Inhaltsverzeichnis
Wichtiger Hinweis
Teile dieses Werkes sind in anderer Form auch enthalten in dem Buch Verwundete Kinderseelen heilen: Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können, das von Peter A. Levine und Maggie Kline vor allem für eine therapeutisch arbeitende Zielgruppe verfasst wurde (Kösel 2004).
Widmung und Danksagungen
Von Peter A. Levine
Ich widme dieses Buch meinen Patenkindern Jacob, Jada und Ossian. An eurem Leben teilzunehmen, von der Geburt bis in die Jahre der Kindheit und dann durch die ganze Jugend bis in eure Zeit als junge Erwachsene, ist für mich ein unschätzbares Geschenk. Zusammen mit den vielen anderen Säuglingen, Babys, Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen, die mir auf meinem Weg begegnet sind, habt ihr mir mehr über Heilung beigebracht als sämtliche wissenschaftliche Texte dieser Welt. Dieses Buch ist euch gewidmet mit meiner größten Wertschätzung und derleidenschaftlichen Hoffnung, das, was ich von euch gelernt habe, an alle Mütter und Väter weitergeben zu können, damit sie ihre Kinder durch die Schwierigkeiten, Niederlagen und Triumphe des Lebens besser begleiten können. Und meine beständige Dankbarkeit gilt allen Kindern dieser Welt: Ihr seid unsere Hoffnung für die Zukunft.
Auch meinen Schülerinnen und Schülern (von denen viele heute Kolleginnen und Kollegen sind) möchte ich meine große Wertschätzung aussprechen. Ana DoValle, deren einfühlsame Wahrnehmung bei der Arbeit mit traumatisierten Kleinkindern ich schätze. Ich danke Juliana DoValle, die mit elf Jahren die Bilder für dieses Buch gemalt hat (und die inzwischen eine junge Frau geworden und auf dem besten Weg ist, eine glänzende Karriere als Schauspielerin und Autorin zu machen). Mein Dank geht an Lorin Hager, die half, die Reimgedichte zum Klingen zu bringen. Und schließlich gilt meine große Dankbarkeit Maggie Kline, meiner höchst talentierten und kreativen Kollegin, mit der zusammen sich so wunderbar Unsinn machen lässt. Ihrer Unterstützung, ihrem Engagement, ihrer Hingabe und ihrer harten Arbeit verdanke ich mehr, als sich in Worte fassen lässt.
Von Maggie Kline
Ich widme dieses Buch meinem Sohn Jake, der mir so viel darüber beigebracht hat, was Kinder brauchen, um Zuversicht und Freude zu empfinden und Widerstandskraft zu entwickeln. Ich bin dankbar für seine Großzügigkeit, seine Unterstützung und die Beharrlichkeit, mit der er sich den Herausforderungen des Lebens stellt.
Von ganzem Herzen möchte ich die Wertschätzung für all die Kinder und Jugendlichen zum Ausdruck bringen, mit denen ich im Lauf der Jahre sowohl in städtischen Schulen als auch in privater Praxis gearbeitet und gespielt habe. Ich bin dankbar für ihren Mut, ihre Offenheit, Aufrichtigkeit und Spontaneität. Sie haben mir damit beigebracht, ihnen zuzuhören, mir von ihnen den Weg zeigen zu lassen und ihrer angeborenen Fähigkeit zu vertrauen, selbst von den heftigsten Wunden zu genesen. Am allermeisten möchte ich Peter Levine danken, der Somatic Experiencing ® (die auf Peter Levine zurückgehende körpertherapeutische Form der Trauma-Heilung) entwickelt hat, um Traumata vorzubeugen und zu heilen. Durch seine Mentorschaft, Weisheit, Leidenschaft, Inspiration und Liebe hat sich sowohl mein persönliches als auch mein Berufsleben tiefgreifend und dauerhaft verändert. Seine Vision für die Zukunft der Kinder dieser Welt ist mehr als eine Vision – sie ist ein klarer und einfacher Weg, den Eltern Schritt für Schritt gehen können, um unnötiges Leiden zu verhindern. Für sein großherziges Wesen und seine liebevolle Fürsorge für alle Kinder bin ich zutiefst dankbar.
Vorwort
Ein Märchen für unsere Zeit
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein schönes Königreich. Der König, der dieses Reich regierte, war ein sehr weiser und freundlicher, aber auch unglücklicher Mann. Er hatte eine Tochter, die er sehr liebte, ein kluges und schönes achtjähriges Kind. Doch dieses Mädchen weigerte sich, das Schloss zu verlassen. Sie ging nie nach draußen, und jedes Mal, wenn sie einen Hund sah oder auch nur von Weitem bellen hörte, begann sie verzweifelt zu weinen.
Daraufhin gab der König einen Erlass heraus: »Keine Hunde im Königreich erlaubt.« Also wurden alle Hunde verbannt. Aber das änderte nichts an der krankhaften Angst seiner Tochter, und außerdem machte dieser Erlass die anderen Kinder sehr traurig. Der König ließ eine weitere Ankündigung verlesen: »Wem es gelingt, meine Tochter dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen, bekommt die Hälfte meines Königreichs.«
In diesem Lande lebten ein alter Zauberer und eine weise Frau: Peter Levine und seine liebe Freundin Maggie Kline. Sie behaupteten, für diese Situation Abhilfe schaffen zu können. Der König war einverstanden. Peter und Maggie kamen ins Schloss und erklärten, das Kind leide an einem Trauma (nachdem es im Alter von vier Jahren von einem Hund gebissen worden war). Mithilfe der Weisheit und des Wissens, die in diesem Buch dargelegt sind, konnten sie das Kind von seinen Beschwerden heilen. Zur Überraschung und Freude des Königs begann die Prinzessin das Schloss zu verlassen und schon bald äußerte sie den Wunsch nach einem Hündchen.
Das Königreich jubelte. Alle Hunde kehrten zurück, und die Kinder konnten wieder mit ihren geliebten Gefährten spielen. Kein Kind liebte seinen Hund mehr als die Prinzessin. »Jetzt«, sagte der König zu Peter und Maggie, »ist die Hälfte meines Königreichs euer.«
»Wir wollen dein halbes Königreich nicht«, entgegneten die beiden. »Wir haben selbst eines in uns. Aber wir möchten mit allen Eltern in deinem Land sprechen, um ihnen beizubringen, wie sie ihren Kindern helfen können, einem Trauma vorzubeugen und es zu überwinden.« Der König war erstaunt und hoch erfreut. »Natürlich! EuerWunsch soll sofort erfüllt werden.« Und so geschah es.
Fortan war dies eine glückliche Nation. Es gab in diesem Land kaum Streit,Ängste oder Tyrannei, und die Kinder waren frei zu lernen und sich am Lernen zu freuen. Sogar Kriege und sexuelle Übergriffe waren bis in die nachfolgenden Generationen unbekannt.
Peter Levine und Maggie Kline sind zwei äußerst bemerkenswerte Menschen. Ihr Buch Kinder vor seelischen Verletzungen schützen enthält ihre kostbaren Gaben in Form von einfachen Erläuterungen, anregenden praktischen Übungen und eindrucksvollen Beispielen aus dem Leben der Kinder, die sie getroffen und denen sie geholfen haben. Ihr Wissen und ihr Mitgefühl für Kinder in allen Entwicklungsphasen sind erstaunlich. Und dieses feinfühlige Verständnis bringen sie nicht nur Kindern, sondern auch deren Eltern entgegen. Peter und Maggie lehren uns, den Schmerz, die Freude und den Schrecken unserer Kinder zu verstehen und zu respektieren. Sie zeigen uns, wie wir auf diese Weise dafür sorgen können, dass eine Generation von Kindern und Jugendlichen heranwächst, die glücklicher, selbstsicherer und widerstandsfähiger ist. Dieses Buch ist ein Muss für alle Eltern, Lehrer, Erzieher und Gruppenleiter. Es hilft uns, kindliche Entwicklungsphasen zu verstehen, und unterstützt Eltern darin, jede dieser Phasen angemessen und sensibel zu begleiten. Es ist eine Pionierarbeit, voll bahnbrechender Einsichten und Triumphe. Es ist ein Ausdruck von visionärem gesundem Menschenverstand, klar und einfach.
Mira Rothenberg
Autorin von Children with Emerald Eyes: Stories of Extraordinary Boys and Girls sowie Mitbegründerin und ehemalige Direktorin des Blue Berry Treatment Center in Brooklyn, NewYork
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Trauma ist eine Tatsache im Leben
Die schlechte Nachricht lautet, dass Trauma eine Tatsache im Leben ist. Die gute Nachricht ist, dass das auch für die menschliche Widerstandsfähigkeit gilt. Einfach ausgedrückt, heißt Widerstandsfähigkeit, dass wir alle die Kraft haben, uns von Stress und Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit und Uberwältigung zu erholen. Als Analogie für Widerstandsfähigkeit (in der Fachwelt auch »Resilienz« genannt) benutzen wir manchmal das Bild einer Sprungfeder. Wenn Sie eine solche Feder auseinanderziehen, schnellt sie danach auf ihre ursprüngliche Größe und Form zurück. Dehnen Sie die Feder allerdings zu oft (oder wenden zu viel Kraft auf), verliert sie mit der Zeit ihre Elastizität.
Menschen, vor allem junge Menschen, müssen ihre Widerstandsfähigkeit jedoch nicht zwangsläufig durch natürliche Abnutzung verlieren. Im Gegenteil:Wir sind in der Lage, unsere Resilienz durch die Auseinandersetzung mit dem Stress und den Belastungen unseres Lebens noch zu stärken und zu kräftigen.Widerstandsfähige Kinder sind meistens mutig. Das heißt nicht, dass sie sich zu gefährlichen Situationen hingezogen fühlen, sondern dass sie ihre Welt mit Begeisterung und Freude offen und neugierig erforschen. Und bei diesen Forschungsreisen erleben sie unweigerlich ein gewisses Maß an Unfällen, Zusammenstößen und Konflikten.
Wenn widerstandsfähige Kinder mit diesen natürlichen Kräften in Berührung kommen, sind sie eher offen als verschlossen. Offenheit ist für resiliente Kinder tatsächlich die typischste Charaktereigenschaft. Sie sind offen für andere Kinder und genießen es, mit ihnen zu teilen. Gleichzeitig sind sie imstande, Grenzen zu ziehen, um ihren persönlichen Raum und Besitz zu schützen. Sie sind in Kontakt mit ihren Gefühlen und können diese ihrem Alter entsprechend zum Ausdruck bringen und kommunizieren. Und vor allem haben sie die wunderbare Fähigkeit, durch schwierige Situationen schnell hindurchzusausen – wenn sie dabei unterstützt werden. Sie sind die glücklichen, lebendigen Kinder, die wir selbst immer gern gewesen wären.
Den größten Herausforderungen begegnen Kinder bei Erlebnissen, die potenziell traumatisch sind. Schauen wir uns einmal näher an, wie die Lebensumstände aussehen, die für Kinder überwältigend sein können.
Ein Trauma kann durch außergewöhnliche, schreckliche Erlebnisse entstehen, wie etwa Gewalt und Kindesmissbrauch, aber es kann auch eine Folge ganz »gewöhnlicher« Ereignisse sein. Tatsächlich können Erfahrungen wie Unfälle, Stürze, ärztliche Untersuchungen oder die Scheidung der Eltern Kinder veranlassen, sich zurückzuziehen, ihr Selbstvertrauen zu verlieren oder Ängste und Phobien zu entwickeln. Traumatisierte Kinder können auch Vierhaltensstörungen wie Aggressionen oder Hyperaktivität zeigen und die verschiedensten Süchte entwickeln, während sie älter werden. Die gute Nachricht lautet, dass einfühlsame Eltern oder andere Betreuer, die bereit sind, sich entsprechende Fähigkeiten anzueignen, erkennen können, ob ein Kind gefährdet ist, ein Trauma zu entwickeln. Wir können Kinder davor bewahren, Narben für ihr ganzes Leben davonzutragen, wie verheerend die entsprechenden Ereignisse auch sein mögen oder zu sein scheinen.
Eltern sind manchmal hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihre Kinder zu beschützen, und der Tendenz, sie Risiken eingehen zu lassen, damit sie mehr Selbstvertrauen und Kompetenz entwickeln. Das ist ein heikler Balanceakt, denn während Kinder lernen, ihre Welt zu meistern, können sie durch die dabei unweigerlich auftretenden überraschenden Ereignisse auch traumatisiert werden.Wie sehr Sie sich auch bemühen mögen, Ihr Zuhause »kindersicher« zu gestalten, letzten Endes werden Kinder – angetrieben von ihrer Neugierde – die Welt trotzdem erforschen und sich dabei verletzen. Genauso lernen sie, und genauso werden sie unweigerlich Stürze erleiden und Verbrennungen, elektrische Schläge, Tierbisse oder andere Verletzungen davontragen. Wie sehr wir uns auch bemühen mögen, unsere Kinder zu schützen, wir können sie nicht in einen Kokon wickeln (und damit auch einsperren).
Unsere Kinder sind häufig mit potentiell traumatischen Erlebnissen konfrontiert. Aber das ist für Sie als Eltern kein Grund zur Verzweiflung. Es ist möglich, sowohl die Folgen »alltäglicher« Situationen, wie wir sie oben erwähnt haben, auf ein Minimum zu reduzieren, als auch die Auswirkungen nicht alltäglicher Ereignisse, das heißt natürlicher oder durch Menschen verursachter Katastrophen wie Gewalt, Krieg, Terrorismus und Missbrauch.
Machen wir uns nicht lächerlich, wenn wir behaupten, Erwachsene könnten dafür sorgen, dass Kinder »trauma-sicher« aufwachsen? Wir glauben nicht. Denken Sie daran: Auch wenn wir Schmerz nicht vermeiden können und Trauma eine Tatsache im Leben ist... So gilt dasselbe auch für unsere Widerstandskraft, unsere Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen.
In diesem Buch lernen Sie die Anwendung praktischer Werkzeuge, mit denen Sie dafür sorgen können, dass Ihr Kind seine Widerstandsfähigkeit optimal entfaltet. Wenn es dann eine schreckliche Situation bestehen muss, wird es ihm gelingen, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Mit diesem »Rezept für Widerstandsfähigkeit« in der Hand können Eltern und andere verantwortliche Erwachsene ihren Kindern helfen, »trauma-sicher« zu werden und dabei auch ihre Toleranzschwelle für alltäglichen Stress zu erhöhen. So wachsen Kinder tatsächlich zu stärkeren, liebevolleren, glücklicheren und mitfühlenderen Menschen heran.
Das Wort »Trauma« taucht in den Schlagzeilen der Medien regelmäßig auf. Mehr und mehr Wissen verbreitet sich darüber, wie ein Trauma sich in Körper und Seele festsetzen kann. Die verheerenden Auswirkungen eines Traumas auf das emotionale und körperliche Wohlbefinden von Kindern, auf ihre geistige Entwicklung und ihr Verhalten finden endlich die Beachtung, die das Thema verdient. Seit dem 11. September 2001 prasseln Informationen über den praktischen Umgang mit Katastrophen geradezu auf uns ein.
Trotz dieser Konzentration auf das Thema Trauma ist über die allgemeinen Ursachen von Traumata sowie deren Vorbeugung und nicht-medikamentöse Behandlung bislang recht wenig geschrieben worden. Die Betonung lag vielmehr auf der Diagnose und der medikamentösen Behandlung der zahlreichen verschiedenen Symptome. »Das Trauma ist wahrscheinlich die Ursache von menschlichem Leid, die am häufigsten gemieden, ignoriert, heruntergespielt, verleugnet, missverstanden und nicht behandelt wird.« Glücklicherweise sind Sie – die Eltern,Tanten, Onkel und Großeltern, die sich Kindern liebevoll zuwenden und sie beschützen – imstande, die schädlichen Auswirkungen eines Traumas zu verhindern oder zumindest abzuschwächen.
Um den Kindern in Ihrer Obhut optimal helfen zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, worin die Wurzeln eines Traumas liegen. Anschließend werfen wir einen genaueren Blick auf das Trauma selbst – den Mythos und die Realität. Auf diese Weise werden Sie allmählich verstehen, warum sich ein Kind möglicherweise auch dann noch von einem Ereignis überwältigt fühlt, wenn die akute Gefahr vorbei ist.
Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie Kindern helfen können, schmerzliche Empfindungen und Gefühle wahrzunehmen und zu verarbeiten, ohne sie dabei unnötigem Leid auszusetzen. Mithilfe Ihres neuen Wissens können Sie Kindern die Angst vor dem Durchleben der unwillkürlichen Reaktionen und Emotionen nehmen, die zu einem Trauma und auch zu anderen schwierigen Gefühlen gehören, und ihnen so helfen, sich davon zu befreien. Wir stellen hier authentische Fallbeispiele vor, die zeigen, wie man Kinder dabei unterstützt, sich von überwältigenden Erfahrungen wieder zu erholen. Sie lernen, die Anzeichen für ein Trauma zu erkennen, und erwerben gleichzeitig simple Fähigkeiten, mit deren Hilfe Sie nach einem beängstigenden Unglück oder einem belastenden Erlebnis traumatische Symptome lindern oder diesen vorbeugen können. Während diese grundlegenden Richtlinien als Maßnahmen für »emotionale Erste Hilfe« für Eltern und andere Bezugspersonen gedacht sind, gibt es natürlich auch Situationen, in denen es sich nachdrücklich empfiehlt, professionellen Rat zu suchen. Wir helfen Ihnen zu erkennen, wann das notwendig sein könnte.
Erfahrungen aus dem Leben von Kindern, die wir kennenlernen durften
Werfen Sie mit uns zusammen einen Blick in die Welt von fünf Mädchen und Jungen, um ein besseres Gefühl für das Spektrum der traumatischen Erfahrungen zu bekommen, die Kinder in jedem Alter machen können. Vielleicht erinnert Sie die eine oder andere der hier beschriebenen Situationen sogar an Ihre eigenen Kinder.
Lisa weint jedes Mal hysterisch, wenn die Familie ins Auto steigen will.
Der 15-jährige Carlos, der sehr unter seiner Schüchternheit leidet, schwänzt ständig die Schule. »Ich möchte nicht immerzu Angst haben müssen«, sagt er. »Ich will mich einfach normal fühlen.«
Sarah erscheint jeden Morgen pünktlich in ihrer zweiten Klasse.Täglich gegen 11 Uhr ist sie unweigerlich im Zimmer der Schulkrankenschwester anzutreffen und klagt über Bauchschmerzen, obwohl man keine körperlichen Ursachen für ihre chronischen Symptome feststellen kann.
Curtis, ein beliebter, freundlicher Grundschüler, erzählt seiner Mutter, er habe ständig das Gefühl, jemanden treten zu wollen – egal wen! Er hat keine Ahnung, woher dieser Drang kommt. Zwei Wochen später wird er aggressiv und schikaniert seinen jüngeren Bruder.
Die Eltern des dreijährigen Kevin machen sich Sorgen, weil ihr Sohn so »hyperaktiv« ist und so »autistisch« spielt, wenn er sich gestresst fühlt. Er legt sich dann immer auf den Boden, macht sich am ganzen Körper steif, als würde er sterben, um dann langsam wieder zum Leben zu erwachen und dabei zu rufen: »Rette mich... rette mich!«
Was haben diese Kinder gemeinsam? Was liegt ihren Symptomen zugrunde? Werden diese mit der Zeit verschwinden oder sich verstärken? Um diese Fragen beantworten zu können, wollen wir uns anschauen, wo die Schwierigkeiten anfingen.
Wir beginnen mit Lisa, die im Auto immer hysterisch weint. Im Alter von drei Jahren saß sie angeschnallt in ihrem Kindersitz, als ein anderer Wagen von hinten auf das Familienauto auffuhr. Weder sie noch ihre Mutter, die am Steuer saß, erlitten körperliche Verletzungen. Tatsächlich bekam das Auto kaum einen Kratzer und die Schäden wurden als leichter Blechschaden eingestuft. Die Eltern brachten Lisas Weinen gar nicht mit dem Unfall in Zusammenhang, weil es mehrere Wochen dauerte, bis ihre Betäubtheit nach dem Zusammenstoß abgeklungen war. Ihre ersten Symptome kurz nach dem Unfall hatten darin bestanden, dass sie auffällig still war und wenig Appetit hatte. Als ihr Appetit zurückkehrte, dachten die Eltern, sie sei »darüber hinweg«. Doch ihre Symptome hatten sich nur gewandelt und äußerten sich jetzt in Form von ängstlichen Tränen, die sie jedes Mal vergoss, wenn sie in die Nähe des Familienautos kam.
Während Lisas Schrecken auf ein einmaliges Erlebnis zurückgeht, entwickelten sich die Symptome von Carlos allmählich. Sein emotional gestörter älterer Stiefbruder hatte ihn über fünf Jahre lang körperlich schikaniert. Niemand griff ein. Seine Eltern hielten die Rangeleien für »normale« Geschwisterrivalität. Carlos behielt diese Vorfälle ganz für sich, weil er befürchtete, seine Eltern würden wütend auf ihn sein, wenn er seinem behinderten Bruder kein Mitgefühl entgegenbrachte. Deswegen hatten sie keine Ahnung, dass Carlos sich vor seinem Bruder schrecklich fürchtete. Er hatte versucht, seiner Mutter von seiner Angst zu erzählen, aber sie ging über seine Gefühle hinweg und bat ihn, toleranter zu sein.
Niemand außer Carlos’ älterer Schwester, die selbst unter dieser familiären Dynamik litt, bemerkte seinen Schmerz und seine Zwangslage. Inzwischen fantasierte Carlos Tag und Nacht, Berufsboxer zu werden, dabei hatte er kaum die Kraft und das Selbstvertrauen, morgens aufzustehen, um zur Schule zu gehen, geschweige denn, sich der Sportmannschaft an der Schule anzuschließen. Erst als Carlos an der Schule verkündete, er wolle sich umbringen, begriffen seine Eltern, welch hohen emotionalen Preis ihr Sohn für diese ständigen Attacken zahlen musste.
Das nächste der Kinder, die wir oben erwähnten, ist Sarah, die voll aufgeregterVorfreude war, weil sie bald in die zweite Klasse kommen würde. Nach einer vergnügten Einkaufstour mit ihrer Mutter, bei der Lisa für die Schule neu eingekleidet wurde, erzählte man ihr völlig unerwartet, dass ihre Eltern sich scheiden ließen und ihr Vater in zwei Wochen ausziehen würde! Zu ihrer Freude auf die Schule gesellten sich Panik und Traurigkeit. Das Rumoren in ihrem Bauch fühlte sich schließlich an wie ein fester Knoten. Kein Wunder, dass sie von allen Kindern am häufigsten im Schulkrankenzimmer zu finden war.
Während er eines Morgens auf den Schulbus wartete, wurde Curtis Zeuge, wie aus einem Auto geschossen wurde und das Opfer tot auf dem Gehsteig liegen blieb. Er stand mit einer kleinen Gruppe von Mitschülern an der Bushaltestelle, die, als sie in der Schule eintrafen, alle in der einen oder anderen Form psychologisch betreut wurden. Curtis jedoch wirkte weiterhin verstört und aufgebracht.
Das letzte Kind, das wir oben erwähnten, ist Kevin. Er kam als Notfall mit Kaiserschnitt zur Welt, und man nahm an dem Säugling in den ersten 24 Stunden nach seiner Geburt eine lebensrettende Operation vor. Kevin war mit körperlichen Problemen zur Welt gekommen, die einen sofortigen Eingriff im Darm und im Rektum erforderlich machten. Um Leben zu retten oder Überleben zu ermöglichen, sind oft ärztliche Behandlungen und chirurgische Eingriffe notwendig. In unserer großen Erleichterung und Freude darüber, dass der Mensch gerettet wurde, übersehen wir leicht, dass diese Eingriffe ein Trauma bewirken können, das lange nachdem die körperlichen Wunden verheilt sind, Auswirkungen auf die emotionale Verfassung und das Verhalten des Betreffenden haben kann.
Abgesehen von der Schießerei, die Curtis miterlebte, und dem schweren chirurgischen Eingriff, dem sich Kevin gleich nach seiner Geburt unterziehen musste, sind die oben beschriebenen Situationen nicht ungewöhnlich; tatsächlich erleben viele Kinder Ähnliches. Auch wenn jedes dieser »Ereignisse« anders aussah, ist all diesen Kindern gemeinsam, dass sie sich völlig überfordert fühlten und hilflos waren. Sie alle wurden durch das, was geschah und wie sie es erlebten, traumatisiert. Woher wissen wir das? Die Antwort ist recht einfach. Jedes dieser Kinder verhielt sich in der einen oder anderen Form weiterhin, als sei das Ereignis immer noch aktuell. Die Kinder hingen gleichsam in dem Zeitpunkt fest, wo ihr Körper auf den Alarm reagierte, der im traumatischen Augenblick ausgelöst worden war.Auch wenn diese Kinder sich an das Erlebnis selbst vielleicht nicht erinnern (oder die Eltern die Symptome ihrer Kinder nicht damit in Zusammenhang bringen), zeigen ihr Spiel, ihr Verhalten und ihre körperlichen Beschwerden, dass sie mit den neuen und beängstigenden Gefühlen in ihnen zu kämpfen haben.
Die obigen Beispiele offenbaren das Spektrum der Situationen, von denen Kinder sich überwältigt fühlen können.Wir geben im Verlauf dieses Buches immer wieder Beispiele und Ratschläge für Erste Hilfe in den unterschiedlichsten alltäglichen und außergewöhnlichen Situationen, zu denen es in den zahlreichen verschiedenen Lebensphasen eines Kindes kommen kann.
EinTrauma ist mehr als das traumatische Ereignis selbst
Zu einem Trauma kommt es dann, wenn ein intensives Erlebnis ein Kind wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft. Das Kind wird davon überwältigt, es bleibt verändert zurück und ist von seinem Körper, seinem Verstand und seinem Geist wie abgeschnitten. Sämtliche Verarbeitungsmechanismen, die ihm bislang zur Verfügung standen, sind außer Funktion gesetzt, und es fühlt sich zutiefst hilflos. Es ist, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Ein Trauma kann auch die Folge von ständiger Angst und nervöser Anspannung sein. Langfristige Stressreaktionen erschöpfen ein Kind und schwächen seine Gesundheit, seine Vitalität und sein Selbstvertrauen. Das war bei Carlos, der von seinem aggressiven Bruder schikaniert wurde, mit Sicherheit der Fall.
Ein Trauma ist das Gegenteil einer stärkenden Erfahrung. Die Anfälligkeit für Traumen ist bei Kindern unterschiedlich ausgeprägt und hängt von zahlreichen Faktoren ab, besonders vom Alter, der Qualität der frühen Bindung, der persönlichen Geschichte mit Traumata und der genetischen Disposition. Je jünger ein Kind ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich von ganz gewöhnlichen Ereignissen, die ein älteres Kind oder einen Erwachsenen gar nicht weiter beeinträchtigen, überwältigt fühlt. Bislang ging man davon aus, dass die Heftigkeit traumatischer Symptome der Schwere des entsprechenden Ereignisses entspricht. Auch wenn die Heftigkeit und das Ausmaß der Stressfaktoren mit Sicherheit wichtig sind, definieren sie das Trauma nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr die Widerstandsfähigkeit des Kindes. »Ein Trauma ist nicht im traumatischen Ereignis selbst angesiedelt, sondern im [in seinen Auswirkungen auf das] Nervensystem,.« Die Grundlage eines Traumas, das auf ein einmaliges Ereignis zurückgeht (im Gegensatz zu kontinuierlicher Vernachlässigung oder andauerndem Missbrauch), ist primär eher physiologisch als psychologisch.
Mit »physiologisch« meinen wir, dass im Augenblick einer Bedrohung keine Zeit zum Denken bleibt, unsere primären Reaktionen sind daher instinktiv. Die Hauptfunktion unseres Gehirns dient dem Überleben! Dafür sind wir ausgerüstet. Die Wurzel unserer traumatischen Reaktion ist unser 280 Millionen Jahre altes Erbe – ein Erbe, das in den ältesten und tiefsten Strukturen des Gehirns angesiedelt ist. Wenn diese primitiven Teile des Gehirns eine Gefahr wahrnehmen, aktivieren sie automatisch außergewöhnliche Mengen an Energie – wie den Adrenalinstoß, der es einer Mutter ermöglicht, das Auto hochzuheben, um ihr Kind darunter hervorzuziehen. Wir kennen eine Frau, die als achtjähriges Mädchen erleben musste, dass ihr Arm unter dem Rad eines Lastwagens eingeklemmt wurde. Die Rettungsmannschaft konnten ihr nicht helfen, bis es gelang, den Vater an den Unfallort zu holen. Mit den mächtigen, schützenden, bärenstarken Kräften, die diese Situation in ihm aktivierte, konnte er seine Tochter unter dem Rad hervorziehen.
Diese unermesslichen Uberlebenskräfte, die wir alle besitzen, äußern sich in heftigem Herzklopfen und noch über zwanzig weiteren körperlichen Reaktionen, die uns darauf vorbereiten sollen, uns und unsere Angehörigen zu verteidigen und zu schützen. Zu diesen raschen, unwillkürlichen energetischen Umschwüngen gehört, dass der Blutfluss von den Organen, die für die Verdauung und die Haut zuständig sind, in die großen motorischen Muskeln umgelenkt wird, die der Flucht dienen. Wir atmen schnell und flach und unser Speichelfluss vermehrt sich. Die Pupillen erweitern sich, damit das Auge mehr Informationen aufnehmen kann. Die Blutgerinnungsfähigkeit nimmt zu, während die verbalen Fähigkeiten abnehmen. Unsere Muskeln geraten in einen hohen Erregungszustand, was sich häufig in Zittern ausdrückt. Wenn wir mit einer tödlichen Bedrohung oder anhaltendem Stress konfrontiert sind, können bestimmte Muskeln jedoch auch vor Angst kollabieren, weil sich der Körper im Zustand der Uberwältigung verschließt.
Angst vor unseren eigenen Reaktionen
Wenn ein Kind oder ein Erwachsener sich mit inneren Abläufen (seinen Empfindungen und Gefühlen) unwohl fühlt, können genau die Reaktionen, die ihm einen körperlichen Vorteil verschaffen sollen, beängstigend sein. Das trifft besonders dann zu, wenn sich ein Mensch aufgrund seiner Größe, seines Alters oder anderer Schwächen nicht bewegen kann oder sich in Gefahr brächte, wenn er nicht still hielte. So hat ein Baby oder ein kleines Kind zum Beispiel nicht die Möglichkeit, vor einer Gefahr oder einer Bedrohung davonzulaufen. Ein älteres Kind oder ein Erwachsener jedoch, die eigentlich weglaufen könnten, müssen sich vielleicht ebenfalls völlig still verhalten, zum Beispiel bei einer Operation oder einer Vergewaltigung. In solchen Situationen haben Menschen keine bewusste Wahl. Wir sind biologisch programmiert zu erstarren (oder zu kollabieren), wenn Angriff oder Flucht nicht möglich sind oder zu sein scheinen. Erstarrung und Kollaps ist die letzte Rettungsmaßnahme, quasi eine Standardeinstellung bei Bedrohungen, denen wir nicht entkommen können, selbst wenn diese Bedrohung nur in einer Mikrobe in unserem Blut besteht. Säuglinge und kleine Kinder sind aufgrund ihrer begrenzten Selbstverteidigungsfähigkeiten besonders anfällig dafür zu erstarren und damit auch besonders gefährdet, traumatisiert zu werden. Deswegen ist es so entscheidend, dass Erwachsene einem verängstigten Kind Erste Hilfe geben können. Die Eltern können ihr Kind durch ihre Unterstützung Schritt für Schritt aus dem akuten Stresszustand holen, sodass es seine Stärke wieder spürt oder sogar Freude empfindet.
Wichtig ist zu verstehen, dass der Körper bei der Reaktion des Erstarrens zwar unbeweglich aussieht, die physiologischen Mechanismen jedoch, die ihn auf die Flucht vorbereiten, voll aktiviert sind. Muskeln, die zum Zeitpunkt der Bedrohung in Aktionsbereitschaft sind, werden in den Zustand der Unbeweglichkeit oder des »Schocks« versetzt. Im Schockzustand ist die Haut blass und der Blick leer. Wir atmen flach und schnell oder einfach nur flach. Das Zeitgefühl geht verloren. Unterschwellig jedoch birgt diese Situation der Hilflosigkeit enorme Lebenskräfte. Diese Kräfte sind in Wartestellung, um die eingeleiteten Handlungen zum Abschluss zu bringen. Außerdem neigen ganz kleine Kinder dazu, aktive Reaktionen zu umgehen und stattdessen bewegungslos zu werden. Später dann, wenn die aktuelle Situation längst vorbei ist, können geringfügige Dinge, die an sie erinnern, genau die gleichen Alarmsignale durch den Körper jagen, bis er sich verschließt. Wenn das geschieht, wird ein Kind mürrisch, depressiv, nörgelig, klammert oder zieht sich zurück.
Immer wenn Ihr Kind stark erregt ist oder sich verschließt, braucht es dringend Ihre Anleitung, um seine traumatische Stressreaktion abzubauen und seine Widerstandskraft zu stärken. Außerdem schützen kleine Kinder sich meistens nicht durch Weglaufen, sondern rennen zu Erwachsenen, die sie schützen können. Damit ein Kind bei der Bewältigung eines Traumas Hilfe findet, muss es also einen Erwachsenen geben, bei dem es in Sicherheit ist und der ihm hilft. Eltern, die imstande sind, emotionale Erste Hilfe zu leisten, können ihre Kinder darin unterstützen, das Erlebte im wahrsten Sinne des Wortes »abzuschütteln« und wieder frei durchzuatmen.
Wie beeinträchtigen diese Aktivierung von Uberlebenskräften und die damit einhergehenden zahlreichen physiologischen Veränderungen unsere Kinder im Verlauf der Zeit? Die Antwort auf diese Frage ist wichtig, um verstehen zu können, welche Folgen ein Trauma hat. Sie hängt sehr davon ab, was in und nach der bedrohlichen Situation passiert. Der Haken ist, dass die überschüssige Energie, die zurVerteidigung mobilisiert wurde, »verbraucht« werden muss, um eine Traumatisierung zu vermeiden. Wird diese Energie nicht vollständig abgebaut, verschwindet sie nicht einfach, sondern bleibt als eine Art »Körpererinnerung« erhalten, die das Potential für wiederholte traumatische Symptome bildet.
Je kleiner ein Kind ist, desto weniger Möglichkeiten hat es, sich zu schützen. Ein Vorschulkind oder Grundschulkind ist zum Beispiel nicht in der Lage, vor einem bissigen Hund zu fliehen oder ihn zu abzuwehren, und Babys sind noch nicht einmal imstande, sich selbst warm zu halten. Aus diesen Gründen ist es für die Vorbeugung eines Traumas von entscheidender Wichtigkeit, dass Kinder von respektvollen Erwachsenen beschützt werden, die ihre Bedürfnisse nach Sicherheit,Wärme und Ruhe erkennen und erfüllen (und ihre Grenzen respektieren). Auch können Erwachsene oft für das Wohlbefinden und die Sicherheit des Kindes sorgen, indem sie ihm ein Stofftier oder eine Puppe geben oder von einem Engel oder auch einem Fantasiegeschöpf erzählen, die als Ersatzfreund dienen. Solche Wesen können für Kinder besonders bei kurzfristigen Trennungen tröstlich sein oder ihnen helfen, ruhig zu schlafen, wenn sie nachts in ihrem Zimmer alleine sind. Vielleicht kommt manchen Erwachsenen das albern vor, aber diese Dinge können bei kleinen Kindern ganz entscheidend dazu beitragen, Gefühlen von Uberwältigung vorzubeugen.
Für Erwachsene, die als Kinder selbst auf solch eine beruhigende Bindung zurückgreifen konnten, wenn sie Angst hatten, ist das alles wahrscheinlich einfach eine Sache des gesunden Menschenverstands. Der sagt uns, dass wir die Bedürfnisse von Kindern generell wahrnehmen und erfüllen müssen. Historisch betrachtet jedoch, wurden die Bedürfnisse von Kindern immer wieder auf schlimme Weise heruntergespielt, wenn nicht gar völlig ignoriert. Der Entwicklungspsychiater Daniel Siegel, Autor des hoch gelobten Buches Wie wir werden, wer wir sind, stellt hier die jüngsten Ergebnisse der neurobiologischen Forschung zusammen und betont, von welch entscheidender Bedeutung es ist, dass Erwachsene Säuglingen und kleinen Kindern Sicherheit und Halt geben. Das frühkindliche Gehirn entwickelt seine Intelligenz, seine emotionale Widerstandskraft und seine Fähigkeit zur Selbstregulierung durch die anatomisch-neuronale »Modellierung« und »Gestaltung«, die in den unmittelbaren Begegnungen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen stattfinden. Kommt es zu traumatischen Ereignissen, verstärkt sich die Prägung von neurologischen Mustern erheblich.Wenn Erwachsene also die simplen Werkzeuge für emotionale Erste Hilfe anwenden lernen, die wir hier vorstellen, tragen sie damit entscheidend zur gesunden Entwicklung des Gehirns und des Verhaltens ihrer Kinder bei.
Das »Rezept« für Traumata
Ob sich traumatische Symptome entwickeln, hängt davon ab, in welchem Maße ein Kind sich verschließt und wie viel von der Überlebensenergie unaufgelöst bleibt, die ursprünglich für Angriff oder Flucht mobilisiert wurde. Dieser Selbstschutzmechanismus funktioniert nun nicht mehr richtig. Kinder brauchen kontinuierliche, geduldige Unterstützung, um diesen starken Erregungszustand abbauen und wieder gesund und flexibel agieren zu können. Der Mythos, Babys und Kleinkinder seien, was schwierige Situation betrifft, »noch zu klein, um überhaupt etwas mitzukriegen« oder würden sich »sowieso nicht daran erinnern«, ist längst widerlegt. Im Gegenteil, ungeborene Kinder, Neugeborene und Kleinkinder sind aufgrund ihres unterentwickelten Nerven-, Muskelund Wahrnehmungssystems am anfälligsten für Stress und Trauma. Diese Anfälligkeit gilt auch für ältere Kinder, die in ihrer Bewegungsfähigkeit chronisch oder kurzfristig eingeschränkt sind, weil sie zum Beispiel in Folge eines orthopädischen Eingriffs oder entsprechender Korrekturen eine Schiene, eine Stützvorrichtung oder einen Gips tragen müssen. Hierzu gehören auch Kinder, die aufgrund einer Gehirnlähmung, angeborener Behinderungen oder einer Entwicklungsverzögerung körperlich weniger beweglich sind.
Warum unser Körper nichts vergisst: Was die Gehirnforschung uns lehrt
Warum sind wir, wenn eine Bedrohung erst einmal vorbei ist, nicht frei davon? Warum bleiben wir mit Angst und lebhaften Erinnerungen zurück, die uns für immer verändern, wenn wir nicht die Hilfe bekommen, die wir brauchen?
Der anerkannte Neurologe Antonio Damasio, Autor der Bücher Descartes’ Irrtum und Ich fühle, also bin ich, hat entdeckt, dass Emotionen buchstäblich einer anatomischen Planzeichnung im Gehirn folgen, die für uns überlebenswichtig ist. Das bedeutet, dass die Emotion »Angst« einen sehr spezifischen neuronalen Schaltkreis im Gehirn eingeätzt hat, der eine »Landkarte« von genau festgelegten, physikalischen, körperlichen Empfindungen aus verschiedenen Teilen des Körpers darstellt. Wenn etwas, das wir sehen, hören, riechen oder schmecken, ähnliche Körperempfindungen auslöst wie eine frühere Bedrohung, werden auch die Emotionen Angst und Hilflosigkeit, die in der ursprünglichen Gefahrensituation ausgelöst wurden, wieder aktiviert. Ursprünglich diente die Erfahrung der Angst einem wichtigen Zweck. Sie half dem Körper, Flucht oder Angriff zu organisieren, um uns schnell aus der Gefahrenzone zu bringen.Jetzt ruft der Auslöser eine ähnliche Angst auf den Plan, obwohl wir den Ursprung der Angst nicht bewusst erinnern (sondern lediglich die gleiche körperliche Reaktion zeigen). Der Herzschlag beschleunigt sich rapide oder verlangsamt sich plötzlich, es kommt zu Schweißausbrüchen und quälenden Gefühlen, weil der Körper wieder so anspringt wie einst und diese Reaktionen fälschlicherweise für die ursprüngliche Bedrohung hält, so als fände diese tatsächlich in der Gegenwart statt. Eltern hingegen werden bei ihrem Kind Verhaltensweisen und Emotionen beobachten, die zunächst einmal ganz unerklärlich scheinen.
Das »Rezept« für Widerstandsfähigkeit
Wie wir in diesem Kapitel bereits weiter oben erläutert haben, ist das, was während und nach einer bedrohlichen Situation geschieht, ausschlaggebend dafür, ob ein Kind beunruhigt bleibt oder sich aufgrund seiner Widerstandsfähigkeit schnell wieder erholt. Um eine Traumatisierung zu vermeiden, so wissen Sie inzwischen, müssen Sie Zugang bekommen zu der überschüssigen Energie, die Ihr Kind in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen oder zu verteidigen, mobilisiert hat. Es gilt dafür zu sorgen, dass diese »verbraucht« wird. Wird diese »Notfall«-Energie nicht ganz genutzt und abgebaut, verschwindet sie nicht einfach. Stattdessen kann sie quälende Symptome verursachen, wie gleich am Beispiel von Leon deutlich werden wird. Sie werden an Leons Geschichte auch sehen, wie seine Abneigung gegen bestimmte Lebensmittel und Geräusche verschwand, sobald er seine Angstenergie »verbraucht« hatte und sich mit Unterstützung seiner Eltern wieder erholte und fröhlich wurde. Die Vorgehensweisen, die Leons Eltern anwandten, sind die gleichen, die Sie in diesem Buch lernen, um Ihrem Kind helfen zu können, wenn es nach einer bedrohlichen Herausforderung ängstlich, gestresst oder in blanker Panik ist.
Leon und sein Sturz mit dem Kinderstuhl
Die Mutter des vierjährigen Leon begann sich Sorgen zu machen, als ihr Sohn sich weigerte, seine (früheren) Lieblingsspeisen zu essen: Toast mit Erdnussbutter und Marmelade mit einem Glas Milch.Wenn seine Mutter ihm diese Speisen vorsetzte, geriet er in Aufregung, machte sich steif und schob sie weg. Noch beunruhigender war, dass er zu zittern und zu weinen anfing, sowie der Hund der Familie bellte. Der Mutter kam nie in den Sinn, dass Leons »Mäkeligkeit« und seine Angst vor dem Bellen mit einem ganz »gewöhnlichen« Vorfall zusammenhingen, der vor fast einem Jahr passierte, als Leon noch im Kinderstuhl aß.
Während er in seinem Stühlchen saß und seine Lieblingsspeisen futterte – ein Brot mit Erdnussbutter und Marmelade -, hatte er seiner Mutter stolz sein halb leeres Glas Milch hingehalten, damit sie es füllte. Wie es manchmal so geht, rutschte Leon das Glas aus der Hand und fiel mit einem lauten Knall auf den Boden. Das erschreckte den Hund, der daraufhin rückwärts sprang und den Kinderstuhl umwarf. Leon knallte mit dem Kopf auf den Boden und lag da, schnappte nach Luft und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Die Mutter schrie, und der Hund begann laut zu bellen. Aus der Sicht der Mutter ergaben Leons Abneigung gegen seine Lieblingsspeisen und seine offensichtliche Angst vor dem Hundegebell überhaupt keinen Sinn. Aus dem Blickwinkel des Traumas jedoch legte die simple Verkettung von Leons Sturz mit dem unmittelbar vorangegangenen Verzehr von Milch und Erdnussbutter sowie dem wilden Gekläff des Hundes die Bahnen für seine Angst und Abneigung gegen seine einstigen Lieblingsspeisen. Es war wie ein pawlowscher Reflex.
Als Leon erst einmal »übte«, kontrolliert auf Kissen zu fallen (nach Anweisungen, die wir später in diesem Buch genauer erläutern werden), lernte er, seine Muskeln, die sich verkrampft hatten, zu entspannen und sich der Schwerkraft allmählich immer mehr zu überlassen. Bis dahin mochte er diese Speisen »einfach« nicht essen und konnte nicht einschlafen, wenn in der Nachbarschaft Hunde bellten. Glücklicherweise futterte dieser kleine Junge nach einer Reihe von Spielsitzungen wieder mit Vergnügen seine Lieblingsspeisen und bellte ausgelassen zurück, wenn der Hund anfing zu bellen. Mit anderen Worten, Leon konnte in diesen sicheren »Fall-Sitzungen« die Energie abbauen, die anfangs noch in seiner Abwehr gegen Stürze gebunden war. Als er – mit der Hilfe und Sicherheit, die seine Eltern ihm gaben – sein Gleichgewicht zurückgewann, verwandelte sich seine Angst in Freude.
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Widerstandskraft stärken durch Erweiterung der körperlichen Empfindungsfähigkeit
Damit Sie Ihrem Kind beibringen können, sich von überwältigenden Erlebnissen zu erholen, müssen Sie zunächst einmal selbst mehrere Dinge lernen. Dieses Kapitel vermittelt Ihnen verschiedene Übungen, die Ihnen und Ihrem Kind helfen, die reiche Landschaft der sensorischen Empfindungen zu entdecken, die im Körper existieren. Das kann Ihnen und Ihrer Familie viel Spaß machen und Sie lebendiger werden lassen. Außerdem bekommen Sie Anregungen, sich zusammen mit Ihrem Kind einen neuen Wortschatz für dieses neue Gebiet anzueignen. Die Sprache der Empfindungen wird von den tiefen Schichten des Gehirns aus kommuniziert, die wir das »Körper-Gehirn« nennen. Sie werden zum Experten dafür, die spontanen inneren Signale und Impulse zu erkennen, die in diesem instinktiven inneren Bereich entstehen. Wenn Sie das beherrschen, verringert sich die Kluft zwischen bewussten und unbewussten körperlichen Abläufen. Dieses Erfahrungs wissen über Empfindungen liefert Ihnen nicht nur die Werkzeuge, die Sie brauchen, um Ihrem Kind beizustehen, wenn es sich von bestimmten Situationen überwältigt fühlt.Als positiver Nebeneffekt wird sich auch ergeben, dass auch Sie, die Eltern, nicht unnötig in Verzweiflung geraten. In diesem Kapitel lernen Sie, sich auf die Bedürfnisse und Rhythmen Ihres Kindes einzustellen und Ihre Beobachtungsgabe zu verfeinern, indem Sie hinschauen, zuhören und mit Ihrem Kind in Resonanz treten.
Ein überwältigtes Kind angemessen unterstützen
Wenn Sie einem Trauma vorbeugen oder es minimal halten und Stress lindern wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass Sie vom Unglück Ihres Kindes nicht selbst überwältigt werden. Das ist natürlich keinesfalls immer leicht! Kinder sind jedoch von Natur aus nicht nur zart und verletzlich, sondern auch widerstandsfähig. Vielleicht tröstet es Sie zu wissen, dass die meisten Kinder bei angemessener Unterstützung imstande sind, sich von belastenden Erlebnissen zu erholen. Tatsächlich wachsen Kinder zu kompetenten, widerstandsfähigen und lebendigen Wesen heran, indem sie über die Schocks und Verluste im Leben triumphieren lernen. Weil wir alle die angeborene Fähigkeit zu heilen besitzen, ist Ihre Rolle als Erwachsener relativ einfach: Sie besteht darin, den Kleinen zu helfen, zu dieser Fähigkeit Zugang zu bekommen. Ihre Aufgabe ist in vieler Hinsicht vergleichbar mit der eines Pflasters oder einer Schiene. Das Pflaster oder die Schiene heilt die Wunde nicht, schützt und unterstützt jedoch den Körper bei seiner Selbstheilung. Die Vorschläge, Übungen und schrittweisen Anleitungen, die wir hier geben, sollen Ihnen helfen, ein »gutes Pflaster« für Ihr Kind zu werden.
Wir können gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, dass Erwachsene nicht die Fassung verlieren. Ruhe ist von zentraler Bedeutung! Es ist ganz normal, dass Erwachsene, wenn ein Kind sich verletzt hat oder sich fürchtet, ebenfalls etwas schockiert oder ängstlich sind. Aufgrund Ihrer eigenen Ängste und Beschützerinstinkte reagieren Sie als Eltern anfänglich meistens mit Furcht und Ärger. Das kann Ihr Kind jedoch noch zusätzlich verängstigen. Das Ziel ist, die Gefühle von Angst, Scham, Peinlichkeit und Schuld, die Ihr Kind möglicherweise empfindet, auf ein Minimum zu reduzieren. Das beste Heilmittel dafür ist, sich zunächst einmal Ihre eigenen Reaktionen anzuschauen. Nehmen Sie sich Zeit, sich zuerst Ihren eigenen Körperreaktionen zuzuwenden, statt sofort loszuschimpfen oder ängstlich auf Ihr Kind zuzurennen (es sei denn, es besteht unmittelbare Gefahr). Unsere therapeutischen Erfahrungen mit erwachsenen Klienten bestätigen, dass die Schreckreaktion ihrer Eltern für sie bei Unfällen in der eigenen Kindheit am beängstigendsten war! Kinder »lesen« den Gesichtsausdruck ihrer Bezugspersonen wie ein Barometer, das ihnen anzeigt, wie ernst die Gefahr oderVerletzung ist.
Einfache Schritte für die Festigung der Widerstandskraft
Diese ruhige, erwachsene Präsenz erlernen Sie durch Übung. Durch die Übungen, die wir Ihnen vermitteln, wächst Ihre Fähigkeit, Ihr Gleichgewicht schnell und auf natürlichem Weg zurückzugewinnen, sodass es Ihnen leichter fällt, unter Druck gelassen zu bleiben. Wenn Ihr Körper erst einmal die Erfahrung macht, dass jedem »Auf« (Aufladung/Erregung/Angst) ein »Ab« (Entladung/ Entspannung/Sicherheit) folgt, sind Sie auf dem besten Weg zu einem widerstandsfähigeren Nervensystem, das mit den Höhen und Tiefen des Lebens besser umgehen kann. Dann gleichen Sie dem großen Bambus oder der schlanken Weide, die sich manchmal bis zum Boden neigen und doch selbst bei starkem Sturm niemals brechen! Wenn Ihr Körper das »begriffen« hat, werden Sie im guten Sinne ansteckend. Durch Ihre Körpersprache, Ihren Gesichtsausdruck und den Klang Ihrer Stimme kommuniziert Ihr Nervensystem direkt mit dem Nervensystem Ihres Kindes. Und genauso verbinden wir uns tatsächlich mit unseren Kindern! Die größte Wirkung erzielen wir nicht mit unseren Worten. Es sind vielmehr die nonverbalen Hinweise, mit denen wir Gefühle wie Sicherheit undVertrauen vermitteln. Um sich auf die Empfindungen, Rhythmen und Emotionen Ihres Kindes einstellen zu können, müssen Sie zuerst einmal lernen, sich auf Ihre eigenen Gefühle einzustimmen. Dann kann sich Ihre eigene Ruhe auf Ihr Kind übertragen.
Der erste Schritt bei diesem Prozess der Einstimmung besteht darin zu begreifen, wie wichtig es ist, sowohl angenehme als auch unangenehme Empfindungen bewusst zu erleben und auf diese Weise zu lernen, sie anzunehmen und sich Schritt für Schritt damit anzufreunden. Das ist für die Entwicklung derWiderstandskraft von grundlegender Bedeutung. Diese vertiefte »Selbsterfahrung«, die wir oft vernachlässigen, formt unseren Wesenskern. Wir gestalten unser Selbstgefühl aus unserem eigenen Atem und Bauch heraus und helfen auf diese Weise auch unseren Kindern, ein Gefühl für sich selbst zu bekommen.
Wenn wir körperliche Empfindungen erforschen, kann es uns anfangs schwer fallen, uns kontinuierlich darauf auszurichten. Doch mit jedem Üben wird das ein wenig leichter. Es ist wichtig, dass wir imstande sind, unangenehme Empfindungen so lange auszuhalten, bis sie sich wieder verändern, was unweigerlich passieren wird. Ebenso wichtig ist es, intensivere Lust und Freude empfinden zu können. Durch Üben lernt Ihr Körper, stärkere Empfindungen und Emotionen zu halten, ohne in Stress zu geraten und Ihnen das Gefühl zu geben, dass Sie gleich ausrasten werden. Sind Erwachsene erst einmal mit ihren eigenen Gefühlen und Empfindungen vertraut, können sie Kindern als natürliche Vorbilder dafür dienen, wie man mit Emotionen am besten umgeht.
Beruhigende Präsenz lernen
Wenn es Ihnen als Erwachsener normalerweise schwer fällt, in Notfallsituationen im Gleichgewicht und zentriert zu bleiben, müssen Sie nicht verzweifeln. Wir alle stehen heute vor der belastenden Anforderung, familiäre und berufliche Verantwortlichkeiten unter einen Hut zu bekommen – ganz zu schweigen von persönlichen Problemen und möglicherweise auch eigenen ungelösten Traumata. Wie um alles in der Welt sollen wir da von Eltern und anderen Betreuern von Kindern erwarten können, dass sie Ruhe ausstrahlen und widerstandsfähig sind? Besonders heikel ist das im Falle einer Krisensituation, wenn Sie zum Beispiel miterleben, wie ein Kleinkind seinen ersten akrobatischen Sturz auf der Treppe oder durch ein Glasfenster hinlegt!
Damit Sie widerstandsfähiger werden und wirkungsvoller handeln können – nicht nur bei familiären Katastrophen, sondern als Eltern überhaupt -, ist es von grundlegender Bedeutung, dass Sie durch Erfahrung selbst ein Gefühl dafür bekommen, wie Ihre Instinkte arbeiten, wenn Sie in Gefahr sind oder unter Stress stehen. Wie also können Sie lernen, eine Bastion der Ruhe und Gelassenheit zu sein, wenn das Baby brüllt und Ihr Zweijähriger sich gerade einen Stock ins Auge gestochen hat? Schauen wir uns zunächst einmal an, was in Ihrem »Körper-Gehirn« (und dem Ihres Kindes) vorgeht, wenn Sie Angst haben oder unter großem Stress stehen.
Die Verbindung zwischen Körper und Gehirn