatha
SEATTLE
Fels
DIE MEISTEN ZIGARETTEN
Weihnachten 1944
IMPULS
Buddha
PONTIFEX
Glory
DAS HAUPTLAGER
Sintflut
VERHAFTUNG
Die Schlacht um Manila
GEFANGENSCHAFT
Blendwerk
WEISHEIT
Freier Fall
METIS
Sklaven
ARETHUSA
Der Keller
AKIHABARA
Projekt X
Land in Sicht
GOTO-SAMA
R.I.P.
RÜCKKEHR
Schlüsselwörter
CAYUSE
Black Chamber
Passage
LIQUIDITÄT
 
ANHANG: – Der »Solitaire«-Verschlüsselungsalgorithmus
Copyright

Für S. Town Stephenson,
der auf Kriegsschiffen Drachen steigen ließ

Danksagung
Bruce Schneier hat Solitaire erfunden, mir liebenswürdigerweise gestattet, es in meinem Roman zu verwenden, und einen Anhang geschrieben. Ian Goldberg hat das Perl Script verfasst, das in Enoch Roots E-Mail an Randy auftaucht.
Von dem einen oder anderen Zitat abgesehen ist der Rest des Buches, wie immer man es finden mag, von mir geschrieben worden. Trotzdem schulde ich noch vielen anderen Leuten Dank. Da eine solche Auflistung sich aber leicht bis zu Adam und Eva zurückführen lässt, habe ich beschlossen, beim Zweiten Weltkrieg Halt zu machen und alle, denen ich zu Dank verpflichtet bin, in drei allgemeine Gruppen einzuteilen.
Erstens: herausragende Gestalten der Titanomachie von 1937-45. Nahezu jede Familie hat ihr eigenes kleines Pantheon von Kriegshelden – wie etwa meinen Onkel Keith Wells, der auf den Inseln Florida und Guadalcanal diente und womöglich der erste amerikanische Marine war, der während dieses Krieges in einer Offensive den Fuß an Land setzte. In diesem Roman geht es jedoch mehr um jene technisch veranlagten Menschen, die während der Kriegsjahre aufgefordert wurden, unglaublich merkwürdige Dinge zu tun. Unter all diesen großen Hackern der Kriegszeit gebührt William Friedman, der seine Gesundheit opferte, um, noch bevor der Krieg überhaupt begonnen hatte, den japanischen Maschinencode namens Purple zu knacken, besondere Anerkennung.
Gewidmet habe ich diesen Roman allerdings meinem verstorbenen Großvater S. Town Stephenson. Damit laufe ich Gefahr, dass Leser alle möglichen falschen Schlüsse über Ähnlichkeiten zwischen seiner – das heißt meiner – Familie und Figuren in diesem Buch ziehen. Deshalb möchte ich nur der Ordnung halber festhalten, dass ich all das – tatsächlich! – erfunden habe und dass es kein Schlüsselroman ist; dieses Buch ist nur ein Roman und nicht eine raffinierte Art, dunkle Familiengeheimnisse auf arglose Leser abzuladen.
Zweitens: Bekannte und Freunde, die (zumeist unwissentlich) großen Einfluss auf die Richtung dieses Projekts gehabt haben. Das sind in alphabetischer Reihenfolge Douglas Barnes, Geoff Bishop, George Dyson, Marc und Krist Geriene von Nova Marine Exploration, Jim Gibbons, Bob Grant, David Handley, Kevin Kelly, Bruce Sterling und Walter Wriston, der während des Krieges mit einer Krypto-Maschine auf den Philippinen unterwegs war und überlebte, um mir fünfzig Jahre später die abenteuerlichsten Geschichten über das Vorkriegsbankwesen in Schanghai zu erzählen.
Drittens: Menschen, deren Anstrengungen es mir möglich oder doch viel einfacher gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Ihre Beiträge bestanden manchmal, wie im Fall meiner Frau, meiner Kinder und der Großeltern meiner Kinder, darin, dass sie mir ihre ganze Liebe und vielfältige Unterstützung schenkten. Andere, wie meine Lektorin Jennifer Hershey und meine Agenten Liz Darhansoff und Tal Gregory, haben mir auf die überraschend simple Art geholfen, dass sie ihre Arbeit zuverlässig und gut erledigten. Und viele Leute haben unbewusst einen Beitrag zu diesem Buch geleistet, indem sie interessante Gespräche mit mir führten, die sie sicher längst vergessen haben: Wayne Barker, Christian Borgs, Jeremy Bornstein, Al Butler, Jennifer Chayes, Evelyn Corbett, Hugh Davis, Dune, John Gilmore, Ben und Zenaida Gonda, Mike Hawley, Eric Hughes, Cooper Moo, Dan Simon und Linda Stone.
Neal Town Stephenson

»Es gibt eine bemerkenswert enge Parallele zwischen den Problemen des Physikers und denen des Kryptographen. Das System, mit dessen Hilfe eine Nachricht verschlüsselt wird, entspricht den Gesetzen des Universums, die abgefangenen Nachrichten entsprechen dem vorhandenen Beweismaterial, die Schlüssel für einen Tag oder eine Nachricht entsprechen wichtigen Konstanten, die festgelegt werden müssen. Die Übereinstimmung ist sehr groß, nur ist dem Gegenstand der Kryptographie mit einzelnen Apparaten sehr leicht beizukommen, dem der Physik jedoch nicht.«
Alan Turing
 

 

 

Heute Morgen lieferte [Imelda Marcos] die neueste ihrer diversen Erklärungen für die Milliarden von Dollar, die sie und ihr 1989 verstorbener Mann während seiner Präsidentschaft gestohlen haben sollen.
»Es ergab sich zufällig, dass Marcos Geld hatte«, sagte sie. »Nach dem Abkommen von Bretton Woods fing er an, Gold aus Fort Knox zu kaufen. Erst dreitausend Tonnen, dann viertausend. Das steht in meinen Unterlagen: siebentausend Tonnen. Marcos war so klug. Er wusste Bescheid. Es ist komisch, Amerika hat ihn nicht verstanden.«
The NewYork Times, Montag, 4. März 1996

Prolog
Reifen fliegen, schrei’n.

Ein Bambushain, flach gemäht

Von dort Kriegsgesang.
… mehr bringt Corporal Bobby Shaftoe auf die Schnelle nicht zustande – er steht auf dem Trittbrett und umklammert mit einer Hand seine Springfield und mit der anderen den Rückspiegel, sodass es ihm unmöglich ist, die Silben an den Fingern abzuzählen. Hat »schrei’n« eine Silbe oder zwei? Der Lkw entschließt sich endlich, nicht umzukippen, und landet mit dumpfem Laut wieder auf allen vier Rädern. Der Schrei – und der Moment – sind verloren. Die Kulis allerdings kann Bobby weiter singen hören, und nun kommt auch noch das an ein Gewehr erinnernde Ratschen der Kupplung hinzu, als Private Wiley herunterschaltet. Kann es sein, dass Wiley die Nerven verliert? Und hinten, unter den Planen, anderthalb Tonnen scheppernde Aktenschränke, hin und her schlackernde Codebücher, der in den Tanks des Generators von Station Alpha schwappende Treibstoff. Für den Haiku-Dichter ist die moderne Welt die reinste Hölle: »WechselstromGenerator« hat wie viel, sieben Silben? Das passte gerade mal in die zweite Zeile!
»Dürfen wir Leute überfahren?«, will Private Wiley wissen und malträtiert dann, noch ehe Bobby Shaftoe antworten kann, den Knopf der Hupe. Ein Sikh-Polizist überspringt einen Fäkalien-Karren. Spontan denkt Shaftoe: Na sicher, was wollen sie machen, uns den Krieg erklären?, aber von ihm als dem ranghöchsten Mann auf dem Lkw wird vermutlich erwartet, dass er seinen Kopf benutzt, also platzt er nicht gleich damit heraus. Er macht sich die Situation klar:
Schanghai, 16:45 Uhr, Freitag, 28. November 1941. Bobby Shaftoe und das halbe Dutzend anderer Marines auf seinem Lkw starren die Kiukiang Road entlang, in die sie gerade mit Vollgas auf zwei Rädern eingebogen sind. Rechts zieht soeben die Kathedrale vorbei, das heißt also, sie sind noch wie viel?, zwei Häuserblocks vom Bund entfernt. Dort hat ein Kanonenboot der Yangtze River Patrol festgemacht und wartet auf das Zeug, das sie hinten auf dem Lkw haben. Das einzige wirkliche Problem besteht darin, dass diese beiden Häuserblocks von zirka fünf Millionen Chinesen bewohnt werden.
Nun handelt es sich bei diesen Chinesen um gewiefte Städter, nicht um sonnengebräunte Bauerntrampel, die noch nie ein Auto gesehen haben – normalerweise gehen sie einem aus dem Weg, wenn man schnell fährt und hupt. So flüchten denn auch viele auf die eine oder andere Straßenseite, wodurch die Illusion erzeugt wird, dass der Lkw schneller als die dreiundvierzig Meilen fährt, die der Tachometer anzeigt.
Aber der Bambushain in Bobby Shaftoes Haiku ist nicht bloß eine Beigabe, die dem Gedicht ein bisschen asiatisches Flair verleihen und die Leute zu Hause in Oconomowoc beeindrucken soll. Vor dem Lkw erstreckt sich ein Gewirr von dickem Bambus, Dutzende improvisierter Schranken, die ihnen den Weg zum Fluss versperren, denn die Offiziere der Asiatic Fleet und der Fourth Marines, die sich dieses kleine Unternehmen ausgedacht haben, haben vergessen, den Freitagnachmittag-Faktor zu berücksichtigen. Wie Bobby Shaftoe ihnen hätte erklären können – wenn sie sich nur die Mühe gemacht hätten, einen armen dummen Stiftkopf zu fragen -, führt ihre Route sie durch das Herz des Bankenviertels. Hier gibt es natürlich die Hongkong and Shanghai Bank, City Bank, Chase Manhattan, die Bank of Amerika, dazu BBME und die Chinesische Landwirtschaftsbank sowie jede Menge popeliger kleiner Provinzbanken, und mehrere dieser Banken haben mit dem, was vom chinesischen Staat noch übrig ist, Verträge geschlossen, die ihnen erlauben, Geld zu drucken. Es muss ein mörderisches Geschäft sein, denn sie sparen Kosten, indem sie es auf altes Zeitungspapier drucken, und wenn man Chinesisch lesen kann, sieht man die Artikel und Poloergebnisse des vergangenen Jahrs unter den bunten Zahlen und Bildern hervorlugen, die diese Papierstücke in ein gesetzliches Zahlungsmittel verwandeln.
Wie jeder Geflügelhändler und Rikschafahrer in Schanghai weiß, sehen die Gelddruckkonzessionen vor, dass sämtliche Noten, die diese Banken ausgeben, durch eine so und so hohe Silbermenge gedeckt sein müssen; d.h. jeder, der in eine dieser Banken am Ende der Kiukiang Road geht und ein Bündel Banknoten auf den Schalter klatscht, sollte (vorausgesetzt, die betreffenden Noten sind von ebendieser Bank gedruckt worden) richtiges metallisches Silber dafür erhalten.
Wenn nun China nicht gerade mitten dabei wäre, vom japanischen Kaiserreich systematisch ausgeweidet und gevierteilt zu werden, würde der Staat wahrscheinlich offizielle Erbsenzähler herumschicken, um den Überblick darüber zu behalten, wie viel Silber tatsächlich in den Banktresoren vorhanden ist, und alles würde ruhig und geordnet vonstatten gehen. Doch wie die Dinge liegen, sorgt bei diesen Banken nur eines für Ehrlichkeit, nämlich die anderen Banken.
Und das funktioniert folgendermaßen: Während des normalen Geschäftsablaufs gehen große Mengen Papiergeld über die Schalter (beispielsweise) der Chase Manhattan Bank. Von dort werden sie in ein Hinterzimmer gebracht, sortiert und in Geldkisten (zirka sechzig Zentimeter im Quadrat und knapp einen Meter tief, mit Seilschlaufen an den vier Ecken) geworfen, wobei sämtliche Noten (beispielsweise) der Bank of America in eine und sämtliche Noten der City Bank in eine andere Kiste kommen. Am Freitagnachmittag holt man dann Kulis. Jeder Kuli oder jedes Kulipaar hat natürlich seine riesenlange Bambusstange dabei – ein Kuli ohne seine Stange ist wie ein China-Marine ohne sein vernickeltes Bajonett – und steckt diese Stange durch die Seilschlaufen an den Kistenecken. Dann schultert jeder Kuli ein Stangenende, sodass die Kiste hochgehoben wird. Die beiden müssen sich koordiniert bewegen, sonst fängt die Kiste an herumzuschlingern, und alles gerät aus dem Gleichgewicht.Während sie nun ihrem Ziel – der jeweiligen Bank, deren Name auf die Noten in ihrer Kiste gedruckt ist – entgegensteuern, singen sie miteinander und setzen im Takt der Musik die Füße aufs Pflaster. Die Stange ist ziemlich lang, sodass sie in großem Abstand zueinander gehen und laut singen müssen, um einander zu hören, und natürlich singt jedes Kulipaar auf der Straße sein eigenes Lied und versucht, alle anderen zu übertönen, um nicht aus dem Tritt zu geraten.
So springen also zehn Minuten vor Geschäftsschluss am Freitagnachmittag die Türen vieler Banken auf und es kommen wie beim Vorspiel zu einem blöden Broadway-Musical singend zahlreiche Kulipaare hereinmarschiert, setzen krachend ihre Kisten mit zerfledderter Währung ab und verlangen Silber dafür. Alle Banken treiben dieses Spielchen miteinander – manchmal sogar am selben Freitag, besonders zu Zeiten wie dem 28. November 1941, wo selbst einem Stoppelhopser wie Bobby Shaftoe einleuchtet, dass es besser ist, Silber anstatt altes zerschnittenes Zeitungspapier zu besitzen. So kommt es, dass Bobby Shaftoe und die anderen Marines auf dem Lkw, obwohl die üblichen Fußgänger, Essenskarrenbesitzer und wütenden Sikh-Polizisten bereits aus dem Weg gehastet sind und sich platt an die Wände der Clubs, Läden und Bordelle an der Kiukiang Road drücken, das Kanonenboot, das ihr Ziel ist, wegen dieses Waldes aus mächtigen, waagrechten Bambusstangen nach wie vor nicht einmal sehen können. Und wegen der wilden, pulsierenden pentatonischen Kakophonie des Kuligesangs können sie ihre eigene Hupe nicht hören. Hier handelt es sich nicht einfach um den regulären Freitagnachmittags-Geldverkehr im Bankenviertel von Schanghai. Hier geht es um eine endgültige Abrechnung, ehe die ganze östliche Hemisphäre in Brand gerät. In den nächsten zehn Minuten werden die Millionen von Versprechen, die auf diese Scheißhauspapierstücke gedruckt sind, allesamt gehalten oder gebrochen werden; richtige Silber- und Goldstücke werden den Besitzer wechseln oder nicht. Es handelt sich um eine Art monetäres Jüngstes Gericht.
»Herrgott, ich kann doch nicht -« brüllt Private Wiley.
»Der Captain hat gesagt, wir sollen nicht anhalten, scheißegal warum«, erinnert ihn Shaftoe. Er befiehlt Wiley nicht, die Kulis zu überfahren, sondern erinnert ihn lediglich daran, dass sie einiges werden erklären müssen, falls Wiley es unterlässt, die Kulis zu überfahren – kompliziert wird das Ganze noch durch die Tatsache, dass der Captain sich unmittelbar hinter ihnen befindet, in einem Wagen voller China-Marines mit Maschinenpistolen. Und so wie der Captain sich wegen dieser Station-Alpha-Geschichte aufgeführt hat, ist ziemlich klar, dass bereits erste Striemen seinen Hintern zieren, verabreicht von irgendeinem Admiral in Pearl Harbor oder sogar (Trommelwirbel) den Marine Barracks, Eight and Eye Streets Southeast, Washington, D.C.
 

 

 

Shaftoe und die anderen Marines haben Station Alpha immer als geheimnisvolle Clique von Schreibstuben-Matrosen gekannt, die auf dem Dach eines Gebäudes in der Internationalen Siedlung hausten, in einer Bude aus astigen Palettenbrettern, aus der in alle Richtungen Antennen ragten.Wenn man lange genug dastand, konnte man sehen, wie sich einige dieser Antennen bewegten, sich auf irgendetwas auf dem Meer richteten. Shaftoe hat sogar ein Haiku darüber geschrieben:
Antennen suchen

Retrievernasen im Wind

Fernes Geheimnis
Das war überhaupt erst sein zweites Haiku – das eindeutig nicht den Maßstäben von November 1941 genügte – und ihn schaudert bei der Erinnerung daran.
Doch erst heute begreifen die Marines so richtig, was für eine große Geschichte Station Alpha war. Wie sich herausstellte, hatte ihr Job darin bestanden, eine Tonne Ausrüstung und mehrere Tonnen Papier in Planen zu verpacken und zur Tür hinauszuschaffen. Den Donnerstag hatten sie dann damit verbracht, die Bretterbude zu zerlegen, ein Feuer damit zu machen und bestimmte Bücher und Papiere zu verbrennen.
»Scheiße!«, brüllt Private Wiley. Nur ein paar Kulis sind aus dem Weg gegangen oder haben die Marines überhaupt gesehen. Doch dann gibt es vom Fluss her einen fantastischen Knall, als zerbräche Gott eine anderthalb Kilometer dicke Bambusstange über dem Knie. Eine halbe Sekunde später sind keine Kulis mehr auf der Straße – bloß eine Menge Kisten mit unbemannten, wippenden Bambusstangen daran, die mit dem Geräusch eines gigantischen Klangspiels auf die Straße klappern. Darüber erhebt sich ein ausgefranster grauer Rauchpilz von dem Kanonenboot. Wiley schaltet hoch und tritt auf den Pinn. Shaftoe drückt sich gegen die Lkw-Tür, senkt den Kopf und hofft, dass sein tuntiger Landserhelm aus dem Ersten Weltkrieg etwas taugt. Dann fangen Geldkisten an zu zerbrechen und zu zerplatzen, während der Lkw sich durch sie hindurchpflügt. Shaftoe schielt durch ein Gestöber von Banknoten nach oben und sieht riesige Bambusstangen hochfliegen und dem Flussufer entgegenschnellen und – wirbeln.
Blätter von Schanghai:

Fahle Türen am Himmel.

Der Winter beginnt.

Barrens
Behalten wir das Problem der Existenz Gottes einem späteren Band vor und stipulieren einfach, dass auf diesem Planeten irgendwie sich selbst replizierende Organismen entstanden sind, die sofort versucht haben, einander loszuwerden, und zwar entweder, indem sie ihre Umwelt mit Rohkopien ihrer selbst überschwemmten, oder durch direktere Methoden, auf die hier wohl nicht weiter eingegangen werden muss. Die meisten von ihnen scheiterten und ihr genetisches Erbe wurde für immer aus dem Universum gelöscht, aber ein paar fanden eine Möglichkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen. Nach ungefähr drei Milliarden Jahren dieser manchmal verrückten, häufig aber langweiligen Fuge von Sinnenlust und Schlächterei wurde in Murdo, South Dakota, Godfrey Waterhouse IV als Sohn von Blanche, Ehefrau eines kongregationalistischen Predigers namens Bunyan Waterhouse, geboren.Wie jedes andere Geschöpf auf Erden war Godfrey kraft Geburtsrecht ein gewaltiger Fiesling, wenn auch nur in dem etwas eingeschränkten formalen Sinne, dass er seine Herkunft über eine lange Reihe geringfügig weniger hoch entwickelter gewaltiger Fieslinge auf jenes erste, sich selbst replizierende Ding zurückverfolgen konnte – das angesichts der Zahl und der Vielfalt seiner Abkömmlinge mit Fug und Recht als der gewaltigste Fiesling aller Zeiten bezeichnet werden könnte. Alles und jeder, der kein gewaltiger Fiesling war, lebte nicht mehr.
Was albtraumhaft gefährliche, mnemetisch programmierte Todesmaschinen angeht, hätte man keine netteren kennen lernen können. In der Tradition seines Namensvetters (des puritanischen Schriftstellers John Bunyan, der einen Großteil seines Lebens im Gefängnis oder mit dem Versuch, ihm zu entgehen, verbracht hatte) predigte der Reverend Waterhouse niemals lange an einem Ort. Die Kirche versetzte ihn alle ein, zwei Jahre von einem Kaff in den Dakotas ins nächste. Möglich, dass Godfrey diesen Lebensstil als einigermaßen entfremdend empfand, denn irgendwann im Laufe seines Studiums am Fargo Congregational College büxte er der Herde aus, verfiel, zum fortwährenden Kummer seiner Eltern, weltlichen Zwecken und bekam schließlich irgendwie seinen Doktor in Altphilologie an einer kleinen Privatuniversität in Ohio. Da Akademiker nicht weniger nomadenhaft sind als kongregationalistische Prediger, nahm er Arbeit an, wo er welche finden konnte. Er wurde Professor für Griechisch und Latein am Bolger Christian College (Gesamtzahl der Studenten 322) in West Point, Virginia, wo der Mattaponi und der Pamunkey zum York River zusammenfließen und die widerlichen Dämpfe der Papierfabrik jede Schublade, jeden Schrank, ja sogar die inneren Seiten von Büchern durchdrangen. Godfreys junge Braut, eine geborene Alice Pritchard, die ihrerseits in ihrer Kindheit ihrem Wanderprediger-Vater durch die Weiten Ost-Montanas gefolgt war – wo die Luft nach Schnee und Salbei roch -, übergab sich drei Monate lang. Sechs Monate später gebar sie Lawrence Pritchard Waterhouse.
Der Junge hatte eine eigenartige Beziehung zu Lauten. Ihn störte, wenn ein Feuerwehrauto vorbeikam, weder das Sirenengeheul noch das Gebimmel der Glocke. Wenn aber eine Hornisse ins Haus geriet und in einer breiten Lissajous-Figur mit fast unhörbarem Summen unter der Decke entlangflog, schrie er vor Schmerz über das Geräusch auf. Und wenn er etwas sah oder roch, was ihm Angst machte, hielt er sich die Ohren zu.
Was ihn überhaupt nicht störte, war der Klang der Orgel in der Kapelle des Bolger Christian College. Die Kapelle war nicht weiter erwähnenswert, aber die Orgel war von der Familie, der die Papierfabrik gehörte, gestiftet worden und hätte für eine viermal so große Kirche ausgereicht. Sie entsprach aufs Schönste dem Organisten, einem Mathematiklehrer im Ruhestand, der der Meinung war, dass sich bestimmte Eigenschaften des Herrn (Gewalttätigkeit und Launenhaftigkeit im Alten Testament, Majestät und Glorie im Neuen) durch eine Art frontale klangliche Durchdringung unmittelbar den Seelen der in den Bänken zusammengepferchten Sünder nahe bringen ließen. Dass er dabei das Risiko einging, die Buntglasfenster herauszupusten, war ohne Belang, weil sowieso niemand sie mochte und die Dämpfe der Papierfabrik die Bleifassungen zerfraßen. Doch nachdem zum wiederholten Mal eine kleine alte Dame nach dem Gottesdienst vom Tinnitus befallen den Mittelgang entlang wankte und dem Geistlichen gegenüber eine bissige Bemerkung über die ungemein dramatische Musik machte, wurde der Organist ersetzt.
Er gab allerdings weiterhin Unterricht auf dem Instrument. Die Schüler durften erst an die Orgel, wenn sie das Klavierspielen beherrschten, und als man das Lawrence Pritchard Waterhouse erklärte, brachte er sich binnen drei Wochen selbst bei, eine Bachfuge zu spielen, und meldete sich für Orgelstunden an. Da er zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jahre alt war, konnte er nicht zugleich die Manuale und die Pedaltasten erreichen und musste deshalb im Stehen – oder vielmehr von Pedal zu Pedal spazierend – spielen.
Als Lawrence zwölf war, ging die Orgel kaputt. Die Stifterfamilie hatte keinerlei Mittel für Instandhaltung und Reparatur hinterlassen, und so beschloss der Mathematiklehrer, sich selbst daran zu versuchen. Er war bei schlechter Gesundheit und brauchte einen geschickten Assistenten: Lawrence, der ihm half, das Gehäuse des Instruments zu öffnen. Zum ersten Mal in all den Jahren sah der Junge, was eigentlich passierte, wenn er die Tasten drückte.
Für jedes Register – jede Klangart oder Klangfarbe, die die Orgel erzeugen konnte (also Blockflöte, Trompete, Pikkolo etc.) – gab es eine gesonderte Anzahl von Pfeifen, die in einer Reihe von lang bis kurz angeordnet waren. Lange Pfeifen erzeugten tiefe Töne, kurze hohe. Die Spitzen der Pfeifen beschrieben einen Graphen: keine gerade Linie, sondern eine aufwärts geschwungene Kurve. Der Orgel spielende Mathematiklehrer setzte sich mit ein paar losen Pfeifen, einem Stift und einem Blatt Papier hin und half Lawrence, dahinter zu kommen, warum. Als Lawrence es begriff, war es, als hätte der Mathematiklehrer plötzlich auf einer Orgel von der Größe des Spiralnebels im Sternbild Andromeda den guten Teil von Bachs Fantasie und Fuge in g-Moll gespielt – den Teil, in dem Onkel Johann in einem einzigen erbarmungslos absteigenden und immerzu mutierenden Akkord den Bau des Universums zergliedert, als stieße sein Fuß durch schlingernde Schichten von Müll, bis er schließlich auf soliden Fels trifft. Besonders die letzten Schritte der Erklärung des Organisten glichen dem Herabstoßen eines Falken durch Schichten von Vorspiegelung und Illusion – aufregend, erschütternd oder verwirrend, je nach dem, was man war. Die Himmel rissen auf. Lawrence erblickte bis in geometrische Unendlichkeit reichende Engelschöre.
Die Pfeifen entsprossen in parallelen Reihen einem breiten flachen Kasten mit komprimierter Luft. Sämtliche Pfeifen eines bestimmten Tons – jedoch unterschiedlicher Registerzugehörigkeit – waren entlang einer Achse aufgereiht. Sämtliche Pfeifen eines bestimmten Registers – jedoch unterschiedlicher Tonhöhe – waren entlang der anderen, senkrecht dazu stehenden Achse aufgereiht. Unten in dem flachen Kasten mit Luft befand sich also ein Mechanismus, der zum richtigen Zeitpunkt Luft zu den richtigen Pfeifen beförderte. Wenn eine Taste oder ein Pedal gedrückt wurde, erklangen sämtliche Pfeifen, die den entsprechenden Ton erzeugen konnten, sofern ihre Registerzüge herausgezogen waren.
Technisch gesehen funktionierte das Ganze auf eine Weise, die vollkommen klar, einfach und logisch war. Lawrence hatte immer angenommen, dass die Maschine mindestens so kompliziert sein müsse wie die intrikateste Fuge, die sich darauf spielen ließ. Nun hatte er erfahren, dass eine einfach konstruierte Maschine Ergebnisse von unendlicher Komplexität liefern konnte.
Registerzüge wurden selten einzeln verwendet. Meist wurden sie zu Kombinationen zusammengefügt, die darauf angelegt waren, sich die verfügbaren Obertöne zunutze zu machen (noch mehr spannende Mathematik!). Bestimmte Kombinationen wurden immer wieder verwendet – für das stille Offertorium beispielsweise viele Blockflöten unterschiedlicher Länge. Die Orgel verfügte über eine raffinierte Vorrichtung, die Koppel hieß und es dem Organisten ermöglichte, eine bestimmte Kombination von Registern – Register, die er selbst ausgewählt hatte – zum Erklingen zu bringen. Er drückte eine Taste, und von Luftdruck angetrieben schossen mehrere Registerzüge gleichzeitig aus dem Spieltisch, und in diesem Augenblick wurde die Orgel zu einem ganz anderen Instrument mit völlig neuen Klangfarben.
Im nächsten Sommer wurden sowohl Lawrence als auch Alice, seine Mutter, von einem entfernten Verwandten kolonisiert – einem gewaltigen Fiesling von einem Virus. Lawrence kam mit einer kaum wahrnehmbaren Tendenz davon, einen seiner Füße nachzuziehen. Alice endete in einer eisernen Lunge. Später, außerstande, richtig zu husten, bekam sie Lungenentzündung und starb.
Lawrences Vater Godfrey gab unumwunden zu, dass er sich der nun auf seinen Schultern ruhenden Last nicht gewachsen fühlte. Er trat von seinem Posten an dem kleinen College in Virginia zurück und zog mit seinem Sohn in ein kleines Haus in Moorhead, Minnesota, Tür an Tür mit Bunyan und Blanche, die sich dort ebenfalls niedergelassen hatten. Später bekam er eine Stelle als Lehrer an einer normalen Schule in der Nähe.
An dieser Stelle schienen sämtliche verantwortungsvollen Erwachsenen in Lawrences Leben stillschweigend zu der Übereinkunft zu gelangen, dass die beste – oder jedenfalls die einfachste – Methode, ihn zu erziehen, darin bestand, ihn in Frieden zu lassen. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Lawrence um das Eingreifen eines Erwachsenen in sein Leben bat, stellte er normalerweise Fragen, die kein Mensch beantworten konnte. Mit sechzehn, als er dem örtlichen Schulsystem nichts Herausforderndes mehr abgewinnen konnte, ging Lawrence Pritchard Waterhouse aufs College. Er schrieb sich am Iowa State College ein, das unter anderem Standort eines ROTC war, eines Ausbildungskorps für Reserveoffiziere der Marine, in das er zwangsweise aufgenommen wurde.
Das Ausbildungskorps des IOWA State College hatte eine Musikkapelle und freute sich zu hören, dass Lawrence sich für Musik interessierte. Da es schwierig war, an Deck eines Kriegsschiffes zu exerzieren und dabei Orgel zu spielen, gab man ihm ein Glockenspiel und zwei Schlegel.
Wenn er nicht gerade mit lautem Dingdong auf dem Schwemmland des Skunk River hin und her marschierte, studierte er im Hauptfach Maschinenbau. Auf diesem Gebiet schnitt er am Ende schlecht ab, weil er sich einem bulgarischen Professor namens John Vincent Atanasoff und dessen Doktoranden Clifford Berry angeschlossen hatte, die sich mit dem Bau einer Maschine beschäftigten, welche die Lösung einiger besonders öder Differentialgleichungen automatisieren sollte.
Lawrences Grundproblem bestand darin, dass er faul war. Er war dahinter gekommen, dass sich alles stark vereinfachte, wenn man wie Superman mit seinem Röntgenblick einfach durch das kosmetische Drumherum hindurchstarrte und das zugrunde liegende mathematische Gerüst sah. Sobald man die mathematische Grundlage eines Phänomens gefunden hatte, wusste man alles darüber und konnte es mit nichts als einem Stift und einer Papierserviette nach Herzenslust manipulieren. Er sah es an der Kurve der Silberplatten an seinem Glockenspiel, am Kettenbogen einer Brücke und an der mit Kondensatoren gespickten Trommel der Rechenmaschine von Atanasoff und Berry. Tatsächlich auf das Glockenspiel einzuhämmern, die Brücke zusammenzunieten oder auseinander zu klamüsern, warum die Rechenmaschine nicht funktionierte, war weniger interessant für ihn.
Infolgedessen bekam er schlechte Noten.Von Zeit zu Zeit allerdings vollführte er an der Tafel irgendein Kunststück, von dem sein Professor weiche Knie bekam und den anderen Studenten, die ihn nicht sonderlich mochten, die Luft wegblieb. Das sprach sich herum.
Gleichzeitig ließ seine Großmutter Blanche ihre ausgedehnten kongregationalistischen Beziehungen spielen und setzte sämtliche Hebel für Lawrence in Bewegung, ohne dass er das Geringste davon ahnte. Ihre Bemühungen waren von Erfolg gekrönt und Lawrence bekam ein obskures Stipendium, das der Erbe einer Hafer verarbeitenden Fabrik in St. Paul gestiftet hatte und dessen Zweck darin bestand, Kongregationalisten des Mittleren Westens für ein Jahr auf eine Ivy-League-Hochschule zu schicken, eine Frist, so dachte man (offensichtlich), die ausreichte, ihren IQ um ein paar entscheidende Punkte anzuheben, aber nicht lange genug war, um sie sittlich zu verderben. So wurde Lawrence Student in Princeton.
Nun war Princeton eine illustre Hochschule und dorthin zu gehen war eine große Ehre, doch niemand kam dazu, Lawrence, der das nicht wissen konnte, davon in Kenntnis zu setzen. Das hatte positive und negative Folgen. Er akzeptierte das Stipendium mit einer minimalen Andeutung von Dankbarkeit, was den Haferflocken-Mogul erboste. Andererseits passte er sich mühelos an Princeton an, denn es war einfach nur ein anderer Ort. Es erinnerte ihn an die schöneren Ecken von Virginia und außerdem gab es ein paar schöne Orgeln in der Stadt; mit seinen Hausaufgaben allerdings – Problemen der Brückenkonstruktion und der Flankenkrümmung von Zahnrädern – war er weniger glücklich. Wie immer liefen sie irgendwann auf Mathematik hinaus, womit er meistens mühelos fertig wurde. Von Zeit zu Zeit jedoch kam er nicht weiter und das führte ihn zur Fine Hall, dem Sitz der mathematischen Fakultät.
In der Fine Hall lief ein bunt gemischtes Völkchen, vielfach mit englischem oder europäischem Akzent, herum. Verwaltungstechnisch gesehen gehörten viele dieser Leute gar nicht der mathematischen Fakultät, sondern einer eigenen Einrichtung mit Namen IAS an, was so viel wie Institut für Fortgeschrittene Soundso bedeutete. Aber sie waren alle im selben Gebäude und sie kannten sich alle mit Mathematik aus, sodass die Unterscheidung für Lawrence nicht existierte.
Nicht wenige dieser Männer gaben sich scheu, wenn Lawrence ihren Rat suchte, andere aber waren zumindest bereit, ihn anzuhören. So war er zum Beispiel auf eine Methode gekommen, wie sich ein schwieriges Zahnformproblem lösen ließ, das nach der konventionellen Lösungsmethode jede Menge absolut vernünftiger, jedoch ästhetisch unbefriedigender Annäherungen erforderte. Lawrences Lösung würde exakte Ergebnisse liefern. Ihr einziger Nachteil bestand darin, dass eine Trillion Menschen mit Rechenschiebern eine Trillion Jahre brauchen würden, um sie zu ermitteln. Lawrence arbeitete an einem radikal anderen Ansatz, der, wenn er funktionierte, diese Zahlen auf jeweils eine Billion senken würde. Leider war Lawrence außerstande, irgendjemanden in der Fine Hall für etwas so Prosaisches wie Zahnradgetriebe zu interessieren, bis er sich plötzlich mit einem energischen Briten anfreundete, dessen Namen er prompt vergaß, der sich jedoch in letzter Zeit selbst viel mit algebraischer Zahnradentwicklung beschäftigt hatte. Dieser Mensch versuchte, ausgerechnet, eine mechanische Rechenmaschine zu bauen – speziell eine Maschine, mit der sich bestimmte Werte der Riemannschen Zeta-Funktion
berechnen ließen, wobei s eine komplexe Zahl ist.
Lawrence fand diese Zeta-Funktion nicht mehr und nicht weniger interessant als jedes andere mathematische Problem, bis sein neuer Freund ihm versicherte, dass sie schrecklich wichtig sei und dass einige der besten Mathematiker der Welt schon seit Jahrzehnten daran knabberten. Die beiden blieben schließlich bis drei Uhr morgens wach und fanden die Lösung von Lawrences Zahnproblem. Die Ergebnisse präsentierte Lawrence stolz seinem Maschinenbauprofessor, der sie aus praktischen Gründen mit abfälligen Bemerkungen verwarf und ihm für seine Mühe eine schlechte Note gab.
Nach mehreren Begegnungen fiel Lawrence schließlich wieder ein, dass der freundliche Brite Al Sowieso hieß. Weil Al ein leidenschaftlicher Radfahrer war, unternahmen die beiden ziemlich viele Radtouren durch die Landschaft des Garden State.Während sie in New Jersey herumfuhren, unterhielten sie sich über Mathematik und besonders über Maschinen, die ihnen das, was an der Mathematik langweilig war, vom Hals schaffen würden.
Aber Al dachte schon länger über dieses Thema nach als Lawrence und war darauf gekommen, dass Rechenmaschinen viel mehr als bloß Arbeit sparende Geräte waren. Er arbeitete an einer radikal anderen Art von Rechenmechanismus, mit dem sich absolut jedes arithmetische Problem würde lösen lassen, vorausgesetzt, man wusste, wie das Problem zu formulieren war. Von einem rein logischen Standpunkt aus hatte er bereits alles auseinander klamüsert, was es über diese (bislang noch hypothetische) Maschine zu wissen gab, musste allerdings erst noch eine bauen. Lawrence entnahm seinen Worten, dass konkretes Maschinenbauen in Cambridge (und zwar Cambridge, England, wo dieser Al herkam) und eigentlich auch in der Fine Hall als würdelos galt. Al freute sich riesig, dass er in Lawrence jemanden gefunden hatte, der diese Ansicht nicht teilte.
Eines Tages fragte Al ihn taktvoll, ob es ihm furchtbar viel ausmachen würde, ihn bei seinem richtigen, vollen Namen zu nennen, der Alan und nicht Al lautete. Lawrence entschuldigte sich und sagte, er werde sich bemühen, daran zu denken.
Ein paar Wochen später, während die beiden gerade an einem rauschenden Bach in den Wäldern oberhalb der Delaware Water Gap saßen, machte Alan Lawrence einen absonderlichen Vorschlag, der mit Penissen zu tun hatte. Der Vorschlag erforderte eine ausführliche methodische Erklärung, die Al unter starkem Erröten und großem Gestotter gab. Er war dabei ungemein höflich und betonte mehrfach, ihm sei durchaus bewusst, dass nicht jeder auf der Welt an dergleichen interessiert sei.
Lawrence kam zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich zu diesen Leuten gehörte.
Alan war offenbar tief beeindruckt davon, dass Lawrence überhaupt darüber nachgedacht hatte, und entschuldigte sich dafür, ihm Ungelegenheiten gemacht zu haben. Sie kamen unmittelbar wieder auf ein Gespräch über Rechenmaschinen zurück und ihre Freundschaft blieb unbeeinträchtigt. Aber auf ihrer nächsten Fahrradtour – einem zweitägigen Camping-Ausflug in die Pine Barrens – schloss sich ihnen ein Neuer an, ein Deutscher namens Rudi von Soundso.
Die Beziehung zwischen Alan und Rudi schien enger oder zumindest vielschichtiger zu sein als die zwischen Alan und Lawrence. Lawrence kam zu dem Schluss, dass Alan schließlich wohl doch einen Interessenten für seinen Penis-Plan gefunden hatte.
Das gab Lawrence zu denken. Was hatte es vom evolutionären Standpunkt aus für einen Sinn, dass es Menschen gab, die nicht geneigt waren, Nachwuchs zu zeugen? Dafür musste es irgendeinen plausiblen und ziemlich subtilen Grund geben.
Er konnte sich lediglich denken, dass es mittlerweile eher Menschengruppen – Gesellschaften – als Individuen waren, die sich gegenseitig in punkto Vermehrung zu übertreffen und/oder zu töten suchten, und dass es in einer Gesellschaft für jemanden, der keine Kinder hatte, viel Raum gab, sofern er sich nur irgendwie nützlich machte.
Alan, Rudi und Lawrence jedenfalls radelten Richtung Süden und hielten nach den Pine Barrens Ausschau. Nach einer Weile wurden die Entfernungen zwischen den Ortschaften sehr groß und die Pferdefarmen machten einem niedrigen Gestoppel schwächlicher, dürrer Bäume Platz, das sich bis nach Florida zu erstrecken schien – und ihnen die Aussicht versperrte, nicht aber den Gegenwind abhielt. »Wo sind denn nun die Pine Barrens?«, fragte Lawrence ein paar Mal. Er hielt sogar an einer Tankstelle an, um jemandem diese Frage zu stellen. Seine Begleiter begannen sich über ihn lustig zu machen.
»Wo sind die Pine Barrens?«, erkundigte sich Rudi und sah sich mit fragendem Gesicht um.
»Ich würde nach etwas ziemlich karg Aussehendem mit vielen Kiefern Ausschau halten«, sinnierte Alan.
Es herrschte kein Verkehr, deshalb hatten sie sich quer über die Straße verteilt und strampelten mit Alan in der Mitte zu dritt nebeneinander her.
»Ein Wald, wie Kafka ihn sich ausdenken würde«, murmelte Rudi.
Mittlerweile war Lawrence dahinter gekommen, dass sie sich in der Tat bereits in den Pine Barrens befanden. Wer Kafka war, wusste er allerdings nicht. »Ein Mathematiker?«, riet er.
»Das ist ein beängstigender Gedanke«, sagte Rudi.
»Das ist ein Schriftsteller«, sagte Alan. »Nimm es mir bitte nicht übel, dass ich dich das frage, Lawrence, aber erkennst du eigentlich überhaupt Namen von anderen Leuten? Von anderen als Verwandten und engen Freunden, meine ich.«
Lawrence machte wohl ein ziemlich verdutztes Gesicht. »Ich versuche, herauszufinden, ob das alles von da drin kommt«, sagte Alan, streckte die Hand aus und klopfte Lawrence mit den Knöcheln seitlich gegen den Kopf, »oder ob du manchmal auch neue Ideen von anderen Menschen aufnimmst.«
»Als kleiner Junge habe ich in einer Kirche in Virginia Engel gesehen«, sagte Lawrence, »aber ich glaube, die kamen aus meinem Kopf.«
»Na schön«, sagte Alan.
Aber später versuchte Alan es erneut. Sie hatten den Feuerausguck erreicht und er hatte sich als gewaltige Enttäuschung erwiesen: bloß eine gesichtslose Treppe, die nirgendwohin führte, und darunter ein kleines, gerodetes Areal, das von Flaschenscherben glitzerte. Sie schlugen ihr Zelt an einem Teich auf, der, wie sich herausstellte, voller rostfarbener Algen war, die sich in ihren Körperhaaren verfingen. Man konnte nichts tun als Schnaps trinken und über Mathematik reden.
Alan sagte: »Pass auf, es ist so: Bertrand Russell und ein anderer Knabe namens Whitehead haben die Principia Mathematica geschrieben …«
»Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm«, sagte Waterhouse. »Sogar ich weiß, dass das Sir Isaac Newton geschrieben hat.«
»Newton hat ein anderes Buch geschrieben, das auch Principia Mathematica heißt, aber eigentlich gar nicht von Mathematik handelt, sondern von dem, was wir heute Physik nennen.«
»Warum hat er es dann Principia Mathematica genannt?«
»Weil der Unterschied zwischen Mathematik und Physik zu Newtons Zeit nicht besonders klar war -«
»Vielleicht ist er das bis heute nicht«, sagte Rudi.
»- was unmittelbar mit dem zu tun hat, wovon ich hier rede«, fuhr Alan fort. »Ich rede von Russells P. M., worin er und Whitehead ganz von vorn anfangen, buchstäblich mit nichts, und alles – die ganze Mathematik – auf einer kleinen Zahl von Grundprinzipien aufbauen. Und der Grund, warum ich dir das erzähle, Lawrence, ist – Lawrence! Pass gefälligst auf!«
»Hmmm?«
»Rudi – nimm den Stock da – ja, genau – und behalte Lawrence fest im Auge, und wenn er wieder diesen weggetretenen Gesichtsausdruck kriegt, stößt du ihn damit an!«
»Das ist hier keine englische Schule, so etwas kannst du nicht machen.«
»Ich höre zu«, sagte Lawrence.
»Aus P. M., einem schrecklich radikalen Werk, ergab sich, dass man sagen konnte, die ganze Mathematik lasse sich im Grunde als eine bestimmte Anordnung von Symbolen ausdrücken.«
»Das hat Leibniz schon lange vorher gesagt!« protestierte Rudi.
»Äh, Leibniz hat das Zeichensystem erfunden, das wir für die Infinitesimalrechnung verwenden, aber -«
»Davon rede ich nicht!«
»Und er hat Matrizen erfunden, aber -«
»Davon rede ich auch nicht!«
»Und er hat einiges mit binärer Arithmetik gemacht, aber -«
»Das ist etwas ganz anderes!«
»Ja wovon redest du dann eigentlich, Rudi?«
»Leibniz hat das Grundalphabet erfunden – hat eine Reihe von Symbolen niedergeschrieben, mit denen sich logische Aussagen ausdrücken lassen.«
»Also, mir war nicht klar, dass Herr Leibniz auch die formale Logik zu seinen Interessen zählte, aber -«
»Natürlich! Er wollte genau das tun, was Russell und Whitehead getan haben, allerdings nicht nur mit der Mathematik, sondern mit allem, was es gibt!«
»Dürfen wir dann aufgrund der Tatsache, dass du der einzige Mensch auf dem Planeten bist, der über diese Unternehmung von Leibniz Bescheid weiß, annehmen, dass er gescheitert ist?«
»Du kannst meinetwegen annehmen, wozu du Lust hast, Alan«, antwortete Rudi, »aber ich bin Mathematiker und nehme überhaupt nichts an.«
Alan seufzte gekränkt und warf Rudi einen angelegentlichen Blick zu, den Waterhouse dahingehend interpretierte, dass es später Ärger geben würde. »Wenn ich jetzt vielleicht weitermachen dürfte«, sagte er, »ich versuche doch nur, euch davon zu überzeugen, dass die Mathematik sich als eine Reihe von Symbolen ausdrücken lässt« (er schnappte sich den Piekstock und begann Dinge wie + = 3) √-1π in den Staub zu zeichnen), »und es ist mir offen gestanden völlig egal, ob das Leibniz’ oder Russells Symbole oder die Hexagramme des I Ging sind ….«
»Leibniz war fasziniert vom I Ging!«, begann Rudi.
»Jetzt halt mal einen Moment die Klappe von Leibniz, Rudi, und pass auf: Du – Rudi – und ich, wir befinden uns sozusagen in einem Zug, sitzen im Speisewagen und unterhalten uns nett, und dieser Zug wird mit einem Affenzahn von bestimmten Lokomotiven mit Namen Bertrand Russell, Euler, Riemann und anderen gezogen. Und unser Freund Lawrence rennt neben dem Zug her und versucht, mit uns Schritt zu halten – nicht, dass wir unbedingt schlauer wären als er, aber er ist gewissermaßen ein Bauer, der keinen Fahrschein bekommen hat. Und ich, Rudi, greife nun einfach zum offenen Fenster hinaus und versuche, ihn zu uns in den Scheißzug zu ziehen, damit wir drei uns schön über Mathematik unterhalten können, ohne uns die ganze Zeit sein Keuchen und Nach-Luft-Schnappen anhören zu müssen.«
»Na schön, Alan.«
»Geht ganz schnell, du musst nur aufhören, mich ständig zu unterbrechen.«
»Aber es gibt auch eine Lokomotive namens Leibniz.«
»Ach so, du meinst, ich würdige die Deutschen nicht genügend? Dabei wollte ich gerade jemanden mit einem Umlaut erwähnen.«
»Ach, doch nicht etwa Herrn Türing?«, sagte Rudi verschmitzt.
»Herr Türing kommt später. Ich habe eigentlich an Gödel gedacht.«
»Aber das ist kein Deutscher! Der ist Österreicher!«
»Mittlerweile ist das leider alles eins, oder?«
»Der Anschluss war nicht meine Idee, du brauchst mich gar nicht so anzuschauen, ich finde Hitler entsetzlich.«
»Von Gödel habe ich schon gehört«, warf Waterhouse hilfsbereit ein. »Aber könnten wir eben noch mal zurückgehen?«
»Natürlich, Lawrence.«
»Wozu das Ganze? Warum hat Russell das gemacht? Hat irgendwas mit der Mathematik nicht gestimmt? Ich meine, zwei plus zwei ist gleich vier, oder nicht?«
Alan hob zwei Kronenkorken auf und legte sie auf den Boden. »Zwei. Eins, zwei. Plus« – er legte zwei weitere daneben – »noch mal zwei. Eins, zwei. Ist gleich vier. Eins, zwei, drei, vier.«
»Was ist daran auszusetzen?« fragte Lawrence.
»Aber Lawrence – wenn du wirklich, d. h. auf abstrakte Weise, Mathematik betreibst, zählst du doch keine Kronenkorken, oder?«
»Ich zähle überhaupt nichts.«
»Da vertrittst du aber eine sehr moderne Position«, eröffnete ihm Rudi.
»So?«
Alan sagte: »Lange Zeit herrschte die implizite Überzeugung, die Mathematik wäre so etwas wie eine Physik der Kronenkorken. Und jede noch so komplizierte mathematische Operation, die man auf Papier durchführen kann, ließe sich – zumindest theoretisch – auf ein Herumhantieren mit konkreten physischen Zählern, wie beispielsweise Kronenkorken, in der wirklichen Welt zurückführen.«
»Aber zwei Komma eins Kronenkorken gibt es nicht.«
»Gut, gut, verwenden wir also Kronenkorken als ganze Zahlen, und als reale Zahlen wie zwei Komma eins verwenden wir physikalische Maße wie zum Beispiel die Länge dieses Stocks.«
»Aber was ist dann mit pi? Es gibt keinen Stock, der genau pi Zentimeter lang ist.«
»Pi stammt aus der Geometrie – die gleiche Geschichte«, warf Rudi ein.
»Ja, man war der Überzeugung, dass die Euklidische Geometrie im Grunde eine Art Physik ist und dass ihre Geraden und so weiter Eigenschaften der physischen Welt darstellten. Aber – kennst du Einstein?«
»Ich kann mir Namen nicht besonders gut merken.«
»Dieser weißhaarige Knabe mit dem großen Schnurrbart.«
»Ach so, ja«, sagte Lawrence, sich undeutlich erinnernd, »ich wollte ihm meine Zahnrad-Frage stellen. Er hat behauptet, er hätte eine Verabredung oder so was und wäre schon spät dran.«
»Der Bursche hat eine allgemeine Relativitätstheorie entwickelt, die so etwas wie eine praktische Anwendung nicht von Euklids, sondern von Riemanns Geometrie darstellt -«
»Der Riemann mit deiner Zeta-Funktion?«