GETÄUSCHT
Thriller
Aus dem Englischen von
Damaris Brandhorst
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2009 by Christopher Reich
Titel der Originalausgabe: »Rules of Vengeance«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Wolfgang Neuhaus/Jan F. Wielpütz
Titelillustration: getty-images Deutschland GmbH/iStock International Inc.
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-0460-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für James F. Sloan,
Deputy Assistant Director, US Secret Service,
Director, Financial Crimes Enforcement Network,
Assistant Commander for Intelligence,
United States Coast Guard
Mein Respekt und meine Bewunderung für ein Leben
im Dienst für die Vereinigten Staaten
HEUTE, 11.16 UHR UCT, EXPLODIERTE IM LONDONER WESTMINSTER DISTRICT EINE VERHEERENDE AUTOBOMBE. OFFIZIELLEN ANGABEN ZUFOLGE WURDEN VIER MENSCHEN GETÖTET UND MEHR ALS DREISSIG ZUM TEIL SCHWER VERLETZT. DER ANSCHLAG RICHTETE SICH VERMUTLICH GEGEN DEN RUSSISCHEN INNENMINISTER IWANOW, DER SICH ZUM ZEITPUNKT DER EXPLOSION IN EINEM AUTOKONVOI AUF DEM WEG ZU EINEM INFORMELLEN TREFFEN MIT BRITISCHEN HANDELSPARTNERN BEFAND. ÜBER DEN GESUNDHEITSZUSTAND IWANOWS LIEGEN UNS ZURZEIT KEINE ANGABEN VOR. WEITERE INFORMATIONEN IN KÜRZE.
London
Storey's Gate, Westminster
11.18 Uhr UTC
Die Welt hatte sich in eine gigantische Feuerhölle verwandelt.
Flammen schossen aus den Autowracks, die von der Wucht der Explosion kreuz und quer über die Straße geschleudert worden waren. Ölige schwarze Rauchwolken verdunkelten das Tageslicht und machten das Atmen zur Qual. Reglose, verrenkte, zerfetzte Körper lagen auf den Gehwegen und der Straße. Ein dichter Ascheregen sank auf die alptraumhafte Szenerie herab.
Jonathan Ransom war mit dem Oberkörper nach hinten durch die Windschutzscheibe eines Pkw geschleudert worden. Als er benommen den Kopf hob, zerplatzte der Rest der Scheibe, und ein Scherbenregen prasselte ihm ins Gesicht. Benommen wischte er das Glas weg und fühlte sein warmes Blut auf der Hand. Außer einem schmerzhaft schrillen Pfeifton in seinen Ohren schien die Welt in Totenstille versunken zu sein.
Emma, schoss es ihm durch den Kopf. O Gott, ist ihr was passiert?
Benommen rutschte er von der Motorhaube, stützte sich am Wagen ab und atmete tief durch, bis das Schwindelgefühl verebbte. Nach und nach kehrte die Erinnerung zurück. Der Konvoi aus schwarzen Limousinen, die dreifarbige Flagge an der Antenne, das gleißende Licht, die plötzliche Hitzewelle und das seltsam losgelöste Gefühl, als er durch die Luft geschleudert worden war …
Langsam, mit unsicheren Schritten, bahnte Jonathan sich einen Weg zwischen schreienden Verletzten, rauchenden Trümmern und ausgebrannten Fahrzeugen hindurch bis zu der Stelle, wo er Emma zum letzten Mal gesehen hatte. Angestrengt hielt er Ausschau nach einer Frau mit rotbraunem Haar. »Emma!«, rief er und blickte in blutige, vor Entsetzen verzerrte Gesichter.
Dort, wo der BMW gestanden hatte, war nur noch ein riesiger Krater. Der Wagen war fünf Meter durch die Luft geflogen und brannte lichterloh. Auf der anderen Seite, gegenüber vom BMW, entdeckte Jonathan die Überreste einer schwarzen Limousine. Die Insassen hatten nicht die geringste Chance gehabt. Sämtliche Fenster der umstehenden Gebäude waren von der Druckwelle aus den Rahmen gesprengt worden. Durch den Rauch konnte Jonathan die Gardinen sehen. Sie flatterten wie weiße Parlamentärsflaggen.
Dann schälte sich am Ende der Straße eine drahtige blonde Frau aus dem Rauch und kam mit entschlossenen Schritten auf ihn zu. Die Frau rief irgendetwas, doch Jonathan konnte es nicht hören. In der einen Hand trug sie ein Walkie-Talkie, in der anderen eine Pistole, die auf Jonathan gerichtet war. Der Rauch war so dicht, dass er nicht erkennen konnte, ob die Frau allein war, aber das spielte ohnehin keine Rolle.
Sie war Polizistin, und sie war hinter ihm her.
Jonathan machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.
In diesem Moment hörte er den Schrei und blieb wie angewurzelt stehen.
Unvermittelt taumelte ein Mann aus dem verkohlten Wrack einer schwarzen Limousine. Seine Kleidung schwelte, die Haut am Rücken war verbrannt, und seine Haare standen in Flammen, sodass sein Kopf von einem glutroten Lichterkranz umgeben war.
Jonathan rannte auf den schreienden Mann zu, riss sich im Laufen den Blazer vom Körper, umwickelte damit den Kopf des Mannes und erstickte die Flammen. »Hinlegen!«, rief er. »Nicht bewegen! Ich hole Hilfe.«
»Bitte … bitte …«, flehte der Mann.
Jonathan hielt nach einem Rettungswagen Ausschau und sah einen Steinwurf entfernt einen Feuerwehrmann. Heftig gestikulierend versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen. »Hierher! Ich brauche einen Arzt!«
Im selben Augenblick wurde Jonathan brutal zu Boden gestoßen. Er spürte, wie jemand ihm die Arme auf den Rücken zerrte und ihm Handschellen anlegte. »Polizei!«, rief ihm eine Stimme ins Ohr. »Keine Tricks, oder Sie sind ein toter Mann.«
»Kümmern Sie sich um den Verletzten!«, stieß Jonathan hervor und zerrte an den Handschellen. »Er hat schwere Verbrennungen. Decken Sie ihn zu. Wenn seine Wunden nicht vor dem Ruß geschützt werden, entzünden sie sich, und …«
»Schnauze!«, rief der Polizist grob und drückte Jonathans Kopf auf den Asphalt.
Die blonde Frau kam heran und kauerte sich neben ihn. »Wie heißen Sie?«
»Ransom… Jonathan Ransom. Ich bin Arzt.«
»Warum haben Sie das getan?«
»Was?«
»Das hier. Die Bombe«, erwiderte die Frau. »Ich habe gesehen, dass Sie jemandem etwas zugerufen haben. Wer war das?«
»Ich habe nicht …« Jonathan verstummte abrupt und riss die Augen auf.
»Was haben Sie nicht? Was ist mit Ihnen?«
Jonathan hörte gar nicht mehr hin. In einiger Entfernung sah er die von Rauchschwaden umwogte Gestalt einer Frau mit lockigen rotbraunen Haaren, die sich einen Weg durch die Menge bahnte. Dann war sie im Gewimmel der in Scharen eintreffenden Polizisten und Feuerwehrleute verschwunden.
Jonathan hatte keinen Zweifel.
Es war Emma gewesen.
Seine Frau lebte.
Der Stadtteil Mayfair im Herzen Londons gehört zu den exklusivsten Wohngegenden der Welt. Hier findet man das Claridge's, eines der besten Hotels weltweit, das Auktionshaus Sotheby's, das Haus No 9 Grosvenor Square, in dem einst John Adams gewohnt hat, der sechste Präsident der USA, sowie das Haus No 25 Brook Street, in dem Georg Friedrich Händel die letzten dreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Auch die Bond Street, eine der teuersten Einkaufsstraßen der Welt, führt durch Mayfair.
Doch selbst in dieser Enklave der Superlative sticht eine Adresse heraus: No 1 Park Lane - auch »One Hyde Park« genannt - ist ein hypermoderner gläserner Hochhauskomplex am südöstlichen Rand des Hyde Park. Vor hundert Jahren stand hier ein zehnstöckiges Hotel. Nach und nach ließen sich in dem ehemaligen Hotelgebäude eine Bankfiliale, ein Autohändler und Gerüchten zufolge ein Luxusbordell für hochrangige Besucher aus dem Mittleren Osten nieder. Als die Londoner Immobilienpreise in astronomische Höhen schnellten, wurden auch die Pläne für das Gebäude immer ambitionierter.
Heute befinden sich in One Hyde Park vier Apartmentpavillons mit insgesamt achtzig Privatresidenzen. Jede nimmt ein halbes Stockwerk ein, das Penthaus sogar zwei Etagen. Eine durchschnittliche Wohnung kostet zwanzig Millionen Pfund, das Penthaus einhundert Millionen. Zu den Besitzern zählen der Außenminister von Katar, ein arabischer Prinz und ein russischer Oligarch. Hinter vorgehaltener Hand spekulieren die Bewohner der Park Lane scherzhaft, wer von diesen Herren der größte Gauner ist.
Angesichts einer solch geballten Ladung Reichtum unter einem Dach hat die Frage der Sicherheit oberste Priorität. Zwei livrierte Türsteher überwachen rund um die Uhr den Eingangsbereich; ein Team von drei unauffällig gekleideten Wachleuten kontrolliert das Außengelände, und zwei weitere Wachmänner halten sich rund um die Uhr in der Sicherheitszentrale auf, wo die Bilder von vierundvierzig Überwachungskameras auf Monitore übertragen werden. Die Eingangstüren von One Hyde Park bestehen aus kugelsicherer Doppelverglasung, eingefasst von einem Stahlrahmen. Das Schloss würde sogar den Einschlag einer Panzergranate überstehen. Besucher dürfen das Gebäude erst nach optischer Kontrolle durch Überwachungskameras und eindeutiger Identifizierung durch einen der Bewohner betreten.
One Hyde Park galt als uneinnehmbare High-Tech-Festung.
Aber das war ein Irrtum.
Reinzukommen war die leichteste Übung.
Der Eindringling mit dem Codenamen »Alpha« stand im begehbaren Kleiderschrank von Apartment 5A. Das Alarmsystem kannte Alpha in- und auswendig; deshalb wusste er, dass sich in seiner unmittelbaren Nähe keine Sensoren befanden. Er drückte auf den Lichtschalter und ließ den Blick durch den exquisit eingerichteten Ankleideraum schweifen, über ein Regal mit handgefertigten Schuhen, eine aufgerollte St.-George's-Flagge, zwei kostbare Jagdwaffen und einen Stapel vergilbter Zeitschriften, gebundener Zeitungen und Aktenordner - die sorgsam gehüteten Schätze eines gewissenhaften Dozenten. Auf der rechten Seite stand ein Ankleidetisch aus Mahagoni mit mehreren Fotos in Silberrahmen. Auf einem dieser Bilder war ein großer, schlanker blonder Mann in der Kluft eines Jägers zu sehen, der mit einem Gewehr unter dem Arm vertraulich mit einer ebenfalls sportlich gekleideten Queen Elisabeth II. plauderte. Der Mann auf dem Foto war der Eigentümer dieses Apartments: Lord Robert Russell, Junggeselle, dreißig Jahre alt, einziger Sohn des Duke of Suffolk, mit einem geschätzten Vermögen von fünf Milliarden Pfund der reichste Adelige Englands.
Doch Alpha hatte es nicht auf Russells Vermögen abgesehen, sondern auf etwas sehr viel Kostbareres.
Er kauerte sich hin und nahm ein kleines Paket aus seinem Rucksack. Mit dem Daumen öffnete er die Plastikummantelung. Sorgsam faltete er einen silberfarbenen Ganzkörperanzug auseinander und schlüpfte hinein. Der Anzug musste die Haut vollständig bedecken. Die Kapuze reichte Alpha bis über die Augenbrauen und verhüllte auch Nase und Mund. Der Anzug bestand aus PET-Folie, wie sie zur Herstellung von Rettungstüchern verwendet wird; das Material verhinderte, dass die hyperempfindlichen Sensoren der Alarmanlage Alphas Körperwärme registrieren konnten. Als der PET-Anzug richtig saß, setzte Alpha sich eine Nachtsichtbrille auf und streifte sich Handschuhe über.
Dann öffnete er die Schranktür einen Spalt und blickte zum Schlafzimmer, in dem es stockdunkel war. An der Decke, unmittelbar vor der Tür, entdeckte Alpha einen Bewegungsmelder von der Größe einer Zigarettenschachtel. Das Gerät sendet Infrarotstrahlen aus, die auf kleinste Temperaturschwankungen reagieren, wie sie beispielsweise durch einen menschlichen Körper verursacht werden. Doch trotz des Thermoanzugs konnte Alpha nicht das Risiko eingehen, das Zimmer zu betreten, denn Sir Robert hatte sein Apartment mit einem Mehrfach-Alarmsystem ausgestattet: Außer den Thermosensoren und Bewegungsmeldern gab es einen sogenannten Schallwellen-Transmitter, der auf der Basis des Dopplereffekts funktionierte.
Eine Stimme drang aus dem Mini-Kopfhörer in Alphas Ohr: »Er verlässt jetzt den Zielort. Dir bleiben noch acht Minuten.«
»Verstanden.«
Alpha glitt vorsichtig aus dem begehbaren Schrank und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze zur Schlafzimmertür. Der Alarm blieb still. Kein ohrenbetäubendes Heulen, kein grelles, blitzendes Licht. Alpha stellte die Nachtsichtbrille auf vierfache Verstärkung ein und ließ den Blick über den Flur schweifen. Sofort entdeckte er die rote Leuchtdiode am oberen Ende der Flurwand, den Sensor des Schallwellen-Transmitters.
Alpha zog eine Minipistole aus dem Anzug, zielte auf die Diode und drückte ab. Das Geschoss war ein Ultraschallprojektil aus Epoxid. Es traf voll ins Ziel. Die Leuchtdiode erlosch.
Der Weg war frei.
Alpha warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. Noch sechseinhalb Minuten.
Im Wohnzimmer zog Alpha behutsam den Teppich von den Wänden. Vor den beiden Fenstern, die einen traumhaften Blick über den Hyde Park boten, befand sich jeweils ein Sensor. Der dritte Sensor war unmittelbar vor der Balkontür angebracht. Alpha brauchte jeweils eine Minute, um die Sensoren zu deaktivieren.
Noch drei Minuten.
Alpha huschte in Russells Arbeitszimmer. Er kannte sich im Apartment aus und wusste genau, wo das Büro zu finden war. Ein blitzender Chromschreibtisch mit drei großen LCD-Monitoren bildete das Zentrum. An der Rückwand hing ein überdimensionaler Flatscreen-Bildschirm.
Alpha richtete den Strahl einer Halogenlampe unter den Schreibtisch. Am hinteren Ende stand der Computerprozessor. Alpha blieb keine Zeit, den Inhalt des Prozessors zu kopieren; er musste zerstört werden. Alpha nahm ein handgroßes Gerät aus dem Rucksack und zog es mehrere Male über den Prozessor. Das Gerät sandte einen starken elektromagnetischen Impuls aus, der sämtliche Computerdaten unwiederbringlich vernichtete.
Leider waren die Informationen noch an einer zweiten, schwer zugänglichen Stelle gespeichert: in Sir Robert Russells bemerkenswertem Gehirn.
»Er fährt jetzt in die Garage«, sagte die Stimme aus dem Kopfhörer. Es war genau 2.18 Uhr.
»Okay«, antwortete Alpha. »Sieh zu, dass du verschwindest.«
»Wir treffen uns in der Zentrale.«
In der Schreibtischplatte befand sich ein Multifunktions-Touchscreen, mit dem sich die Elektronik des Apartments steuern ließ. Von hier aus konnte Russell mit einem Finger den Fernseher einschalten, die Vorhänge öffnen und schließen und die Zimmertemperatur regulieren. Aber es gab noch eine weitere interessante Funktion: Ein Klick auf das Wort »Security«, und auf dem Bildschirm erschienen vier gleich große Felder, auf denen die Bilder von vier Überwachungskameras zu sehen waren. Links oben im Bild stieg Russell gerade aus seinem Bentley. Kurz darauf erschien er im rechten oberen Viertel, auf dem die Bilder der Überwachungskamera aus dem Eingangsbereich zu sehen waren. Nach ein paar Sekunden erschien Russell links unten auf dem Bildschirm, als er den Fahrstuhl betrat. Er trug Jeans, ein am Kragen offenes Hemd und einen Blazer. Er trat aus dem Fahrstuhl und erschien kurz darauf im letzten unteren Viertel. Nun stand er vor dem Eingang zum Apartment, wo er sein Passwort und seinen Daumenabdruck in den biometrischen Scanner einloggte.
Alpha huschte in die Küche und öffnete den Gefrierschrank. Im oberen Regal lagen zwei eisgekühlte Flaschen polnischer Büffelgraswodka, der teuerste Wodka der Welt. Einen Augenblick später hörte Alpha, wie sich die Sicherheitsriegel der Eingangstür öffneten. Dann pochten Sir Roberts Absätze auf dem Marmorfußboden.
Alpha nahm die Nachtsichtbrille ab und zog den Ganzkörperanzug aus. Beides war im Moment nur hinderlich. Außerdem sollte Russell nicht auf Anhieb Verdacht schöpfen, denn an seinem Haustürschlüssel befand sich ein Notrufknopf, mit dem er den Alarm auslösen konnte.
Sir Robert betrat die Küche und fuhr heftig zusammen. »Himmel! Du hättest mich beinahe zu Tode erschreckt!«, stieß er hervor.
»Hallo, Robbie. Wie wär's mit einem Drink?«
Sir Robert gefror das Lächeln auf den Lippen. »Kannst du mir mal verraten, wie du hier hereingekommen bist?«
Er hatte den Satz kaum beendet, als Alpha ihm die Wodkaflasche auf den Kopf schmetterte. Sir Robert fiel auf die Knie. Der Schlüssel glitt ihm aus den Händen. Der Schlag setzte ihn außer Gefecht, raubte ihm aber nicht das Bewusstsein. Doch bevor er einen Laut von sich geben konnte, schlang Alpha ihm den Arm um den Hals, packte sein Kinn mit der einen Hand, griff ihm mit der anderen ins Haar und riss den Kopf des Mannes mit aller Kraft nach links.
Sir Roberts Genick brach wie ein morscher Ast. Schlaff glitt er zu Boden.
Unter Aufbietung aller Kräfte zerrte Alpha den leblosen Körper durchs Wohnzimmer und auf den Balkon, wuchtete ihn über die Brüstung und warf ihn über das Geländer.
Alpha wartete nicht ab, bis Lord Robert Tavistock Russell dreißig Meter tiefer auf den Granitstufen aufschlug.
Flug 99 aus Nairobi, Kenia, landete um 6.11 Uhr auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Laut Passagierliste befanden sich zweihundertachtzig Fluggäste und sechzehn Besatzungsmitglieder an Bord des Airbus A340. Tatsächlich waren es jedoch mehr als dreihundert Passagiere, da noch etwa ein Dutzend Kleinkinder auf dem Schoß ihrer Mütter hockten und einige weitere Passagiere Platz auf den aufklappbaren Sitzen gefunden hatten, die eigentlich für die Stewardessen reserviert waren.
Auf seinem Platz in Reihe 43 warf Jonathan Ransom einen besorgten Blick auf die Uhr. Der Flug hatte genau neun Stunden gedauert, eine halbe Stunde weniger als geplant. Die meisten Passagiere freuten sich über die verkürzte Flugzeit, denn so konnten sie dem morgendlichen Berufsverkehr in der Stadt ausweichen oder zeitig mit ihrer Sightseeing-Tour beginnen. Doch Jonathan gehörte nicht zu ihnen. Die ganze letzte Woche hatten sich die Flüge vom Jomo Kenyatta International Airport wegen eines Streiks der kenianischen Flugsicherung erheblich verspätet. Heute endlich war die Maschine pünktlich gestartet und sogar früher gelandet.
Jonathan wusste nicht, ob es bloß Zufall war oder ob etwas anderes dahintersteckte. Etwas, an das er lieber nicht denken wollte.
Ich hätte mich niemals auf diese Sache einlassen sollen, überlegte er. In Kenia war ich in Sicherheit. Wäre ich klug gewesen, hätte ich mich nicht von der Stelle gerührt.
Doch es war nie Jonathans Art gewesen, sich vor einer Herausforderung zu drücken. Und wenn sie ihn wirklich hätten aufspüren wollen, wäre er an keinem Ort der Welt sicher gewesen.
Mit seinen knapp eins neunzig Körpergröße und seiner lässigen Kleidung - Jeans, Hemd und Outdoor-Stiefel - war Jonathan eine sportliche Erscheinung. Sein Gesicht war tief gebräunt vom monatelangen Einsatz unter der Äquatorsonne, und auf dem Rücken seiner markanten Nase schälte sich die Haut ab. Seine Haare mit den grauen Strähnen trug er kurz. Mit seinen dunklen Augen und dem Zweitagebart wirkte er wie ein Südländer oder ein Südamerikaner mit europäischen Wurzeln. Doch Jonathan Ransom war Amerikaner, vor achtunddreißig Jahren in Annapolis, Maryland, geboren, und stammte aus einer alten, vornehmen Südstaatenfamilie.
Bedächtig sammelte Jonathan die Zeitschriften und Zeitungsausschnitte mit den Fachartikeln und Kommentaren ein, mit denen er sich auf den Ärztekongress vorbereitet hatte, und verstaute alles in seiner Tasche. Die meisten Artikel behandelten Themen wie »Tropenkrankheit: Diagnose und Vorbeugung« oder »Hepatitis C in Schwarzafrika: Eine klinische Studie« und waren von namhaften Ärzten verfasst worden. In dem letzten Artikel, der sich mit der Behandlung parasitärer Krankheitsbilder bei Kindern befasste, stand: »Jonathan Ransom, MD, Ärzte ohne Grenzen.« Statt einer Krankenhausadresse hatte er seinen letzten Arbeitsplatz angegeben: »UN-Flüchtlingslager 18, Lake Turkana, Kenia.«
Seit acht Jahren arbeitete Jonathan nun schon bei Ärzte ohne Grenzen, der Hilfsorganisation, die in vielen Krisengebieten der Welt medizinische Versorgung leistete. Jonathan hatte in Liberia und Darfur, im Kosovo, im Irak und in etlichen anderen Krisengebieten rund um den Globus gearbeitet. In den letzten sechs Monaten war er als Oberarzt im Flüchtlingslager Turkana an der Grenze zwischen Äthiopien und Kenia tätig gewesen. In diesem Lager hielten sich derzeit etwa hunderttausend Menschen auf. Die meisten waren aus den von Kriegen heimgesuchten Gebieten in Somalia und Äthiopien geflohen. Als einer von drei Ärzten - zudem als einziger zugelassener Arzt im Lager - hatte Jonathan sich um alles Mögliche kümmern müssen, vom gebrochenen Knöchel bis hin zur Geburtshilfe. Allein in diesem Jahr hatte er in hundertvierzig Tagen einhundert Kinder zur Welt gebracht, ohne ein einziges zu verlieren.
Im Laufe der Jahre hatte Jonathan sich zum Experten für parasitäre Erkrankungen entwickelt. Da die westliche Welt ein zunehmendes Interesse an der Bekämpfung von Seuchen in den Entwicklungsländern zeigte, waren Ärzte mit Erfahrungen auf diesem Gebiet sehr gefragt. So hatte Jonathan im Frühling eine Einladung von der Internationalen Internistengesellschaft erhalten, verbunden mit der Bitte, auf ihrem nächsten Kongress einen Vortrag über sein Spezialgebiet zu halten. Jonathan trat nicht gerne als Redner auf, hatte aber zugesagt. Es war ein wichtiges Thema und die Gelegenheit, so viele Menschen auf einer Veranstaltung zu erreichen, die großes öffentliches Interesse erregte, bot sich nicht alle Tage. Die ISIM hatte seine Reise bezahlt, den Flug gebucht und ihm ein Hotel besorgt. Ein paar Tage lang würde er zur Abwechslung in einem richtigen Bett mit sauberen Laken schlafen.
In diesem Augenblick entdeckte Jonathan die Polizeiwagen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er beobachtete, wie zwei blau-weiße Fahrzeuge der Flughafenpolizei mit Blaulicht neben der ausrollenden Maschine herfuhren. Augenblicke später schlossen sich ihnen zwei weitere Fahrzeuge an.
Jonathan ließ sich in den Sitz zurücksinken.
Aus, dachte er. Alles aus.
Sie waren gekommen, um ihn zu holen.
»Sie haben dich Tag und Nacht im Visier, aber du bemerkst sie nicht. Wenn sie ihr Handwerk verstehen, hast du nicht den Hauch einer Ahnung, dass du verfolgt wirst. Aber sie sind da. Deshalb musst du auf der Hut sein, immer und überall.«
Emma Ransom betrachtete Jonathan nachdenklich über den Tisch hinweg. Ihr lockiges rotbraunes Haar fiel offen über ihre Schultern. Das Feuer des Kamins spiegelte sich in ihren hellbraunen Augen. Sie trug eine cremefarbene Strickjacke. Ihr linker Arm steckte in einer Schlinge vor der Brust. Sie sollte den Arm so wenig wie möglich belasten, damit die Schusswunde in der Schulter heilen konnte.
Es war Ende Februar, fünf Monate vor Jonathans Flug nach London. Jonathan und Emma hielten sich seit drei Tagen in einer Berghütte hoch über dem Dorf Grimentz im Schweizer Kanton Wallis versteckt. Die Hütte war Emmas Schlupfloch, ihr Versteck, wenn es wieder mal zu brenzlig wurde.
»Wer sind ›sie‹?«, fragte Jonathan.
»Division. Sie haben ihre Leute überall. Es könnte einer der Ärzte sein, mit denen du seit Längerem zusammenarbeitest, oder jemand, den du zufällig triffst, ein UN-Inspektor, zum Beispiel, oder ein Mitarbeiter der Weltgesundheitsbehörde. Leute wie ich.«
Division war der Geheimdienst des US-Verteidigungsministeriums und Emmas Arbeitgeber. Die Organisation war für die heikelsten verdeckten Einsätze zuständig. Selbst der Kongress hatte keine Kontrolle über die Operationen. Damit hob Division sich deutlich von den anderen Geheimdiensten ab. Division-Mitarbeiter waren Spezialagenten, die von den USA ins Ausland geschleust wurden, um politische Ereignisse von manchmal globaler Bedeutung ins Rollen zu bringen - Entwicklungen, die den Interessen der Vereinigten Staaten dienten. Ihre Ziele erreichten die Division-Agenten üblicherweise durch Erpressung, Manipulation, Wahlfälschung, Zerstörung wichtiger Gebäude, Einrichtungen oder Statussymbole eines Landes, oder schlicht und einfach durch Ermordung des Staatsoberhaupts.
Sämtliche Division-Agenten arbeiteten verdeckt. Alle besaßen eine falsche Identität. Alle hatten einen ausländischen Pass. Die kürzesten Einsätze dauerten bis zu einem halben Jahr. Umfangreichere Operationen konnten zwei Jahre und mehr in Anspruch nehmen. Vor einem Einsatz unternahm Division jede nur denkbare Anstrengung, um dem jeweiligen Agenten zu einem lupenreinen Ruf und Lebenslauf zu verhelfen. Sollte der Agent trotzdem auffliegen, leugneten die USA jede Verbindung und ließen ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.
»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?«, fragte Jonathan. »Mich für die nächsten zwanzig Jahre in dieser Hütte verstecken?«
»Konzentrier dich auf die Zukunft. Sag allen, dass ich tot bin. Vergiss, dass es mich gibt.«
Jonathan stellte seinen Becher vor sich auf den Tisch. »Das kann ich nicht.«
»Du hast keine Wahl.«
Er ergriff Emmas Hand. »Das ist nicht wahr. Ich habe sehr wohl eine Wahl, genau wie du. Wir können zusammen weggehen. Wir könnten nach Afrika, Fernost oder sonst wohin. An einen Ort, an dem sie uns garantiert nie suchen.«
»Einen solchen Ort gibt es nicht«, sagte Emma. »Die Welt ist ein globales Dorf geworden. Du kannst dich nicht mehr hinter verschlossenen Türen verschanzen oder gar von der Bildfläche verschwinden. Gäbe es nur den Hauch einer Chance, würde ich bei dir bleiben. Ich will mich nicht von dir trennen, aber es gibt keinen anderen Weg für uns. Nur so können wir überleben.«
»Aber …«
»Kein Aber. Es ist die einzige Möglichkeit.«
Jonathan wollte protestieren, doch Emma legte einen Finger auf seine Lippen. »Hör zu. Was immer auch geschieht, du darfst nur dann Kontakt zu mir aufnehmen, wenn ich es erlaube. Ganz gleich, wie sehr du mich vermisst oder wie sicher du dir bist, dass niemand dich beobachtet. Unter keinen Umständen, verstehst du? Ich weiß, dass ich das Unmögliche von dir verlange, aber du musst mir vertrauen.«
»Und wenn ich trotzdem Verbindung mit dir aufnehme?«
»Sie werden da sein. Sie werden mich eher finden als du.«
Zehn Tage zuvor waren Jonathan und Emma in die Schweiz gereist, um bei einem längst überfälligen Skiurlaub auszuspannen. In der Nähe des Furkapasses wurden sie von einem Unwetter überrascht. Bei dem Versuch, eine steile Abfahrt hinunterzujagen, brach Emma sich ein Bein und stürzte nach einer eigenmächtigen Rettungsaktion in eine Gletscherspalte. Für Jonathan hatte es keinen Zweifel gegeben, dass Emma tot war, aber er irrte sich. Tags darauf hatte er einen an seine Frau adressierten Brief erhalten. Erst durch diesen Brief war er Emmas Doppelleben auf die Spur gekommen und Hals über Kopf in eine ihm bislang verborgene Welt gezogen worden, die Emma ihm verheimlicht hatte. Die Nachforschungen, die Jonathan daraufhin auf eigene Faust anstellte, hatten in der Nähe von Zürich ihr Ende gefunden. Dabei waren vier Männer gestorben und Emma angeschossen worden.
Das war nun drei Tage her.
Jonathan drückte Emmas Hand. Sie erwiderte den Druck. Die Zärtlichkeit ihrer Geste war nicht zu verleugnen. Aber liebte sie ihn wirklich? Oder tat sie es nur aus Berechnung?
Unvermittelt stand Emma auf und durchquerte zielstrebig die Hütte. »Du hast genug Proviant für eine Woche. Rühr dich nicht von der Stelle. Niemand kennt diesen Ort. Wenn du aufbrichst, verhalte dich so, als wäre ich tot. Ich existiere nicht mehr. Schnapp dir deinen amerikanischen Pass. Geh wieder an deine Arbeit. Nimm jeden Job an, den du bei Ärzte ohne Grenzen kriegen kannst.«
»Und Division? Glaubst du, sie lassen mich in Ruhe?«
»Sie werden dich beobachten. Aber du bist nicht in Gefahr. Für sie bist du ein blutiger Amateur. Sie haben kein Interesse an dir.«
»Und wenn doch?«
»Sie wollen nicht dich, sie wollen mich.«
»Wann sehe ich dich wieder?«
»Kann ich nicht sagen. Ich muss zuerst sicher sein, dass mir nichts passieren kann.«
»Und wenn du nirgendwo sicher bist?«
Emma betrachtete ihn, und ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. Es war ihre Art, ihm zu sagen, dass er keine Fragen mehr stellen sollte.
»Kannst du mir denn kein bisschen Hoffnung machen?«
»Ich wollte, ich könnte es, Jonathan.«
Mit einem Seufzer schleuderte Emma ihren Rucksack aufs Bett und stopfte ihre Sachen hinein. Der Anblick versetzte Jonathan in Panik. Er ging zu ihr. »Du kannst nicht einfach verschwinden«, sagte er und versuchte, sachlich wie ein Arzt zu klingen. Er wollte an sie als Patientin appellieren und sich nicht wie ein Ehemann anhören, der Angst hat, dass seine Frau ihn verlässt. »Du darfst deine Schulter nicht belasten, sonst könnte sich die Wundnaht wieder öffnen.«
»Darüber hast du dir vor einer Stunde noch keine Gedanken gemacht.«
»Da habe ich …« Jonathan brach mitten im Satz ab. Emma lächelte, doch es wirkte aufgesetzt. Dieses Mal konnte sie Jonathan nichts vormachen. »Emma«, sagte er. »Wir sind gerade mal drei Tage hier.«
»Ich weiß. Es war leichtsinnig von mir, so lange zu warten.«
Schweigend beobachtete er sie beim Packen. Draußen war es bereits dunkel. Es schneite. Im silbernen Mondlicht wirkten die Schneeflocken so zerbrechlich wie hauchdünnes Glas. Schließlich warf Emma sich den Rucksack über die unverletzte Schulter und ging zur Tür. Es würde keinen Abschiedskuss und keine tränenreiche Abschiedsszene geben. Sie streckte die Hand zum Türgriff aus und sagte, ohne einen Blick zurückzuwerfen: »Eines darfst du nie vergessen.«
»Und was?«
»Ich bin nur deinetwegen wieder aufgetaucht.«
Das Flugzeug rollte zur Ankunftshalle. Das Geräusch der Turbinen erstarb. Die Kabinenbeleuchtung flammte auf. Die Passagiere erhoben sich von den Sitzen und öffneten die Gepäckklappen. Binnen kürzester Zeit herrschte an Bord der Maschine geschäftiges Treiben. Jonathan verharrte auf seinem Sitz und beobachtete die Polizeifahrzeuge, die rings um das Flugzeug standen. So bald wird hier niemand gehen, dachte er, löste den Anschnallgurt, schob seine Tasche unter den Vordersitz und stellte die Füße sprungbereit auf den Boden. Verzweifelt sah er sich im Flugzeug nach einem Fluchtweg um. Schließlich zog er einen Stift aus der Jackentasche und umklammerte ihn wie eine Waffe.
»Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Ich muss Sie bitten, sich wieder auf Ihre Plätze zu begeben. In Kürze werden Polizeibeamte an Bord kommen, um im Namen Ihrer Majestät eine wichtige Angelegenheit zu regeln. Räumen Sie den Mittelgang, und bleiben Sie auf Ihren Plätzen.«
Murrend setzten die Passagiere sich wieder.
Auf seinem Sitz in Reihe 43 beugte Jonathan sich angespannt vor. Eine Sekunde später erblickte er den ersten Polizeibeamten. Er war in Zivil und wurde von drei uniformierten, bewaffneten Beamten mit kugelsicheren Westen begleitet. Sie drängten sich rücksichtslos durch den Gang, ohne sich bei den Fluggästen zu entschuldigen, und kamen geradewegs auf Jonathan zu. Verdammt, was hatten die mit ihm vor? Würden die Briten ihn verhören, oder hatten die Amerikaner veranlasst, ihn auszuliefern? Das Ergebnis wäre in beiden Fällen dasselbe: Er würde von der Bildfläche verschwinden.
In Jonathan regte sich Widerstand. Er würde nicht kampflos aufgeben. Er würde sich zur Wehr setzen, so gut es ging.
Als der Beamte in Zivil ihn fast erreicht hatte, sprang Jonathan auf.
»Sie da!«, schnauzte der Mann ihn an und deutete mit dem Walkie-Talkie auf ihn. »Setzen Sie sich wieder! Sofort!«
Jonathan bahnte sich einen Weg zum Mittelgang. Er dachte nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten, auch wenn er gegen die Beamten keine Chance hatte. Aber das war egal.
»Bitte, Sir, setzen Sie sich«, wiederholte der Beamte merklich höflicher. »Wir sind in einer Minute fertig. Dann können Sie gehen.«
Jonathan sank auf den Sitz zurück, während die Polizisten an ihm vorbeieilten. Er schaute ihnen hinterher und sah, dass sie auf einen glattrasierten Afrikaner in der letzten Reihe zustürmten. Der Mann protestierte, schüttelte den Kopf und gestikulierte wild mit den Händen. Jemand brüllte etwas. Es gab ein kurzes Handgemenge. Eine Frau kreischte schrill. Dann, von einer Sekunde zur anderen, war alles vorbei. Der Mann stand mit erhobenen Händen im Gang und fügte sich in sein Schicksal.
Jonathan sah, dass der Afrikaner klein und drahtig war. Er trug einen dicken Wollpullover, viel zu warm für die sommerlichen Temperaturen in London. Er sprach Swahili oder einen Dialekt aus Kikuyu. Doch Jonathan wusste auch ohne seine Sprachkenntnisse, dass der Mann unaufhörlich beteuerte, hier müsse ein Missverständnis vorliegen; er sei nicht der, den die Polizisten suchten. Plötzlich griff der Mann nach seinem Handgepäck. Sofort warf einer der Uniformierten ihn zu Boden. Augenblicke später wurde der mit Handschellen gefesselte Afrikaner aus dem Flugzeug geführt.
»Das war bestimmt ein Terrorist«, sagte die alte Dame, die neben Jonathan saß. »Man muss sich diesen Mann ja nur ansehen. Es ist ganz offensichtlich.«
»Also, ich hätte es nie für möglich gehalten.«
»Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein«, sagte die alte Dame mit Nachdruck. »Man muss ständig auf der Hut sein. Man weiß nie, neben wem man sitzt.«
Wie recht du hast, dachte Jonathan und nickte zustimmend.
Das SZ4, auch »Schwarzes Zimmer« genannt, war einer der fünf Sondereinsatzräume der britischen Einwanderungsbehörde auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Es war ein stickiger Büroraum mit niedriger Decke, der direkt über der Ankunftshalle im Terminal 4 lag. An der Computerzentrale, die eine ganze Wand ausfüllte, saßen mehrere Polizisten und behielten die zahlreichen Monitore im Auge. Überwachungskameras an der Decke und hinter Doppelglasspiegeln waren auf die Fluggäste gerichtet, die an der Passkontrolle Schlange standen. Die Beamten der Passkontrolle waren über Funk mit SZ4 verbunden.
Jedes Jahr wurden rund achtundsechzig Millionen Reisende auf ihrem Flug von oder zu hundertachtzig Reisezielen in Großbritannien und anderen Orten rund um den Globus durch die Kontrollen am Flughafen Heathrow geschleust, dem meistbesuchten Flughafen der Welt. Etwa siebenundzwanzigtausend Menschen landeten hier täglich auf britischem Boden. Die Aufgabe der Einwanderungsbehörde bestand darin, ein wachsames Auge auf die Flut der Reisenden zu halten und Personen mit kriminellem Hintergrund die Einreise ins Vereinte Königreich zu verwehren.
Die Männer und Frauen an den Computern des SZ4 steuerten die Kameras und kontrollierten die Warteschlangen. Von jedem Reisenden wurde ein Bild aufgenommen. Dieses Foto wurde mit der Personenkontrollsoftware der Einwanderungsbehörde abgeglichen, die über eine Verbrecherdatei verfügte. Sobald der Computer eine verdächtige Person herausgefiltert hatte, wurde der oder die Betreffende sofort von Polizeibeamten in Zivil, die sich überall in der Ankunftshalle aufhielten, zu einem Verhörraum geführt, wo nach eingehender Befragung über eine Einreisegenehmigung entschieden wurde.
Zu den Überwachungskameras gehörte ein Scanner, der Körpertemperatur, Pulsschlag und Atemfrequenz des Verdächtigen maß. Außerdem waren die Kameras mit einem speziellen Bildsensor ausgestattet, dem selbst die unauffälligsten Signale und nervösen Ticks im Gesicht nicht verborgen blieben. Die Daten wurden in ein Programm mit Namen MALINTENT eingespeist, das mit einer Genauigkeit von vierundneunzig Prozent die kriminellen Absichten einer verdächtigen Person ermitteln konnte.
»Ich habe einen Treffer«, verkündete der Beamte auf Platz 3.
Sein Vorgesetzter kam zu ihm. »Wer?«
Der Beamte wies auf das Foto eines weißen Mannes mit gebräunter Haut und kurzen Haaren, der an der Passkontrolle stand. »Jonathan Ransom. Amerikaner. Kam mit der Maschine der Kenya Airways aus Nairobi. Körpertemperatur 37,5° Celsius. Puls 84. Der Mimik-Sensor gibt sechs von zehn Trefferpunkten an.«
»Liegt gegen den Mann etwas vor?«
»Bei uns nicht.«
»Und in den USA?«
»Ich warte noch auf Antwort.«
An der Passkontrolle war Jonathans Reisepass eingelesen und die Daten mit den Verbrecherdateien von Großbritannien, Interpol, den EU-Mitgliedsländern, den USA, Kanada, Australien und einem Dutzend weiterer Staaten abgeglichen worden. Anschließend wurden sein Name und die Passnummer an das FBI weitergeleitet, wo überprüft wurde, ob sein Name auf der Liste mutmaßlicher Terroristen und gesuchter Straftäter stand.
»Er sieht nicht gerade wie ein Schwerverbrecher aus«, sagte der leitende Beamte, der Jonathans Gesicht auf dem Monitor betrachtete. »Vielleicht hat die Verhaftung im Flugzeug den Mann nervös gemacht. Wen hat die CT eigentlich geschnappt?«
»CT« stand für Counter Terrorism, die Abteilung für Terrorbekämpfung der London Metropolitan Police.
»Ein mutmaßliches Mitglied von Al-Qaida.« Der Beamte richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm, auf dem soeben die angefragten Informationen erschienen. »Wir haben einen Treffer bei Interpol. Bei der Schweizer Bundespolizei wurde vor sechs Monaten ein Haftbefehl gegen Jonathan Ransom ausgestellt.«
»Weswegen?«
»Mord an zwei Polizeibeamten. Das Ganze ist ziemlich seltsam. Hier steht, dass der Haftbefehl sechs Tage später wieder aufgehoben wurde.«
»Warum?«
»Keine Angaben.«
»Lass mal hören.« Der leitende Beamte streifte sich Kopfhörer über. Sein Untergebener aktivierte eine Leitung, die es erlaubte, die Gespräche unten an der Passkontrolle mitzuhören.
»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, Dr. Ransom«, sagte der Beamte am Schalter soeben. »Besuchen Sie England aus beruflichen oder privaten Gründen?«
»Ich nehme an einem Ärztekongress im Dorchester Hotel teil. Ich bin mir nicht sicher, ob das unter die Kategorie Beruf oder Privates fällt.«
»Beruf, würde ich sagen. Wie lange möchten Sie bleiben?«
»Drei Tage.«
»Sie haben nicht vor, auf Besichtigungstour zu gehen?«
»Vielleicht beim nächsten Mal.«
»Werden Sie die ganze Zeit in London bleiben?«
»Ja, im Dorchester Hotel.«
»Und wohin wollen Sie anschließend reisen?«
»Zurück nach Kenia.«
»Leben Sie da?«
»Im Augenblick, ja.«
Der Beamte blätterte in Jonathans Reisepass. »Sierra Leone, Libanon, Sudan, Bosnien, Schweiz.« Er warf einen prüfenden Blick auf Jonathan. »Sie sind ja ganz schön herumgekommen.«
»Das sind nur die Staaten, in denen ich gearbeitet habe.«
»Was sind Sie noch mal von Beruf?«
»Ich bin Arzt.«
»Aber keiner von der Sorte, der Hausbesuche macht, was? Gut, ich habe nur noch ein paar kurze Fragen, dann dürfen Sie gehen …«
Im SZ4 nahm der leitende Beamte die Kopfhörer ab. »Haben wir schon Antwort von den Amerikanern?«
»Ransom steht auf irgendeiner Diplomatenliste. Falls er vorhat, in die USA zu reisen, sollen wir eine Behörde in D. C. informieren. Die Nummer steht hier.«
»Irgendetwas über den Haftbefehl in der Schweiz?«
»Negativ. Ist Ransom ein Spion? Was meinen Sie?«
»Keine Ahnung. Aber wir sollten nachhaken. Laden wir ihn zu einem kleinen Plauderstündchen ein. Ist Raum 7 frei?«
»Lassen Sie ihn gehen.«
Die Stimme klang unvertraut und hatte einen Akzent. Ihr Besitzer sprach selbstsicher, wie jemand, der keinen Widerspruch erwartet. Alle Augen richteten sich auf die Stelle im Raum, von wo die Stimme gekommen war.
»Er soll gehen«, sagte der Amerikaner. Er hieß Paul Gordon und war im Rahmen eines Austauschprogramms des US-Heimatschutzministeriums nach England gekommen.
»Wir sollen ihn gehen lassen?«, fragte der leitende Beamte ungläubig. »Wieso? Kennen Sie den Mann?«
»Tun Sie einfach, was ich sage.« Gordon lächelte gezwungen. »Bitte.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut.«
»Also schön.« Der leitende Beamte meldete sich über Funk bei seinem Kollegen an der Passkontrolle. »Keine weiteren Fragen unsererseits. Der Mann kann gehen.«
Paul Gordon beobachtete auf dem Bildschirm, wie Ransom sein Handgepäck aufsammelte und zur Gepäckausgabestelle ging. Gordon blieb noch eine Zeitlang im SZ4; dann verließ er den Raum und stieg eine Treppe hinauf bis zu einer Tür, die nach draußen führte. Er überprüfte, ob sein Handy ein Signal empfing und drückte auf die Kurzwahltaste.
»Was gibt's?«, meldete sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ein spezieller Freund von uns ist gerade in London gelandet«, sagte Gordon.
»Wer?«
»Dr. Jonathan Ransom.«
»Verdammt.«
»Ich dachte mir, dass es dich interessiert.«
»Morddezernat.«
Detective Chief Inspector Kate Ford von der London Metropolitan Police zeigte dem uniformierten Beamten vor dem Eingangstor von One Hyde Park ihre Polizeimarke. »Wo finde ich Detective Laxton?«
»Er spricht gerade mit dem Portier«, sagte der Beamte. »Ich werde ihn sofort über Ihre Ankunft informieren.«
»Tun Sie das.« Während Kate über die kreisförmige Auffahrt fuhr, verschaffte sie sich einen ersten Überblick über den Tatort. Das Gelände wurde von sechs uniformierten Polizisten abgeriegelt, die den Tatort vor neugierigen Blicken der Spaziergänger und Jogger abschirmten. Das nördliche Ende der Auffahrt und die Stufen zum Gebäudeeingang waren mit rot-weißem Absperrband gesichert. Über den Leichnam war ein weißes Tuch gebreitet worden, doch bislang hatte noch niemand das Blut des Opfers beseitigt. Die Beamten hielten sich offenbar an die Vorschriften. Kate Ford parkte und stellte den Motor ab.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 5.45 Uhr. Kate warf im Innenspiegel einen prüfenden Blick auf ihr Gesicht. Make-up okay, Haare ordentlich, keine Spur von Müdigkeit in den Augen. Dein erster Tag zurück im Dienst, dachte sie. Sieh zu, dass du ihn nicht vermasselst.
Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Ein paar Schritte entfernt parkte ein Rettungswagen. Die Fahrer standen rauchend und lachend daneben.
»Das hier ist ein Tatort, kein Kneipenbesuch an einem Freitagabend«, rief Kate ihnen zu. »Hier ist ein Mann gestorben. Verhalten Sie sich entsprechend.« Sie nahm einem fetten Typen die Zigarette aus dem Mund und trat sie auf dem Boden aus. »Steigen Sie in den Wagen und bleiben Sie dort, bis wir Sie rufen.«
Der Fahrer ließ kleinlaut den Kopf hängen. »Geht klar, Chefin.«
Katherine Elizabeth Ford war siebenunddreißig Jahre alt, groß, blond und gertenschlank. Sie trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug mit untadeliger Bügelfalte. Zielstrebig und entschlossen näherte sie sich dem Tatort. »Wie ein Hai, der sich auf sein Opfer stürzt«, hatte einer der Kollegen aus dem Morddezernat einmal über sie gesagt. »Nur dass ein Hai mehr Humor hat«, hatte ein anderer erwidert. Kates Gesicht besaß klare Konturen, die Nase war perfekt geschnitten, das Kinn entschlossen, die blauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Sie wusste, dass ihre Körperhaltung ein wenig zu steif, ihre Schritte zu schnell und ihr Lachen über die Scherze der männlichen Kollegen nicht herzhaft genug waren. Aber so war sie nun mal, und zum Teufel mit denen, die das nicht akzeptierten.
»Hallo, Kate!«
Ein durchtrainierter, weißhaariger Mann trat aus dem Gebäude und kam auf sie zu. Der schicke graue Anzug und das rosafarbene Seidenhemd waren für einen Detective auf Nachtschicht viel zu elegant. Als der Mann die Treppenstufen herunterkam, legte er eine Hand schützend auf seinen Kopf, damit der aufkommende Wind seine Frisur nicht durcheinanderbringen konnte. Himmel, dachte Kate. Der schöne Ken so früh am Morgen ist mehr, als ich ertragen kann. »Hallo, Ken.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Sieht ziemlich übel aus, was?«
Detective Ken Laxton vom Ermittlungsteam für ungeklärte Todesfälle schüttelte Kate die Hand und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Toten. »Der Unglücksrabe ist direkt auf den Stufen gelandet, dabei hätte er es sich nur drei Meter weiter auf einem gepflegten Stück Rasen gemütlich machen können.« Er lachte laut über seinen faden Witz.
»Von wo ist er gefallen?«, fragte Kate.
Laxton wies auf einen Balkon auf halber Höhe des Gebäudes. »Fünfter Stock. Wahrscheinlich Selbstmord. Die Tür des Apartments war fest verschlossen, der Alarm eingeschaltet. Biometrische Türschlosssicherung. Nur mit einem Daumenabdruck und einem Code zu öffnen. Die Wohnung ist so groß wie der Buckingham Palace.«
»Hatte er Familie? Frau? Kinder?«
»Nein. Junggeselle. Wahrscheinlich konnte er das Alleinsein nicht mehr ertragen.«
»Du glaubst also, es war Selbstmord?«, fragte Kate. »Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Bislang haben wir nichts gefunden.« Laxton zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Kate grübelte darüber nach. Fast alle Selbstmörder hinterließen einen Abschiedsbrief, wobei es den meisten egal war, wer ihn las. Ein solcher Brief war so etwas wie die letzten Worte. »Sein Vater ist der Duke of Suffolk? Der mit dem dicken Sparbuch?«
»Fünf Milliarden Pfund, um genau zu sein. Ihm gehören die Hälfte von Covent Garden und West End. Lord Russell hier war der einzige männliche Erbe. Tut mir leid, dass ich dich wecken musste, aber vor diesem Hintergrund kann ich mir keinen Fehler erlauben.«
Als Detective des Ermittlungsteams für ungeklärte Todesfälle wurde Laxton beim Fund einer Leiche als Erster gerufen, um festzustellen, ob das Opfer eines gewaltsamen Todes gestorben war oder Selbstmord begangen hatte und ob das Morddezernat eingeschaltet werden musste oder nicht.
»Schon in Ordnung«, sagte Kate. »Du hast das Richtige getan.«
Laxton wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber. Nach kurzem Schweigen fragte er: »Bist du denn wieder ganz auf dem Damm?«
»Ich bin in Topform.«
»Du siehst jedenfalls großartig aus«, sagte Laxton mit geheuchelter Anteilnahme. »Das mit Billy tut mir ehrlich leid. Uns allen.«
Billy war Leutnant William Donovan, Kates Verlobter und Vorgesetzter. Vor einem Monat hatte es bei einer Verhaftung eine böse Überraschung gegeben, als der Verdächtige plötzlich ohne jede Vorwarnung das Feuer eröffnete. Billy hatte eine Kugel in die Brust bekommen und war auf der Stelle tot gewesen. Kate war zweimal in den Unterleib getroffen worden. Das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen, aber darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken.
»Wenigstens musste er nicht leiden«, fuhr Laxton fort. »Aber es muss ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein. Da steht ihr nichts ahnend vor der Tür und glaubt, euren Mann schon so gut wie zu haben. Keine Chance mehr für den Typen, aus der Sache rauszukommen. Und im nächsten Moment ballert er los wie ein Irrer. Mach dir keine Vorwürfe, Kate. Niemand wusste, dass er vorbestraft war. Dich trifft keine Schuld.«
Kate sah Laxton fest in die Augen. Du würdest mich gern weinen sehen, du aufgemotzter eitler Pfau, dachte sie. Aber den Gefallen werde ich dir nicht tun. »Was hatte denn unser Freund hier auf dem Kerbholz?«, fragte sie und deutete auf den Leichnam zu ihren Füßen.
Ken Laxton runzelte die Stirn. »Das weiß niemand so genau. Er kam und ging, wie es ihm passte. Auf jeden Fall schien er ein bodenständiger Typ zu sein. Keiner von der Sorte, die den großen Zampano spielen und ihre Millionen zum Fenster rauswerfen.«
»Details?«
Laxton zückte sein Notizheft. »Der Anruf ging um 2.45 Uhr bei uns ein. Eine Bewohnerin hörte, wie der Körper auf den Stufen aufschlug. Eine Frau aus dem siebten Stock, eine Prinzessin aus Saudi-Arabien. Sie dachte, es wäre eine Bombe. Ein Anschlag der Al-Qaida im Hyde Park. Die Dienststelle in Mayfair schickte einen Streifenwagen. Er traf um 2.55 Uhr hier ein. Die Kollegen haben den Toten gefunden. Der Wachmann im Foyer hat ihn identifiziert.«
»Ist das alles?«
»Nein. Der Wachmann sagte, dass Russell durch die Garage ins Gebäude gekommen und mit dem Aufzug direkt zu seinem Apartment gefahren ist. Zehn Minuten später stürzte er vom Balkon.«
»Wo hatte er den Abend verbracht?«
»Er hatte mit seinen Eltern zu Abend gegessen.«
»Haben sie sich regelmäßig zum Essen getroffen?«
»Jeden Sonntag, behauptet der Wachmann. Russell hat sich immer um Punkt halb sieben auf den Weg gemacht.«
»War jemand bei ihm, als er zurückkam?«
»Der Wachmann sagt nein. Er hat beobachtet, wie Russell in den Aufzug stieg und zu seinem Apartment ging. Er ist sicher, dass Russell allein war.«
Kate nahm sich vor, selbst mit dem Wachmann zu sprechen. »2.55 Uhr ist reichlich spät, um von einer Verabredung mit den Eltern zurückzukommen, meinst du nicht auch?«
»Vielleicht finden diese Adeligen es ja schick, bis in den frühen Morgen zu dinieren.«
»Hat der Wachmann an Russells Verhalten etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
»Er hatte keine Gelegenheit, mit Russell zu sprechen.«
»Aber du hast gesagt, der Anruf sei von einer Bewohnerin gekommen. Warum nicht vom Wachmann? Hat er denn nichts bemerkt? Immerhin ist Russell ihm praktisch vor die Füße gefallen.«
»Es war stockdunkel. Wenn du in einem hellen Raum sitzt, siehst du nichts von dem, was draußen geschieht.«
»Aber er hätte den Aufprall hören müssen.«
»Er sagt, er habe die Kopfhörer seines iPods aufgehabt«, erwiderte Laxton. »Ich glaube, der Mann sagt die Wahrheit. Allerdings hatte er eine Fahne.«
»Und nicht von seiner Mundspülung, nehme ich an.«
»Richtig.«
Kate warf Laxton einen Blick zu. »Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sich im Dienst einen kleinen Drink genehmigt.«
Laxton lief feuerrot an, erwiderte aber nichts. Vor zwei Jahren war er wegen Trunkenheit im Dienst vorübergehend suspendiert worden, nachdem er die Kontrolle über seinen Wagen verloren und beinahe eine Mutter mit ihrer Tochter auf dem Bürgersteig überfahren hätte. Der Vorfall hatte Laxton die Beförderung zum Detective Chief Inspector gekostet und seine Karriere bei der Polizei dauerhaft eingefroren. Kate kannte die Einzelheiten des Falles sehr genau. Der zuständige Vorgesetzte war Leutnant William Donovan gewesen, Kates Verlobter, der im Dienst erschossen worden war.