Judy Reene Singer wurde in Alabama geboren und wuchs in Brooklyn und Long Island auf. Ihre Liebe zu Pferden begann in frühster Kindheit. Nach einem Berufsleben als Englischlehrerin entschied sie sich, die akademische Welt zu verlassen und Reitlehrerin zu werden. Sie unterrichtet Dressurreiten, arbeitet als Pferdetrainerin und ist die Ziehmutter von zwei Elefanten.
In Amerika hat sie sich bereits als Sachbuchautorin zum Thema Pferde einen Namen gemacht.
»Sprühend vor Witz und voller Hoffnung. Ein bezauberndes Buch«, schreibt People Magazine über diesen Roman.
Frühstück mit Elefant
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ute Leibmann
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2007 by Judy Reene Singer
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Still Life with Elephant«
Originalverlag: Broadway Books
Published by arrangement with Broadway Books, an imprint of The Doubleday Broadway Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2008 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Regina Maria Hartig
Titelillustration: © getty-images / Paul Bradbury / © Dunkin Donuts
Umschlaggestaltung: Bettina C. Reubelt
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0724-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Neelie aus diesem Buch wünscht sich mehr als alles andere eine Tochter, ich dagegen bin mit den beiden besten Töchtern gesegnet, die man nur haben kann. Ich könnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Dieses Buch widme ich von ganzem Herzen Jamie Elisabeth und Robin Laurie.
Als Matt sie vor zwei Jahren zum ersten Mal erwähnte, hatte ich bloß verstanden, dass er sich eine Collie-Hündin suchen wolle. Und ich dachte mir: Super, ich liebe Hunde!
So bin ich manchmal, ein bisschen zerstreut eben; und dann höre ich nur mit halbem Ohr hin. Ich schnappe ein paar Gesprächsfetzen auf und mache etwas ganz anderes daraus. Ich verstehe Sachen falsch. Manchmal höre ich gar nicht zu. Ich kann nichts dafür. Da ich ständig einen inneren Dialog mit mir selbst führe, bleibt nur wenig Platz für die Welt da draußen. Und wenn ich erst nervös bin, dann werde ich so gut wie taub. So geht es mir schon seit langem, und vielleicht war das auch eines unserer Hauptprobleme.
»Pinnwand-Widder«, sagte er zum Beispiel.
»Was für ein Widder?«, fragte ich ihn dann.
Und er stemmte die Hände in die Hüften, sah mich mit diesem seltsamen Blick an und wiederholte: »Ich habe gesagt, ich bin bald wieder da.«
Sie rief also bei mir an, die Kollegin meines Mannes, denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass er sich keineswegs eine Collie-Hündin, sondern eine Kollegin für seine Praxis gesucht hatte. Sie rief an, um mir mitzuteilen, dass sie schwanger sei.
Obwohl im Hintergrund laute Radiomusik lief – ich lasse eigentlich immer das Radio laufen –, konnte ich so viel auf Anhieb verstehen. Es gibt nichts misszuverstehen, wenn Ihnen jemand mitteilt, dass sie und Ihr Mann schwanger sind. »Neelie?«, sagte sie mit ihrer melodischen Stimme. »Tut mir wirklich leid, dass ich diejenige bin, die dir das sagen muss, aber Matt hat es einfach nicht über sich gebracht, und du solltest es wissen: Matt und ich sind schwanger. Im vierten Monat.«
Ist das nicht niedlich? Matt und ich sind schwanger, so drückt sich ein Paar heutzutage aus. Als ich klein war, wurde die Frau schwanger und dem Mann wurde mit einem Schulterklopfen gratuliert. Heute sind beide gemeinsam schwanger, auch der Mann ist an allem beteiligt und gehört mit dazu. Nur ich natürlich nicht, Matts Ehefrau.
Sie seien seit etwa anderthalb Jahren ineinander verliebt, sagte sie. Vielleicht auch schon seit zwei Jahren, ganz sicher sei sie sich nicht. Das hieß also, die Geschichte lief bereits ein paar Monate, nachdem er mir mitgeteilt hatte, dass er sich eine Collie-Hündin suchen wolle. Eine Collie-Hündin, die ihm beim Entenfangen helfen sollte. Was gar nicht mal so weit hergeholt schien, schließlich ist Matt Tierarzt und hat ab und zu auch mit verletzten Vögeln zu tun.
Aber nein, er hatte sich eine Kollegin gesucht, die sich mit um den Patientenstamm kümmern sollte.
Und um sein Liebesleben. Ganz offensichtlich hatte sie sich auch um sein Liebesleben gekümmert.
Sie hieß Holly, war Kleintierspezialistin und hatte gerade eine Scheidung hinter sich. Sie war aus Colorado hierher in den Staat New York gezogen und suchte nun eine Beteiligung an einer Tierarztpraxis, am liebsten in der Kleinstadt, in der ihre Eltern lebten – und in der auch wir wohnten. All das fand ich bei dem Begrüßungsdinner heraus, das ich für sie bei uns zu Hause gekocht hatte. Sie sah aus, als sei sie gerade eben von den Skipisten Aspens hereingeschneit. Blonde Haare, schlank und durchtrainiert, blaue Augen, so klar und frisch wie der Himmel in den Bergen.
Sie sprach davon, dass sie gern mit Wasserfarben male. Darüber war ich ein bisschen verwundert, denn sie schien mir eher ein Outdoor-Typ zu sein.
»Mit Wasserfarben? Ich hätte nie gedacht, dass Sie gern malen«, sagte ich.
»Wildwasserfahren«, sagte Matt und tauschte vielsagende Blicke mit ihr.
»Ja, Wildwasserfahren, mit dem Kajak«, wiederholte sie und warf ihre blonde, von der Sonne Colorados gebleichte Mähne zurück, während sie mir mit ihren gletscherblauen Augen einen amüsierten Blick zuwarf. Natürlich – wer malt heute schon mit Wasserfarben? Verlegen machte ich mich daran, die Sahne für die wunderbare Schokoladencremetorte zu schlagen, die eine meiner Spezialitäten ist. Und die sie dann ablehnte, weil sie angeblich KEINE SCHOKOLADE MOCHTE.
Also, ich bitte Sie!
Wahrscheinlich wollte sie sich bloß ihren schlanken, sehnigen Raubkatzenkörper erhalten, weil sie immer noch auf Beutezug war. Nur dass ich das damals leider noch nicht wusste.
Ich aß ein Stück von der Torte, und Matt bat um ein ganz kleines Stückchen, was er sonst nie tat, denn er liebt meine Schokotorte. Vielleicht hätte ich da schon Verdacht schöpfen sollen, dass irgendwas im Busch war.
Sie konnten sehr gut zusammenarbeiten. Das sagte Matt jedenfalls immer. Sie schien stets zu ahnen, was als Nächstes getan werden musste, und hatte es schon fertig, ehe Matt sie überhaupt darum bat. Sie war immer voller Tatendrang und guter Ideen. Sie konnte gut operieren, war gut in der Diagnostik, und mit den Kunden kam sie auch gut zurecht.
Und mit Matt natürlich – mit dem kam sie sehr gut zurecht.
Ich bin verrückt nach Pferden, und so haben Matt und ich uns auch kennengelernt. Das war vor zehn Jahren. Ich war achtundzwanzig, hatte einen Universitätsabschluss in Sozialarbeit und meine eigene kleine Privatpraxis als Therapeutin. Ich hatte ein Pferd, obwohl ich es nur selten ritt. Ich befand mich in dem typischen Dilemma, in dem sich die meisten Pferdebesitzer befinden: Ich musste arbeiten, um den Unterhalt meines Pferdes zu bezahlen, kam aber kaum dazu, es zu reiten, weil ich so viel arbeiten musste, um seinen Unterhalt zu finanzieren. Also musste es sein Dasein meistens auf der Weide fristen.
Es hieß Mousi, eine Kurzform für Maestoso Ariela, was zugegebenermaßen ein komischer Name für einen Hengst ist, aber er war ein Lipizzaner, und diese Rasse wird nach Mutter und Vater benannt. Dahinter steht ein egalitärer Gedanke – genau wie bei den Isländern, die »son« und »dottir« an ihre Nachnamen anhängen. Auf diese Weise wird wenigstens niemand außen vor gelassen.
Mousi hatte eine Kolik. Er war sechzehn Jahre alt und mein Ein und Alles, und jetzt sah er sich nach seinem Bauch um und rollte die Oberlippe zurück wie ein Weinkenner bei einer Verkostung. Ich wusste sofort, dass das ein Zeichen für Bauchschmerzen war. Mein alter Tierarzt hatte sich gerade zur Ruhe gesetzt, und ich musste mir einen neuen suchen. Matt hatte schon eine Zeit lang in unserer Gegend praktiziert, und von Reiterfreunden hatte ich gehört, dass er ein Supertyp sei. Ein Supertierarzt, meine ich natürlich, und ein netter Typ noch dazu. Er kam sofort, was bei einer Kolik sehr wichtig ist, und konnte Mousi helfen. Seine Art zu arbeiten gefiel mir. Ruhig und selbstsicher, sanft zu Mousi und sehr geschickt, als er ihm die Nasenschlundsonde einführte, um den Bauch mit warmem Wasser und Mineralöl zu füllen.
»Wohl vergessen, genug Öl nachzufüllen«, scherzte er, während Mousis Kolik langsam nachließ.
Mir gefiel sein Sinn für Humor.
Als wir fertig waren, griff ich nach meinem Portemonnaie, um ihn zu bezahlen.
»Sollen wir noch Essig geben?«, fragte er.
»Essig geben?«, erkundigte ich mich verwundert. »Gegen die Kolik?«
»Essig?« Er schaute mich verwirrt an. Mit diesem typischen verwirrten Gesichtsausdruck, der mir zeigt, dass ich offensichtlich irgendwas nicht richtig gehört hatte.
»Essen gehen«, sagte er dann. »Sollen wir mal zusammen essen gehen?«
»Ja, gut«, erwiderte ich verlegen und tat so, als müsse ich mich plötzlich darauf konzentrieren, die Dollarscheine in meinem Portemonnaie zu ordnen.
Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Ich verlangte nicht viel von unserer Beziehung, und er war die meiste Zeit über sowieso zerstreut und damit beschäftigt, sich als Veterinär mit Spezialisierung auf Pferde zu etablieren. Ich war nicht ganz bei der Sache, er war nicht ganz bei der Sache – wir ergänzten uns perfekt. Wir verliebten uns. Wir heirateten.
Sechs Jahre später übernahm er die Praxis von seinem Seniorpartner, der in den Ruhestand ging. Mittlerweile hatte sich die Praxis stark vergrößert und wuchs immer weiter. Alles lief bestens. Und dann wollten wir Kinder bekommen. Das war uns jedoch nicht vergönnt, und deshalb suchten wir sogar einen Facharzt für Reproduktionsmedizin auf, der von den Haaren in unseren Nasenlöchern bis hin zum Teppichboden unseres Schlafzimmers alles austestete. Nach ein paar endlos langen Monaten saßen wir ihm dann an seinem Schreibtisch gegenüber. Vor sich hatte er unsere Unterlagen liegen wie ein Potentat, der Gericht hielt und uns das ernste Urteil verkündete: Unfruchtbarkeit. Matt habe ringendes Spermiengezappel, erklärte er. Ich stellte mir sofort vor, wie sich die Spermien in Matts Hoden Ringkämpfe lieferten, und kicherte ein bisschen. Matt und der Fruchtbarkeitsdoktor schauten mich beide ernst an. An einer verringerten Spermienzahl ist schließlich überhaupt nichts Komisches.
Aber anscheinend hatte seine Spermienzahl immer noch ausgereicht, um mit einer anderen ein Kind zu zeugen.
Nachdem Holly und ich miteinander telefoniert hatten, legte ich auf. Genau genommen legte ich gar nicht auf, sondern ich ließ den Hörer einfach auf dem Küchentisch liegen und ging weg. Ich marschierte starr aus dem Haus und gleich in den Stall nebenan – wie eine dieser Zombiefiguren in Dawn of the Dead. Grace, mein Boston Terrier, folgte mir mit besorgtem Gesichtsausdruck.
Ich sattelte Mousi, führte ihn auf den Reitplatz und fragte ihn, ob Matt wohl in dieser Nacht nach Hause kommen würde. Für ein Pferd ist Mousi ziemlich gescheit. Wie setzt man bloß eine Scheidung in Gang?, fragte ich ihn. Denn daran, dass ich mich scheiden lassen würde, bestand für mich kein Zweifel. Wie sollte ich das durchstehen? Wie sollte ich jeden Morgen mit dem Bewusstsein aufwachen, dass Matt nicht mehr da war? Und was würde dann geschehen? Sollte ich vielleicht nach Colorado ziehen und dort die Ehe einer anderen Frau zerstören als eine Art Handelsabkommen auf Gegenseitigkeit?
Ich ritt Mousi am langen Zügel und redete dabei weiter auf ihn ein.
Mit Pferden kann man sich wunderbar unterhalten, denn man muss sich nicht anstrengen, die Antworten zu verstehen. Sie lügen nie. Mousi hörte einfach bloß zu, bewegte die Ohren vor und zurück wie Signale, und mir war klar, dass er tiefes Mitgefühl mit mir empfand.
Wir führten eine lange Unterhaltung.
Wie oft habe ich Holly schon zum Essen eingeladen?, fragte ich Mousi. Dutzende Male. Wie oft hatte ich ihr meine besten Tupperware-Dosen mit Essen gefüllt ins Büro geschickt, weil das arme Ding ja nie Zeit zum Kochen hatte? Dutzende Male. Wie oft hatten wir sie in unsere Freizeitplanung einbezogen, weil Matt meinte, dass sie einsam sei? Wie oft hatte ich Matt dabei geholfen, das passende Weihnachts-, Geburtstags- oder Danke-für-die-vielen-Überstunden-Geschenk auszusuchen? Ha! Und die ganze Zeit über, sagte ich zu Mousi, die ganze Zeit über haben sie und Matt hinter meinem Rücken … Nun ja …
Einer Collie-Hündin kann man eben einfach nicht trauen.
»Also ist er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen?«, erkundigte Alana sich bei mir. Sie ist meine allerbeste Freundin, und ich hatte sie gleich am nächsten Morgen angerufen. Ich hielt den Atem an, um den Schluckauf zu unterdrücken, den ich vom vielen Weinen hatte. Die ganze Nacht hatte ich mehr oder weniger durchgeheult.
»Nein«, erwiderte ich, und eine Kaskade aufgestauter Hickser entwich mir. »Er ist gar nicht nach Hause gekommen.«
»So ein Scheißkerl!«, zischte sie. »Man hätte eigentlich erwarten können, dass er so anständig ist, dich selbst anzurufen.«
»Anständig wäre es gewesen, sie gar nicht erst zu vögeln.« »So eine falsche Schlange!«, sagte sie. »Und er ist ein Feigling«, fügte sie hinzu. »Du wirst ihm nie mehr Trauben im Regen bringen.«
»Trauben im Regen bringen?«
»Vertrauen entgegenbringen«, sagte sie.
»Die Sache ist ja die«, brachte ich mit einem Hickser hervor, »dass ich ihr auch vertraut habe. Sie ist bei mir zu Gast gewesen. Sie hat mein Essen gegessen.« Hicks. »Sogar das geheime Stollenrezept meiner Mutter habe ich ihr anvertraut.« Hicks, hicks.
»Ich finde, du solltest dich eher darüber aufregen, dass du ihr Matt anvertraut hast«, erwiderte Alana trocken.
»Zuallererst mal habe ich natürlich Matt vertraut«, sagte ich. »Ich habe ihm vertraut, dass er seinen Teil des Eheversprechens hält. Und wenn man jemandem vertraut, sollte man sich doch eigentlich keine Sorgen darüber zu machen brauchen, ob man denen vertrauen kann, die mit ihm zu tun haben.« Dann musste ich mich kurz entschuldigen, um meine dritte Schachtel Papiertücher in vierundzwanzig Stunden zu holen.
»Und was jetzt?«, fragte Alana, als ich wieder ans Telefon kam.
Ich hatte keine Ahnung.
Immer wieder musste ich daran denken, wie ich dann endlich tatsächlich schwanger geworden war. Letztes Jahr, nach vier In-Vitro-Befruchtungen. Leider war die Schwangerschaft ektopisch, wie es im Fachjargon so schön heißt, wenn das befruchtete Ei sich außerhalb der Gebärmutter entwickelt. Ich hatte eine Notoperation, bei der ich einen Eierstock und einen Eileiter einbüßte. Nach der Op kam der Gynäkologe in mein Zimmer und teilte mir ganz beiläufig mit: »Tut mir leid, aber Ihren Eierstock und einen Ihrer Eileiter haben wir verloren.« Es klang fast wie: Ach je, wo hab ich die blöden Dinger bloß hingelegt?
Ich dachte darüber nach, wie ektopisch sich alles entwickelt hatte. So ektopisch, dass Matts Baby sich jetzt in der Gebärmutter einer anderen Frau befand.
»Soll ich rüberkommen und ein paar Tage bei dir bleiben?«, fragte Alana.
»Nein«, wehrte ich ab, »du hast doch genug mit deiner eigenen Familie zu tun. Und ich muss ein bisschen allein sein.« »Du solltest aber jemanden um dich haben«, meinte sie. »Du solltest mal richtig ausbrechen.«
Ich fragte sie nicht, was sie damit gemeint hatte. Ich ging ihren Satz später noch mal im Geiste durch: »Du solltest dich mal richtig aussprechen«, hatte sie vermutlich gesagt. Die nächsten drei Tage verbrachte ich allein mit meiner CD-Sammlung und spielte vor allen Dingen Black Sabbath. Ich war wütend. Traurig. Wütend. Traurig. Fuchsteufelswild. Ich machte nicht mal mehr meine morgendliche Donut-Tour, die ich sogar noch geschafft hatte, als ich mir vor zwei Jahren das rechte Bein gebrochen hatte. Damals hatte ich in meinem Geländewagen mit Gangschaltung einfach alle Pedale mit dem linken Fuß betätigt, denn auf meine Marmeladen-Donuts konnte ich nicht verzichten.
Matt rief nicht an. Und ich hatte nicht die Absicht, mich bei ihm zu melden. Was hätte ich auch sagen können? »Wie aufregend, dass du jetzt endlich eine richtige Familie gründen kannst! Brauchst du Hilfe bei der Auswahl des Namens?«
Matt schickte weder eine E-Mail, noch schrieb er, telegrafierte oder gab Rauchzeichen; er ließ mich in keiner Weise wissen, ob es ihm leidtat, ob er es bereute oder ob er überhaupt noch lebte. Es schien, als sei er in einem schwarzen Loch verschwunden. Oder vielleicht war ich ja in ein schwarzes Loch gefallen; jedenfalls hatte ich ein Gefühl, als wäre ich über die Bordsteinkante getreten und in ein tiefes Jammertal gestürzt. Ging er immer noch zur Arbeit? Mit ihr zusammen? Ganz so, als wäre alles genau wie früher, nur dass er jetzt abends zu einem anderen Menschen nach Hause zurückkehrte?
Ich hoffte bloß, dass sie zehnmal am Tag kotzen musste und zunahm wie eine Zuchtstute.
Am Donnerstag, drei Tage nach Hollys Telefonanruf, meldete sich Matt endlich bei mir. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie das tun würde«, erklärte er, als wäre das eine Entschuldigung.
»Dass sie was tun würde?«, fragte ich. »Schwanger werden oder mich anrufen?«
»Eigentlich beides«, sagte er. »Ich war total entsetzt, als sie es mir erzählt hat. Ich habe es einfach nicht fertiggebracht, dir gegenüberzutreten.«
»Und wenn sie mich nicht angerufen hätte – was wäre dann passiert? Wäre dann die ganze Geschichte einfach so weitergegangen, bis das Kind aufs College kommt? Immerhin ist sie schon im vierten Monat! Ich habe dir vertraut …« Meine Stimmbänder versagten, und ich brachte nur noch einen gequetschten Ton hervor, der wie das Bellen eines Seehunds klang.
»Neelie, es tut mir so leid«, sagte er. »Ich wohne nicht mal bei ihr, ich wohne im Motel. Bis wir miteinander reden können, du und ich. Wir müssen unbedingt miteinander reden.«
»Was gibt es da noch zu reden?«, fragte ich.
»Ich war … Ach, ich weiß auch nicht.« Er holte tief Luft. »In der Praxis war so viel zu tun, ich hab unter einem unheimlichen Druck gestanden. War total im Stress, und sie und ich waren jeden Tag bis spätabends zusammen und du …«
Ich wusste, dass er spät nach Hause gekommen war. Von Woche zu Woche später. Ich hatte ihm leckere Mahlzeiten auf die Küchentheke gestellt und Zettelchen mit Liebesbotschaften in seine Unterwäsche gesteckt, während er morgens duschte, obwohl er seit Wochen zu erschöpft gewesen war, um mit mir zu schlafen. In der Mittagspause hatte ich ihn von meinem Handy angerufen, während ich auf einem steigenden Pferd saß, verdammt noch mal. Alles hatte ich getan, um die Verbindung zu ihm zu halten.
»Du hast ein Verhältnis mit ihr gehabt, als ich das Baby verloren habe!«, stieß ich hervor, während eine unfassbare Wut mir das Herz gegen die Lunge zu drücken schien.
Er antwortete nicht. »Ich hatte das Gefühl, dass wir irgendwie auseinandergedriftet sind«, sagte er schließlich. »Ich hab mich allein gespült.«
Vielleicht hatte er auch »Ich hab mich allein gefühlt« gesagt, inzwischen hörte ich schon gar nicht mehr hin. Dann legte ich auf.
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht nur taub gewesen war, sondern auch noch blind.
Wir sind alle schon einmal von jemandem gerettet worden. Grace, mein Boston Terrier. Alley, meine Katze. Und sogar Mousi. Alles Gerettete. Ich habe Freunde in Not gerettet und Familien aus Lebenskrisen. Schließlich habe ich Sozialarbeit studiert. Ich bin zum Retten ausgebildet worden.
Ich will Sie nicht mit der Aufzählung all meiner Geretteten oder den Details der Rettungsaktionen langweilen. Nur so viel: Grace fand ich auf dem Weg zur Arbeit mitten auf der Straße, und Alley traf ich als junges Kätzchen, halb erfroren, neben dem Donut-Laden.
»Diese verdammte Wegwerfmentalität«, sagte Matt angewidert, als ich Grace eilig in seine Praxis brachte, um ihren gebrochenen Kiefer verarzten zu lassen. Sie war vielleicht fünf Monate alt, und wir hängten überall Zettel auf und warteten, dass jemand sie abholte. Doch niemand meldete sich, und schließlich gab ich ihr den Namen Grace – Gnade –, weil sie immerhin gnädig genug war, einer Hälfte der menschlichen Rasse zu vergeben, und mich bedingungslos liebte. Einer Hälfte, wie gesagt, denn sobald ihr Kiefer wieder geheilt war, bekamen alle Männer außer Matt ihre Wut und ihre kleinen scharfen Zähne zu spüren, die sie ihnen gewöhnlich irgendwo unterhalb der Knie in die Beine schlug, wenn sie es wagten, unser Haus zu betreten.
Mousi entdeckte ich bei einem Pferdetrainer, der ihn schlecht behandelt hatte, und kaufte ihn auf der Stelle.
Wahrscheinlich fand ich eine gewisse Genugtuung in dem Gedanken, dass ich irgendwie auch Matt gerettet hatte. Er war einsam gewesen und sehnte sich nach einer Familie. Er war ein Einzelkind und hatte seine Eltern schon früh verloren. Er suchte ein Zuhause, er wollte irgendwohin gehören. Er wünschte sich daheim eine Frau, die er anrufen konnte, um zu sagen, dass es spät werden würde, und er wünschte sich, dass sie sich um ihn sorgte und ihm antwortete: »Okay, Schatz, ich warte auf dich.« Er wollte sagen können: »Oh, das will ich lieber erst mal mit meiner Frau besprechen.«
All das gab ich ihm und noch viel mehr. Ich bot ihm ein Zuhause und Mahlzeiten und Urlaube, wo wir bis mittags irgendwo anreisen mussten. Ich schenkte ihm Schwiegereltern und Liebe. Ach, Gott, ich liebte ihn! Ich gab ihm zusätzlich mein Kissen, wenn sein Nacken schmerzte. Ich überließ ihm das letzte Stück Schokoladentorte. Ich schaltete das Radio aus, das ich sonst immer laufen ließ, weil er es ruhig liebte, wenn er heimkehrte. Im Winter ließ ich das Fenster offen, weil er gern im Kalten schlief. Ja, sogar mit kalter Luft versorgte ich ihn!
In gewisser Weise rettete er aber auch mich. Vor dem Alleinsein. Vor der düsteren Stimmung, die mich manchmal überfiel, weil ich noch nicht zum professionellen Reiten zurückgefunden hatte.
Vielleicht glaubte Holly ja ebenfalls, dass sie Matt retten würde. Der arme überarbeitete und unterschätzte Matt, gefangen in einer Ehe mit einer Frau, die ihn jeden Sommer volle zwei Wochen allein ließ, um ihre Reitschüler auf alberne Turniere zu begleiten. Der gutaussehende, verführerisch unerreichbare Matt. Es muss ihr das Herz erwärmt haben, ihn von alldem zu erretten!
Am Freitag rief er mich wieder an. Ich ritt gerade draußen ein Pferd, das ich zur Ausbildung hatte. Ich hatte mein Handy an die Seitentasche meiner Reithose geklemmt und auf Vibrationsmodus gestellt, damit das Pferd nicht erschreckte. Ich spürte das Vibrieren und wollte das Pferd zum Stehen bringen, um nachzuschauen, wer anrief. Doch das Pferd gehorchte nicht. Die Stute ging rückwärts, brach seitwärts aus, machte einen Satz nach vorn und stieg dann ein paarmal leicht, doch es gelang mir, einen Blick auf die Telefonnummer zu erhaschen. Es war Matt. Er rief von seinem Handy an, das er normalerweise im Auto lässt, was bedeutete, dass er anscheinend nicht aus der Praxis telefonieren wollte. Als ich die Nummer gesehen hatte, klemmte ich das Handy wieder an die Tasche und ließ die Mailbox anspringen. Später würde ich den Anruf löschen, ohne ihn mir anzuhören.
Ich ritt Isis, eine große dunkle Fuchsstute mit braunen Apfelflecken, die sich nicht zum Anhalten bewegen ließ. Deshalb hatte ich sie auch zur Ausbildung bekommen. Sie wollte einfach nicht stehen bleiben. Stattdessen sprang sie herum wie Baryschnikow. Vermutlich hatte jemand mal vergeblich versucht, ihr das Piaffieren beizubringen, eine Dressurlektion der Hohen Schule, bei der das Pferd auf der Stelle trabt, und jetzt verunsicherte sie das immer noch. Deshalb blieb ich ganz ruhig sitzen, tätschelte ihr den Hals und wartete. Ich dachte an Matt, daran, wie ich im Bett immer seine Hand getätschelt hatte und wie er sie dann auf sein Herz zu legen pflegte. Das sollte heißen, dass er mich liebte, aber zu müde war, es auszusprechen. Manchmal zog er sie auch zu seinem Penis herab und ließ sie dort liegen, was hieß, dass er mich begehrte, aber im Augenblick zu müde war, um etwas zu tun, und dann schliefen wir so ein.
Zehn Minuten vergingen, und ich saß einfach nur da. Zwanzig. Ich verlangte nichts von Isis. Ich saß einfach nur entspannt im Sattel. Ich achtete darauf, sie kaum mit den Beinen zu berühren, ich hielt die Zügel ruhig. Ich dachte an Matt und ließ die Tränen über mein Gesicht laufen.
Isis hatte keine Ahnung davon, wie verstört ihre Reiterin war. Das Tier hatte eigene Probleme. Und ich saß da, während mir bewusst wurde, dass ich irgendwann wirklich noch einmal mit Matt reden musste. Dann würde ich ihm aber ganz genau zuhören müssen.
Das ist ein Grund, warum ich Pferde trainiere: Sie machen nicht viele Worte, sie bewegen sich einfach nur. Sie heben den Kopf, lassen die Ohren spielen, schlagen mit dem Schweif oder verlagern ihr Gewicht von einer Seite auf die andere. Sie laufen weg. Oder sie bewegen sich gar nicht erst vorwärts, sondern bäumen sich gleich auf. Alles hat eine Bedeutung. Diese Art von Unterhaltung kann ich verstehen. Pferde sprechen Bände, ohne ein einziges Wort zu sagen. Sie lügen nie. Sie sagen nie: »Tut mir leid, Schatz, aber gerade haben wir noch diesen Notfall reinbekommen. Es wird wohl spät werden«, und vögeln dann in der Gegend herum.
Ich hörte höflich zu, was Isis mir mit ihrem Körper mitteilen wollte, und dann erzählte ich ihr meinen Teil und gab ihr zu verstehen, was ich von ihr wollte. Alles, ohne dass ein einziges Wort gewechselt wurde. Ich verstand, warum Isis herumtänzelte, wenn ich ihr Stillstand gebot. Sie gab mir zu verstehen, dass man sie früher, wenn sie stehen geblieben war, mit einer Gerte geschlagen hatte, um sie dazu zu bringen, auf der Stelle zu traben. Jetzt hatte sie Angst, stehen zu bleiben. Deshalb saß ich ruhig da und erklärte ihr mit meinem Körper, dass wir einfach nur stehen bleiben und nichts tun würden, bis sie sich entspannte.
Ich schaute auf meine Uhr. Es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis sie anfing, auf dem Mundstück herumzukauen, und ein langes Schnauben ausstieß, das mir verriet, dass sie mich endlich verstanden hatte. Sie senkte den Kopf und stand still. Als Belohnung für ihr Verhalten stieg ich sofort ab. Dann griff ich in die Tasche, holte ein Stück Zucker heraus und gab ihr das Leckerli. Sie hatte etwas gelernt. Sie hatte sich entschieden, mir zu vertrauen, und ich fühlte mich geehrt.
Auch ich hatte inzwischen eine Entscheidung getroffen.
Als ich ins Haus zurückkam, rief ich Alana an. »Ich brauche Hilfe«, sagte ich, »ich habe einige größere Aufräumarbeiten zu erledigen.«
»Was genau willst du denn aufräumen?« Ihre Stimme klang argwöhnisch.
»Nur ein bisschen alten Kram. Machst du mit?«
»Willst du deinen Raben auch rasieren?«
»Warum sollte ich einen Raben rasieren?«
»Ob du deinen Knaben auch ausradieren willst, habe ich gefragt.«
»Genau.«
Alana besorgte sich einen Babysitter für ihre beiden kleinen Mädchen, brachte eine Pizza mit extra viel Knoblauch mit und verbrachte den Rest des Tages und die halbe Nacht damit, mir dabei zu helfen, auch noch das kleinste bisschen Matt aus dem Haus zu tilgen. Jedes Kleidungsstück, jede Socke, jedes Bild. Sie half mir sogar dabei, seinen geliebten Lehnstuhl auf den Bürgersteig zu schleifen. Hätte ich seine Dna von allem abkratzen können, was er je berührt hatte, hätte ich auch das getan. Immer wieder musste ich an seine Bemerkung über die Wegwerfgesellschaft denken. Welche Ironie! Auch er hatte mich weggeworfen, ganz kurz und schmerzlos, und war zu Familie Nummer zwei weitergezogen.
»Diese verdammte Wegwerfmentalität!«, hatte er gesagt, und ich hatte nun wider Willen Teil daran. Wahrscheinlich kann man alles wegwerfen, denn jetzt schnitt ich seine Bilder aus Alben heraus, zerriss seine Hemden, dehnte seine Pullover, verknotete seine Unterhosen und schaffte dann alles nach draußen an den Straßenrand, wo die Sachen so lange vergeblich auf Rettung warten würden, bis der Müllwagen kam und sie entsorgte. Wenn das keine Ironie war!
Oben auf dem Dachboden stand noch eine letzte Kiste, in der sich sein Kram aus der Zeit befand, als er Tiermedizin studiert hatte. Ein paar Bücher, ein altes Stethoskop, ein fleckiger Laborkittel, ein großes Foto von seinem Abschlussjahrgang in einem schlichten schwarzen Rahmen. Ich setzte mich auf den alten kaputten Windsorstuhl, den wir eigentlich immer mal hatten aufarbeiten wollen, und betrachtete das Bild. Da stand er im weißen Kittel, in der hinteren Reihe, weil er so groß ist. Er trug einen Schnurrbart und sah sehr jung und ernst aus. Ich hatte ihn noch nie mit Schnurrbart gesehen; er sah ganz anders aus als der Matt, den ich kannte. Wahrscheinlich hat er ihn sich nach seinem Abschluss abrasiert. Durch den Schnurrbart war er nur schwer zu erkennen, doch er war es. Dann schaute ich genauer hin.
Und da entdeckte ich sein Geheimnis.
Geheimnisse sind wie Pflanzen. Lange Zeit verbringen sie tief vergraben im Erdboden, doch irgendwann wachsen ihre Triebe empor und zeigen sich. Das liegt in ihrer Natur. Zuerst schiebt sich nur ein zarter grüner Trieb hervor, doch dann wird er langsam, aber unaufhaltsam immer größer und kräftiger und entfaltet sich, und dann ist es plötzlich da: Ein dickes, fettes Geheimnis steht in voller Blüte direkt vor einem und duftet nach Täuschung und Betrug.
Ich hatte Matts Foto aus dem Tiermedizinstudium vor mir und betrachtete es Millimeter für Millimeter – wie ein seltenes Untersuchungsobjekt unter dem Mikroskop.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Matt und Holly zusammen studiert hatten. Sie standen nebeneinander. Sie reckte das Kinn empor, und ihr langes, sonnengebleichtes Haar wurde vom Wind zur Seite geweht. Sie hatte ein strahlendes Lächeln, blitzendweiße Zähne, ein herzförmiges Gesicht. Er blickte sie ernst und aufmerksam an. Ich kannte diesen Blick und musste das Foto umdrehen und aus der Hand legen.
»Wahrscheinlich hat sie ihn deshalb auch wegen eines Jobs angerufen«, sagte Alana, nahm das Foto und musterte es. »Die beiden hatten was laufen. Eine alte Geschichte.«
»Er hat mir nie erzählt, dass er sie von früher kennt«, sagte ich. Mir war ganz schlecht geworden. Dann zerriss ich das Foto und stopfte es in einen grünen Plastikmüllbeutel, dahin, wo alte Geschichten hingehören.
»Bin ich denn so hässlich?«, fragte ich Alana, nachdem wir fertig waren. Wir tranken in der Küche Tee, und es war schon weit nach Mitternacht. Sie musste am nächsten Morgen in ihrer therapeutischen Praxis Patienten beraten, zu Hause wartete ihr Mann auf sie, und daher wollte sie bald gehen. Im Hintergrund spielte das Radio leise Vivaldi. Ich mag Vivaldi, weil er einem nichts abverlangt. Man muss nicht über ihn nachgrübeln. Wenn man Vivaldi hört, kann man seine Gefühle unterdrücken und es einfach der Musik überlassen, die Leeräume mit ihren kontrollierten, vorhersagbaren Melodiefolgen zu füllen.
»Du bist sehr hübsch«, sagte sie. »Matt muss verrückt sein, dass er dich verlässt.« Ich musterte mein Gesicht in der Vertiefung des Löffels, mit dem ich gerade Zucker in meinen Tee gerührt hatte. Ich habe ein hübsch geformtes Gesicht. Ich habe langes, dichtes braunes Haar und grüne Augen. Ich bin schlank. Ich habe eine Reiterfigur. Die Reitlehrerin, die ich als Kind hatte, meinte das immer als Kompliment. »Du hast eine Reiterfigur«, sagte sie. Als sie es das erste Mal sagte, war ich elf, und ich dachte, dass sie irgendetwas an mir bemängeln wollte. Ich bekam allmählich ein bisschen Busen und Hüften, was ich schrecklich fand, hatte gerade meine erste Periode bekommen, was ich ebenfalls schrecklich fand, und jetzt sollte ich plötzlich auch noch eine Reiterfigur haben. Doch sie hatte damit gemeint, dass ich einen kurzen Oberkörper und lange Beine habe, die ich gut um den Bauch eines Pferdes legen kann. »Du scheinst nur aus Beinen zu bestehen«, sagte sie immer. Nur aus Beinen. Und dann dachte ich mir: Prima! Schließlich wollte ich das Reiten zu meinem Lebensinhalt machen.
Nur aus Beinen, dachte ich jetzt. Soll das etwa heißen, dass ich kein Gehirn habe?
»Wahrscheinlich sehe ich ganz okay aus«, murmelte ich.
»Ich fand immer schon, dass du toll aussiehst«, sagte Alana. »Ich wünschte, ich hätte deine Figur!«
Alana ist klein und ziemlich rundlich, mit rotblonden Locken, hellblauen Augen und Sommersprossen. Ich wünschte, ich hätte ihre Gelassenheit.
Und ihre beiden Töchter. Ich hätte immer gern eine Tochter gehabt.
Schweigend tranken wir unseren Tee, nur ab und zu musste eine von uns von der Knoblauchpizza aufstoßen.
»Holly sollte man lieber aufhängen«, sagte Alana schließlich angewidert. »Wie kann man ein Kind bloß Holly nennen?«
»Erzähl mir jetzt bloß nichts von Kindernamen«, sagte ich.
Schweigend aßen wir einige Stücke Pizza. »Ich hätte lieber zwei Pizzas holen sollen«, sagt Alana, nachdem wir beide Anspruch auf das letzte Stück angemeldet hatten. »Heute ist ganz offensichtlich ein Abend für zwei Pizzas!«
»Du kannst es haben«, lenkte ich ein. »Schließlich bist du meine Freundin.«
»Und als deine Freundin will ich dir noch einen guten Rat geben«, sagte sie, während sie eine Prise Salz auf das letzte Pizzastück streute. »Pass bloß auf deine Finanzen auf. Das Haus. Die Bankkonten. Prüfe noch mal alle deine Anlagen! Schau nach, ob sie noch vollständig sind!«
»Ich habe doch nur eine Anlage, und die läuft noch einwandfrei. Außerdem macht sich Matt doch gar nichts aus Musik.«
Sie schlug die Augen empor. »Geldanlagen meine ich, Schätzchen. Wertpapiere, Anleihen, Aktien, Festgeldkonten, Geldmarktzertifikate.«
»Oh«, winkte ich ab. »Matt würde nie etwas Unmoralisches tun.«
»Außer eine andere Frau zu schwängern«, wandte sie ein. »Geld ist doch was ganz anderes«, meinte ich. »Es gibt doch keinen heftigen hormongesteuerten Trieb nach Geld.«
»Jedenfalls nicht, dass ich wüsste«, meinte Alana.
Ich nahm mir Alanas Rat zu Herzen und suchte am nächsten Tag meine Bank auf. Die Bankangestellte war ganz reizend und tüchtig und starrte sehr lange intensiv auf den Bildschirm ihres Computers, ehe sie nach hinten ging und mit der Filialleiterin wiederkam. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie wollte mir die schlechten Nachrichten lieber nicht selbst überbringen.
»Ihre Konten sind alle aufgelöst worden«, sagte die Filialleiterin und blickte nochmals prüfend auf den Bildschirm. »Die Geldmarktzertifikate und Festgeldkonten sind ausbezahlt worden. Das Einzige, was Sie noch haben, ist Ihr Girokonto. Das Guthaben beträgt zur Zeit zweihundertachtundzwanzig Dollar und fünfundsiebzig Cent.«
»Wie kann das sein?«, fragte ich, atemlos vor Schreck. Ich hielt mich an der Theke fest, die sich zwischen uns befand, um nicht auf den Boden zu taumeln.
»Doktor Sterling hat die Kastrationen von den Sexnomaden vorgenommen«, sagte sie etwas ungeduldig, denn es war Samstagnachmittag und sie wollten gleich schließen.
Ich vermute, sie sagte »die Transaktionen vor sechs Monaten vorgenommen«, aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle. Alles, für das wir gearbeitet hatten, war weg. Ich wandte mich ab, damit sie meine Tränen nicht sah. Ich schaffte es kaum bis zu meinem Auto. Wenn es ein Wort gab, das über »fassungslos« hinausging, dann traf es auf mich zu. Ich war fassungslos und fühlte mich geprügelt. Fassungslos geprügelt vielleicht. Ich hatte nicht den kleinsten Verdacht gehegt. Doch dann tat ich etwas, von dem ich mir geschworen hatte, dass ich es nie tun würde. Ich suchte mir einen Anwalt.
Hätte ich immer noch Beratungsgespräche mit Therapieklienten geführt, dann hätte ich der gekränkten Ehefrau vermutlich geraten, das Gespräch mit dem treulosen Ehemann zu suchen, wenn sie die Beziehung retten wolle. Ich hätte ihr empfohlen, sich um einen Dialog zu bemühen und auch ein Stück weit selbst die Verantwortung für den Kommunikationsverlust zu übernehmen. Ich hätte ihr empfohlen, verschiedene Strategien in Erwägung zu ziehen, die ich ihr voller Zuversicht aufgezählt hätte, bis sie eine fand, die funktionierte. Wollen Sie selbstgerecht sein – oder lieber glücklich? Leiten Sie den Heilungsprozess ein, hätte ich ihr geraten, und wachsen Sie daran!
Ein Supervorschlag.
Nichts als leeres Gerede!
Als ich meine Praxis noch hatte, fiel es mir irgendwann immer schwerer, mich auf die Probleme zu konzentrieren, die meine Klienten mitbrachten. Es wurde immer schwieriger, ihnen aufmerksam zuzuhören und sorgfältig auf ihre Worte zu achten. Ihre Sätze klangen wie die Betreffzeilen dieser Spam-E-Mails; ein Haufen Nonsensworte, die man sich einfallen lässt, um den Spamfilter zu umgehen. Fuchsteufel. Schneeballkugelsaft. Platinapfelfußsohle. Ich wollte nicht mehr länger hinhören.
Bei Menschen geht es nur um Worte. Um Sätze, Absätze, Pausen, Erwartungen. Forderungen. Ich musste von alldem wegkommen. Matt machte mir Mut, wieder mit dem Reiten anzufangen. Es gehe uns finanziell recht gut, meinte er, und er ermunterte mich, zu dem zurückzukehren, was mir wirklich Spaß mache. Ich war so glücklich darüber gewesen, dass er mich verstand! Ich schloss meine Praxis, verwies meine Klienten an Alana weiter und stolperte zaghaft auf etwas zu, von dem ich mich einmal abgewandt hatte.
Ich habe mich immer schon von Problemen angezogen gefühlt. Es gefällt mir, sie zu lösen. Menschen in Not oder Pferde in Not – beide unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander. Ich wusste, dass ich fähig sein würde, das Leben von Problempferden umzukrempeln, und dass ich ihnen das Schicksal ersparen konnte, von Besitzer zu Besitzer weitergereicht zu werden, um schließlich irgendwann im Schlachthaus zu enden.
Ich musste einfach Pferde retten. Ich hatte das dringende Bedürfnis, Pferde zu retten.
Das war mein Geheimnis.
Es bereitete mir eine tiefe Genugtuung, Matt mitzuteilen, dass sich im Haus nichts mehr von ihm befand. Am Tag zuvor war die Sperrmüllabfuhr gekommen und hatte alles mitgenommen, was Alana und ich ordentlich am Straßenrand aufgestellt hatten. Nun war Matt am Telefon und fragte, ob er nicht wenigstens mal kurz vorbeikommen könne. Ich war gerade dabei, die Boxen auszumisten, und stellte die Mistgabel ab, um mich besser auf unser Gespräch konzentrieren zu können.
»Würde dir morgen passen?«, fragte er. »Ich würde nur ganz kurz reinschauen. Ich will mir nur meine Kleidung holen.« »Du musst dir neue Kleidung kaufen«, sagte ich. »Neue Kleidung, die zu deinem neuen Leben passt. Genau genommen musst du dir alles neu kaufen, denn hier ist nichts mehr von dir. Aber da du ja unser ganzes Geld genommen hast, wird das sicher kein Problem für dich sein.«
Er zog scharf den Atem ein. »Nichts mehr? Meine Bücher? Meine … Gar nichts?«
»Gar nichts.«
»Hast du die Sachen für mich einlagern lassen?« Manchmal ist er wirklich ein bisschen schwer von Begriff.
»Jawohl, sie sind in der Langzeiteinlagerung auf der Müllkippe. Da, wohin du auch unsere Ehe geworfen hast.«
»Bist du verrückt geworden?« Der Zorn ließ seine Stimme lauter werden. »Ja, glaubst du denn, ich würde die Sachen gar nicht mehr brauchen?«
»Oje, das tut mir leid, daran habe ich wohl gar nicht gedacht!«, sagte ich. »Irgendwie habe ich deine Bedürfnisse vollkommen aus den Augen verloren. Tut mir leid, dass ich so gedankenlos war!« Inzwischen machte mir unser Gespräch richtig Spaß.
Eine lange Pause folgte. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass es mir leidtut«, meinte er schließlich. »Es tut mir wirklich leid. Kannst du mich überhaupt hören mit dem lauten Radio im Hintergrund? Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Ich liebe dich, und ich habe Mist gebaut …«
»Ich kann dich sehr gut hören«, erwiderte ich. »Und ›Mist bauen‹ ist wohl kaum der richtige Ausdruck. Mist baut man, wenn man vergisst, das Auto zum Ölwechsel zu bringen. Jemanden zu vögeln und dann zu schwängern, wenn beide erwachsen sind – und noch dazu im medizinischen Bereich tätig –, das ist nicht Mist bauen, das ist unverzeihlich! Das grenzt schon an Planung … diese … diese Heimtücke!«
»Ja, ja, ich verstehe schon«, unterbrach er mich. »Ich verstehe. Ich bin zutiefst zerknirscht. Ich bitte dich demütig um Verzeihung. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.«
»Ja, dann kann ich wohl auflegen«, erwiderte ich mit heiterer Stimme. »Mein Anwalt wird sich mit dir in Verbindung setzen.«
»Warte! Neelie?«, rief er. Ich hielt das Telefon wieder an mein Ohr.
»Was?«
»Ich will keine Scheidung«, sagte er. Er klang ganz elend. »Ich liebe dich. Eine Scheidung habe ich nie gewollt.«
»Ja, hast du denn geglaubt, wir würden ein nettes Vierergespann abgeben?«, schnappte ich zurück. »Du und ich, die entzückende Miss Holly und das kleine Hollykindchen?« »Ach, Gott«, sagte er. »Sprich doch bitte nicht so!«
»Habe ich etwa deine Gefühle verletzt?«, fragte ich mit aufgesetzt vornehmem Akzent. »Das tut mir aber leid. Ich meinte die zukünftige Frau Doktor Matt Sterling und Familie.« Inzwischen war mir ganz flau im Magen, so als hätte ich zu viel Eiskrem gegessen. Es machte mir keinen Spaß mehr.
»Ich will mit dir zusammen sein«, sagte er. »Vielleicht können wir einen Weg finden. Vielleicht überlässt sie uns ja das saure Gericht, und wir könnten uns in der Vereinsbar treffen.«
»Ich treffe mich in keiner Vereinsbar«, sagte ich, schaltete das Telefon aus und drehte mein Radio noch lauter auf. Erst nachdem ich bereits eine halbe Stunde ausgemistet hatte, wurde mir klar, was er eigentlich gesagt hatte. »Vielleicht überlässt sie uns ja das Sorgerecht, und wir könnten Vereinbarungen treffen«, hatte er gesagt.
Isis wartete in ihrer Box auf mich. »Schaff dir bloß nie ein Handy an!«, sagte ich zu ihr und klemmte mir das Telefon wieder an die Tasche. »Das ist bloß lästiger Quatsch.« Ich nahm einen Striegel und strich mit kreisförmigen Bewegungen über ihr braunes Fell. Sie drückte sich gegen mich, offensichtlich genoss sie die Aufmerksamkeit. Ich bürstete ihr vorsichtig den Kopf, striegelte Hals, Brust und Schultern, bevor der Rücken an die Reihe kam. Als ich ihr schließlich den Bauch striegeln wollte, entdeckte ich es. Auch Isis hatte ein Geheimnis. Ein Muster aus dünnen, gezackten Furchen. Alte Narben, die über ihre Flanken liefen und bis zu den Hinterbacken reichten. Sie zuckte zusammen, als ich meine Finger darübergleiten ließ.
»Das hast du nicht verdient, armes Mädchen«, sagte ich zu ihr und bückte mich nach einem weicheren Striegel. Sie stupste meine Schulter an und nahm mein Sweatshirt zwischen die Zähne.
»Ja, du hast recht«, sagte ich. »Es ist wirklich Scheiße.«
Ich legte ihr die Trense an und sattelte sie, schloss Grace in eine der Boxen, schwang mich in den Sattel und lenkte Isis in Richtung der Waldwege, die hinter unserem Grundstück vorbeilaufen. Ich wollte nicht, dass Grace uns hinterherlief, weil sie sich manchmal vergisst und dann einfach in eigener Mission losrennt, um die Welt von Eichhörnchen zu befreien. Schon zweimal musste ich sie aus dem Tierheim holen, wo sie wie ein reumütiger Sträfling auf mich wartete. Ich wollte mich ganz auf Isis konzentrieren können.
Ich ließ Isis eine ganze Zeit lang Schritt gehen, ehe ich ihr zu halten befahl. Ich war gespannt, ob sie das Stehenbleiben draußen in der freien Natur, inmitten von Bäumen und duftenden Büschen auf moosbedecktem Untergrund, begleitet vom Gezwitscher der Vögel, in irgendeiner Weise mit dem Stehenbleiben auf dem Reitplatz verbinden würde. Sie hielt an, zögerte einen Moment, dann ging sie rückwärts und wich tänzelnd zur Seite aus. Vor lauter Nervosität brach ihr der Schweiß aus.
Alte Geheimnisse gibt man nur ungern preis. Das weiß ich nur allzu gut aus eigener Erfahrung. Ich brachte sie vorsichtig dazu, wieder anzuhalten, und bemühte mich, einfach ruhig sitzen zu bleiben. Dann ließ ich sie wieder anhalten und blieb ganz ruhig sitzen. Und ließ sie erneut anhalten und wartete. Zehn Minuten verstrichen. Die Vögel stellten ihr Zwitschern ein und hüpften auf die unteren Äste, um sich dieses Schauspiel mitten in ihrem Wald anzuschauen. Dieses große Wunderwesen aus Pferd und Mensch. Ein Reh hielt im Vorüberlaufen inne, kaum mehr als einen Meter entfernt, und starrte uns mit großen, verträumten Augen an. Isis kaute auf dem Gebiss herum und warf den Kopf rauf und runter und traf mich dabei fast im Gesicht.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber das war falsch von ihnen.«
Diesmal dauerte es zwanzig Minuten, bis sie endlich einen Seufzer ausstieß und sich entspannte. Der Schweiß trocknete auf ihrem Körper, Rücken- und Halsmuskulatur wurden locker, und ich ritt zurück zum Stall.
Vor dem Stall stand Matt und wartete auf mich. In mir zog sich alles zusammen, so sehr liebte ich ihn noch. Er hat sandfarbenes Haar und haselnussbraune Augen. Lange Chirurgenfinger, kräftig, aber sanft, und große Hände. Er hat breite Schultern, und wenn ich meinen Kopf daran lehnte, hatte ich immer das Gefühl, er sei eine Mauer, die mich vor allen namenlosen Schrecken bewahrte. In seiner Taille bilden sich die ersten kleinen Rettungsringe, und sein längliches, fein geschnittenes Gesicht verrät seine norwegischen Vorfahren. Er hat eine gerade Nase.
Er hatte mein Radio sehr leise gedreht, und als Erstes drehte ich es wieder lauter, um ihn mehr oder weniger ignorieren zu können. Allerdings musste ich mehrmals an ihm vorbeigehen, während ich Isis in der Stallgasse an beiden Seiten festband. Dann ließ ich Grace aus der Box heraus und machte mich an die Arbeit. Im Stall gibt es immer einen ganzen Haufen zu tun, jede Menge Dinge, mit denen man sich beschäftigen kann, ob sinnvoll oder nicht.
»Können wir nicht ins Haus gehen und uns dort in Ruhe unterhalten?«, rief Matt über die Musik hinweg. Gerade lief Strawinsky, der Feuervogel, ähnlich misstönend und zerrissen, wie ich mich gerade fühlte. Matt sah zerknirscht, besorgt und sehr unglücklich aus. Grace benahm sich ganz närrisch vor Freude, stellte sich auf die Hinterbeine, kratzte an Matts Knien und leckte ihm begeistert die Finger. »Bitte«, fügte mein Ehemann hinzu.
Ich fuhr wütend herum. »Warum hast du mir nie erzählt, dass du mit Holly zusammen studiert hast?«, brachte ich mühsam hervor.
Er trat einen Schritt zurück. »Ich … Es … Es war längst vorbei. Sie hat mich damals sitzen lassen. Sie hat irgendeinen Typen aus Colorado geheiratet. Ich wollte nicht gern darüber sprechen.«
»Und diese ganze Geschichte – was war das dann?«, fragte ich, während ich um Fassung rang. »Deine Art, ihr zu verzeihen? Indem du sie zurückgenommen hast?«
Er machte eine hilflose Handbewegung. »Ich weiß auch nicht, was ich gedacht habe«, sagte er. »Ich … Es hat nie einen richtigen Schluss gegeben …«
Er wirkte verwirrt und ratlos, ganz so, als sei er ebenfalls von den Ereignissen überrumpelt worden. Ich musste mich beinahe bremsen, dass ich ihn nicht plötzlich tröstete und mich für mein zorniges Verhalten bei ihm entschuldigte. Er hatte kein Recht, so bemitleidenswert dreinzuschauen.