Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Empty Chair«
bei Simon & Schuster, Inc., New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2000 by Jeffery Deaver
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: plainpicture/plainpicture-Rauschen/Tanja Luther
ISBN 978-3-894-80713-9
V004
www.pep-ebooks.de
ERSTER TEIL
...Eins
...Zwei
...Drei
...Vier
...Fünf
...Sechs
...Sieben
...Acht
...Neun
...Zehn
...Elf
...Zwölf
ZWEITER TEIL
...Dreizehn
...Vierzehn
...Fünfzehn
...Sechzehn
...Siebzehn
...Achtzehn
...Neunzehn
...Zwanzig
...Einundzwanzig
...Zweiundzwanzig
DRITTER TEIL
...Dreiundzwanzig
...Vierundzwanzig
...Fünfundzwanzig
...Sechsundzwanzig
...Siebenundzwanzig
...Achtundzwanzig
...Neunundzwanzig
...Dreißig
...Einunddreißig
...Zweiunddreißig
...Dreiunddreißig
VIERTER TEIL
...Vierunddreißig
...Fünfunddreißig
...Sechsunddreißig
...Siebenunddreißig
...Achtunddreißig
...Neununddreißig
...Vierzig
...Einundvierzig
FÜNFTER TEIL
...Zweiundvierzig
...Dreiundvierzig
...Vierundvierzig
...Fünfundvierzig
...Sechsundvierzig
Anmerkung des Autors
Karten
Über das Buch
Über den Autor
Copyright
Für Deborah Schneider –
die beste Agentin
und Freundin
Dem Gehirn, und nur dem Gehirn allein, entspringen unsere Freuden und Wonnen, das Lachen und die Späße, desgleichen unsere Sorgen, der Schmerz, der Kummer und die Tränen... Das Hirn ist überdies der Sitz von Wahnsinn und Delirium, von Ängsten und Schrecken, welche uns bei Tage oder des Nachts befallen...
Hippokrates
Sie kam hierher, um Blumen an der Stelle niederzulegen, wo der Junge getötet und das Mädchen entführt worden war.
Sie kam hierher, weil sie eine dickliche junge Frau mit narbigem Gesicht war und nicht viele Freunde hatte.
Sie kam her, weil man es von ihr erwartete.
Sie kam, weil sie es wollte.
Schwitzend und schwerfällig lief die sechsundzwanzigjährige Lydia Johansson auf dem unbefestigten Bankett der Route 112 entlang, an der sie ihren Honda Accord geparkt hatte, und stieg dann vorsichtig die Böschung zu dem sumpfigen Ufer hinab, wo der Blackwater Canal in die trüben Fluten des Paquenoke mündete.
Sie kam hierher, weil sie dachte, es gehöre sich so.
Sie kam her, obwohl sie Angst hatte.
Die Sonne war erst vor kurzem aufgegangen, aber seit Jahren war es in North Carolina im August nicht mehr so heiß gewesen, und Lydia hatte ihre weiße Schwesterntracht schon fast durchgeschwitzt, als sie auf die von Weiden, Tupelo- und breitblättrigen Lorbeerbäumen umstandene Lichtung am Flussufer zuging. Mühelos fand sie die gesuchte Stelle – das gelbe Absperrband der Polizei stach sofort ins Auge.
Frühmorgendliche Geräusche. Haubentaucher; ein Tier, das ganz in der Nähe im dichten Unterholz herumstöberte; der heiße Wind, der durch Schilf und Sumpfgras strich.
Herrgott, ich fürchte mich, dachte sie. Nur zu deutlich standen ihr all die grusligen Szenen aus den Romanen von Stephen King und Dean Koontz vor Augen, die sie spätabends mit ihrem Bettgefährten las – einem Becher Eiscreme.
Wieder raschelte es im Unterholz. Sie zögerte, blickte sich um. Dann ging sie weiter.
»He.« Eine Männerstimme. Ganz in der Nähe.
Lydia keuchte und fuhr herum. Fast hatte sie die Blumen fallen lassen. »Hast du mich erschreckt, Jesse.«
»Tut mir Leid.« Jesse Corn stand hinter einer Trauerweide nahe der abgesperrten Lichtung. Lydia bemerkte, dass sie beide wie gebannt auf das Gleiche starrten: den weiß schimmernden Umriss einer Gestalt am Boden, dort, wo man die Leiche des Jungen gefunden hatte. Rund um die Stelle, wo der Kopf eingezeichnet war, befand sich ein dunkler Fleck – altes Blut, wie sie als Krankenschwester sofort erkannte.
»Hier ist es also passiert«, flüsterte sie.
»So isses.« Jesse wischte sich über die Stirn und strich eine herabhängende blonde Haarsträhne zurück. Seine Uniform – die beigefarbene Kluft der Polizei des Paquenoke County – war staubig und zerknittert. Dunkle Schweißflecken breiteten sich unter den Armen aus. Er war dreißig und auf eine jungenhafte Art süß. »Seit wann bist du schon hier?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht genau. Seit fünf etwa.«
»Ich hab ein anderes Auto gesehen«, sagte sie. »Droben an der Straße. Ist Jim hier?«
»Nö. Ed Schaeffer. Er is auf der andern Seite vom Fluss.« Jesse deutete mit dem Kopf auf die Blumen. »Die sind hübsch.«
Lydia zögerte einen Moment, dann blickte sie auf die Margeriten, die sie in der Hand hatte. »Zwei neunundvierzig. Hab sie gestern Abend besorgt. Weil ich nicht gewusst habe, ob so früh schon jemand auf hat. Na ja, Dell's vielleicht, aber dort gibt's keine Blumen.« Wieso fing sie an, dummes Zeug zu faseln? Wieder blickte sie sich um. »Keine Spur von Mary Beth?«
Jesse schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste.«
»Von ihm auch nicht, soll das vermutlich heißen.«
»Von ihm auch nicht.« Jesse schaute auf seine Uhr. Dann hinaus auf das dunkle Wasser, den dichten Schilfgürtel, das undurchdringliche Gras, den verfaulenden Bootssteg.
Lydia fand es nicht sehr beruhigend, dass ein Bezirks-Deputy, der einen schweren Revolver trug, anscheinend genauso nervös war wie sie selbst. Jesse stieg den mit Gras überwucherten Hang zur Straße hinauf. Er hielt inne, warf einen weiteren Blick auf die Blumen. »Nur zwo neunundneunzig?«
»Zwei neunundvierzig. Bei Food Lion.«
»Das is günstig«, sagte der junge Polizist, während er mit zusammengekniffenen Augen auf das dichte Meer aus Gras blickte. Er wandte sich wieder der Böschung zu. »Ich bin droben beim Streifenwagen.«
Lydia Johansson ging näher zum Tatort. Sie stellte sich Jesus vor und die Engel, und sie betete ein paar Minuten. Sie betete für die Seele von Billy Stail, der erst gestern Morgen an ebendieser Stelle von seiner sterblichen Hülle erlöst worden war. Sie betete darum, dass das Leid, das Tanner's Corner heimgesucht hatte, bald vorübergehen möge.
Sie betete auch für sich.
Wieder drangen Geräusche aus dem Unterholz. Ein Knacken, Geraschel.
Inzwischen war es heller, aber auch bei Sonnenschein wirkte Blackwater Landing nicht viel freundlicher. Der Fluss war hier ziemlich tief, gesäumt von modrigen schwarzen Weiden und dicken Zedern und Zypressen – einige waren abgestorben, andere noch nicht, aber alle mit Moos und den würgenden Ranken der Kupoubohne überwuchert. Im Nordosten, nicht weit von hier, lag der Great Dismal Swamp, und wie alle Expfadfinderinnen im Paquenoke County kannte sie sämtliche alten Sagen um dieses Sumpfgebiet: die Geschichte von der Frau vom See, dem Eisenbahner ohne Kopf... Aber nicht diese Gestalten waren es, die ihr zu schaffen machten; hier, in Blackwater Landing, ging ebenfalls ein Gespenst um – der Junge, der Mary Beth McConnell entführt hatte.
Lydia öffnete ihre Handtasche und zündete sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an. Beruhigte sich etwas und spazierte am Ufer entlang. Blieb neben einem Streifen aus hohem Schilf und Rohrkolben stehen, die sich im sengenden Wind bogen.
Sie hörte, wie oben an der Straße ein Auto angelassen wurde. Jesse fuhr doch nicht etwa ab? Beunruhigt blickte Lydia die Böschung hinauf, sah aber, dass der Wagen nicht wegfuhr. Vermutlich lässt er bloß die Klimaanlage laufen, dachte sie. Als sie sich wieder dem Wasser zuwandte, fiel ihr auf, dass die Rohrkolben und das Schilf immer noch wogten, sich bogen, raschelten.
Als ob dort jemand wäre, der sich auf das gelbe Absperrband zubewegte und sich dabei dicht am Boden hielt.
Aber nein, natürlich nicht. Es ist nur der Wind, sagte sie sich. Und andächtig legte sie die Blumen in die Gabel einer knorrigen schwarzen Weide unweit des grausigen Umrisses der Leiche und der Blutlache, die so schwarz war wie das Wasser des Flusses. Wieder setzte sie zu einem Gebet an.
Auf der anderen Seite des Paquenoke lehnte sich Deputy Ed Schaeffer an eine Eiche und achtete nicht auf die Stechmücken, die seine bloßen Arme umschwirrten. Er ging in die Hocke und suchte den Waldboden erneut nach Spuren des Jungen ab.
Er musste sich an einem Ast abstützen; ihm war schwindlig vor Erschöpfung. Wie die meisten Deputys seiner Dienststelle war er seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und suchte nach Mary Beth McConnell und dem Jungen, der sie entführt hatte. Aber während die anderen heimgefahren waren, um sich zu duschen, etwas zu essen und ein paar Stunden zu schlafen, war Ed vor Ort geblieben. Er war der älteste Deputy des Bezirks und der massigste obendrein (einundfünfzig Jahre alt und einhundertzwanzig Kilogramm schwer, größtenteils überflüssiges Fett), aber Müdigkeit, Hunger und steife Glieder hinderten ihn nicht daran, weiter Ausschau nach dem Mädchen zu halten.
Wieder musterte der Deputy den Boden.
Er drückte auf die Sendetaste seines Funkgeräts. »Jesse, ich bin's. Bist du da?«
»Schieß los.«
»Hier sind Fußspuren«, flüsterte er. »Sie sind frisch. Höchstens eine Stunde alt.«
»Meinst du, die sind von ihm?«
»Von wem denn sonst? So früh am Morgen, auf dieser Seite des Paquo?«
»Sieht so aus, als hättest du Recht gehabt«, sagte Jesse Corn. »Ich wollt's ja erst nicht glauben, aber du hast vielleicht doch den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Ed war der Meinung gewesen, dass der Junge hierher zurückkommen werde. Nicht wegen des altbekannten Klischees, wonach der Täter stets zum Tatort zurückkehrt, sondern weil Blackwater Landing seit jeher sein Jagdrevier und er in den letzten Jahren immer hierher gekommen war, wenn er in Schwierigkeiten gewesen war.
Ed schaute sich um, ängstlich jetzt, da die Erschöpfung und die Beschwerden verflogen waren. Mit bangem Blick betrachtete er das heillose Gewirr von Blättern, Ranken und Ästen rundum. Herrgott, dachte der Deputy, der Junge ist hier irgendwo. Er sprach wieder in das Funkgerät. »Die Spur führt scheint's in deine Richtung, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Er ist hauptsächlich auf dem Laub gelaufen. Sperr die Augen auf. Ich schau nach, woher er gekommen ist.«
Mit knackenden Knien richtete Ed sich auf und folgte den Fußspuren des Jungen so leise, wie es bei seinem Gewicht ging, in die Richtung, aus der sie kamen – tiefer in den Wald hinein, weg vom Fluss.
Nach rund dreißig Metern sah er, dass sie zu einem alten Unterstand führten – einer grauen Hütte, groß genug für drei bis vier Jäger. Die Schießscharten waren dunkel, der Verschlag wirkte leer und verlassen. Okay, dachte er. Okay... Vermutlich ist er nicht da drin. Aber trotzdem.
Schwer atmend zog Ed Schaeffer seine Waffe, was er seit fast anderthalb Jahren nicht mehr getan hatte. Er hielt den Revolver mit schweißnasser Hand und rückte vor, ließ den Blick fortwährend vom Unterstand zum Boden wandern, bedachte jeden Schritt und achtete darauf, dass er sich so lautlos wie möglich näherte.
Hat der Junge eine Schusswaffe?, fragte er sich, als ihm klar wurde, dass er hier so ungedeckt war wie ein Soldat auf freiem Feld. Er stellte sich vor, dass in den Schießscharten da vorn jeden Moment ein Gewehrlauf auftauchen könnte, der auf ihn gerichtet war. Es wurde ihm mulmig zu Mute. Tief geduckt rannte er die letzten fünf Meter, bis er neben der Hütte war. Er drückte sich an das verwitterte Holz, rang mühsam nach Atem und lauschte eine ganze Weile. Drinnen war nichts zu hören, nur das leise Summen von irgendwelchen Insekten.
Okay, sagte er sich. Schau dich um.
Ed raffte sich auf, ehe ihn der Mut verließ, und blickte durch eine Schießscharte.
Niemand da.
Dann schielte er auf den Boden. Er grinste über das ganze Gesicht, als er sah, was dort lag. »Jesse«, rief er aufgeregt in sein Funkgerät.
»Was is?«
»Ich bin bei einem Unterstand, etwa fünfhundert Meter nördlich vom Fluss. Ich glaub, der Junge hat hier übernachtet. Da drin liegen ein paar leere Lebensmittelpackungen und Wasserflaschen. Außerdem eine Rolle Klebeband. Und rat mal, was noch? Eine Landkarte.«
»Eine Karte?«
»Genau. Anscheinend von der Gegend hier. Vielleicht finden wir dadurch raus, wo er Mary Beth hingebracht hat. Was hältst du davon?«
Aber Ed Schaeffer erfuhr nicht mehr, was sein Kollege zu diesem Fahndungserfolg zu sagen hatte. Der Schrei einer Frau schrillte durch den Wald, und Jesse Corns Funkgerät verstummte.
Lydia Johansson torkelte zurück und schrie erneut auf, als der Junge aus dem hohen Schilf sprang und sie mit grobem Griff an den Armen packte.
»Ach du lieber Gott, bitte tu mir nichts!«, bettelte sie.
»Halt's Maul«, fauchte er sie leise an, schaute sich hektisch um, warf ihr einen bösen Blick zu. Er war groß und schlaksig, wie fast alle Jungs in diesen kleinen Städten in Carolina, und er war stark. Seine Haut war rot und verquollen – allem Anschein nach war er in Giftsumach geraten –, und die kurzen stoppeligen Haare sahen aus, als hätte er sie selbst geschnitten.
»Ich hab bloß Blumen hergebracht... das ist alles! Ich hab nicht –«
»Schscht«, murmelte der Junge.
Aber gleichzeitig grub er seine langen, schmutzigen Nägel schmerzhaft in ihren Arm, und Lydia schrie erneut auf. Wütend presste er ihr die Hand auf den Mund. Sie spürte, wie er sich an sie drückte, nahm den säuerlich abgestandenen Schweißgeruch wahr, den er ausströmte.
Sie wandte den Kopf ab. »Du tust mir weh!«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Halt den Mund!« Seine Stimme schnappte über, und Speicheltropfen flogen ihr ins Gesicht. Er schüttelte sie wütend wie einen ungehorsamen Hund. Er verlor bei dem Gerangel einen seiner Turnschuhe, aber er achtete nicht darauf, sondern hielt ihr wieder den Mund zu, bis sie sich nicht mehr wehrte.
»Lydia? Wo bist du?«, rief Jesse Corn oben von der Straße aus.
»Schscht«, warnte der Junge sie erneut und sah sie mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick an. »Wenn du schreist, tu ich dir richtig weh. Verstanden? Hast du verstanden?« Er griff in seine Hosentasche und zeigte ihr ein Messer.
Sie nickte.
Er zog sie zum Fluss.
Nein, nicht dorthin. Bitte nicht, flehte sie ihren Schutzengel an. Lass nicht zu, dass er mich dort hinbringt.
Nördlich des Paquo...
Lydia blickte zurück und sah Jesse Corn, der knapp hundert Meter weiter hinten am Straßenrand stand, mit einer Hand die Augen vor der tief stehenden Sonne abschirmte und Ausschau hielt. »Lydia?«, rief er.
Der Junge zerrte sie weiter. »Herrgott, komm schon!«
»Hey!«, schrie Jesse, als er sie endlich sah, und lief die Böschung hinab.
Aber sie waren bereits am Flussufer, wo der Junge einen kleinen Kahn unter Schilf und Gras versteckt hatte. Er schubste Lydia in das Boot und stieß ab, legte sich in die Riemen und ruderte zum anderen Ufer. Er legte an und zerrte sie heraus. Dann schleifte er sie in den Wald.
»Wo willst du hin?«, flüsterte sie.
»Zu Mary Beth. Ich bring dich zu ihr.«
»Wieso?«, wisperte Lydia schluchzend. »Wieso mich?«
Aber er sagte nichts mehr, schnipste nur geistesabwesend mit den Fingernägeln und zog sie mit sich.
»Ed«, meldete sich Jesse Corn über Funk. Er klang verzweifelt. »Er hat Lydia. Er ist mir entwischt.«
»Er hat was?« Keuchend vor Anstrengung, blieb Ed Schaeffer stehen. Er war in Richtung Fluss gerannt, als er den Schrei gehört hatte.
»Lydia Johansson. Sie hat er jetzt auch.«
»Scheiße«, grummelte der schwergewichtige Deputy, der normalerweise ebenso selten fluchte, wie er die Schusswaffe zog. »Warum macht er das?«
»Er spinnt«, sagte Jesse. »Deswegen. Er is über den Fluss und in deine Richtung unterwegs.«
»Okay.« Ed dachte einen Moment lang nach. »Er kommt vermutlich hierher zurück, um das Zeug aus dem Unterstand zu holen. Ich versteck mich drin und schnapp ihn mir, wenn er reinkommt. Hat er eine Knarre?«
»Konnte ich nicht sehen.«
Ed seufzte. »Okay, na schön... Komm rüber, so schnell du kannst. Sag auch Jim Bescheid.«
»Schon passiert.«
Ed ließ die Sendetaste los und blickte durch das Unterholz in Richtung Fluss. Nirgendwo eine Spur von dem Jungen und seinem neuen Opfer. Keuchend rannte Ed zurück zum Unterstand und trat gegen die Tür. Krachend flog sie nach innen auf, und Ed stürmte hinein und kauerte sich vor die Schießscharte.
Er war so aufgeregt und angespannt, so damit beschäftigt, wie er sich den Jungen schnappen wollte, wenn er herkam, dass er zuerst gar nicht auf die zwei, drei kleinen, gelbschwarzen Tupfen achtete, die vor seinem Gesicht hin und her schossen. Oder auf das Kribbeln, das am Nacken einsetzte und sich am Rückgrat entlang nach unten ausbreitete.
Doch dann schlug das Kribbeln in grellen, glühenden Schmerz um, auf den Schultern, entlang der Arme und darunter. »O Gott«, schrie er, sprang hoch und starrte entsetzt auf die schwärmenden Insekten – wild gewordene Hornissen –, die über ihn herfielen. Panisch versuchte er sie abzustreifen, aber damit reizte er die Tiere nur noch mehr. Sie stachen ihn in die Unterarme, in die Hände, in die Fingerspitzen. Er schrie gellend. Es war der schlimmste Schmerz, den er je erlebt hatte – schlimmer als ein Beinbruch, schlimmer als die Verbrennungen, die er sich seinerzeit zugezogen hatte, als er die schmiedeeiserne Pfanne vom Herd genommen hatte, ohne zu bemerken, dass Jane die Kochplatte angelassen hatte.
Dann wurde es dunkel in dem Unterstand, als eine Wolke Hornissen aus dem großen grauen Nest in der Ecke schwärmte, das durch die auffliegende Tür zerquetscht worden war. Zu Hunderten fielen sie über ihn her. Sie hängten sich in seine Haare, ließen sich auf seinen Armen nieder, in seinen Ohren, krabbelten unter sein Hemd und in die Hosenbeine, als ob sie wüssten, dass es sinnlos war, durch die Kleidung zu stechen, und die bloße Haut suchten. Er stürmte zur Tür, riss das kurzärmlige Uniformhemd herunter und sah voller Entsetzen, dass sich Massen von glänzenden Leibern an seine Brust, seinen Bauch klammerten. Er versuchte gar nicht mehr, sie abzustreifen, sondern rannte einfach los, in den Wald hinein.
»Jesse, Jesse, Jesse!«, schrie er, bis ihm klar wurde, dass er nur ein Flüstern hervorbrachte, dass seine Kehle wegen der Stiche an seinem Hals wie zugeschnürt war.
Lauf, sagte er sich. Lauf zum Fluss.
Und er rannte los. Er rannte so schnell, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gerannt war, brach mit weit ausholenden Schritten durch den Wald. Weiter... lauf weiter, befahl er sich. Bleib nicht stehen. Häng die Mistviecher ab. Denk an deine Frau, denk an die Zwillinge. Weiter, weiter, weiter... Jetzt umschwärmten ihn deutlich weniger Insekten, aber immer noch hingen dreißig oder vierzig von den Biestern an ihm, und er sah, wie sie die gelbschwarzen Hinterleiber krümmten, um ihn erneut zu stechen.
In drei Minuten bin ich am Fluss. Ich springe ins Wasser. Ersäufe sie. Ich komme durch... Lauf! Achte nicht auf die Schmerzen... die Schmerzen... Wie können so kleine Tiere so große Schmerzen verursachen? Ach, tut das weh...
Er rannte wie ein Vollblutpferd, brach durchs Unterholz, das dunstig und verschwommen an seinen tränennassen Augen vorüberhuschte.
Er –
Aber Moment mal, Moment. Was war da los? Ed Schaeffer blickte nach unten und stellte fest, dass er überhaupt nicht rannte. Er stand nicht einmal aufrecht. Er lag am Boden, nur knapp zehn Meter von dem Unterstand entfernt, und trat hilflos mit den Beinen um sich.
Er tastete nach seinem Funkgerät, und obwohl sein Daumen durch das Gift zu doppelter Größe angeschwollen war, schaffte er es, die Sendetaste zu drücken. Doch dann griffen die Krämpfe, die in seinen Beinen eingesetzt hatten, auf den Körper, den Hals und die Arme über, und er ließ das Walkie-Talkie fallen. Einen Moment lang hörte er Jesse Corns Stimme aus dem Lautsprecher, und als sie abbrach, vernahm er nur noch das durchdringende Summen der Hornissen, das allmählich abschwoll, leiser wurde und schließlich verstummte.
Nur Gott konnte ihn heilen. Und Gott ließ sich nicht dazu herab.
Nicht dass es darauf angekommen wäre, denn Lincoln Rhyme war eher den Wissenschaften denn der Theologie zugetan, und daher hatte er sich nicht nach Lourdes, Turin oder in das Missionszelt eines eifernden Wunderheilers begeben, sondern hierher, in diese Klinik in North Carolina, wo er zumindest einen Teil seiner Bewegungsfähigkeit wiederzuerlangen hoffte.
Jetzt fuhr Rhyme mit seinem motorisierten Storm-Arrow-Rollstuhl, rot wie eine rassige Corvette, von der Hebebühne des Kleinbusses, in dem er, sein Betreuer und Amelia Sachs soeben fünfhundert Meilen zurückgelegt hatten – von Manhattan bis hierher. Mit der Strohhalmsteuerung, die zwischen seinen gutgeformten Lippen steckte, wendete er das Gefährt gekonnt, rollte auf den Gehsteig und auf den Eingang des Neurologischen Forschungsinstituts am Klinikum der University of North Carolina in Avery zu.
Thom zog die Hebebühne des glänzend schwarzen Chrysler Grand Rollx ein, eines eigens für den Transport des Rollstuhls ausgerüsteten Kleinbusses.
»Stell ihn auf einem Behindertenparkplatz ab«, rief Rhyme und lachte.
Amelia Sachs wandte sich mit hochgezogener Augenbraue an Thom. »Gut gelaunt«, sagte der. »Nutz es aus. Das hält nicht lange an.«
»Ich habe es gehört«, rief Rhyme.
Der Betreuer fuhr weg, und Sachs ging zu Rhyme. Sie hatte ihr Handy am Ohr, hing in der Warteschleife einer hiesigen Mietwagenfirma. Thom würde sich nächste Woche vermutlich vorwiegend in Rhymes Krankenzimmer aufhalten, und Sachs wollte über ihre Zeit frei verfügen können, vielleicht ein bisschen die Gegend erkunden. Außerdem stand sie auf Sportwagen, nicht auf Kleinbusse, und hatte aus Prinzip nichts für Fahrzeuge übrig, die nicht mal hundert Meilen pro Stunde schafften.
Sachs hing schon seit fünf Minuten in der Leitung, und schließlich unterbrach sie wütend die Verbindung. »Das Warten würde mir ja nichts ausmachen, aber die Dudelmusik ist furchtbar. Ich probier's später noch mal.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Erst halb elf. Aber diese Hitze ist zu krass. Ich meine, viel zu krass.« Manhattan ist im August nicht unbedingt der angenehmste aller Orte, aber es liegt viel weiter nördlich als North Carolina, und als sie gestern aus der großen Stadt via Holland Tunnel Richtung Süden aufgebrochen waren, hatte die Temperatur bei knapp über zwanzig Grad gelegen, und die Luft war salztrocken gewesen.
Rhyme schenkte der Hitze keinerlei Beachtung. Er hatte einzig und allein seine Operation im Sinn. Gehorsam schwang die automatische Tür vor ihnen auf (das hier, vermutete er, musste das Tiffany's unter den behindertengerechten Einrichtungen sein), und sie begaben sich in den kühlen Korridor. Während Sachs nach dem Weg fragte, blickte sich Rhyme im Foyer um. Er bemerkte ein halbes Dutzend dicht an dicht stehender Rollstühle, alle eingestaubt. Er fragte sich, was aus den Benutzern geworden war. Vielleicht war die Behandlung so erfolgreich gewesen, dass sie ihre Gefährte ausrangiert hatten und auf Gehhilfen und Krücken umgestiegen waren. Vielleicht hatte sich bei einigen der Zustand so weit verschlechtert, dass sie ans Bett gefesselt oder auf motorisierte Rollstühle angewiesen waren.
Vielleicht waren ein paar gestorben.
»Hier lang«, sagte Sachs und und wies auf das andere Ende des Foyers. Thom stieß beim Fahrstuhl zu ihnen (breite Doppeltür, Handläufe, die Knöpfe knapp einen Meter über dem Boden), und ein paar Minuten später fanden sie die gesuchte Zimmerflucht. Rhyme rollte zur Tür und bemerkte die Freisprechanlage. »Sesam, öffne dich«, sagte er mit Bassstimme, und die Tür tat sich auf.
»Das kriegen wir hier öfter zu hören«, bemerkte die kesse Sekretärin, als sie eintraten. »Sie müssen Mr. Rhyme sein. Ich sag der Frau Doktor, dass Sie da sind.«
Dr. Cheryl Weaver war eine schlanke, elegante Mittvierzigerin. Rhyme fiel sofort auf, dass ihre Augen flink und ihre Hände kräftig waren, wie es sich für einen Chirurgen gehörte. Ihre Nägel waren kurz geschnitten und nicht lackiert. Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch, lächelte und schüttelte Sachs und Thom die Hand, nickte ihrem Patienten zu. »Lincoln.«
»Doktor.« Rhyme musterte die zahllosen Buchrücken auf den Regalen. Dann die -zig Zeugnisse und Diplome – alle von guten Universitäten und anerkannten Institutionen, doch das verwunderte ihn nicht weiter. Nach monatelangen Recherchen war er zu der Überzeugung gelangt, dass die Universitätsklinik von Avery eines der besten Krankenhäuser der Welt war. Die Onkologie und die Immunologie zählten zu den bestausgelasteten Abteilungen ihrer Art im ganzen Land, und Dr. Weavers neurologisches Institut galt bei der Erforschung und Behandlung von Rückenmarksverletzungen als wegweisend.
»Ich freue mich, Sie endlich kennen zu lernen«, sagte die Ärztin. Unter ihrer Hand lag ein fast zehn Zentimeter dicker brauner Aktenordner. Der meine, mutmaßte Rhyme. (Und er fragte sich unwillkürlich, was in dieser Akte unter dem Stichwort »Prognose« eingetragen war –»viel versprechend«, »schlecht«, »hoffnungslos«?) »Lincoln, wir haben uns ja schon ein paarmal am Telefon unterhalten. Aber ich möchte die Sache noch einmal gründlich mit Ihnen durchgehen. Uns beiden zuliebe.«
Rhyme nickte kurz und knapp. Er war durchaus bereit, gewisse Formalitäten über sich ergehen zu lassen, hatte aber keine Lust auf irgendwelche rechtlichen Absicherungen. Und genau danach klang dies hier.
»Bestimmt haben Sie die Veröffentlichungen über unser Institut gelesen. Und daher wissen Sie auch, dass wir uns hier an der Erprobung neuer Methoden zur Regeneration und Rekonstruktion des Rückenmarks versuchen. Aber ich muss erneut betonen, dass dies noch rein experimentell ist.«
»Das ist mir bewusst.«
»Die meisten Querschnittsgelähmten, die ich bislang behandelt habe, verstanden mehr von Neurologie als jeder praktische Arzt. Und ich wette, Sie sind da keine Ausnahme.«
»Wenn man wissenschaftlich ein bisschen bewandert ist«, sagte Rhyme abschätzig, »weiß man auch medizinisch halbwegs Bescheid.« Und er bedachte sie mit seinem typischen Achselzucken, einer Geste, die Dr. Weaver offensichtlich zur Kenntnis nahm und sich für die Krankenakte notierte.
»Nun gut«, fuhr sie fort, »entschuldigen Sie, wenn ich das eine oder andere wiederhole, was Sie bereits wissen, aber Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was sich mit dieser Methode bewerkstelligen lässt und was nicht.«
»Bitte«, sagte Rhyme. »Nur zu.«
»Wir an diesem Institut konzentrieren uns ganz auf die betroffene Stelle. Wir setzen die herkömmliche Operationsmethode zur Druckentlastung ein, um die Knochenstruktur des Rückenwirbels zu rekonstruieren und die geschädigte Stelle zu schützen. Dann injizieren wir zweierlei in die betroffene Stelle. Einerseits peripheres Nervengewebe des Patienten. Zum anderen Frischzellen aus dem zentralen Nervensystem von gewissen Embryonen, die –«
»Ah, da kommt der Hai ins Spiel«, sagte Rhyme.
»Ganz recht. Der Blauhai, ja.«
»Lincoln hat uns davon berichtet«, sagte Sachs. »Wieso vom Hai?«
»Aus immunologischen Gründen, wegen der Verträglichkeit mit menschlichem Gewebe. Außerdem«, fügte die Ärztin lachend hinzu, »ist es ein verdammt großer Fisch, sodass wir aus einem eine ganze Menge Embryonalgewebe gewinnen können.«
»Wieso Embryonen?«, fragte Sachs.
»Weil sich das zentrale Nervensystem von Erwachsenen auf natürliche Weise nicht mehr regeneriert«, grummelte Rhyme, unwirsch ob der Unterbrechung. »Es versteht sich doch von selbst, dass das Nervensystem eines Babys wachsen muss.«
»Genau. Danach, neben dem Eingriff zur Druckentlastung und der Gewebeverpflanzung, kommt noch etwas – und eben darüber sind wir so begeistert: Wir haben ein paar neue Medikamente entwickelt, die die Aussichten auf eine Regeneration unserer Meinung nach entscheidend verbessern könnten.«
»Gibt es Risiken?«, fragte Sachs.
Rhyme schaute zu ihr in der Hoffnung, ihrem Blick zu begegnen. Er kannte die Risiken. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er wollte nicht, dass sie seine Ärztin ausfragte. Aber Sachs war ganz und gar auf Dr. Weaver konzentriert. Rhyme kannte ihre Miene – so sah sie aus, wenn sie ein Tatortfoto musterte.
»Natürlich gibt es Risiken. Die Medikamente an sich sind nicht besonders gefährlich. Aber bei jedem C4-Querschnittsgelähmten kommt es zu einer Beeinträchtigung der Lungentätigkeit. Sie werden nicht mehr künstlich beatmet, aber durch das Anästhetikum besteht die Gefahr einer respiratorischen Insuffizienz. Der Stress bei dem Eingriff könnte zu einer Dysregulation des autonomen Nervensystems führen, mit der Folge, dass der Blutdruck gefährlich ansteigt – damit sind Sie sicher vertraut –, was wiederum zu einem Schlaganfall oder zu einem anderen zerebralen Ereignis führen könnte. Außerdem besteht die Gefahr eines Operationstraumas an der betroffenen Stelle – Sie haben derzeit keine Zysten und keine Shunts, aber durch die Operation und die daraus resultierende Flüssigkeitsbildung könnte der Druck zunehmen und zusätzliche Schädigungen verursachen.«
»Soll heißen, sein Zustand könnte sich verschlechtern?«, fragte Sachs.
Dr. Weaver nickte und schaute auf die Akte, offensichtlich, um ihr Gedächtnis aufzufrischen, obwohl sie den Ordner nicht aufschlug. Sie blickte auf. »Lincoln kann einen Lumbricalis bewegen – den Ringfinger der linken Hand –, und er beherrscht seine Hals- und Schultermuskulatur. All das oder manches davon könnte verloren gehen. Und die Fähigkeit, aus eigener Kraft zu atmen.«
Sachs blieb völlig ruhig. »Aha«, sagte sie schließlich, und es klang wie ein angespanntes Aufseufzen.
Die Ärztin blickte Rhyme unverwandt an. »Und diese Risiken müssen Sie gegen das abwägen, was Sie sich von dem Eingriff versprechen – Sie werden nicht in der Lage sein, wieder zu gehen, falls Sie sich das erhoffen sollten. Derartige Eingriffe haben bei Rückenmarksverletzungen im lumbalen und thorakalen Bereich einige begrenzte Erfolge erbracht – bei Brust- und Lendenwirbelverletzungen also, die weitaus tiefer liegen und weit weniger schwer sind als Ihre. Bei zervikalen Schäden zeitigten sie nur geringen Erfolg und bei einem C4-Trauma überhaupt keinen.«
»Ich bin eine Spielernatur«, sagte er rasch. Sachs warf ihm einen bedrückten Blick zu. Denn sie wusste, dass Rhyme überhaupt kein Spieler war. Er war ein Wissenschaftler, der sein Leben nach messbaren, nachweislich belegten Prinzipien ausrichtete. »Ich möchte mich operieren lassen«, fügte er schlicht hinzu.
Dr. Weaver nickte, wirkte weder erfreut noch verstimmt ob seiner Entscheidung. »Sie müssen etliche Untersuchungen über sich ergehen lassen, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen werden. Der Eingriff ist für übermorgen angesetzt. Ich habe etwa tausend Formulare und Fragebogen für Sie. Ich bin gleich mit dem Papierkram zurück.«
Sachs erhob sich und verließ hinter der Ärztin das Zimmer. Rhyme hört sie sagen: »Doktor, ich habe eine...« Dann fiel die Tür ins Schloss.
»Verschwörung«, grummelte Rhyme Thom zu. »Meuterei in den eigenen Reihen.«
»Sie macht sich Sorgen um dich.«
»Sorgen? Diese Frau fährt hundertfünfzig Meilen die Stunde und spielt in der South Bronx die Revolverheldin. Ich bekomme schließlich Babyfischzellen gespritzt.«
»Du weißt genau, was ich sagen will.«
Rhyme warf unwirsch den Kopf zurück. Sein Blick wanderte zu einer Ecke von Dr. Weavers Zimmer, wo eine Wirbelsäule – eine echte vermutlich – auf einem Metallständer ruhte. Sie wirkte viel zu zerbrechlich für den komplizierten menschlichen Körper, den sie einst getragen hatte.
Die Tür ging auf, und Sachs trat in das Büro. Jemand kam hinter ihr herein, aber es war nicht Dr. Weaver. Der Mann war groß und schlank, abgesehen von einem leichten Bauchansatz, und trug die braune Uniform eines Bezirkssheriffs. »Du hast Besuch«, sagte Sachs mit ernster Miene.
Als er Rhyme sah, nahm der Mann seinen breitkrempigen Hut ab und nickte. Er ließ den Blick kurz über Rhymes Körper wandern, wie die meisten Menschen, die ihm zum ersten Mal begegneten, sah dann aber sofort zu der Wirbelsäule auf dem Stativ hinter Dr. Weavers Schreibtisch. Dann wieder zu Rhyme. »Mr. Rhyme. Ich bin Jim Bell. Roland Bells Cousin. Er hat mir erzählt, dass Sie hierher kommen, und deshalb bin ich von Tanner's Corner herübergefahren.«
Roland war beim New York Police Department und hatte mit Rhyme mehrere Fälle bearbeitet. Derzeit war er der Partner von Lon Sellitto, einem Kriminalpolizisten, den Rhyme seit Jahren kannte. Roland hatte Rhyme die Namen einiger Verwandter genannt, die er anrufen sollte, falls er Besuch haben wollte, während er zur Operation in North Carolina weilte. Jim Bell war, wie Rhyme sich erinnerte, einer von ihnen. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Rhyme geistesabwesend, während er am Sheriff vorbei zur Tür blickte, durch die Dr. Weaver, sein gnädiger Engel, zurückkehren musste.
Bell schenkte ihm ein grimmiges Lächeln. »Ehrlich gesagt, Sir, ich weiß nicht, ob Sie lange dieser Meinung sein werden.«