Zur Erinnerung an Ruslana Korshunova
… mehr kreativ als wie die anderen …
Heidi Klum
HEIDI
Das Mädchen ist ein Traum. Ihr Abbild klebt an jeder Ecke. Sie strahlt. Sie ist reich. Sie ist berühmt. Sie ist ein Mädchen, das Mädchen machen kann. Das Mädchen kommt uns entgegen. Ihre Plateau-Schuhe sind mörderisch hoch. Die Leute halten den Atem an. Das Mädchen steht. Das Mädchen dreht sich – und schwebt davon. Alle Mädchen wollen sein wie sie. Topmodel.
Manche lieben dieses Mädchen, manche verabscheuen es. Ich möchte wissen, wer sie ist. Ich will Heidi Klum porträtieren. 89 – 65 – 92. Augenfarbe braun. Haarfarbe hellbraun. So steht es Anfang der 90er auf ihrer Sedcard. Mehr nicht. Der Sedcard ist nicht anzusehen, was Heidi Klum hinter sich hat. Welcher Ehrgeiz sie treibt. Wie hart sie arbeitet. Wie weit, wie entbehrungsreich, wie mühsam der Weg von Bergisch-Gladbach nach Los Angeles war. Über das Lachen eines Mannes hinweg, der sie sitzen ließ mit einem Kind. Ohne Ehe. Bis in die Arme des schwarzen Sängers Seal. Heute ist sie das Model mit der Sendung, in der ein Mädchen Topmodel wird.
Ich schreibe einen Brief.
Sehr geehrte Frau Klum,
mit großem Interesse habe ich Germany’s Next Topmodel gesehen. Nach der letzten Sendung kam mir in den Sinn, dass ich Sie gern porträtieren würde …
Mit besten Grüßen nach Bergisch-Gladbach …
Die Antwort kommt unverzüglich. Der Brief hat ein Fenster, als schaute er in die Welt hinaus. Rückseitig ist er mit einem dicken, pflaumengroßen, erdbeerroten Siegel aus Kunststoff beklebt. In der Mitte der Plastikmasse ist ein H eingedrückt. H für Heidi. Ich öffne den Umschlag, ohne das Siegel zu brechen. Auch der Briefkopf trägt ein H. Statt eines Querstrichs hat es den Namen des Allerweltstraums eingraviert. Heidi in Rot, Klum in Schwarz. Darunter höfliche, gewählt freundliche Worte. Kurz und bündig.
Sehr geehrte Frau Dr…,
Ihr Schreiben vom 23. Juni … habe ich mit Interesse gelesen und bin der Meinung, dass Ihr Vorschlag für ein Porträt eine schöne Idee ist. Da Heidi jedoch in verschiedene umfangreiche Projekte eingebunden ist, möchte ich aus terminlichen Gründen von Ihrer Anfrage absehen. Ich wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen …
Der Brief ist von Günter Klum unterzeichnet, Heidi Klums Papa. Klum wieder in Rot. Am unteren Rand des Briefbogens ist vermerkt, dass das Schreiben von der Heidi Klum GmbH kommt, deren Komplementärin Heidi ist.
Ich hatte dabei sein wollen, wie ein Mädchen Germany’s Next Topmodel wird. Ich hatte die Patronin porträtieren wollen, um zu erfahren, wer sie ist, und zu sehen, wie sie das macht. Ich wollte ein Phänomen beschreiben, dass die Herzen der kleinen Mädchen in Deutschland schneller schlagen lässt und die amerikanischen Männer dazu verleitet, sie ähnlich willkommen zu heißen wie Sauerkraut und vw. Mit einer Absage habe ich nicht gerechnet.
Ich warte die Modewochen ab. Berlin ist in diesem Jahr die erste Stadt. Vor New York, Mailand, London, Paris. Ich schaue mir die Legionen großer schlanker Frauen an, die, als seien sie noch nicht geschlechtsreif, in der Branche nur Mädchen heißen. Models, deren Körper und Gesichter die weiblichen Teenies wirklich beschäftigen. Das Märchen vom Prinzen auf dem weißen Pferd ist von gestern.
Ich bin spät dran. Ich springe aus dem Taxi und renne, sehr unpassend mit hochhackigen Schuhen, auf den Bebelplatz. Man hat ein Zelt für die Schauen aufgestellt, wie im New Yorker Bryant Park. Ich peile schnurstracks den Eingang an. Da kommt mir ein Geschöpf in die Quere. Einen Kopf größer als ich. Fast verwahrlost. Jeans, Lederjacke, T-Shirt, alles abgetragen. In dem Glamour fällt das auf. Sie hat eine nahezu weiße Haut. Der Mund ist groß mit vollen Lippen, blass, die Augen dunkel, tiefblau oder braun, das kann ich so schnell nicht erkennen. Die Haare sind kohlrabenschwarz. Das gibt es eigentlich gar nicht, so helle Haut, so dunkles Haar. Ein verdrecktes Schneewittchen, das seinen Zwergen entkommen ist. Sie stürmt an mir vorbei, springt über die Absperrung und verschwindet in einem der hinteren Zelteingänge. Offenbar gehört sie zum Backstage-Personal. Plötzlich denke ich: Warum schreibe ich nicht über sie? Warum nicht den Alltag einer Arbeitsbiene dokumentieren, anstatt nach dem zu suchen, was alle im Blickfeld haben: Germany’s Next Topmodel?
Es ist der zweite Tag der Shows. Ich sitze in der ersten Reihe, weil ich mit dem Assistenten des Designers befreundet bin. Ich trage apfelgrüne Pumps aus Rochenleder. Absätze dünner als Essstäbchen. Als ich meine Wohnung verließ, war das Wetter schön. Kaum sitze ich, beginnt das Gewitter. Es gießt in Strömen. Der Regen ist geradezu lächerlich heftig. Mit der Wucht von Geschossen prasselt er auf das Zeltdach und verschlingt jeden Ton der Musik. Alle sind unkonzentriert und gucken in den Plafond anstatt auf die Mädchen. Jeder fürchtet, dass das Zelt augenblicklich zusammenbricht und die Wassermassen uns überfluten. Die einzige, die ungestört auf den Runway blickt, bin ich.
Die Show ist längst vorbei, da regnet es immer noch. Ich gehe nach hinten. Als ich inmitten der Kleiderständer und Schminktische stehe, wird mir bewusst, dass ich die Gazelle suche, die vor der Show über die Absperrung gesprungen ist. Aber ich sehe sie nicht.
Kurz danach hört der Regen auf. Das Pflaster ist immer noch überflutet. Unter den Linden sieht es aus wie in einem Katastrophenfilm. Ich treffe mich mit Freunden aus der Modeszene in Kreuzberg zum Essen. Kreuzberg gilt jetzt als cool. Türkenmüll und Undergroundchic mischen sich zu geheimnisvollem Chaos, durch das angeblich nur Insider navigieren können. Niemand merkt, dass das Viertel dadurch, dass es jetzt von coolen Leuten aufgesucht wird, längst kein Ort mehr für Insider ist. Also auch kein Geheimtipp mehr. Also auch nicht mehr cool.
Es gibt keine leeren Taxis, und die vollen stehen im Stau. Ich nehme meine Stöckel in die Hand und gehe barfuß durch den reißenden Strom. Der Gendarmenmarkt leer. Kein einziger Tourist am Französischen Dom. Die Treppen zum Konzerthaus blankgespült. Leere Kaffeehausterrassen. Leere Straßen, durch die das Wasser wie Priele rinnt, als Geräusche nur Tropfen und Blätterrauschen. Frische Luft, als befände ich mich an einem Strand. Eine Weile sprechen wir im Restaurant nur darüber, wie jeder von uns ins Restaurant gekommen ist. Erst als wir endlich bestellen, sehe ich sie.
Sie ist mit einer Gruppe von Leuten da, die sich in einer slawischen Sprache unterhalten. Stumm und teilnahmslos sitzt sie daneben. Ihr Essen ist unberührt. Unvermittelt wendet sie sich ab und geht. Auf dem Weg zur Toilette sehe ich sie im Innenhof stehen. Sie lehnt mit dem Rücken gegen die Hauswand, einen Fuß dagegengestemmt. Sie zündet sich eine Zigarette an. Als ich mit frischem Lippenstift zurückkomme, hat sie sich bereits eine neue angesteckt. Die vergammelten Jeans brauchen dringend eine Wäsche. Unter ihrem weißen, vorn geknöpften Hemdchen drücken sich die Nippel ihrer Brüste ab. Sie scheint zu frieren. Es steht ihr gut. Auch die Traurigkeit, die sie ausstrahlt, steht ihr gut. Sie sieht aus wie jemand, der eine Geschichte hat. Die schwarzen nassen Haare glänzen und kleben am Kopf, ein faszinierendes Schwarz, worin sich die Umgebung spiegelt, schillernd durch die Nässe, als hätte jemand Öl über einen Flügel gekippt. Eine Strähne fällt ihr ins Gesicht. Wieder denke ich: Ich sollte über dieses Mädchen schreiben. Aber niemand außer mir zeigt Interesse an ihr. Alle interessieren sich nur für Heidi Klum.
Auch am nächsten Tag ist unter den Sirenen, die auf den Catwalks die neuesten Kreationen präsentieren, keine, die für mein Vorhaben geeignet ist. Ich suche überall. Ich gebe mir wirklich Mühe. Ich gehe zu jedem aufgelisteten Ort. Ich sehe mir Modenschauen in abgedrehten Kulissen an. Schwimmbad. Postfuhramt. Parkhaus. Museum. Wenn das so weitergeht, werden sie die Kollektionen demnächst in einer Kirche präsentieren. Ich suche hinter den Kulissen. Sehe abgeschminkte Gesichter. Zurückgebundene Haare. Blasse, strenge, fast unscheinbare Mienen, verwirrend müde ohne die künstliche Farbe. Ohne die schönen Kleider wirken die Körper wie Skelette unter dünner Haut. Bestrumpfte Beine, meterlang. Konkave Wangen. Nackte Füße. Ein Mädchen schlüpft in seine Sandalen, sieht auf, als sie meine Schritte hört, sieht weg, als sie realisiert, dass ich nichts von ihr will. Eine Ecke mit vollen Aschenbechern. Bergeweise leere Mineralwasserflaschen. Keines der Mädchen ist für das zu gebrauchen, was ich beobachten will. Sie sind erschöpft. Kein Lächeln mehr. Kein Gekreische. Kein suchender Blick nach einer Kamera. Nur konzentriertes Räumen, Packen – und über allem die Erschöpfung nach einem anstrengenden Tag. Hier und da ein Lachen. Kurze Zeremonien des Abschieds. Keine, die weiter glitzern will. Keine, die nach persönlicher Aufmerksamkeit lechzt. Keine so wie Heidi Klum. Diese Mädchen haben ihren 10 000 Euro-Job gemacht und wollen verschwinden. Bis sie morgen die nächste Show eröffnen.
Ich brauche ein geschäftstüchtiges Mädchen, das sich vor nichts ekelt und für alles wirbt. Ein blondes Mädchen, nicht auf den Mund gefallen und kalt genug, in den Kloaken von Paris für Hygieneartikel zu werben. Ein Mädchen ohne jene distinguierte Allure, die man vor Heidi Klum mit europäischer Mode verband.
Es steht fest, dass Heidi (da ihr Vater mir gegenüber in seinem Brief so von ihr gesprochen hat, erlaube ich mir, den Vornamen zu verwenden) auch heute eine Ausnahme ist. Die Mädchen, die ich durch meinen Designerfreund Peter Som kenne, sind alle anders. Elfen eher, mythische Wesen, die man nur aus der Ferne betrachten und nicht anfassen darf, weil ihnen sonst der Blütenstaub von den Flügeln fällt.