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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Weißt du, was die Leute über mich sagen? »In seinen Briefen spricht er mit Autorität und macht Eindruck, aber wenn man ihn sieht, wirkt er krank, und was er sagt, klingt lächerlich.«
(2. Korinther 10,10)
Wer die Apostelgeschichte im Neuen Testament liest, erfährt, dass Paulus ursprünglich Saulus hieß, dass er aus Tarsus, der Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien stammte und von Beruf Zeltmacher war. Man liest, dass Paulus das römische Bürgerrecht besaß, viele Wunder tat, von Juden in Jerusalem angeklagt, von den römischen Behörden verhaftet und als Gefangener nach Rom gebracht wurde. Keine dieser Angaben wird von Paulus in eigenen Worten bestätigt. Die Apostelgeschichte erzählt vermutlich legendäre Ausschmückungen von Ereignissen nach, auf die in den erhalten gebliebenen Briefen des Paulus angespielt wird. Folgt man nur den sieben Briefen, von denen die meisten Bibelwissenschaftler heute glauben, dass Paulus selbst sie verfasst hat – das sind der Brief an die Römer, die beiden Briefe an die Gemeinde in Korinth, die Briefe an die Galater und an die Philipper sowie der 1. Brief an die Gemeinde in Thessaloniki und der Brief an Philemon -, so kann man die Geschichte des Paulus auch ganz anders erzählen …
Lieber Kollege,
immer wieder haben Sie mich zu überzeugen versucht, dass die Studentinnen und Studenten, die meine Lehrveranstaltungen zu Paulus belegt haben, ein Recht darauf haben, nicht nur meine Meinung zu exegetischen Einzelheiten zu erfahren, sondern auch meinen Gesamtentwurf kennenzulernen.
Ich bin nun Ihrer Anregung nachgekommen und lege Ihnen meine Sicht der Ereignisse, die die letzten zwölf Monate im Leben des Apostels bestimmten, in erzählender Form bei. Im Anhang finden Sie eine Landkarte, in der die Stationen seiner letzten Reise verzeichnet sind, wie sie sich mir aus der Lektüre seiner Briefe ergeben.
Mit freundlichen Grüßen,
Professor Dr. David Trobisch
Liebe Louise,
Ich habe Deine Bitte gehört und die Freiheit eines Erzählers genutzt, um in meiner Version der Geschichte des Paulus auch den Glauben an die Weiblichkeit Gottes zu beschreiben, der die Frömmigkeit so vieler Menschen in der Antike bestimmte und Teil Deiner spirituellen Praxis geworden ist.
Was ich über diese Kulte weiß, basiert auf der Auslegung archäologischer Funde und Inschriften, der Beschreibung von Ritualen in der spätantiken Literatur und den Gebeten, die erhalten sind.
Liebe Grüße,
Dein David
TEIL I:
VON DAMASKUS NACH ANTIOCHIEN
Damaskus
An Korinther (2 Kor 11,32-33)
In Damaskus befahl der Statthalter des Königs Aretas, die Stadt
Damaskus zu durchsuchen, um mich zu verhaften. Aber ich bin
in einem Korb durch eine Öffnung in der Mauer hinuntergelassen
worden und so seinen Händen entkommen …
Aprilis 11 = Nisan 10, zweiter Tag der Woche
Titus kämpfte sich über den überfüllten Marktplatz und erreichte die Straße, die die Römer Die Gerade nannten. Er folgte der gewaltigen Stadtmauer ein Stück und bog dann nach rechts in eine enge Gasse ab. Vor den Tavernen, die sich hier aneinanderreihten, standen Sklaven und riefen in die Menge, was die Köche an diesem Abend anzubieten hatten: »Frische Schafsaugen, gekocht in Milch!« »Gegrillte Nachtigallzungen!« »Käsegebäck in Honig!« Doch die vielen Männer in der Gasse kamen nicht, um zu essen, sie kamen wegen der Frauen.
Vor der Taverne Zu den drei Schwestern blieb Titus kurz stehen und sah sich um. Dann huschte er, seinen Anweisungen folgend, um die Ecke zum Nebeneingang, der Kunden vorbehalten war, die Diskretion zu schätzen wussten und gerne dafür bezahlten. Wie befohlen, klopfte er dreimal, wartete einen Augenblick, und klopfte noch zweimal. Die Tür öffnete sich, und ein schwarzer Mann, dessen Wangen und gewaltigen Oberarme mit Narben verziert waren, ließ ihn ein.
Titus stürmte die Treppe hinauf. Wie die meisten exklusiven Bordelle von Damaskus, war auch dieses ein Teil der Stadtmauer. Das Obergeschoß bestand aus einer einzigen Kammer, dessen rundes Fenster nach Westen ausgerichtet war. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner, magerer Mann, barfuß und nur mit einem Lendentuch bekleidet. Neben ihm zündete Herodias, die Frau, von der Titus wenige Stunden zuvor gekauft worden war, gerade eine Fackel an. Herodias war es auch gewesen, die ihm befohlen hatte, kurz vor Sonnenuntergang hierher zu kommen. Titus schätzte sie auf ungefähr sechzig Jahre. Ihre leicht gelockten Haare waren dunkel, zeigten hier und da aber auch das Silbergrau des Alters, sie trug ein weißes, aufwendig besticktes Wollkleid, und über ihrem wohlgenährten Bauch wölbte sich ein ausladender Busen.
»Das ist dein neuer Diener«, sagte Herodias zu dem halbnackten Mann. Dann wandte sie sich an Titus: »Das ist mein kleiner Bruder, dein neuer Herr.«
Titus kniete nieder und beugte sich vor, bis sein Kopf den Boden berührte.
»Sag was«, befahl Herodias. »Paulus kann nicht sehen.«
Titus blieb auf den Knien, hob aber langsam den Kopf. Sein neuer Herr starrte ihn mit rot geränderten Augen an. Er hatte eine Glatze, die von wenigen grauen Haaren umrahmt war, und trug einen dichten, weißen Bart, der sein schmales Gesicht etwas runder wirken ließ. »Dein getreuer Sklave meldet sich zu Diensten«, brachte Titus schließlich hervor.
»Friede sei mit dir. Schalom.« Paulus Stimme war ungewöhnlich hoch, mehr die Stimme eines Jungen als die eines alten Mannes. Herodias steckte die brennende Fackel in eine eiserne Halterung an der Wand, faltete sorgfältig und bedächtig ein Obergewand und ein Lendentuch und drückte beides Titus in die Hand, nachdem sie ihm ungeduldig bedeutet hatte aufzustehen. »Leg das in den Korb«, bestimmte sie und zeigte auf das runde Fenster.
Titus steckte den Kopf durch die Öffnung. Etwa zwölf Fuß unterhalb des Fensters stand ein aus Weidenzweigen geflochtener, großer Korb, an dem ein Seil befestigt war, das über einen Balken oberhalb des Fensters führte. Offensichtlich war die Vorrichtung dazu gedacht, Lasten zu befördern. Titus zog den Korb hoch und sicherte das Seil mit einem Seemannsknoten an einem offenbar dafür vorgesehenen Haken. Dann verstaute er die Kleider seines neuen Herrn in dem Behältnis, das einen recht stabilen Eindruck machte und ausreichend Platz für eine kleine Person wie Paulus bot.
»Gewöhnlich verlassen wir die Stadt nicht auf diese Weise«, sagte Herodias zu Titus. Sie legte ihre Hand auf den Rücken ihres Bruders und schob Paulus sanft, bis er mit ausgestrecktem Arm die Öffnung in der Wand ertastete. »Da musst du raus«, sagte sie. »Mit dem Kopf zuerst. Wenn die Schultern draußen sind, rutscht der Rest schon nach.«
»Willst du mich umbringen?« Der alte Mann wirkte nicht sehr überzeugt.
»Sei nicht so zimperlich! Dein ganzes Leben lang bist du mit dem Kopf durch die Wand. Deshalb steckst du jetzt auch bis zum Hals in Schwierigkeiten.«
Paulus streckte die Arme aus. Als er sich in das Fensterloch zwängte, wurde es dunkel im Raum, nur die Fackel an der Wand flackerte.
»Der schafft das nie«, dachte Titus laut.
»Keine Sorge«, beruhigte Herodias. »Ich war dabei, als er auf die Welt kam.«
Paulus arbeitete sich langsam vorwärts. Doch als er versuchte, in den Korb zu gleiten, blieben seine Hüften stecken. Kopf und Arme waren im Freien, die Beine aber strampelten hilflos in der Luft. »Das habe ich befürchtet.« Herodias griff in die vielen Falten ihres Kleides und holte einen kleinen Dolch hervor, dessen silbern glänzender Griff mit Edelsteinen besetzt war. »Ein altes Erbstück«, sagte sie. »Es hat Glück und Unglück über unsere Familie gebracht.« Sie hielt den Dolch in der rechten Hand, hob beide Arme in die Höhe und betete laut: »Herr Israels, Beschützer der listigen Verführerin Tamar, der verräterischen Hure Rahab, der gierigen Ausländerin Ruth und der königlichen Ehebrecherin Bathseba! Segne diesen Dolch!« Mit einer ungeduldigen Armbewegung gab Herodias Titus einen Wink, beide packten Paulus an den Beinen und zogen ihn mit einem kräftigen Ruck zurück. Die Hüften lockerten sich, nun aber steckten die Schultern fest.
Herodias zog den Dolch aus der Scheide und durchtrennte entschlossen das Tuch, das Paulus um seine Hüfte gebunden hatte. Seine weiße Haut glänzte im gelbroten Licht der Fackel. »Drücken! Drücken! Drücken!«, befahl Herodias.
Titus stellte sich neben sie, beide legten ihre Handflächen auf Paulus’ nackten Hintern und schoben. Langsam lösten sich die Schultern und der Körper glitt durch das Fenster in den Korb. Das rote Licht der untergehenden Sonne durchflutete die Kammer.
Talitha folgte dem kleinen Pfad, der vom Fluss an der Außenseite der Stadtmauer von Damaskus entlang zu dem Lagerplatz führte, auf dem ihr Herr, Justus von Palmyra, seine Zelte aufgeschlagen hatte. Sie ging aufrecht und auf ihrem Kopf balancierte sie einen Tonkrug, der mit frischem Wasser gefüllt war. Ihre langen, dunklen Haare fielen offen auf die Schultern und streichelten bei jedem Schritt sanft ihren Hals. Mit dreizehn Jahren fühlte sich Talitha nicht mehr als Mädchen, doch ohne Mann war sie auch noch keine Frau.
Als sie die Zelte erreichte, rief sie ihr Herr zu sich. »Ich habe Nachricht von deiner Mutter«, sagte Justus.
Talitha senkte den Kopf. Sie war in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter war dort eine Sklavin in Justus’ Haushalt. Vor sieben Jahren hatte sie ihr Herr, dessen Geschäfte ihn regelmäßig zwischen Palmyra und Jerusalem reisen ließen, mit in die Oasenstadt Palmyra genommen. Seither hatte sie ihre Mutter nicht mehr gesehen.
»Deine Mutter ist sehr krank. Todkrank. Sie wird nicht mehr lange leben.«
Talithas Knie gaben nach. Der Tonkrug auf ihrem Kopf rutschte, fiel zu Boden und zerbrach. Alles Wasser ergoss sich über die seidenen Teppiche, die den Boden des Zeltes bedeckten. Talitha sah ihre Mutter erschöpft auf einem Bett liegen, einen Arm nach ihrer Tochter ausgestreckt. Doch bevor sich ihre Fingerspitzen berührten, löste sich die Vision auf.
Justus packte Talitha bei den Schultern, rief ihren Namen und schüttelte sie. Doch sie fühlte es kaum. Alles was Talitha wollte war, ein letztes Mal die Mutter sehen.
Titus langte durch das Fenster und zog ein Stück des Seils in die Kammer, schlang es um seinen rechten Arm, legte es über die Schultern und hielt es mit der linken Hand fest. Jetzt stellte er sich schräg zum Fenster breitbeinig hin, zog einmal kräftig mit der Rechten – der Knoten, den er so kunstvoll an den Haken geknüpft hatte, löste sich, und das Seil spannte. Das Leben seines neuen Herrn lag nun in seinen Händen. Als traue sie ihm nicht, stellte sich Herodias vor ihn und packte ebenfalls das Seil mit beiden Händen. Während Titus die volle Last sicherte, bestimmte Herodias die Geschwindigkeit, mit der der Korb nach unten schwebte.
»Mir tut mein Bruder leid.« Herodias schien ein wenig außer Atem. »Er ist körperlich so klein geblieben und auch sonst wohl nie ganz erwachsen geworden. Trotz seiner jungenhaften Züge hatte er aber schon eine Glatze, bevor er zwanzig war. Doch er war ein guter Bruder.«
»War?«, presste Titus hervor und ließ das Seil weiter hinabgleiten. »Ich denke nicht, dass ich ihn noch einmal lebend sehen werde.« »Das wäre aber schade, dann wäre euer letzter Eindruck von ihm sein blanker Arsch.« Erschrocken biss sich Titus auf die Zunge. Sklaven bekamen schon für weniger den Unmut ihrer Herren schmerzhaft zu spüren.
»Mein letzter Eindruck – sein blanker Arsch!« Herodias hatte sich auf den Boden fallen lassen und lachte so sehr, dass ihr runder Körper bebte.
Wieder und wieder schüttelte sie sich und erst jetzt bemerkte Titus, dass er in Händen und Rücken kein Gewicht mehr spürte. Paulus war unten angekommen.
»Schade, dass du nicht bleiben kannst. Du hast Humor,« lächelte Herodias, als sie sich wieder beruhigt hatte.
»Ich hatte nicht vor, Damaskus zu verlassen«, entgegnete Titus. »Du vielleicht nicht, aber dein Herr.« Herodias streckte die Hand aus und ließ sich von Titus auf die Beine helfen. »Paulus wartet außerhalb der Stadt, unten an der Stadtmauer auf dich. Er will nach Jerusalem.«
Titus hatte in den Jahren zuvor einem Schiffskapitän gedient. Der alte Mann hatte sieben Sprachen gesprochen und Tag und Nacht von nichts anderem erzählt als von Schiffen, fernen Häfen, wunderschönen Frauen, seltsamen Sitten, und unglaublichen Abenteuern. Diese Geschichten hatten in Titus eine Sehnsucht geweckt. Andererseits fühlte er sich mit seinen 28 Jahren schon viel zu alt, um noch auf Reisen zu gehen. Er war in Damaskus geboren und hatte die Stadt nur selten verlassen. Obendrein konnte er weder lesen noch schreiben und sprach außer Griechisch keine andere Sprache – keine sehr guten Voraussetzungen, um in der Fremde zu recht zu kommen. »Hier – Paulus schenkt dir diese Decke. Er will, dass du sie mitnimmst auf die Reise.« Herodias deutete auf eine Decke in einem Winkel des Raumes. Sie war kunstvoll aus hunderten verschiedenfarbiger Fäden gewoben und sah wertvoll aus. »Qualität aus Kilikien«, fügte sie hinzu. »Ein Meisterstück.«
Titus hob die Decke auf, rollte sie zusammen und klemmte sie unter den Arm.
Herodias griff in die Falten ihres Kleides. »Hier, nimm auch dies!« Sie reichte Titus den mit Edelsteinen verzierten Dolch. »Unser Familiendolch. Man kann nie wissen, wann man ihn braucht.«
Es war schon fast dunkel, als Titus wieder auf die Gasse trat und sich langsam auf den Weg machte. Welchen Eindruck hatte sein neuer Herr, den er nun immerhin schon ohne jede Bekleidung zu Gesicht bekommen hatte, auf ihn gemacht? Sein Körper wirkte jünger als es sein hageres Gesicht, die grauen Haare und der weiße Bart hatten vermuten lassen. Sein Knochenbau wirkte kräftig und gut gewachsen. Vor allem die Beine machten den Eindruck, als seien sie stark genug auch für mehrtägige Fußmärsche, sollten diese nötig sein. Anders als bei vielen Menschen, die in Damaskus geboren und aufgewachsen waren. Diese hatten oft krumme Beine, und das Gehen viel ihnen schwer. Paulus’ Arme waren zwar dünn, doch schienen sie kräftig genug, um sich an einem Sattelknauf festzuhalten oder einen Wanderstab zu führen. Im Großen und Ganzen schien Paulus gesund und in guter körperlicher Verfassung. Bis auf die Augen. Die syrischen Wächter am Stadttor winkten Titus durch. Die drei nabatäischen Soldaten dagegen, die ihren Kontrollpunkt draußen vor dem Tor hatten, nahmen sich jeden Passanten sorgfältig vor. Ein älterer Mann vor Titus wurde lange verhört. Er trug einen kräftigen weißen Bart, und die Soldaten ließen ihn erst weiterziehen, als er einem von ihnen eine Münze in die Hand gedrückt hatte. Titus vermutete, dass sie Paulus suchten, und einen Augenblick lang zögerte er. Sollte er seinen neuen Herrn an die Nabatäer verraten?
Doch die Soldaten warfen nur einen schnellen Blick auf Titus’ schlichtes Oberkleid und seine Sandalen und ließen ihn durch. Von einem Sklaven erwarteten sie keine Bestechungsgelder und für das kostbare Tuch unter seinem Arm schienen sie keinen Blick zu haben.
Titus fand Paulus ohne Schwierigkeiten. Sein Herr saß angezogen hinter einigen Büschen versteckt ganz in der Nähe der Fensteröffnung, durch die sie ihn hinuntergelassen hatten. »Du hättest mich an die Wachen verraten können«, krähte Paulus in seiner seltsam hohen Stimme zur Begrüßung. »Man hätte dir sicher eine Belohnung angeboten.«
Titus bückte sich, nahm die Hände seines Herrn und half ihm auf die Beine. »Ich war mir der Möglichkeit bewusst.« »Gut. Ich wollte sicher sein, dass mein Diener kein Dummkopf ist.« Paulus trat hinter Titus und legte die linke Hand auf dessen rechte Schulter. »Gehen wir!«
Mit dem ersten Licht des Mondes erreichten Paulus und Titus das Lager, in dem sich die Händler sammelten, die am nächsten Tag gemeinsam nach Jerusalem aufbrechen wollten. Vor den Zelten brannten kleine Feuer, Diener breiteten Strohmatten auf dem Boden aus, legten darüber Teppiche und Decken und verteilten die weichen Kissen, auf denen sich ihre Herren zum Abendessen niederlassen würden.
»Ich bin so aufgeregt«, sagte Titus viel zu laut. Sein alter Herr, der Kapitän, war allmählich taub geworden. Titus hatte angefangen, lauter zu sprechen und zudem die Angewohnheit entwickelt, mit sich selbst zu reden, eine Eigenheit, die er nun nur schwer wieder loswurde. Er blickte zur Seite, sein neuer Herr hatte ihn anscheinend nicht gehört.
Plötzlich blieb Paulus stehen und schloss die Augen. Dann drehte er sich abrupt um und zeigte auf ein bestimmtes Zelt. »Barnabas!«, verkündete er laut.
Der Vorhang am Eingang zum Zelt flog auf, und ein Mann mit vollen, dunklen Haaren und wallendem, pechschwarzen Bart erschien im Eingang.
»Alter Knabe, ich habe mir schon Sorgen gemacht«, rief Barnabas mit tiefer Stimme und kam auf Paulus zu. »Ich weiß mir schon zu helfen«, erwiderte Paulus, bevor ihm Barnabas mit einer mächtigen Umarmung die Luft abdrückte. »Und wer ist das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, packte Barnabas Titus bei der Nase und öffnete mit der anderen Hand seinen Mund, um die Zähne zu begutachten. Dann hob er Titus’ Gewand hoch, betrachtete dessen Beine, tastete schließlich mit beiden Händen den Bauch ab: »Ist nicht mehr der Jüngste. Hat er wenigstens was im Kopf?«
»Genug um mich nicht an die Wachen zu verraten«, erwiderte Paulus.
»Hat er einen Namen?«
»Titus.«
»Hör mal zu, mein lieber Freund.« Barnabas packte Titus’ Schultern so, dass dieser fürchtete im nächsten Augenblick das Knacken seiner Knochen zu hören. »Dein Herr und ich – wir sind unzertrennlich. Wenn er niest, putze ich mir die Nase.« Barnabas hielt inne, als wartete er auf eine Antwort.
Titus aber schaute ihn fragend an. Was erwartete der Herr von ihm?
Jetzt ergriff Barnabas sein Gewand und zog ihn zu sich heran. »Du findest das nicht komisch?«
Titus stand nun auf den Zehenspitzen und fühlte Barnabas’ warmen Atem im Gesicht. Er roch nach Knoblauch.
»Wenn ich einen Witz mache, dann wird gelacht. Verstanden?«
»Verstanden«, flüsterte Titus, und Barnabas ließ ihn sofort los. Sobald er wieder fest auf den Beinen stand, begann Titus schallend zu lachen. Zwischen Lachsalven rief er: »Wenn mein Herr niest, putzt sich Barnabas die Nase! Wenn Barnabas müde ist, geht mein Herr ins Bett! Wenn mein Herr Knoblauch isst, stinkt Barnabas aus dem Mund!«
»Genug!«, befahl Barnabas, und Titus war auf der Stelle ruhig. »Weiß er, womit du dir deinen Unterhalt verdienst?«
»Ich denke nicht«, antwortete Paulus.
»Wir handeln mit Textilien«, erklärte Barnabas.« Wir kaufen die Ware im Osten und verkaufen sie an reiche Leute im Westen. Das ist unser Geschäft. Es ist, was Damaszener immer schon gemacht haben. Import, Export.« Barnabas drehte nun Titus’ Kopf langsam nach links, bis Titus fast das Gleichgewicht verlor, und dann wieder nach rechts, während er wiederholte: »Import, Export. Import, Export. Geht das in deinen Sklavenschädel?«
Titus nickte so gut er konnte.
Barnabas schaute ihm eindringlich in die Augen. »Wenn deinem Herrn irgendwas passiert, und es ist deine Schuld, dann verfolge ich dich, wenn es sein muss, bis ans Ende der Welt. Und wenn ich dich habe – und glaube mir, ich krieg dich – dann Gnade dir Gott!« »Du brauchst ihm nicht zu drohen«, mischte sich Paulus ein. »Er ist zuverlässig. Meine Schwester hat ihn ausgesucht. Und du weißt ja, sie kennt sich mit Männern aus.« Paulus hielt einen Moment inne. »Deshalb hat sie ja auch nie geheiratet.«
Barnabas schmunzelte. Er ließ Titus los, nicht, ohne ihm einen drohenden Blick zuzuwerfen. An Paulus gewandt fragte er dann: »Redet Herodias immer noch so viel von Spanien?«
»Ununterbrochen. Ein Markt, der noch erschlossen werden muss.«
»Und du bist verrückt genug, um auf sie zu hören. Stimmt’s?«
»Wir könnten viel Geld verdienen«, erwiderte Paulus.
»Wer will schon reich werden, jetzt, wo das Himmelreich nahe herbeigekommen ist?«
»Herodias«, sagte Paulus, und wieder schmunzelte Barnabas.
Herodias hatte für alles gesorgt. Sie hatte Barnabas ein Pferd mitgegeben, auf dem Paulus reiten würde, und für Titus einen Maulesel. Außerdem fanden sich im Lager ein Zelt, Decken, Lebensmittel und Kleider für die Neuankömmlinge. Die Karawane bestand aus ungefähr fünfzehn Händlern mit ihren Tieren und Gefolge. Am nächsten Morgen wollte man aufbrechen. Barnabas’ Diener halfen Paulus’ Zelt aufzustellen und legten es aus mit einem Teppich, sowie Polstern und Decken für die Nacht. Titus selbst würde im Freien auf der kilikischen Decke schlafen.
Vor dem Essen wollte Paulus noch ein Bad nehmen. Titus führte ihn ans Ufer des seichten Flusses. Sein Herr stieg ins Wasser und tauchte kurz unter. Als er sich wieder aufrichtete, ließ er sich mit einem großen Tuch trocken reiben und meinte: »Wie neu geboren und getauft.«
»Getauft?«, fragte Titus. Er hatte den Ausdruck noch nie gehört. Doch sein Herr gab keine Erklärung. Paulus streckte seine Arme aus, und Titus half ihm in die Kleider.
Schweigend kehrten sie zum Zeltlager zurück.
Wie die meisten nabatäischen Mädchen trug Talitha ein rotbraunes, ärmelloses Kleid, das ihr knapp bis zu den Knien reichte. Sie hockte im Lager an einem der kleinen Feuer und legte getrockneten Kameldung auf die Glut. Die Nachricht über die Krankheit ihrer Mutter hatte sie ganz aus der Fassung gebracht. Doch Justus hatte versprochen, am nächsten Morgen aufzubrechen, und so hoffte sie noch rechtzeitig in Jerusalem einzutreffen und die Mutter noch einmal sehen zu können. Talitha blies in die Glut und nährte die auflodernde Flamme mit kleinen Zweigen. Als das Feuer stark genug war, stand sie auf und streckte sich. Zwei Männer kamen gerade am Zelt vorbei, ein alter, offenbar blinder Herr mit seinem Diener, der ganz ohne Hemmungen ihre halbnackten Beine anstarrte. Verlegen wandte Talitha sich ab und legte noch ein Stück Holz nach. »Schalom!«, grüßte nun Justus von Palmyra den blinden Mann. »Du handelst ebenfalls mit Textilien? Dein bärtiger Freund hat eine laute Stimme – es war kaum zu überhören.«
Auch Talitha hatte gehört, wie Barnabas Paulus begrüßt hatte. Sie erinnerte sich, dass der Name des Sklaven gefallen war: Titus – doch wie sein Herr hieß, hatte sie sich nicht gemerkt.
Die beiden Männer blieben stehen.
Justus strich sich mit seinen manikürten Fingern den kurz geschnittenen Bart. »Mein Name ist Justus von Palmyra. Bitte erweist mir die Ehre und gebt mir euer geschätztes Urteil. Ich habe hier einen ungewöhnlichen Teppich.«
Justus machte Talitha ein Zeichen. Sie huschte in das Zelt und kam mit einem kleinen, hellblauen Teppich, ohne den Justus niemals reiste, wieder hervor. Justus nahm das Stück und hielt es Paulus hin.
Der alte, blinde Mann ließ seine Finger langsam über die feinen Knoten gleiten. »Hervorragende Verarbeitung«, murmelte er. »Reine Seide. Höchste Qualität. Vermutlich aus Indien.« Er roch daran.
»Hellblau.«
»Es ist mir eine Freude, endlich deine Bekanntschaft zu machen, Paulus von Damaskus!«, freute sich Justus. »Ich habe schon viel von dir gehört. Niemand sonst kann die Farbe eines Teppichs am Geruch erkennen. Ich bitte dich – gib mir die Ehre, komm, iss und trink mit mir. Es ist alles bereit.«
Paulus wirkte keineswegs überrascht über diese unerwartete Einladung. Er verbeugte sich höflich und Titus führte ihn zu den Polstern und Decken, die eilig rechts von Justus’ Platz ausgebreitet wurden. Als Paulus sich zu Tisch gelegt hatte, stellte sich Titus hinter seinen Herrn. Talitha brachte nun einen Teller mit eingelegten Oliven und frisch gebackenen Brotfladen, und bot dem Gast diese Vorspeisen an. Paulus ließ sich von Titus die Hand zum Teller führen.
»Du reist nach Jerusalem«, eröffnete Justus die Unterhaltung. »Bist du Judäer?«
»Nein«, antwortete Paulus. »Meine Vorfahren stammen von Benjamin ab und nicht von Juda.«
Justus zuckte mit den Achseln. »Macht das einen Unterschied?« »Judäer glauben an Jerusalem und den Tempel. Wir glauben, dass Gott in unseren Herzen wohnt, nicht in einem Gebäude.«
Als Hauptspeise brachte Talitha Holzspieße, auf denen zarte, mit Schafskäse überbackene Stücke Schweinelende aufgereiht waren, eine Mahlzeit, die auch für einen blinden Mann leicht zu essen war. Talitha wusste, dass Justus die Speisen nicht anrühren würde. Seit Wochen fastete er.
»Ein Kompliment an den Koch.« Paulus machte es sich nach der Mahlzeit auf den Kissen bequemer. »So etwas habe ich noch nie gegessen.«
Nun brachte Talitha den Wein, und Paulus schickte seinen Diener Titus, eine Decke zu holen.
»Diese Decke kommt aus Kilikien«, erklärte Paulus. »Qualität wie man sie nur in Tarsus findet. Sie ist schon hundert Mal gewaschen und sieht immer noch aus wie neu.«
Justus prüfte den Stoff mit den Fingern. Dann fragte er Titus: »Stimmt das?«
Talitha wunderte sich, dass Titus zögerte, bevor er nickte. Ehrlichkeit war ein Luxus, den sich ein Sklave nicht leisten konnte.
»Mach mir einen Preis für drei Decken«, forderte Justus.
»Drei Decken?«, antwortete Paulus erstaunt. »Ist das alles?«
»Nenne mir deinen Preis.«
»Einen Aureus.«
Justus warf die Arme in die Höhe. »Eine Goldmünze für drei Decken? Das ist Wucher! Dafür bekomme ich in Palmyra schon ein ganzes Zelt!«
»Irrtum«, sagte Paulus mit ruhiger Stimme. »Ein Aureus pro Decke.« Justus, den Becher am Mund, verschluckte sich, hustete, und Rotwein sprühte über die Decke. »Ich zahle eine Goldmünze für drei Decken und keinen Sesterz mehr!«
Paulus schüttelte den Kopf. »Was soll das? Denkst du, ich bin ein Dieb oder, dass ich meine Ware umsonst bekomme? Bis an die Enden der Welt bin ich gereist, um solch außergewöhnliche Qualität zu finden! Ich habe Familie, habe Sklaven, Pferde und Esel, die gefüttert werden müssen. Glaube mir, drei Decken für drei Goldmünzen ist ein großzügiges Angebot! Hätte ich geahnt, dass du so ein Geizhals bist, hätte ich dir diese Ware gar nicht erst angeboten!«
Am Ende einigten sich die beiden Männer auf drei Decken für zwei Goldmünzen, eine Münze zahlbar sofort, der Restbetrag bei Abholung in Herodias’ Laden in Damaskus. Justus befahl Talitha, einen Aureus aus der Geldschatulle zu bringen und auf einem Bogen Papyrus eine Quittung auszuschreiben. Paulus unterschrieb ohne Mühe und nahm das Geld an sich.
Auf dem Weg zum Zelt forderte Paulus Titus auf:«Beschreib mir Justus von Palmyra. Was hatte er an?«
»Er ist groß und schlank. Dunkle Haare. Kurzer Bart. Wangen und Hals glatt rasiert. Er trug ein einfaches, schwarzes Gewand, das aber an den Ärmeln und am Kragen aufwendig mit Purpurfäden bestickt war. Guter Geschmack. Sehr gepflegt. Stinkreich.«
Paulus nickte. »Übrigens, was die Decke angeht, schlafe heute auf der sauberen Seite. Der Sand wird den Wein über Nacht aus dem Stoff ziehen und morgen sind die Flecken weg.«
»Ich wasche die Decke einfach im Fluss«, schlug Titus vor.
»Auf keinen Fall waschen! Die Farben sind nicht waschecht.«
Am nächsten Morgen half Titus Barnabas’ Dienern die Zelte abzubauen. Er war gerade dabei, seine wenigen eigenen Habseligkeiten in die kilikische Decke zu wickeln, als er von seinem Herrn gerufen wurde.
Paulus stand im Freien und hielt einen Becher heißen Wassers in beiden Händen. Er schloss die Augen und atmete tief ein. »Titus, was spricht mein Berg heute?«
Titus blickte zum Horizont. »Der Berg Hermon hat Neuschnee.« »Das hab ich mir schon gedacht. Die Morgenluft ist frisch. Du weißt doch, dass der Berg Hermon ein heiliger Berg ist? Gott wohnt dort oben und bewacht Damaskus.«
»Ich dachte, Gott wohnt im Herzen«, flüsterte Titus vor sich hin. Paulus wartete einen Moment, dann holte er tief Luft und begann mit seiner hohen Stimme zu rezitieren:
Komm, Geliebte, komm herab vom Gipfel des Hermon!
Ein einziger Blick von dir und mein Herz ist verloren.
Deine Brüste sind lieblicher als Wein,
Deine Lippen süßer als Honig.
Milch fließt unter deiner Zunge,
Dein Kleid duftet nach dem Gipfel des Hermon.
Wieder atmete Paulus tief ein. »Dein Kleid duftet nach dem Gipfel des Hermon. Ich liebe diese Zeilen.«
»Nichts hebt das Gemüt eines Mannes so wie ein unanständiges Liebesgedicht am frühen Morgen!«, rief Barnabas von seinem Zeltplatz herüber. »Deine Brüste sind lieblich. Unter deiner Zunge fließt meine Milch!«
»Lass das!«, rief Paulus zurück und tat, als wolle er seinen Becher nach Barnabas werfen. »Es steht so in der Schrift!«
»Wirklich?«, fragte Titus und ärgerte sich sofort, dass er sich nicht besser unter Kontrolle hatte. Es gehörte sich nicht für einen Diener, sich in die Unterhaltung der Herrschaft einzumischen.
»Was weißt du denn über judäische Bräuche?«, fragte ihn Paulus und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
»Was man eben so hört über die Judäer im judäischen Viertel in Damaskus. Sie essen nicht alles, sind aber auch keine Vegetarier. Alle sieben Tage schließen sie die Läden für eine Nacht und einen Tag. Sie lassen nicht zu, dass ihre Töchter jemanden heiraten, der nicht Judäer ist.«
»Weißt du, was Beschneidung ist?«
Titus hatte davon gehört. »Die Ägypter tun das. Sie schneiden den neugeborenen Knaben den halben Penis ab. Es soll die Potenz steigern. Ein schrecklicher Aberglaube!«
»Alle judäischen Männer sind beschnitten«, erwiderte Paulus. »Ich auch.«
»Aber ihr seid doch kein Judäer.«
»Ich bin trotzdem beschnitten. Barnabas’ Vater war mein Pate.« »Schrecklich!«, rief Titus aus. Er hatte seinen Herrn zwar schon nackt gesehen, doch nur von hinten, als er sich durch das Fenster zwängte, und als Paulus im Fluss badete, war es bereits dunkel gewesen. Barnabas amüsierte sich über Titus’ Reaktion. Er kam herüber und schlug dem Sklaven kräftig auf die Schulter. »Weißt du, was der Rabbi gesagt hat, als er Paulus beschnitt?«
Titus zuckte mit den Achseln.
»Hoppla! Er hatte nämlich Schluckauf.«
»Schrecklich!«, rief Titus erneut.
»Warum denkst du wohl, dass dein neuer Herr eine so hohe Stimme hat?«
»Diesen Witz erzählst du jetzt schon seit über vierzig Jahren«, mischte sich Paulus ein und hob seinen Becher. »Und er ist immer noch nicht lustig!«, Paulus schüttete den Rest Wasser in Barnabas’ Gesicht.
Der bärtige Mann lachte so laut, dass der Boden unter Titus’ Füßen zu beben schien.
Sie erreichten das Ufer des galiläischen Sees am folgenden Tag kurz vor Sonnenuntergang. Eine frische Brise blies vom offenen Wasser in das Zeltlager, und vom Hügel aus hatte man eine gute Sicht über den See. Titus hatte in seinem Leben noch nie so viel Wasser gesehen. So weit sein Auge reichte, war alles grün, das Gras wuchs hoch und die Bäume waren stark und gerade gewachsen.
Paulus und Barnabas hatten es nun plötzlich eilig. Sie überließen die Tiere und die Waren Barnabas’ Dienern, die bei der Hauptkarawane bleiben würden. Selbst wollten sie noch in der Nacht übersetzen. Ein Fischerboot samt Mannschaft war schnell gefunden. Nur die notwendigsten Dinge sollten mit auf die Reise, nicht mehr als Titus tragen konnte.
Die Vorbereitungen waren fast abgeschlossen, als Justus von Palmyra unerwartet erschien. »Verehrter Paulus«, sagte er. »Ich habe eine große Bitte an dich. Die Mutter eines meiner Sklavenmädchen arbeitet in meinem Haus in Jerusalem. Sie ist sehr krank und liegt im Sterben. Jede Stunde zählt. Könnte das Mädchen mit euch reisen? Sie ist dreizehn Jahre alt.«
Paulus drehte sich abrupt um. »Dreizehn?«
»Fast vierzehn.«
»Schick sie rüber!«, sagte Paulus ohne zu zögern.
Doch Barnabas protestierte. »Was sollen wir mit einem Sklavenmädchen? Die hält uns doch nur auf.« »Ich werde euch nicht zur Last fallen.« Ein Mädchen trat aus der Dunkelheit in das Licht des Lagerfeuers. Titus erkannte sie sofort. Sie hatte die Speisen serviert, als Justus seinen Herrn im Lager vor Damaskus zum Abendessen eingeladen hatte. Sie hatte sich eine rotbraune Wolldecke um die Schultern gewickelt.
Paulus nahm die Hände des Mädchens und drückte sie sanft. »Willkommen, Talitha.«
Titus wunderte sich, dass sich sein Herr den Namen gemerkt hatte. Im Schein der flackernden Flamme meinte er sogar, eine Träne zu erkennen.
Das Boot bewegte sich zügig aus der kleinen Bucht hinaus auf das offene Wasser. Talitha blickte zurück und sah, wie der Schein der Feuer im Lager immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Der Mond war fast voll, und Sterne leuchteten hell am klaren Himmel. Talitha saß im Heck auf dem Boden neben Titus, hinter Paulus und Barnabas.
Titus beschrieb seinem Herrn gerade das Boot: »Es ist ungefähr fünfundzwanzig Fuß lang, sieben Fuß breit und vier Fuß tief. Die Planken sind aus Zedernholz gefertigt, der Rahmen aus Eiche. Es bietet Platz für zehn Passagiere zusätzlich zu einer Mannschaft von fünf.« Titus nahm Paulus bei der Hand und ließ ihn die Stelle berühren, an denen die beiden obersten Planken aneinandergefügt waren. »Mein Herr, fühlt, wie sorgfältig die Planken gearbeitet sind!«
»Warum kennst du dich mit Booten so gut aus?«, fragte Paulus.
»Mein ehemaliger Herr war ein Kapitän.«
»Wenn du so viel von mir lernst wie du bei ihm gelernt hast, wirst du wahrhaft gesegnet sein. Denn vieles im Reich Gottes kann selbst mit den gesündesten Augen nicht gesehen werden. Es kann nur mit dem Herzen erkannt werden.«
Vier der fünf Fischer saßen im Mittelteil des Bootes und ruderten, der fünfte, ein alter Mann, stand im Bug und gab Anweisungen. »Wo kommst du her?«, fragte Barnabas den jüngsten der Fischer auf Aramäisch.
»Aus Kapernaum«, antwortete der junge Mann. »Dann hast du sicherlich von Yeshua gehört? Yeshua von Nazareth. Er hat eine Zeitlang in Kapernaum gewohnt. Er hat Kranke geheilt, er hat einen Sturm gestillt, er soll sogar einmal auf dem Wasser über den See gegangen sein.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Ich habe Yeshua von Nazareth einmal getroffen«, rief der alte Fischer vom Bug her. »Er war einer dieser verbohrten Patrioten, die verzweifelt versuchen, uns zu einem Aufstand gegen Rom aufzuwiegeln. Das wäre ein Krieg, den wir niemals gewinnen können!« »Da irrst du dich!«, rief Barnabas zurück.
Titus zupfte Talitha am Kleid. Sie verstand und flüsterte ihm die griechische Übersetzung des Gesprächs ins Ohr.
Der alte Fischer ließ sich nicht beirren. »Ohne Prediger wie diesen Yeshua würde sich kein Galiläer am Widerstand gegen Rom beteiligen. Aber heute fühlen sich selbst die verlorenen Schafe Israels verpflichtet, für Judäa zu kämpfen.«
»Yeshuas Reich ist nicht von dieser Welt«, entgegnete Barnabas. »Pah!«, der Fischer spuckte ins Wasser. »Was wisst ihr Damaszener schon von Yeshua? Yeshua hätte lieber bei Zöllnern und Huren auf dem Boden gesessen, als sich mit Ausländern wie euch an einen fein gedeckten Tisch zu legen! Aber ihr habt den, der euch aus tiefsten Herzen verachtet hat, zu eurem Messias gemacht!« Er hielt inne. »Kein Mensch hier in Galiläa schert sich heute einen Dreck um diesen Yeshua. Und wir, wir haben ihn gekannt!«
Barnabas schnappte nach Luft, er war rot angelaufen, doch bevor seine Wut Worte finden konnte, packte ihn Paulus am Arm und sagte auf Griechisch: »Lass den armen Mann in Ruhe. Jesus ist doch nicht wichtig. Wer weiß schon genau, was das für ein Mensch war?« »Aha!«, rief Barnabas. »Ein Teppichhändler aus Damaskus lässt uns an seiner gelehrten Meinung teilhaben! Jesus von Nazareth ist nicht wichtig? Mir ist er wichtig!«
Aber weder Paulus noch der Fischer schienen interessiert, die Unterhaltung weiterzuführen.
Wieder berührte Titus Talithas Arm. Er dankte ihr für die Übersetzung und Talitha fragte sich, wie ein Sklave in Damaskus aufwachsen konnte, ohne Aramäisch zu lernen.
Titus breitete seine Decke auf dem Boden aus, streckte sich und schloss die Augen. Talitha nutzte die Gelegenheit und sah sich Paulus’ Diener näher an. Er war für einen Syrer zwar ungewöhnlich groß und kräftig, doch sein dunkles Haar und die kantige Stirn ließen ihn wie einen typischen Damaszener aussehen. Wie die meisten nabatäischen Frauen fand Talitha die Männer von Damaskus hässlich. Titus hatte seine Hand auf ein kleines, silbernes Medaillon gelegt, das er an einem Lederband um den Hals trug und das nun direkt auf seinem Herzen lag. Das Medaillon war einfach und schlicht gearbeitet. Eine Göttin war darauf abgebildet, sie hatte ihre Arme waagrecht ausgebreitet.
Titus schien nun fest zu schlafen. Sein Atem ging ganz gleichmäßig. Talitha streckte die rechte Hand aus und berührte die silberne Göttin mit dem Zeigefinger. Plötzlich spürte sie, wie ihr Finger warm wurde. Die Wärme floss in die Hand und von dort in den Arm und schließlich durch ihren ganzen Körper. Talithas Herz begann wild zu pochen, und Wangen und Ohren fühlten sich heiß an. Und dann hörte sie eine leise Stimme, ganz nahe an ihrem Ohr, zu leise als dass jemand anderer sie hätte wahrnehmen können. Die Stimme flüsterte: »Das ist dein Mann!«
Sofort zog Talitha den Finger zurück, und alles war vorbei. Nur ihr Herz pochte immer noch viel zu schnell, und es dauerte einige Minuten bis sie wieder ruhig atmen konnte.
Kurz vor Sonnenaufgang setzten die Fischer ihre Passagiere am Südufer des Sees ab. Barnabas kaufte vier Pferde, und sie erreichten Jericho ohne Mühe vor Sonnenuntergang. Paulus und Barnabas nahmen sich ein Zimmer in einer Herberge, Titus und Talitha schliefen bei den Dienern im Innenhof. Titus bot dem Mädchen seine kilikische Decke an, aber sie lehnte höflich ab. »Sie riecht nach Fisch«, sagte sie verlegen und lachte.
Wie die meisten Pilger brachen auch Paulus und Barnabas am frühen Morgen ohne Frühstück auf. Der Pfad führte steil bergauf und folgte einem Bach durch eine Schlucht. So weit man das Wasser führen konnte, erstreckten sich Haine, in denen Granatäpfel, Feigen, Oliven und Quitten wuchsen. Wohin aber die Bewässerungskanäle nicht reichten, dort war es kahl und ausgedorrt.
In einem Dorf kurz vor Jerusalem übergab Barnabas die Pferde einem Pferdehändler, den er kannte. Der Mann versprach, die Tiere auf Provision zu verkaufen, machte ihnen aber keine Hoffnungen, dass er einen guten Preis erzielen könnte. »Gestern habt ihr die Pferde für teures Geld gekauft«, sagte Titus zu Paulus, »und heute müsst ihr mit Verlust verkaufen. Macht euch das nichts aus?«
»Gott will, dass ich das Passahfest dieses Jahr in Jerusalem begehe«, antwortete Paulus. »Wenn Gott ruft, ist Geld Nebensache. Wirf deine Sorge auf den Herrn, und er wird für dich sorgen.«
Zusätzlich zu den eigenen Habseligkeiten trug Titus nun die persönlichen Sachen von Barnabas und Paulus. Talitha kümmerte sich um ihr eigenes Gepäck, ein kleines Bündel. Im Gedränge der zunehmenden Zahl von Pilgern, die zum Passahfest nach Jerusalem unterwegs waren, kamen sie nur langsam voran. Das Laufen strengte Paulus zudem sehr an. Verkrampft hielt er sich an Titus’ linker Schulter fest.
»Ich war erst einmal zuvor in Jerusalem«, bemerkte Paulus, als er kurz stehen blieb, um zu Atem zu kommen. »Ich habe damals bei einem Schüler Jesu, bei Kephas, gewohnt. Und Jesu Bruder, Jakobus, habe ich auch kurz gesehen. Aber ich denke nicht, dass er sich an mich erinnert.«
»Werden wir wieder bei Kephas wohnen?«, fragte Titus.
»Wir werden bei einem Verwandten von Barnabas wohnen. Er besitzt eine syrische Herberge in Jerusalem«, antwortete Paulus. Wieder legte er seine Hand auf Titus’ Schulter. Es war Zeit weiterzugehen. Zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit durchschritten Paulus, Barnabas, Titus und Talitha das Damaskus-Tor und betraten Jerusalem.
Jerusalem
An Galater (Gal 2,1-4)
Vierzehn Jahre nachdem mir Gott seinen Sohn offenbart hatte,
ging ich zum zweiten Mal nach Jerusalem und zwar mit Barna-
bas. Titus nahmen wir auch mit. Ich ging, weil es mir Gott in ei-
ner Offenbarung so befohlen hatte. In Jerusalem unterbreitete ich
den anerkannten Leitern der Gemeinde in einem vertraulichen
Gespräch das Evangelium, wie ich es unter den Kindern Israels
außerhalb Judäas verkündige. Ich wollte vermeiden, dass meine
Arbeit nicht anerkannt wird. Titus, der bei diesem Treffen anwe-
send war, ist Grieche. Und man zwang ihn nicht, sich beschnei-
den zu lassen …
Aprilis 15 = Nisan 14, sechster Tag der Woche
Talitha konnte gerade noch zur Seite springen und sich eng an eine Hauswand drücken, um einen Packesel vorbeizulassen. Auf beiden Seiten des Tieres, das von einem Jungen mit einem Palmzweig vorangetrieben wurde, war eine schwere, mit Olivenöl gefüllte Amphore befestigt. Paulus konnte nicht mehr ausweichen. Ein Krug traf ihn an der Seite und warf ihn zu Boden. Titus beugte sich schnell über seinen Herrn und half ihm wieder auf die Beine. Unverletzt drängten sich die beiden wieder in die Menschenmenge und ließen sich in dieselbe Richtung treiben, in die Barnabas verschwunden war.
An der Stelle, wo Paulus gestürzt war, entdeckte Talitha etwas Glänzendes zwischen den Pflastersteinen. Sie bückte sich, hob es auf und erkannte das Medaillon, das Titus auf dem Boot um den Hals getragen hatte. Die Göttin mit den ausgestreckten Armen trug eine schmale, hohe Krone auf dem Kopf, und über ihrer Brust hingen mehrere Reihen von kleinen Taschen, die wie auf Schnüren aneinandergereiht waren. Talitha steckte das Medaillon in den kleinen Lederbeutel, den sie unter dem Kleid trug. Sie überlegte kurz, ob sie den Männern folgen sollte, doch dann drehte sie sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Talitha genoss den so lange vermissten, vertrauten Geruch Jerusalems von frisch gebackenem Brot und exotischen Gewürzen, sie freute sich an den schattigen Gassen und den überdachten Basaren. Überall eilten Jungen umher, die eifrig Botengänge für Ladenbesitzer machten. Die Tische der Metzger, die sich noch am Morgen unter der Last von frisch geschlachteten Lämmern gebogen hatten, waren schon leer. Ungesäuertes Brot, bittere Kräuter, Lammfleisch und Wein – das waren die notwendigen Zutaten für das Passahmal am Abend. Als Kind hatten ihr die geheimnisvollen judäischen Bräuche immer etwas Angst gemacht.
Der alte Mann, der Justus’ Stadthaus verwaltete, wenn sein Herr auf Reisen war, stand im Innenhof: »Talitha? Du bist wieder da?« Ebenso verwundert wie erfreut nahm er das Mädchen in die Arme und drückte sie an sich. Dann packte er sie an den Schultern und schaute sie an: »Als kleines Mädchen hast du uns verlassen, als junge Frau bist du zurückgekehrt.«
Der Frühling war in Jerusalem etwas früher eingetroffen als in Damaskus. Rund um einen Teich in der Mitte des Hofes waren persische Tulpen gepflanzt, deren gelbe und rote Blüten sich im klaren Wasser spiegelten.
»Daran erkennt man die Damaszener«, sagte Talitha. »Sie können einfach nicht ohne einen Garten leben …«
»… und nicht ohne einen Teich«, ergänzte der Verwalter den Satz.
»Und wie schön du den Garten angepflanzt hast!«
Talitha lächelte. Der alte Mann hatte sich kaum verändert, derselbe schlurfende Gang, der gekrümmte Rücken, die glatten, weißen Haare. Aber die Augen, die immer vor Geist und Witz gesprüht hatten, wirkten stumpf und traurig.
»Wir haben dich sehr vermisst«, sagte er. »Es hat sich so viel verändert, seit du gegangen bist.«
»Wo ist meine Mutter?«
Der Verwalter nahm ihre Hände und schaute ihr in die Augen. »Du kommst zu spät, meine Liebe. Sie ist vor drei Tagen gestorben. Sie wurde außerhalb der Stadt begraben.«
»Begraben?« Talitha war fassungslos. »Sie hat doch immer darum gebeten, nicht beerdigt zu werden!«
Der Verwalter ließ Talitha los und blickte zur Seite. »Ich weiß. Aber wir sind hier in Judäa und nicht in Palmyra.«
Talitha konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten, und der alte Mann nahm sie wieder in die Arme und drückte ihren Kopf sanft gegen seine Schulter. »Eine Stunde nachdem sie gestorben war, kam eine Priesterin, ganz in weiß gekleidet, und bat um ihren Körper. Ich habe keine Ahnung, woher sie wusste, dass deine Mutter tot war, aber sie wusste es.«
»Ganz in weiß? Bist du dir sicher?«, fragte Talitha.
»Sie trug einen weißen Mantel über einem weißen Gewand.«
»Dann wurde sie auch nicht beerdigt, und es ist alles gut.«
Talitha schloss die Augen, und für einen Moment sah sie ihre Mutter vor sich. Sie hatte ein strahlend weißes Kleid an. Doch als Talitha die Hand nach ihr ausstreckte, verschwand die Erscheinung. »Wenn ich ihre Stimme nur noch ein Mal hören könnte«, sagte sie laut und öffnete die Augen.
»Du wirst sie noch ein Mal hören«, sagte der Verwalter.
Talitha nickte und wischte sich die Tränen ab. »Übermorgen bin ich wieder zurück.« Sie wusste genau, was sie jetzt zu tun hatte.
Barnabas und Paulus wurden mit großer Freude empfangen, als sie den Hof der Herberge im syrischen Viertel von Jerusalem betraten. Diener nahmen sich ihrer an und zeigten ihnen die Zimmer. Es war für die Gastgeber leichter, sich um alles selbst zu kümmern, als Titus zu erklären, wo was zu finden und wer wofür zuständig war. Titus war darüber nicht böse. Nach vier anstrengenden Tagen und Nächten konnte er eine Ruhepause gebrauchen.
Die Sklaven schliefen alle in einem fensterlosen Raum im Erdgeschoss. Titus wurde ein Platz an der Außenwand zugewiesen, und er erhielt ein Kissen und einen aufgerollten Teppich, auf dem er sich niederlegen konnte.
»Willkommen in Jerusalem«, dröhnte Barnabas, als Titus den Schlafsaal verließ. »Die kleine Tür an der Südseite des Hofes führt zur Latrine. Die Tür gegenüber führt zum rituellen Bad. Verwechsle sie bloß nicht!«
»Muss ich jetzt lachen?«, murmelte Titus vor sich hin, während er seine Decke ausrollte und die persönlichen Sachen von Paulus und Barnabas einem Diener der Herberge übergab.
Dann kehrte er zum Schlafsaal zurück, rollte den Schlafteppich aus und legte sich nieder. Wie es seine Gewohnheit war, tastete er mit der Hand nach dem Medaillon, aber der Anhänger war verschwunden. Er stand auf, durchsuchte seine Kleider und schüttelte die kilikische Decke aus. Doch so sehr er auch danach suchte, er konnte das Medaillon nicht finden.
Schließlich legte sich Titus wieder hin, entmutigt und bedrückt. Tränen liefen über sein Gesicht. Das Medaillon war der einzige Gegenstand, den er noch von seiner Mutter besaß. Sie war als junge Frau aus ihrer griechischsprachigen Heimat nach Damaskus gebracht und an einen Kaufmann verkauft worden. Ihrem Sohn hatte sie nie erzählt, aus welcher Gegend sie genau stammte oder wer sein Vater war, aber sie hatte sorgsam darauf geachtet, dass Titus nicht Aramäisch lernte, die Sprache der Barbaren, wie sie sie nannte. Seit ihrem Tod fühlte sich Titus einsam. Er vermisste seine Mutter jeden Tag seines Lebens. Und nun hatte er auch noch den einzigen Gegenstand verloren, der ihn mit ihr verbunden hatte.
Als Titus wieder aufwachte, war es bereits Nacht. In der Nähe wurde gesungen, er hörte Barnabas’ Gelächter aus dem Speiseraum und das Klappern von Gläsern und Geschirr. Titus stand auf und betrat den Hof. Der volle Mond stand direkt über ihm, mitten am Himmel. Er fand die Küche, und die alte Köchin gab ihm einen Brotfladen und erklärte ihm, dass es nach einem traditionellen Rezept speziell für das Passahfest gebacken worden war. Dann reichte sie ihm einen Becher Wasser, in dem Kräuter schwammen, und einen vollen Krug Wein.
»Betrink dich wie alle andern auch«, sagte sie. »Heute wird gefeiert.«
Das Brot hatte keinen Eigengeschmack, die Kräuter im Wasser schmeckten bitter, aber der Wein war süß und schwer. Die Köchin freute sich, dass er den Krug so schnell leerte und bot an, ihn aufzufüllen. Doch Titus lehnte ab und wankte zurück zu seinem Bett. Wieder griff er nach dem Medaillon um seinen Hals, und als er sich daran erinnerte, dass es verloren war, schlug er zornig mit der Faust gegen die Wand.
Die Sonne war schon lange untergegangen, doch der Boden war noch warm unter Talithas Füßen. Die gläubigen Judäer waren keineswegs die einzigen Bewohner Jerusalems, für die der erste Vollmond nach der Tag- und Nachtgleiche von religiöser Bedeutung war. Talithas Mutter hatte zu einer Gruppe von Frauen gehört, die sich jedes Jahr in dieser Nacht auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadt trafen. Sie vollzogen ein Ritual, das ihnen von ihren Müttern übertragen worden war, die es wiederum von ihren Müttern gelernt hatten. Jenseits der Stadtmauern reihte sich Talitha in eine Prozession von Frauen und Mädchen ein, die zu dem heiligen Ort aufbrachen. Das vertraute Ritual bestand aus einer festgelegten Abfolge von Danksagungen, Fürbitten, Gesängen und einem Rauchopfer. Am Ende sprach eine weiß gekleidete Priesterin den Segen aus für das kommende Jahr. Ohne diesen Segen würde der frühe und der späte Regen ausbleiben, würde die Saat nicht aufgehen, würden die Pflanzen unter der sengenden Sonne verdorren oder ein Unwetter die Ernte vernichten. Die Erdmutter, die aus freien Stücken Leben gab und Leben nahm, wollte um ihre Gunst gebeten werden.
Als sich die kleine Gemeinde wieder auf den Heimweg machte, blieb Talitha zurück.
»Bist du bereit?«, fragte eine alte Frau auf Aramäisch.
»Die Große Mutter, die Mutter aller Mütter, ist überall«, erwiderte
Talitha den liturgischen Gruß, so wie es ihr die Mutter geboten hatte. »Ich bin bereit.«