Trevor Baker
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Dedekind
www.hannibal-verlag.de
Impressum
Der Autor: Trevor Baker
Deutsche Erstausgabe 2010
Titel der Originalausgabe:
„DAVE GAHAN – Depeche Mode & The Second Coming“
ISBN: 978-1-906191-11-5
© 2009 by Independent Music Press, England
Druck: CPI Books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Coverdesign: Fresh Lemon
Coverfoto: Alexandre De Brabant/Rex Features
Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
Übersetzung: Henning Dedekind
Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai
© 2010 by
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
www.hannibal-verlag.de
ISBN: 978-3-85445-334-5
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Kapitel: Der Junge aus Essex
2. Kapitel: Die Band aus Essex
3. Kapitel: Speak & Spell
4. Kapitel: Don’t Go
5. Kapitel: A Broken Frame
6. Kapitel: Neuanfang
7. Kapitel: Some Great Reward
8. Kapitel: Konsolidierung
9. Kapitel: Black Celebration
10. Kapitel: Musik für die Massen
11. Kapitel: Violator
12. Kapitel: World Violation – die Tournee
13. Kapitel: Isolation
14. Kapitel: Hingabe
15. Kapitel: Zerstörung
16. Kapitel: Trostlosigkeit
17. Kapitel: Rehabilitation
18. Kapitel: Clean
19. Kapitel: Paper Monsters
20. Kapitel: Wiedervereinigung
21. Kapitel: Hourglass
22. Kapitel: Around The Universe
Diskografie
Zitatnachweise
Danksagungen
In den achtziger Jahren wurden Depeche Mode insbesondere in England von vielen nur als etwas seltsame Teenie- Pop-Gruppe betrachtet. Doch Dave Gahan muss davon geträumt haben, dass sich sein Image eines Tages wandeln würde. Irgendwann erkannten die Menschen schließlich den Rockstar, der hinter seinem aufgeräumten Gesicht, der Million Fotoposen, den Rüschenhemden und schlechten Anzügen auch nicht gerade sonderlich gut versteckt war. Er bekam also, was er wollte. Dank eines gut dokumentierten und erschütternden persönlichen Niedergangs sowie einer Reihe schonungslos offener Interviews, die er Mitte der Neunziger gab, erlangte Dave Gahan in der Tat ein neues Image: das eines der berühmtesten Beinahe-Opfer des Rock.
Die Wahrheit über Dave Gahan ist jedoch, dass er seit jeher eine weitaus komplexere Persönlichkeit ist als der stereotype, exzessive Rocker oder der Frontmann, der nur Stücke von anderen Leuten singt. An einem seiner zahlreichen Tiefpunkte „starb“ Dave Gahan und lag zwei Minuten lang „tot“ hinten in einem Rettungswagen. Gahans Leben lässt sich jedoch nicht auf diese eine Schlagzeile reduzieren: Seine wunderbare Arbeit mit Depeche Mode, seine eigenen viel beachteten Soloalben und seine legendären Live-Auftritte werden immer unvergessen bleiben.
Es ist unvermeidlich, dass dieses Buch davon erzählt, welche Wirkung weltweiter Erfolg auf einen Menschen haben kann. Daneben geht es aber auch darum, was hinterher passiert und wie man vom Rande des Abgrunds aus erneut einen persönlichen und beruflichen Triumph erringen kann.
Liest man die ersten Presseberichte über Depeche Mode, dann entgeht einem nicht eine gewisse Verwunderung darüber, dass überhaupt eine Band aus Basildon in Essex kam. Basildon ist nicht etwa ein Slum. Es ist eine vollkommen normale Arbeiterstadt im Südosten Englands. Doch allein die Tatsache, dass drei der vier langjährigen Bandmitglieder von dort stammten, bestimmte während der ersten zehn Jahre ihrer Karriere das Bild der Gruppe in der Öffentlichkeit. Als The Smiths in den Achtzigern einen bestimmten Manchester-Sound prägten, wurden sie dafür gelobt. Jeder Hinweis auf Basildon, der sich in der Musik von Depeche Mode fand, diente der britischen Presse hingegen als Anlass zu Hohn und Spott. Vielleicht liegt das daran, dass der Ort keine besondere Geschichte vorzuweisen hat: Er wurde in den vierziger Jahren als neue Stadt für die nicht gar so reichen Neureichen gegründet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Regierung angeordnet, einen so genannten „Grüngürtel“ um London herum zu schaffen. Damit wollte man verhindern, dass sich die Hauptstadt die umliegenden ländlichen Gebiete vollends einverleibte. Da in London selbst keine neuen Wohnhäuser gebaut wurden, landeten bald hunderttausende Menschen in den neuen Städten auf der anderen Seite dieses Grüngürtels. In dieser Umgebung spiegelte sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wider. Die Stadtplaner hofften wohl, dass Städte wie Basildon ein besserer Ort für die Baby-Boomer wären als die ausgebombten Viertel, aus denen viele Familien stammten. Neue Fabriken wie das riesige Ford-Werk im nahe gelegenen Dagenham wurden eröffnet. Außerdem gab es eine gute Verkehrsanbindung an das nur etwa 40 Kilometer entfernte London. Obwohl die Stadt grün und von ihrem Charakter her recht ländlich wirkte, war sie praktisch doch ein Vorort von London.
Dave Gahan war gerade drei Jahre alt, als seine Familie 1965 nach Basildon zog. Er war das erste der künftigen Bandmitglieder, das dort heimisch wurde. Seine Mutter war die Busschaffnerin Sylvia Gahan, sein Vater Jack Gahan übte bei dem Ölmulti Shell eine Bürotätigkeit aus. Dave hatte eine ältere Schwester, Sue, und zwei jüngere Brüder, Philip und Peter. Jack spielte Saxofon in einer Bigband, sodass Daves Kindheit von Jazz-Klängen, Jacks eigenem Spiel und Schallplatten von Miles Davis oder John Coltrane untermalt war.
Als Sue älter wurde, war Dave auch ihrem Musikgeschmack ausgesetzt, Soul-Sängern wie Barry White und Bands wie den Stylistics. Außerdem spielte seine Mutter regelmäßig ihre Lieblingsplatten, darunter zuckersüße Schulzensänger wie Johnny Mathis. Dave war ein freches, fröhliches Kind, das seine Tanten gerne zum Lachen brachte, indem es Rockstars wie Mick Jagger imitierte.
Jack Gahan starb 1972 völlig unerwartet. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass dieses tragische Ereignis ein schwerer emotionaler Schlag für die gesamte Familie war, doch für Sue und David bedeutete es noch zusätzliche Verwirrung. Der junge David erfuhr nun, dass seine Mutter schon einmal verheiratet gewesen war, diese Beziehung jedoch kurz nach seiner Geburt auseinander gegangen war. Somit war Len, der Ex-Ehemann seiner Mutter, sein biologischer Vater. Auf einmal war alles anders.
„Danach habe ich Leuten, bei denen man sich eigentlich sicher fühlen sollte, stets ein wenig misstraut“, sagte Dave 2003. „Wie Lehrern, die Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen. Ich bin immer noch ein bisschen so. Anstatt den einfachen Weg zu gehen, schlage ich mich lieber durchs Unterholz.“
Für Sylvia war es verständlicherweise schwierig, alleine für das Auskommen der Familie zu sorgen. Dave erinnerte sich später zwar, wie er mit Gratis-Essensmarken in der Hand für die Schulspeisung Schlange gestanden hatte, betonte aber stets, dass seine Mutter die Kinder immer vor dem Gefühl der Armut bewahrt habe.
Die wohlgemeinte Arbeit der Stadtplaner, die Basildon erschaffen hatten, wirkte inzwischen etwas fehlgeleitet. Der Beton hatte Risse bekommen, und als es mit der Wirtschaft in den Siebzigern bergab ging, gab es nicht genügend Arbeit für all die Menschen, die sich dort angesiedelt hatten. Große Teile der Grünflächen waren verschluckt worden, und für die Jugendlichen gab es kaum Freizeitangebote. Wo einst Felder, Bolzplätze, Kricket-Ovale und ländliche Gebiete gewesen waren, erstreckte sich nun eine gewaltige Stadt mit wenigen Jobs und jungen Leuten, die nichts mit sich anzufangen wussten.
Dave Gahan geriet bald selbst in Schwierigkeiten, erst zuhause, dann mit der Polizei. Schon in jungen Jahren begann er zu trinken und Drogen zu konsumieren. Er stibitzte sogar einige der Barbiturate, die seine Mutter gegen ihre Epilepsie verschrieben bekam. „Mit diesen kleinen Beruhigungspillen hat alles angefangen“, gab er Jahre später zu.
Seine Eskapaden waren zumeist Akte von jugendlichem Vandalismus; zu Anfang verwarnte ihn die Polizei nur, was ihn nicht davon abhielt, weiterhin auffällig zu werden. Es half auch nicht, dass eine seiner Lieblingsbeschäftigungen das Sprayen von Graffiti war und er seinen richtigen Namen als Unterschrift verwendete.
„In ganz England gab es nicht allzu viele Gahans, geschweige denn in Basildon“, sagte er 2001. „Ich wurde ziemlich oft festgenommen. Als Straftäter war ich nicht besonders gut.“
Wie die meisten Teenager wollte auch Dave geliebt werden und unbedingt cool sein. Dass er sich zunehmender Beliebtheit bei den Mädchen von Basildon erfreute, war ein erster Fortschritt. Als er heranwuchs, wurde er zu einem bekannten Gesicht in angesagten Pubs wie dem Sherwood. Zu diesem Zeitpunkt avancierte die Musik zum wichtigsten Bestandteil seines Lebens. Zunächst interessierte er sich vornehmlich für David Bowie, Slade and Gary Glitter. Als 1976/77 überall im Lande der Punk aufkam, begeisterte ihn diese neue Szene.
Seine Mutter war außer sich, als die Sex Pistols im Fernsehen fluchten. „Genau das“, so Gahan, „machte aber den Reiz für mich aus. Ich begriff, dass ich bei etwas mitmachen konnte, das meiner Mutter von Grund auf zuwider war.“
Er ging nun regelmäßig zu Konzerten, nahm auf einem Rummelplatz eine Arbeit bei einem Achterbahnbetrieb an und ließ sich mit 14 Jahren von einem alten Seemann namens Clive seine erste Tätowierung stechen.
Sein schlechtes Benehmen behielt er bei – und steigerte es sogar noch. Bald klaute er Autos. Er war darin jedoch auch nicht besser, als er als Sprayer gewesen war. Seine Mutter musste sich daher regelmäßig mit der Polizei herumschlagen. Andauernd standen die Beamten vor der Tür, was ihr äußerst unangenehm war.
„Meine Mama hatte es damals nicht gerade leicht mit mir“, räumte Dave ein. „Ich baute ziemlich viel Scheiße, fuhr herum, nahm mir irgendwelche Sachen, beging Sachbeschädigungen und Diebstähle. Wenn die Gesetzeshüter bei uns auftauchten, tat meine Mutter ihr Bestes. Ich erinnere mich noch, wie einmal ein Polizeiwagen vor dem Haus hielt. Sie sagte: „Kommen die wegen dir?“ Ich antwortete: „Ja.“ Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass sie sagte: ‚David war die ganze Nacht zuhause.‘ Leider hatte ich aber meinen Namen mit Farbe an eine Mauer geschrieben.“
Er landete vor dem Jugendrichter und wurde schließlich gewarnt, dass er von einer Jugendhaftstrafe nicht mehr weit entfernt sei. „Es ging soweit, dass wir schließlich Autos aus einem Parkhaus stahlen, eine Weile mit ihnen herumfuhren und sie dann irgendwo auf einem Feld anzündeten und zurückließen“, erinnerte er sich. „Ich hatte ständig das Gefühl, vor jemandem auf der Flucht zu sein. Ich floh vor dem Gesetz und wurde doch meistens erwischt. Als ich 14 war, hatte man mich schon dreimal geschnappt. Ein Bulle sagte zu mir, man würde mich jetzt wahrscheinlich einbuchten. Der Gedanke daran flößte mir ganz schön Angst ein, doch ich hatte Glück und kam mit einer Besserungsanstalt davon.“
Die „Besserungsanstalt“ befand sich im nahe gelegenen Romford. Dort herrschte eine rigorose, fast militärische Disziplin. Er musste sich die Haare schneiden, boxen lernen und arbeiten gehen. Im Alter von 17 Jahren schlitterte er bei einer Hausparty im Londoner Stadtteil King’s Cross trotzdem direkt in die Katastrophe. Er hatte zuvor zwar schon mit relativ weichen Drogen herumexperimentiert, doch an jenem Abend probierte er zum ersten Mal Heroin. Er hatte keine Ahnung, was es war, und dachte nur, die Farbe sehe im Vergleich zu dem weit verbreiteten Speed ein bisschen komisch aus. „Das Zeug knallte fürchterlich rein, und ich verlor das Bewusstsein“, sagte er später. „Ich erinnere mich noch, dass ich damals dachte, diese Droge wäre nichts für mich.“
Als äußerst geselliger Mensch war er immer stark von den Leuten in seinem Umfeld beeinflusst. Er fühlte sich gern als Teil einer Gemeinschaft. Sein bester Freund war damals ein Typ namens Mark. „Wir machten alles gemeinsam – bauten zusammen Mist, baggerten zusammen Mädchen an, teilten uns Freundinnen“, schwärmte er. Später sagte er jedoch, ein bestimmtes Erlebnis mit Mark habe bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Er sei mit seiner Freundin auf einer Party gewesen, als er plötzlich festgestellt habe, dass er sowohl sie als auch seinen besten Kumpel eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte. „Alle sahen mich an. Sie wussten Bescheid. Ich stieß die Tür zum Schlafzimmer auf und sah, wie sich Marks Arsch auf und ab bewegte. Das war das erste Mal, dass ich unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. Es pflanzte mir den Gedanken ein, dass ich nicht gut genug war. Seitdem muss ich dagegen ankämpfen.“
Zum Glück bewirkte seine zunehmende Begeisterung für den Punk, dass ihm der Gedanke daran, Musiker zu werden, nicht mehr ganz so unrealistisch erschien, wie es einst der Fall gewesen war. Als er zum ersten Mal The Clash live sah, sprang der Funke vollends über. Anfangs war er ein Fan von The Damned gewesen und sogar in deren Fanclub eingetreten. Doch nach dem Clash-Konzert war er überzeugt, dass er seinen eigenen Weg gehen konnte, ohne lediglich seine Idole zu imitieren. Er begann, in verschiedenen Bands zu singen, darunter in einer namens The Vermin, die als Basildons Antwort auf die Sex Pistols gehandelt wurde. Keiner der Musiker, mit denen er zusammenspielte, hatte jedoch genügend Standvermögen. Der Punk hatte ihnen zwar allesamt gezeigt, dass jeder in einer Band Musik machen konnte, aber niemand hatte begriffen, wie viel Hingabe und Arbeit es wirklich erforderte.
Im Alter von 17 Jahren begann David bereits erwachsen zu werden. Im Januar 1979 lernte er bei einem Gig von The Damned Joanne Fox kennen, die Freundin einer Klassenkameradin. Im August verabredeten sie sich regelmäßig, und im November waren sie unzertrennlich. Für einen Siebzehnjährigen hatte er schon eine ganze Menge erlebt und dachte bereits daran, seine wilden Jahre hinter sich zu lassen.
Zur selben Zeit machte in einer anderen Ecke von Basildon eine andere Band ihre ersten Schritte: Composition Of Sound. Die Mitglieder Martin Gore, dessen bester Freund Andy Fletcher und ein weiterer Schulfreund, Vince Martin, lebten ein ganz anderes Leben als Dave. Dave verbrachte seine Wochenenden in Londoner Clubs oder auf Punkkonzerten in Chelmsford und Southend – Martin, Andy und Vince hingegen waren Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinde. Sie nahmen keine Drogen, und Martin schwor zwischen 16 und 18 sogar dem Alkohol vollständig ab.
Sie waren ruhig, diszipliniert und lerneifrig, also das volle Gegenteil von Dave. Insbesondere Vince wusste ganz genau, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Er wollte Musiker werden. Das einzige Problem war nur, dass er sich dabei nicht als Frontmann sah und die anderen Kandidaten dafür noch weitaus weniger infrage kamen: Martin war unglaublich schüchtern, und Andy wollte nicht singen. „Uns war schon früh klar, dass wir einen Frontmann brauchten“, sagte Vince später. „Jemand, der herumhüpfen und uns als Gruppe interessant machen konnte.“
Dave hatte indes keine klar umrissene Vorstellung von seiner Zukunft. Für ihn war das Singen etwas, das er aus Spaß an der Freud machte. Er hielt sich gern im Dunstkreis von Bands auf und half zuweilen Martin Gores zweiter Band French Look mit ihrem Equipment, aber er selbst gehörte keiner richtigen Gruppe an. Eines Tages jedoch, als French Look in der Woodlands School in Basildon probten, bewegten sie ihn dazu, bei David Bowies „Heroes“ mitzusingen. Im Zimmer nebenan versuchten Composition Of Sound gerade ebenfalls zu proben, und horchten auf, als sie den ungeschliffenen Gesang hörten, der durch die Wand drang. Dave räumte später zwar ein, dass mehrere Personen gesungen hatten, doch als ihn Vince fragte, sagte er: „Ja, das war ich!“
Sie interessierten sich ohnehin nicht nur für seine Stimme. Er legte wesentlich größeren Wert auf seine äußere Erscheinung als sie, trug schwarze Lederhosen und brachte Stunden damit zu, sein Haar stachelig aufzustellen oder es zu einer perfekten Tolle zu frisieren. Er war bereits auf dem Weg, ein Frontmann zu werden.
Später rief Vince bei Dave an und bat ihn, zu einem Vorsingen zu kommen. Sie ließen ihn drei Songs singen, zwei von Vince’ eigenen und einen von Bryan Ferry. Er hatte einige Mühe, sie originalgetreu zu interpretieren, aber als sie seinen samtweichen Bariton bei der Ferry-Nummer hörten, waren sie sich einig, dass er der Richtige war. Er war nicht nur ein großartiger Sänger und sah blendend aus, sondern besaß darüber hinaus auch die extrovertierte Persönlichkeit, die sie benötigten. Er war bereits in ganz Essex als „Gesicht“ bekannt. Sie hatten über die Punk-Rock-Szene und die neuen Clubs voller schillernder Gestalten mit geschminkten Gesichtern gelesen. Dave hingegen war tatsächlich dort gewesen. Er wirkte beinahe beschämend cool.
Dave erklärte sich ohne zu zögern bereit, bei Composition Of Sound einzusteigen. Die Bands, mit denen er bislang zu tun gehabt hatte, hatten nur in Garagen geprobt und nichts erreicht. Seine erste Frage an Vince und Martin war daher: „Habt ihr irgendwelche Konzerte in Aussicht?“ Als man das bejahte, war die Sache geritzt. Dave sollte der Band weit mehr als nur eine Stimme und einen Namen bescheren.
Er kannte alle möglichen Leute, und zwar hauptsächlich Jugendliche, die gerne zu Konzerten gingen. Er hatte einen großen Freundeskreis, der sich regelmäßig in Southend traf und der neuen Band aus dem Stand ein Publikum von etwa 30 Zuschauern sicherte.
Nichtsdestoweniger war die Band von Anfang an eine recht seltsame Truppe. Vince war ein Getriebener. Während es die übrigen Mitglieder als gegeben betrachteten, dass sie irgendeiner Art fester Erwerbstätigkeit nachgehen mussten, sparte er sein Arbeitslosengeld und gab es für die Band aus. Er lebte und atmete Musik und war so etwas wie ein Einzelgänger. Martin war der Träumer. Oberflächlich lebte er ein Leben in perfekter Konformität, ging in die Kirche und arbeitete nach Beendigung der Schule bei einer Bank. Insgeheim jedoch hatte er Träume und Ambitionen, über die er bisher noch mit niemandem gesprochen hatte. Fletch war ein guter Kumpel von Martin und deshalb in die Band eingestiegen. Er wurde oft für einen etwas weltfremden Typen gehalten, hauptsächlich, weil er eine Brille trug. In Wahrheit jedoch sprach aus ihm stets der gesunde Menschenverstand – eine äußerst wichtige Funktion innerhalb der Gruppe.
Obwohl sie sehr unterschiedliche Charaktere waren, waren sie doch auf seltsame Weise eine Clique. Als Dave hinzu stieß, änderte sich schlagartig alles. Sie waren die Sorte Leute, mit denen er sich niemals abgegeben hätte, wenn er nicht mit ihnen in derselben Band gewesen wäre. Er hatte einen riesigen Freundeskreis und war stolz darauf, mit jedem auszukommen, doch der Rest der Band war relativ uncool. Während alle außer Vince direkt von der Schulbank in Jobs mit Schlips und Kragen rutschten, sah Daves Zukunft wesentlich ungewisser aus.
Er stieg auch deshalb in die Band ein, weil seine ersten Versuche, eine Arbeit zu finden, nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen waren. Er gab einmal an, er habe innerhalb von sechs Monaten etwa 20 Mal den Job gewechselt und dabei als Putzhilfe im Supermarkt, im Büro oder auf dem Bau gearbeitet. Um endlich in die Gänge zu kommen und einen „ordentlichen“ Beruf zu erlernen, bewarb er sich um eine Stelle als Monteurslehrling bei der North Thames Gas- Gesellschaft. Er schaffte es durch das erste Auswahlverfahren und wurde sogar zu einem Gespräch eingeladen, doch er wusste, dass sein vergangenes Verhalten zu einem Stolperstein werden könnte. Sein Bewährungshelfer riet ihm, die Wahrheit zu sagen, was freilich zur Folge hatte, dass er den Job nicht bekam. Es war eine unmissverständliche Warnung, was ihm blühen würde, wenn er sein Leben nicht in den Griff bekäme. Zu diesem Zeitpunkt – Ende der Siebziger, als die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schossen – war mit so etwas nicht zu spaßen.
Widerstrebend beschloss er, sich weiterzubilden und schrieb sich am Southend Art College für das Fach Schaufensterdesign ein. Seine einzigen Qualifikationen lagen im Bereich der Kunst und des technischen Zeichnens, also schien dieser Schritt eine logische Wahl zu sein.
Es ist bezeichnend, dass er nicht mit der Absicht an die Kunstschule ging, freie Kunst zu studieren und sich ein paar Jahre länger vor der Arbeitswelt zu drücken, wie es viele andere Popstars vor ihm getan hatten. Sein gesellschaftlicher Hintergrund ließ dies nicht zu. Vielmehr schrieb er sich für einen Studiengang ein, an dessen Ende ein Beruf stand. Die Vorstellung, mit der Musik den Lebensunterhalt zu bestreiten, erschien immer noch wie ein Tagtraum. Insbesondere seine Mutter machte sich große Sorgen, als die Band immer mehr Zeit in Anspruch nahm. Ausgerechnet jetzt, wo er sein Leben halbwegs in den Griff zu bekommen schien und gerne aufs College ging, sah es so aus, als würde er nun für irgendeine Band alles wieder hinschmeißen.
Composition Of Sound hatten vor Daves Einstieg schon einige Auftritte zu dritt bestritten – mit Andy am Bass und Vince und Martin an den Synthesizern. Für ihr Publikum waren sie in erster Linie eine Kuriosität. Das erste Konzert fand an der Schule statt, wo sie von Kindern umringt wurden, die noch nie zuvor einen Synthesizer gesehen hatten und versuchten, auf die Knöpfe zu drücken, um herauszufinden, was passierte. Sie hatten keinen Schlagzeuger – hauptsächlich deshalb, weil sie niemanden kannten, der ein Schlagzeug besaß, aber auch, weil ein Schlagzeug viel zu viel Lärm gemacht hätte. Sie probten immer bei Vince zuhause mit Kopfhörern, doch Vince’ Mutter beklagte sich trotzdem noch über das Klackern der Tasten.
Als Dave einstieg, dauerte es nicht lange, und sie beschlossen, ganz auf Elektronik umzusteigen, und überredeten Andy, vom Bass zum Synthesizer zu wechseln. Vince liebte reine Popmusik, aber die Tatsache, dass sie vollelektronisch spielten, verlieh ihnen einen leicht experimentellen Touch. Keyboard-Bands steckte man gemeinhin in die so genannte „Futuristen“-Schublade. Sie waren damit zwar nicht ganz glücklich, zogen es jedoch der Alternative vor, die bedeutet hätte, dass man sie der aufkommenden New-Romantics-Bewegung zugerechnet hätte, die sich mehr für Klamotten als für Musik interessierte.
Der Begriff „New Romantics“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geprägt worden, doch in Clubs wie dem Londoner Billy’s gab es bereits eine Gruppe trendbewusster Jugendlicher, die als Reaktion auf die Hässlichkeit der Spätsiebziger-Punkszene einen androgyneren, glamouröseren Stil entwickelten. Später beförderten Bands wie Spandau Ballet, Duran Duran oder Adam and the Ants die New-Romantics-Bewegung in den Mainstream. Depeche Mode liebäugelten zwar mit dem Stil, hatten jedoch nie ein Interesse daran, in diesem Sinne als cool zu gelten.
Zu Beginn ihrer Karriere kam der Gruppe die christliche Orientierung von Martin, Andy und Vince sehr gelegen. Als Vince’ Mutter die Proben im Hause satt hatte, übten sie in der örtlichen Kirche. „Man musste nett und höflich sein, und man durfte nicht laut spielen“, sagte Dave später. Im Mai 1980 hatten sie in der St. Nicholas School, die Andy und Martin besucht hatten, endlich ihren ersten Auftritt als Quartett. Es gab nur ein einziges Problem: Sie traten gemeinsam mit The French Look auf, und Martin spielte in beiden Bands. Dies hatte in der Vergangenheit bereits für Reibereien gesorgt, und der ehrgeizige Vince drängte Martin, er solle sich entscheiden. Der Bandleader hatte zudem seine eigenen Probleme.
„Wenn es um diesen Abend geht, erinnere ich mich vor allem daran, dass jemand Vince zusammenschlagen wollte“, sagte Andy 2009. „Einer unserer Freunde, der ein guter Kämpfer war, sprang für ihn ein und verprügelte den anderen Kerl!“ Der Rest der Band war außerdem überrascht zu sehen, dass der äußerlich so großspurige Dave vor dem Auftritt ungeheures Lampenfieber bekam. Er kaufte sich ein paar Dosen Bier und stand draußen. Immer wieder murmelte er vor sich hin: „Ich will es nicht machen, ich will es nicht machen.“
Sobald sie die Bühne betraten, verschwand seine Nervosität jedoch. Es war kein besonders schwieriges Publikum. Die meisten der Zuschauer waren Freunde, abgesehen von denjenigen, die Vince verprügeln wollten. Trotzdem ernteten sie begeisterten Applaus. Martin gelang es sogar einigermaßen, von einer Band zur nächsten zu wechseln, indem er sich in der Konzertpause umzog und ganz anders zurechtmachte.
Als sie ihre ersten richtigen, bezahlten Auftritte in Southend hatten, zuerst im Scamps und dann im Pub Alexandra, waren sie alle schon viel selbstsicherer. Das Alexandra war eine Biker-Kneipe, in der unter dem Titel „The Top Alex“ regelmäßig im kleinen Rahmen Konzerte stattfanden, meist Blues und Rock. Doch zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihnen, das Publikum für sich zu gewinnen. Danach entfalteten Daves Verbindungen in Southend ihre Wirkung, und die Engagements in der Stadt und der Region nahmen rasch zu.
Am 16. August 1980 hatten sie ihren ersten Auftritt in einem Club, der für ihren frühen Erfolg eine Schlüsselfunktion haben sollte: Croc’s Glamour Club in Raleigh, in der Nähe von Southend. Diesen und ähnliche Clubs bezeichnete man später als „Blitz in der Pampa“, weil sie dem legendären New-Romantics-Schuppen The Blitz im Londoner Stadtteil Covent Garden ähnelten. Damals war der Begriff New Romantics noch nicht besonders weit verbreitet, aber die Gäste des Croc’s waren aufgetakelt, stark geschminkt und fuhren auf Popmusik mit Synthesizern ab. David Bowie, Roxy Music und Kraftwerk waren sehr beliebt, ebenso Visage, die Band der Blitz-Gründer Steve Strange und Rusty Egan. Das Croc’s hatte zudem eine weitere bizarre Hauptattraktion: zwei lebendige Alligatoren in einem Glaskasten am Eingang.
Am 24. September 1980 gelang Composition Of Sound mit einem Auftritt im Bridge House ein weiterer Schritt nach vorn. Über die Jahre hatten in dem Londoner Vorort-Club alle möglichen Bands gespielt, von Heavy-Metal- und Hard-Rock-Gruppen der ersten Stunde bis zu Vertretern des Mod-Revivals. 1980 war er indes eher als Spielstätte für so genannte „Oi“-Bands bekannt. Oi war ein Punk-Ableger, dessen sich der Sounds-Journalist Gary Bushell angenommen hatte. Die Anhänger dieses Stils waren das genaue Gegenteil der Blitz Kids. Oft waren es Skinheads, die schwere Stiefel trugen und Synthie-Bands als Lackaffen verspotteten. Es war also kaum überraschend, dass die ersten Auftritte von Composition Of Sound dort nicht immer gut besucht waren. „Anfangs wussten wir nicht, wie wir sie einordnen sollten“, sagte der Veranstalter des Bridge House, Terry Murphy. „Es war etwas völlig Anderes. Sie waren ziemlich mutig, in einem Club wie dem Bridge House aufzutreten.“
Ohne die Unterstützung ihrer treuen Fans aus der Southend-Szene hatten sie schon Glück, wenn das halbe Dutzend Freunde, das ihnen nachreiste, zum Konzert kam. Daves Freundin Joanne lebte in der Gegend, also überredete auch sie ein paar ihrer Freundinnen, vorbeizukommen, doch der Laden war alles andere als voll. Terry erinnert sich daran, dass sie am Abend ihres ersten Auftritts wie versteinert wirkten. Die normale Klientel war eine Mischung aus Skinheads, Hippies und Schwarzkitteln, und verglichen mit ihnen erschienen die Jungs aus Essex extrem uncool.
„Sie kamen herein wie vier Büroangestellte, die gerade ihren ersten Job angefangen hatten“, sagt Terry. „Sie waren sehr schüchtern. Dave hatte immer entsetzliches Lampenfieber. Man sah es ihm an. Der Rest der Band hatte ja wenigstens etwas zu tun, aber Dave stand nur da, richtete seinen Blick starr nach vorn und klammerte sich ans Mikrofon.“
Von einigen Skinheads im Publikum gab es Buhrufe, doch Terry mochte die Band, sodass er ihr eine zweite Chance gab. Die Überreste der Punkszene, die immer noch bei ihm herumhingen, langweilten ihn. Es lag zweifellos eine Veränderung in der Luft, und er überlegte sogar, ob er die Gruppe nicht für sein eigenes Label Bridge House Records unter Vertrag nehmen sollte. Es war allerdings klar, dass es ein paar Dinge gab, an denen sie noch arbeiten mussten. Terry legte Dave nahe, seine Bühnenpräsenz zu verbessern und etwas mit seinen Händen zu tun, anstatt ängstlich das Mikrofon zu umklammern. Nach und nach gewannen sie jedoch mehr Selbstvertrauen.
„Sie mussten verdammt hart arbeiten, weil sie keine Gäste zogen“, sagt Terry. Russel Lee hingegen, ein früher Fan und späterer DJ im Croc’s, sagte gegenüber dem Autor, dass sie bereits damals etwas Besonderes gewesen seien. „Meine erste Erinnerung an sie ist, dass ich dachte, wie phantastisch die Songs doch seien“, sagt er. „Total eingängig. Verdammt, ich weiß noch, dass ich dachte: Kann es denn sein, dass es diese Jungs da nicht schaffen? Sie müssen es einfach schaffen!“
Auf ihre Art und Weise hatten Composition Of Sound mehr mit Punk Rock und Underground zu tun als viele der kommerziell orientierten Punkbands des Jahres 1980. Ihre Synthesizer ließen sich viel leichter transportieren als die Tonnen von Gerät, die eine traditionelle Rock-Gruppe mit sich herumschleppte, sodass sie zu Auftritten häufig in einem einzigen Auto oder mit dem Zug fuhren.
„Ohne es zu wissen, machten wir auf einmal etwas vollkommen anderes“, erinnerte sich Dave später einmal. „Wir hatten diese Instrumente gewählt, weil sie sehr bequem waren. Man nahm seinen Synthesizer, klemmte ihn sich unter den Arm und ging zu einem Auftritt. Dort schloss man ihn direkt ans Mischpult an. Man brauchte keinen extra Verstärker, also brauchten wir auch keinen Kleinbus.“
Außerdem schrieb Vince nun immer bessere Songs, doch der Rest der Band war bisweilen frustriert von seinem schwankenden Selbstvertrauen. Er spielte ihnen Demos vor, die ihnen sehr gefielen, entschied dann aber plötzlich, dass er sie eigentlich doch nicht aufnehmen wollte. Einige dieser Songs spielten sie sogar im Bridge House, und viele davon waren Lieblingstitel der Fans – etwa das leicht punkige „Television Set“, mit dem sie damals ihre Konzerte eröffneten („Television Set“ und andere verlorene Songs von Depeche Mode, darunter „Reason Man“, „Let’s Get Together“ und „Tomorrow’s Dance“, sind auf einem Bootleg eines Konzerts im Bridge House erschienen).
Nach und nach bauten Composition of Sound eine solide Fanbasis auf, wenngleich sie immer noch Schwierigkeiten hatten, Auftritte in der Londoner Innenstadt zu bekommen. Dafür spielten sie im Croc’s und im Bridge House vor einem stetig wachsenden, begeisterten Publikum. Dies schlug sich auch in der Höhe der Gage nieder, die man ihnen zahlte.
„Für ihr erstes Konzert zahlte ich ihnen fünfzehn Pfund“, sagt Terry. „Dann stockte ich auf zwanzig auf. Als sie anfingen, Leute zu ziehen, gab ich ihnen siebzig Prozent vom Eintritt. Dann begannen wir, den Eintrittspreis auf dreißig oder vierzig Pence zu erhöhen. Sie verdienten also zwischen sechzig und achtzig Pfund pro Abend.“
Sie waren bemerkenswert anders als die meisten Bands, die man damals auf der Bühne sah. Viele der Punk- und Mod-Gruppen pflegten einen Rock’n’Roll-Lebensstil, tranken nach Konzerten gemeinsam bis morgens früh um vier und schliefen dann ihren Rausch aus. Die Attitüde von Composition Of Sound war eine ganz andere. „Sie blieben nie länger hier, um noch etwas zu trinken“, sagt Terry. „Sie torkelten nicht besoffen im Bridge herum. Ein paar von ihnen hatten feste Jobs, also mussten sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Bei vielen anderen Bands schimpfte man nach dem Konzert: ‚Scheiß Band, macht jetzt endlich, dass ihr rauskommt!‘ Bei ihnen dauerte es hingegen zwanzig Minuten, maximal eine halbe Stunde, dann waren sie weg.“
Ihre Hartnäckigkeit und Professionalität wurde schließlich mit einem Auftritt im Ronnie Scott’s belohnt, einem berühmten Londoner Jazzclub. Es sollte ein bedeutender Meilenstein in ihrer Karriere werden, und sie traten zum ersten Mal unter einem neuen Namen auf — Depeche Mode. Der neue Gruppenname war ein Vorschlag von Dave gewesen. In seiner College-Zeit war ihm einmal eine französische Modezeitschrift mit diesem Titel in die Finger gekommen. Er klang cool, wenngleich er nicht ganz genau wusste, was er bedeutete. Es war jedoch immer noch besser als Composition Of Sound und viel, viel besser als die anderen Vorschläge für einen neuen Bandnamen wie Peter Bonetti’s Boots, The Lemon Peels, The Runny Smiles und The Glow Worms.
Mit ihrer Karriere schien es zwar steil bergauf zu gehen, doch Depeche Mode mühten sich immer noch ab, Konzerte im Herzen von London zu bekommen. Es half auch nicht viel, dass sie ständig in Clubs und Konzertschuppen rannten, um den Betreibern ein von ihnen aufgenommenes Demoband mit drei Stücken vorzuspielen – zwei Instrumentalnummern und einen von Vince’ besten Songs, „Photographic“.
Die Nummer war nervös, schnell und unheimlicher als alles andere, was er bislang geschrieben hatte. Diese unterschwellige Kälte wurde durch Daves monotonen Gesang noch unterstützt, der dem Sound anderer Elektronikbands wie The Human League weit mehr ähnelte als sein späterer Stil. Vince und Dave gingen mit dem Demoband auch bei Plattenfirmen in London hausieren, wo sie auf eine ähnlich unterkühlte Resonanz stießen wie in den Clubs. Ohne einen verabredeten Termin betraten sie die Büros und baten darum, dass man sich dort ihr Band anhörte. Oft schlug ihnen die Empfangsdame höflich vor, ihre Kassette zu hinterlegen, worauf sie gestehen mussten, dass sie nur ein einziges Exemplar besaßen. Vielleicht noch bizarrer mutet an, dass einige A&R-Abteilungen ihnen tatsächlich Einlass gewährten, um das Band vorzuspielen.
Eines Tages klapperten sie ohne jeden Erfolg zwölf Labels ab. In ihrer Verzweiflung statteten sie sogar den berühmten Rough Trade Records einen Besuch ab. Es war nicht ihre erste Wahl gewesen, da die Indie-Ästhetik der Plattenfirma nicht ganz zu Vince’ Vorstellung von Pop passte. Sie dachten, dass sich ein Label, das so viele kommerzielle Flops gelandet hatte, bestimmt nicht zu fein wäre, auch sie unter Vertrag zu nehmen. Dass Rough Trade ganz bewusst einen antikommerziellen Kurs fuhr, hatten sie nicht gecheckt.
In der Dokumentation Do We Have To Give Up Our Day Jobs (Müssen wir unsere bürgerlichen Berufe aufgeben) beschrieb Dave Rough Trade als „letzten Ausweg“. Die Person, die sie im Büro antrafen, reagierte jedoch ausgesprochen positiv. Es war Scott Piering, der durch seine Zusammenarbeit mit Bands wie den Smiths, KLF und vielen anderen später zu einem der meist geachteten Promoter im Musikgeschäft werden sollte. Er klopfte mit dem Fuß im Rhythmus der Musik und wirkte ehrlich beeindruckt. Dave und Vince blickten einander an, überzeugt, dass sie nun am Ziel waren. Doch als das Band zu Ende war, schüttelte Piering den Kopf. Er sagte, es sei gut, passe jedoch nicht ins Programm von Rough Trade. Stattdessen schlug er vor, sie sollten es bei dem Mann versuchen, der soeben eingetreten war – Daniel Miller.
Daniel Miller war ein Produzent und Musiker, der sein eigenes Label Mute Records beinahe durch Zufall gegründet hatte: Er veröffentlichte die Aufnahmen seines Projekts The Normal in Eigenregie, und da er auf dem Cover der Single „Warm Leatherette“ (1978) eine Adresse abdruckte, schickte man ihm bald Demos zu. Dies ermutigte ihn, mehr Platten zu veröffentlichen, darunter Musik des einflussreichen Elektronik-Künstlers Fad Gadget und später seiner eigenen Band Silicon Teens. Die Silicon Teens waren seine Vision einer perfekten Pop-Gruppe, nämlich vier Teenager mit Keyboards. In Wahrheit spielte er sämtliche Parts selbst ein, aber die Musikindustrie brauchte eine Weile, bis sie den Witz kapierte. Er vertrieb seine Platten über Rough Trade, doch an dem Tag, als er Dave und Vince dort über den Weg lief, war er in keiner besonders guten Stimmung. Es gab anscheinend Probleme mit dem Plattencover von Fad Gadget, und er wollte herausfinden, was los war. Er musterte sie kurz und vergaß das Ganze wahrscheinlich wieder. Dave nahm seine desinteressierte Reaktion persönlich, was typisch für ihn war. „Er sah uns an und sagte ‚oho‘“, erinnerte er sich später. „Wir dachten nur: ‚Wichser!‘“
Ihr Problem war, dass sie offensichtlich mit nichts vergleichbar waren, was sich damals auf der Szene tummelte. Die anderen Elektronikbands waren zumeist supercoole Futuristen, für die der Keyboardeinsatz ein künstlerisches Statement darstellte. Depeche Mode spielten Keyboards, weil sie tolle Popmusik machen wollten. Die Futuristen-Szene verwirrte sie nur. Sie hielten das Ganze für gekünstelt, und da sie noch Teenager waren, erschienen ihnen die oft in ihren Zwanzigern befindlichen Musiker ohnehin wie von Gestern.
„Ich mag diese Szene überhaupt nicht“, sagte Dave später in einem Gespräch mit Betty Page, einer frühen Bewunderin. „Die ganzen Bands, die damit assoziiert werden, hängen in einem Klüngel zusammen und werden deshalb nie über ihren eigenen Horizont hinausschauen können. Soft Cell sind vielleicht die einzigen, die eine gute Chance haben. Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber Naked Lunch zum Beispiel kochen schon seit Jahren nur im eigenen Saft.“
Trotzdem war der nächste wichtige Schritt der Band ein Auftritt im Vorprogramm von Fad Gadget im Bridge House. Fad Gadget, mit bürgerlichem Namen Frank Tovey, war ein Musiker, den sie respektierten. Seine Musik war definitiv künstlerisch, aber er war gleichzeitig auch äußerst geistreich und hatte eine ausgezeichnete Bühnenpräsenz. „Für uns war es, als hätten wir es endlich geschafft“, sagte Dave. „Wir würden die Bühne mit Fad Gadget teilen, und das war ganz schön aufregend.“ Außerdem war es eine neue Chance, Daniel Miller zu beeindrucken. Er mischte den Sound für Fad Gadget, also waren Depeche Mode zuversichtlich, dass er sich auch ihren Auftritt ansehen würde. Ein Fan, Russell Lee, schätzt, dass etwa 30 Zuschauer wegen Fad Gadget ins Bridge House kamen. Davon trafen ganze zehn rechtzeitig zum Konzertbeginn von Depeche Mode ein.
„Ich wollte sie mir eigentlich nicht ansehen“, sagte Daniel Miller Jahre später. „Ich wollte mit Frank Tovey einen Hamburger essen gehen. Doch dann betrat diese Band die Bühne, jeder von ihnen an einem Mono-Synthie auf Bierkisten. Dave stand stocksteif da. Er hatte eine Art indirekter Beleuchtung, die ihn von unten anstrahlte und ihn irgendwie gruselig wirken ließ. Ich dachte: Dieser Song ist richtig gut, aber es ist nur der erste Song. Ich bin sicher, sie spielen ihre besten Songs am Anfang. Aber es ging einfach immer weiter und weiter mit diesen unglaublich arrangierten Pop-Songs. Sie waren noch Kinder, und Kinder machten damals keine elektronische Popmusik. Das taten meistens Leute, die die Kunstschule besucht hatten, aber Depeche Mode hatten mit dieser ganzen Ästhetik nichts am Hut. Sie machten einfach nur Popmusik auf Synthesizern. Und das funktionierte unglaublich gut.“
Unter den etwa zehn Zuschauern befanden sich auch der Szenegänger Stevo (der kurz zuvor sein Label Some Bizzare gegründet hatte) und Daniel Miller, doch zu diesem Zeitpunkt war sich Terry Murphy bereits sicher, dass er sie selbst unter Vertrag nehmen würde. „Wenn ich schnell zugegriffen hätte, hätte ich sie bekommen“, sagt er. „Aber ich hatte damals viel zu viel mit der Plattenfirma zu tun. Ich hatte andere Bands. Ich wusste, dass ich sie erst aufbauen müsste. Was bringt es, die Platte jetzt zu veröffentlichen? Niemand wird sie kaufen!“
Mute und das hauseigene Label von Bridge House waren zwar kleine, unabhängige Plattenfirmen, aber Mute hatte den Vorteil, dass Fad Gadget bei ihnen unter Vertrag war. Er war Depeche Mode stilistisch viel näher als die Musik von Bridge House. Mute war ein Label, das für Bands wie Depeche Mode wie geschaffen war.
Nach dem Auftritt ging Daniel in die Garderobe, um sich mit ihnen zu unterhalten. Er begrüßte zuerst Dave, weil er annahm, dass der Frontmann vermutlich auch der Songwriter wäre, doch der Sänger war seit ihrer Begegnung bei Rough Trade immer noch beleidigt und verwies ihn brüsk an Vince, der still in einer Ecke saß. „Ich glaube, ich sagte zu ihm, er solle sich verpissen“, sagte Dave später.
Es belustigte sie, dass er so „normal“ aussah, wie sein alter Bandname klang. Zu jener Zeit war es für die Anhänger der Futuristen- und New-Romantic-Szene ein absolutes Muss, Make-up und ausgefallene Kleider zu tragen. Sogar der normalerweise eher konservative Fletch sagte später, dass zu seinem Bühnenoutfit eine lila Bluse gehört habe, die Vince’ Mutter umgenäht hatte. „Dazu weiße Fußballsocken und schwarz angemalte Pantoffeln.“
Trotz allem konnte der begeisterte Miller die Gruppe schließlich für sich gewinnen. Im Grunde hatten sie ja auch nichts zu verlieren. Er sagte einfach, er werde ihnen helfen, eine Platte herauszubringen. „Was wollt ihr?“, fragte er. „Wir wollen in die Charts und im Radio laufen“, antworteten sie. Er versprach, sein Bestes zu tun.
Tatsächlich hatte er sie gerade noch zur rechten Zeit erwischt. Wenig später zeigten auch andere Plattenfirmen Interesse an der Band. Mit Vince’ außerordentlichem Händchen für Pop-Songs und Daves äußerlichem Saubermann-Image ließen sie sich bestimmt hervorragend vermarkten. Sie boten eine Kombination aus dem immer noch relativ neuen Stil der elektronischen Popmusik und etwas viel Älterem – eine Gruppe von vier jungen Burschen, die vor allem bei jungen Mädchen gut ankamen. Zahlreiche Vertreter der großen Plattenfirmen luden sie zum Abendessen ein und boten sogar große Geldsummen als Vorschuss. Es war verlockend. Sie waren pleite und gingen alle noch einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. „Einer von denen, die uns ein Angebot machten, nahm später Wham! unter Vertrag – was für ein Fiasko“, sagte Martin Gore. „Wenn wir bei einem dieser Major Labels unterschrieben hätten, gäbe es uns heute nicht mehr, da bin ich ganz sicher. Nach unserem zweiten oder dritten Album hätte man uns fallen gelassen.“
Nach und nach wichen die Szenegänger im Publikum von Depeche Mode waschechten Pop-Fans, doch zu Beginn des Jahres 1981 rechnete man sie immer noch vage der Avantgarde-Elektronikszene zu. Ein früher Auftritt in London fand im Cabaret Futura in Soho statt, zusammen mit den Performancekünstlern der Event Group. Das Hauptziel des Cabaret Futura war es, gleichzeitig zu provozieren und zu unterhalten. Eine der Lieblingsgruppen der Veranstalter nannte sich A Haircut, Sir? (einen Haarschnitt gefällig, der Herr?), bei deren Auftritten ein Gruppenmitglied kopfüber von einem Mast gehängt wurde und rituell den Kopf rasiert bekam. Der Macher des Cabaret Futura, Richard Strange, schrieb auf seiner Homepage über die Truppe: „Neben dem festen Kern aus diesen zwei Mitgliedern gehörten manchmal auch acht E-Bassisten oder zweiundzwanzig Kricketspieler in voller Montur zu der Gruppe.“
Das war von dem, was Depeche Mode machten, meilenweit entfernt. Während sie spielten, bemerkten sie zu ihrem Entsetzen, dass von den Balkonen über ihnen etwas herunterspritzte, das aussah wie Urin. Sie hofften inständig, dass es nur eine gelbe Flüssigkeit war, die die Event Group mit Schläuchen auf sie nieder regnen ließ. Es war ein Hinweis darauf, dass der weit gefasste Begriff des Futurismus auch solch extreme Performancekünstler wie Throbbing Gristle mit einschloss. Depeche Mode hatten noch beileibe nicht alle davon überzeugt, dass sie ganz anders waren.
Ein neuer Fan jedoch, der DJ Rusty Egan, war überzeugt, dass etwas Besonderes aus ihnen werden könnte. Auch er versuchte sofort, sie unter Vertrag zu nehmen, wie er dem Autor dieses Buches erklärte. „Ich sah Depeche Mode bei diesem Auftritt und fand sie neu und originell und brillant und flippte aus und versuchte, sie unter Vertrag zu nehmen und Stars aus ihnen zu machen. Also sagte ich: ‚Ich finde euch toll, ich möchte, dass ihr für mich spielt, ich möchte, dass ihr dieses und jenes macht.‘“
„Er hielt sich für einen großartigen DJ“, sagt Rusty. „Er legte Cabaret Voltaire auf und erklärte, wie genial diese Musik doch sei. Ich hingegen meinte: ‚Ja, aber das fegt die Tanzfläche leer, Stevo!‘ Man muss Platten auflegen, zu denen die Leute tanzen können. Er spielte Platten von Suicide und Throbbing Gristle, die regelmäßig die Tanzfläche leerten.“
Zu diesem Zeitpunkt waren Depeche Mode in Sachen Musikgeschmack eher mit Rusty auf einer Wellenlänge. Als Stevo vorschlug, „Photographic“ in seine Compilation aufzunehmen, waren sie erfreut, aber auch ein wenig verwirrt.
„Wir sind keine bizarre Band“, protestierte Vince.
Außerdem wollte Steve sie für eine Albumproduktion auf seinem Label unter Vertrag nehmen. Er konnte ihnen sogar einen Platz im Vorprogramm von Ultravox in Aussicht stellen, was durchaus verlockend war. Das Ganze hätte zu einer vertrackten Situation führen können, da Stevo im Bridge House eine Clubnacht veranstaltete und oft mit Daniel Miller zusammenarbeitete. Am Ende ging der Mute-Chef siegreich aus dieser Schlacht hervor. Er begriff, was Depeche Mode wollten – nämlich schlicht und einfach eine Platte herausbringen.
Obgleich sie Stevo und Terry Murphy respektierten, schien es viel einfacher, es mit Mute zu versuchen. Große Plattenfirmen empfanden sie ohnedies als verwirrend. Die Abmachung mit Daniel wurde einfach per Handschlag besiegelt, aber sie waren glücklich damit. Später munkelte man, dieser Deal solle sogar noch besser als der gewesen sein, den Paul McCartney für sich ausgehandelt hatte.