Stefanie Mühlsteph

Hexentochter

Fantasie / Märchen

© 2010

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1. Auflage 2010

Lektorat: Hans Lebek, Berlin

Covergestaltung

Stefanie Mühlsteph/ Tatjana Meletzky

Printed in Germany

ISBN 978-3-86254-72-3

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Oft genug gibt es zwei Wahrheiten

eine, die uns gefällt und eine, die uns verfolgt.

(Art van Rheyn )


Seelenbande

Ein immer kälter werdender Wind wehte über die weiten Lande Thuliens und brachte das Jahresende mit sich. Im Herzen des dichten opalianischen Mischwaldes mit seinen unzähligen Tierarten lag eine kleine Siedlung.

Die schlichten Behausungen waren mit Efeu bewachsen und schützten so seine Bewohner vor der nahenden winterlichen Kälte. Auf spärlichen Äckern vor dem Dorf streuten Frauen Stroh über die Erde, um die Wurzeln vor dem kommenden Schnee zu schützen.

Die Laubbäume wechselten ihr grünes Kleid in bronzenes Rotbraun. Die Tiere machten sich für den Winter bereit. Hin und wieder konnte man schwarzen oder rotbraunen Eichhörnchen dabei zusehen, wie sie flink über den Boden huschten, um ihre gesammelten Nüsse für die kommende Jahreszeit zu vergraben.

Ungeachtet dessen lag ein kleines Mädchen regungslos auf einem grasbewachsenen Hügel am Rande des Dorfes. Ihre Lider waren geschlossen, die Glieder sichtlich entspannt und würde sich ihr Brustkorb nicht auf und ab bewegen, so hätte man sie für tot gehalten. Sie hatte weiche Gesichtszüge, geprägt durch eine spitze Nase. Die gebräunte Haut wurde von der schwachen Herbstsonne beschienen. Die Kleidung des Mädchens war schlicht, aus einfachem, krapprotem Baumwollstoff. Stickereien zierten den Kragen ihres Gewandes.

»Selen!«, schrie eine dunkle Frauenstimme aus der Ferne. Schnell hatte Selen ihre Lider geöffnet und zwei ozeanblaue Augen sahen hinauf in den anbrechenden Abendhimmel. Die Wolken verfärbten sich in ein dunkles Violett, das einem tiefen Nachtblau weichen würde. Der volle Mond war am nördlichen Himmel schwach zu sehen.

Das Mädchen richtete sich auf und beobachtete das weite Firmament. Sie wusste, was heute für ein Tag war, denn schließlich hatte sie auf diesen zehn Sommer lang gewartet.

Geschwind zog sie sich auf ihre Beine und klopfte Grashalme und Erdreste von ihrem Rock ab. »Ich komme gleich!«, schrie ihre klare Stimme der Rufenden entgegen. Selen richtete ihren Blick auf das kleine Dorf aus Holz- und Lehmhäusern, das einige Meter vor ihr entfernt friedlich dar lag. Sie war dieses Jahr eine von neun Kindern, die heute ihren großen Tag haben sollten.

Selen lächelte, sodass ihre dünne Oberlippe fast nicht mehr zu sehen war. Langsam tänzelte sie die Wiese hinunter, auf der sie sich die Zeit vertrieben hatte. Die Gräser kitzelten sie an den Fußsohlen, so dass sie ohne Unterlass lächeln musste. Das war allerdings nicht der einzige Grund für ihre gute Laune, denn heute war eine besondere Nacht. Diesen wenigen Stunden hatte sie seit Anbeginn ihrer Ausbildung entgegen gefiebert und nun würde es endlich soweit sein!

Heute bekam sie einen Vertrauten an ihre Seite, ein so genanntes Seelentier, das sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde. Nach den über Jahrhunderte hinweg überlieferten Lehren der Hexen hatte jede magische Person ein Seelentier. All ihre Freundinnen hatten bereits ihren Vertrauten, wie Raben, Kröten, Schlangen oder Eulen. Nur selten war ein Fuchs oder gar eine Spinne dabei.

Jedes Tier hatte eine Bedeutung. Ein Hund etwa stand für Loyalität, eine Spinne für Verschlagenheit und Tücke, der Rabe für Träumerei und seherische Begabung, die Kröte für Erdverbundenheit, eine Schlange für Weisheit, die Eule für Wissensdurst und Füchse für Gerissenheit und Geschicklichkeit.

Selen grinste munter, als ihre Gedanken ein weiteres Mal abschweiften.

Die Siedlung der Hexen hatte keine Schutzmauer oder dergleichen, denn ein mächtiger Laubwald umgab die Häuser, wie ein natürlicher Schutzwall. Die Hexen vertrauten den Tieren, die den angrenzenden Wald bewohnten und sie durch ihre Anwesenheit schützten.

»Was soll ich nur mit einem unpünktlichen Kind wie dir machen, vernahm Selen eine dunkle Frauenstimme. Das Mädchen stoppte in ihrer Bewegung und ihre Augen richteten sich auf eine Frau, die sich vor ihr aufbaute. Ein großer Kohlrabe ruhte auf Milernas Schultern und blitzte Selen an. Milerna hatte eine spitze Nase und feine, jedoch harte Gesichtszüge, die durch ihr streng geflochtenes Haar nur noch mehr zum Ausdruck kamen.

Man konnte in ihrem gezeichneten Gesicht lesen, dass sie in ihrem Leben nicht nur glückliche Tage erlebt hatte.

Die Augen des Vogels wanderten zwischen seiner Herrin und dem Mädchen hin und her. Milerna hatte die Hände in die Hüfte gestützt und sah ihre Tochter strafend an.

»Du hättest mir vielleicht besser jemanden zur Seite stellen sollen, der auf mich aufpasst und dafür sorgt, dass ich nicht zu spät komme«, konterte Selen und grinste schelmisch.

Dem süßen Lächeln konnte Milerna nicht widerstehen und löste dabei instinktiv ihre drohende Haltung.

»Ich wäre sicher nicht zu spät gekommen«, fuhr Selen beschwichtigend fort und ergriff sanft die Hand ihrer Mutter und Lehrmeisterin. Das Mädchen reichte Milerna gerade mal bis zum Brustansatz und so musterte die Frau unbeobachtet den schwarzen Schopf ihres Kindes.

»Ich kann doch meine Meisterin nicht enttäuschen«, beendete Selen ihre indirekte Entschuldigung. Auf diese Aussage hin konnte Milerna nur noch wohlwollend lächeln.

Ein warmer Glanz verfestigte sich in ihren Augen.

Ohne Vorwarnung zog Selen ihre Mutter in Richtung des Dorfes. Milerna war insgeheim sehr stolz auf ihre einzige Tochter. Selen war stets eine gelehrige Schülerin gewesen und ihr Vertrauter würde eine gute Herrin bekommen, auch wenn sie manchen charakterlichen Makel aufwies. Allerdings hätte Milerna auch nichts anderes von ihrem eigenen Fleisch und Blut erwartet. Lächelnd beobachtete Milerna ihre Tochter.

Selen blickt sich aufmerksam in dem Dorf um, dessen Bewohner fast nur aus Frauen bestand. Einige der Älteren winkten der Junghexe zu oder kreuzten ihre Finger.

Die Schwesternschaft war klein und bestand aus Hexen verschiedenster Begabungsrichtungen. Manche waren hellsichtig, andere wiederum verstanden sich auf die Giftmischerei. Selens Begabung jedoch war nicht vergleichbar. Sie hatte besondere Fähigkeiten, die selbst unter den Hexen nicht weit verbreitet waren.

Sie konnte Magie und dämonische Kräfte spüren, auch wenn magische Sprüche noch nicht wirkten oder schon lange verstummt waren.

Selen war noch nie einem Dämon oder Magier begegnet und doch spürte sie deutlich die magische Kraft, die dieses Dorf umgab.

»Zieh dir dein festliches Gewand an«, deutete Milerna mit einem Kopfnicken auf ein Lehmhaus, das von rankenartigen Pflanzen bewachsen war. Die Stirnseite des Hauses, das direkt am Waldrand des Dorfes lag, zeigte gen Westen, wo die Sonne in einem goldenen Glanz unterging.

Selen nickte stumm und schritt die hölzernen Stufen hinauf, bis sie die schwere Eichentür erreichte. Mit viel Kraft stemmte sie sich dagegen und öffnete die Pforte ihres Geburtshauses.

Vor ihr befand sich ein steinerner Kamin, in dem ein ersterbendes Feuer züngelte. Auf den hölzernen Dielen lag ein abgenutzter Teppich.

Zielsicher sprang Selen auf eine Tür zu, die zu einem kleineren Zimmer führte. Sie drehte den eisernen Knauf um und befand sich in einem düsteren Raum, in dem eine einzelne Öllampe flackerte. Die Läden des großen Fensters waren geschlossen. Ein hölzernes Bett mit Kissen und Laken befand sich in dem kleinen Raum, sowie ein Schreibtisch, auf dem eine Handvoll beschriebene Blätter lose herum lagen.

Selen ging in die dunkelste Ecke des Raumes und öffnete die Schwungtür eines massiven Schranks, der wesentlich älter sein musste als seine Besitzerin.

Die zierlichen Finger des Mädchens fischten ein seidiges Gewand hervor.

Kaum hatte sie sich den Stoff um ihre Hüften gelegt, hörte sie auch schon eine genervte Stimme, die ihren Namen rief.

Augenrollend schmiss Selen die Tür hinter sich zu und eilte hinaus in die anbrechende Nacht. Draußen wartete ihre Mutter, die sichtlich gereizt mit ihrer Fußspitze auf den Boden tippte. »Selen, jetzt aber flott!«, bellte sie ihrer Tochter entgegen und hielt ihr auffordernd die Hand hin. Dabei musterte sie die Junghexe ausgiebig und war stillschweigend stolz auf ihr Kind.

»Ist okay!«, sprach Selen verdrießlich und nahm die ältere Hexe bei der Hand.

Schnellen Schrittes gingen beide durch das stille Dorf. In den Fenstern brannte Licht und ab und an lugte ein Kinderkopf zwischen den Schlitzen der Fensterläden hindurch.

Jeder wusste, was heute für ein Tag war, dass sich in diesen Stunden eine Junghexe bereit machte, in den Zirkel einzutreten, um dort ihre Bestimmung zu finden.

Der Mond stand bereits am Firmament und beschien die Gräser der Wälder.

Selen hasste es, gehetzt zu werden, doch sie musste sich eingestehen, dass sie dieses Mal wirklich getrödelt hatte. Zwar freute sie sich schon auf ihr Seelentier, gleichzeitig hatte sie jedoch Angst vor dem Ritual, das sie auf ewig an ein anderes Wesen binden würde.

Der Griff um die Hand ihrer Mutter wurde stärker.»Du musst keine Angst haben, mein Kind!«, sprach Milerna beruhigend auf Selen ein.

Der Rabe auf ihrer Schulter legte den Kopf in sein Gefieder und krächzte rau. »Xandras meint auch, dass du keine Angst haben musst«, lächelte die Frau das Kind an.

Selens Blick lag nun auf dem Kohlraben, dessen Augen in der Dunkelheit wie flüssiges Gold glänzten.

»Danke, Xandras!«, flüsterte sie und lächelte dem Vogel sacht zu.

Die grünen Augen Milernas richteten sich geradeaus.

Vor ihnen erstreckte sich ein dunkler Laubwald, vor dem vier Frauen in weißen Gewändern standen. Die Kapuzen der Kleider verdeckten die Gesichter der Stehenden. Drei von ihnen hielten lzerne Fackeln in den Händen, deren Schein die Umgebung erhellte. Zu ihren Füßen saßen drei Tiere, die den Ankommenden neugierig entgegenblickten.

Das Wiesel mit dem schokoladenbraunen Fell strich einer schwarzen Katze über den Buckel, die es abschätzig anblickte. Der Blick eines Rotfuchses folgte jeder Bewegung der Kapuzenträger. Selen musste stark schlucken, denn diese Frauen waren ihre Patroninnen. Sie standen ihrer Mutter sehr nahe und würde Milerna jemals etwas zustoßen, so würden sie sich um ihre weitere Ausbildung kümmern und ihr ein Zuhause geben. Dieses Ritual erinnerte die Hexen daran, dass sie nie alleine waren.

Kurz vor ihnen blieben die beiden Herannahenden stehen und verbeugten sich ehrfurchtsvoll.

»Ich übergebe euch nun meine Schülerin Selen«, begrüßte Milerna die wartenden Frauen und ließ die Hand ihrer Tochter los, die vor den Patroninnen höflich knickste. Selens Augen weiteten sich angsterfüllt, als sie den Blick an den weiß gekleideten Gestalten vorbei, in den dunklen Wald, richtete. Eine der Frauen trat vor und streifte dabei ihre Kapuze ab.

Freude spiegelte sich jäh in den Augen des Mädchens wieder, als sie im Schein der Fackeln die kupferfarbenen Haare erblickte.

Lydia hatte schmale Lippen und eine hohe Stirn, die sich unter einem zurechtgeschnittenen Pony verbarg. Diese Erwachsene war bereits Mitte Fünfzig, dennoch wirkte ihr Körper filigran und jugendlich.

Selens Mutter sah Lydia vertraut entgegen. Ein schelmisches Grinsen stahl sich auf ihre Lippen.

Die weise Ältere beugte sich zu dem Kind herab und strich ihr liebevoll über das seidige Haar. »Nun geh, Selen. Geh hinein in den Wald, und fürchte dich nicht, denn nur dann wird dich dein Seelenverwandter finden.« Selen nickte stumm. Ihre kleinen Finger vergruben sich im Stoff des Kleides.

Ihr Blick richtete sich auf den dunklen Wald.

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals.

Sie hatte zwar keine panische Angst vor der Nacht, doch sie hatte Respekt vor der Blindheit, die mit ihr verbunden war.

Langsam setzte sich Selen in Bewegung und schritt immer tiefer in den Laubwald hinein, bis ihr Körper von der Finsternis völlig verschlungen wurde.

Ihre Finger zitterten wie Espenlaub. Unter großer Anstrengung versuchte Selen ruhig zu bleiben. Sie hätte sich gerne noch einmal umgewandt, aber als Hexe durfte man vor der Nacht keine Angst haben.

Nicht umsonst wurde ein ganzer Hexenstamm Die Kinder des Mondes genannt.

Die Sonne war längst untergegangen und der silberne Mond strahlte am nächtlichen Firmament, an dem dünne Wolken vorbei trieben.

»Sie hat große Angst«, flüsterte Lydia. Um ihre Schultern bewegte sich ein schuppiges, glänzendes Tier, dessen gespaltene Zunge über ihre Wange strich.

»Das muss in der Familie liegen«, antwortete Milerna und sah in die Dunkelheit hinein. Bei dieser Aussage lächelte Lydia. Ihr Blick wandte sich zu ihrer Gesprächspartnerin. »Milerna, auch du warst einst eine ebenso ängstliche Schülerin

Milerna grinste schelmisch. »Ich weiß, Mutter«, flüsterte sie und strich ihrem nachtschwarzen Raben liebevoll über das weiche Gefieder.

»Hab keine Angst, hab keine Angst!«, betete die kleine Selen unaufhörlich vor sich hin, als sie durch die undurchdringliche Schwärze des Waldes schritt. Mit ihren nackten Füßen spürte sie die Unebenheit des Waldbodens und auch jedes Kriechtier, denen sie nicht ausweichen konnte. Sie frage sich, wie viele Insekten sie schon auf dem Gewissen hatte. Plötzlich hörte sie ein Krächzen, das sie schreckartig in die Knie fahren ließ. Reflexartig bedeckte sie den Kopf mit ihren Armen, bis das Geräusch verklungen war. Vorsichtig tastete sich Selen mit den Händen auf dem Waldboden entlang, bis sie mit ihren Fingerspitzen starke Wurzeln fühlen konnte. Zitternd zog sich die Junghexe an den Stamm des Baumes heran und kauerte mit angezogenen Beinen auf der Erde, während ihr schleichend die Erkenntnis kam, dass dieses Verhalten falsch war. Sie hatte allerdings zu große Angst, um weiter zu gehen. Das Mädchen wusste, dass sie eigentlich keine Angst in den Wäldern ihrer Schwesternschaft haben musste und doch waren ihre Gefühle stärker als die Vernunft. Sie wollte unbedingt einen starken Seelenpartner haben, wie einen Bären oder einen listigen Fuchs. Aber mit ihrer Angst war sie sich fast sicher nur eine Unke zu bekommen, die perfekt im Tarnen und Verstecken war. Wieder drang das tiefe Krähen eines Vogels zu ihr durch, das von dem undefinierbaren Schrei eines anderen Tieres überlagert wurde. Instinktiv schlug sich Selen die Hände vor das Gesicht und kniff die Augen zusammen.

»Ich will nachhause!«, schluchzte das Mädchen. Salzige Tränen liefen ihre geröteten Wangen hinunter.

Sie war noch nie die Mutigste gewesen, auch wenn sie sich stets stark gab. Dieser Wald jagte ihr einfach mehr Furcht ein, als sie es sich je hätte vorstellen können. Sicherlich war sie dieses Szenario zuvor öfters im Kopf durchgegangen, jedoch hatte sie sich in Gedanken stets mutig und tapfer gezeigt, damit ihr ein mutiger und loyaler Seelenpartner zuteilwurde.

Ein eisiger Wind frischte auf und brachte Selen dazu, ihre Beine weiter an den Körper heran zu ziehen. Unerwartet spürte sie etwas Nasskaltes an ihrer Hand, das sie erschrocken zusammenzucken ließ.

Nur widerwillig öffnete Selen ihre Lider, um zu erforschen, was ihre Hand berührte.

Zwei tiefblaue Augen musterten sie. »Hast du Angst?«, hörte sie eine leise Jungenstimme.

Ihre Augen weiteten sich.

»Du sprichst?«

»Wie bitte? Du kannst mich also hören?«, fragte die Stimme zurück.

Das Mädchen konnte deutlich das Winseln eines Tieres hören.

Selen nickte stumm und konnte den Blick nicht von dem Wesen lösen, das noch immer vor ihr stand. Die spitzen Ohren zuckten irritiert, seine Rute schwang vor Aufregung hin und her.

»Ich bin Selen Lupadra«, murmelte das Mädchen. Ihre Finger lösten sich langsam aus der Erstarrung.

Ein leises Jaulen drang an ihre Ohrmuschel und nun realisierte sie erst, dass der Vierbeiner vor ihr nicht wirklich sprach, sondern sie lediglich seine Gedanken hören konnte.

»Ich bin Inuki Schattenwolf, du musst keine Angst vor mir haben«, schmiegte sich der kleine Wolf an die Seite der Junghexe, sodass sein weiches, rabenschwarzes Fell ihre eisigen Finger wärmte.

Er wusste zwar nicht warum er das tat, aber er spürte in seinem Innersten eine tiefe Verbundenheit zu dem Mädchen. Vertrauensvoll schloss Selen ihre Augen und legte den Kopf auf den Rücken des Jungtiers. Auch Inuki schloss seine Lider, als er die Körperwärme des Kinds spürte.

Ein unbeschreibliches Gefühl durchfloss beide Wesen.

Es brannte sich in ihre Herzen ein und verband sie auf eine Art und Weise, wie es nur tief in der Seele geschehen konnte.

»Du brauchst nie wieder Angst zu haben, ich werde dich von nun an beschützen«, flüsterte der Wolf und leckte Selen liebevoll über die geröteten Wangen. Selen strich ihm sanft über das Fell.

»Willst du denn überhaupt bei mir bleiben?«, flüsterte sie ängstlich und verkrampfte sich. Denn die Zehnjährige wusste, dass es der junge Wolf auch ablehnen konnte, bei ihr zu bleiben. Beide Partner wurden zu nichts gezwungen, sie würden sich nur aus eigenem, freiem Willen aneinander binden. Ein leichtes Knurren leitete die Antwort des Welpen ein: »Was für eine blöde Frage, sicher werde ich bei dir bleiben!«

Selen zog eine Augenbraue hoch.

»Okay, dann komm mit mir!«

Entschlossen erhob sie sich vom Erdboden und klopfte die Laubreste vom Kleid. Selen war es bewusst, dass sie sich immer noch in der Dunkelheit befand, vor der sie noch vor wenigen Minuten hätte davonlaufen wollen. Aber jetzt, mit Inuki an ihrer Seite, erkannte sie, dass sie keine Angst haben musste.

Das Jungtier wedelte glücklich mit seiner Rute, als er seiner neuen Partnerin und Herrin folgte. Er verließ ohne zu zögern seine Geschwister, seine Mutter und sein gesamtes Rudel. Nur für sie. Der Welpe spürte, dass ihn Selen von nun an mehr brauchte, als alles andere auf dieser Welt. Auch wenn es ihr selbst noch nicht so bewusst war, wie ihm.

»Da ist sie!«, raunte Milerna, als sie eine kleine Silhouette in der Dunkelheit des Waldes erkennen konnte.

Lydias Augen weiteten sich, als sie ihre Enkelin erblickte, zu deren Füßen ein Wolfswelpe lief. »Ein Wolf?«, flüsterte sie nachdenklich und konnte ihre Verwunderung kaum verbergen. Für eine Hexe war ein Wolf ein sehr ungewöhnliches Seelentier, denn Wölfe symbolisieren Triebhaftigkeit, Hunger und Kampfgier. Außerdem steckte hinter dem Bild des Wolfes eine gewisse Aggressivität, sowie eine kühne Angriffslust, die zum Vorschein kommen würde, wenn man dies von ihm verlangte. Was Lydia allerdings am Meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass Wölfe auch der alles verschlingende Tod genannt wurden.

Was hatte das zu bedeuten? Grüblerisch griff sich Lydia ans Kinn und beobachtete Selen, wie sie fröhlich in den Armen ihrer Mutter lag.

Milerna erkannte ebenfalls das Tier an der Seite ihres Fleisch und Bluts, aber dies beunruhigte sie eher weniger. Sie war einfach nur froh ihre Schülerin wieder unversehrt bei sich zu haben. Liebevoll schlang sie die Arme um die schmale Hüfte ihrer Tochter.

»Ich freu mich für dich, dass du deinen Partner gefunden hast, mein Kind«, flüsterte sie glücklich.

Selen sah ihre Mutter grinsend an.

»Er heißt Inuki«, erklärte sie freudig und erwiderte die Liebkosungen ihrer Mutter. Lydia zuckte zusammen, als sie den Namen vernahm.

»Lydia?«, fragte Milerna stutzig und sah ihre Mutter prüfend an. Die Angesprochene schreckte auf. Dies konnte alles unmöglich ein Zufall sein, oder doch?

Die erfahrene Hexe lächelte ihre Tochter an.

»Es ist nichts, lasst uns nun wieder zurückgehen.« Mit diesen Worten strich sie ihrer Enkelin über die dunklen Haare. »Inuki, ein wirklich sehr schöner Name!«, sprach sie sanft und musterte den fröhlich herum springenden Welpen.

Vielleicht hatte sie sich auch einfach nur getäuscht und diese Zeichen vollkommen falsch gedeutet. Irgendwann würde sich diese Anreihung von Zufällen von selbst erklären, da war sich die Hexe mit der Schlange als Seelenpartner absolut sicher.

Die kleine Gruppe der sechs Hexen ging wieder raus aus der Sicherheit des Waldes. Selen konnte es gar nicht erwarten, Inuki ihren Freundinnen vorzustellen. Sie war sehr stolz darauf, ein besonderes Seelentier zu haben, schließlich bedeutete dies, dass ihre Seele auch etwas Besonderes sein musste. Freudig sprang sie an der Seite ihres Seelentiers voraus.

Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen blieb. Ihr Gesicht wirkte versteinert.

Viele Meter entfernt beleuchtete ein greller Schein am Boden die am Himmel vorbeiziehenden Wolken.

»Oma«, flüsterte Selen und deutete zitternd auf ein rotes Licht, das von ihrem Dorf ausging.

Milernas Augen weiteten sich, als sie erkannte, was dies bedeutete. Dem Raben auf ihrer Schulter entkam ein schrilles Krächzen. Lydias Lider verengten sich zu Schlitzen.

»Sie sind da«, flüsterte sie erstickt. »Und das früher, als erwartet

Die Erwachsenen nickten sich gegenseitig zu.

Die Patroninnen schlugen ihre Kapuzen zurück. Die drei jungen Frauen blickten grimmig auf das Rot, das sich vor ihnen erstreckte.

»Wir gehen voraus«, sprach die blonde Hexe im ernsten Tonfall und nickte ihrer Katze zu, die ihr mit geschmeidigen Bewegungen sofort folgte. Die zwei anderen Frauen nickten ebenfalls ihren Seelentieren zu, bevor sie der Blonden schnellen Schrittes folgten.

Milerna blickte erst ihre kleine Tochter an und schließlich zu ihrer Mutter. »Nimm Selen und geh!«, sprach sie hart und wandte sich entschlossen um.

»Pass auf dich auf!«, flüsterte Lydia.

»Mama!«, schrie Selen und wollte ihrer Mutter hinterher springen, aber ihre Hand wurde von der Großmutter mit steinernem Griff festgehalten. Milerna stockte für einen Augenblick. Würde sie sich jetzt verabschieden, musste sie sich eingestehen, dass sie in den Tod ging. Salzige Rinnsale bildeten sich in den Augenwinkeln der Hexe. Sie musste zu ihrem Kind zurückkehren,r Selen weiterleben. Mit diesem Gedanken raffte sie ihr Ritualgewand und rannte los.

Xandras flog dicht neben ihr her und ließ seine Herrin nicht aus den wachsamen Augen.

»Lass mich!«, schrie Selen ihre Großmutter an und blickte ihr flehend in die Augen.

»Selen, wir müssen uns in Sicherheit bringen«, entgegnete Lydia ihrer Enkelin bestimmend. »Wir müssen die Hoffnung retten.« Dabei zog sie mit leichter Gewalt das Mädchen mit sich, weg vom Ort des Geschehens.

Die Junghexe leistete vehementen Widerstand. Inuki knurrte leicht und sah seine Partnerin mitleidig an, als sich die ersten Tränen in ihren Augen bildeten. Er konnte ihr nicht helfen.

»Mama!«, schrie Selen und wand sich im Griff ihrer Großmutter.

Langsam verschluckte die Dunkelheit des Waldes die Hexenwesen und nahm Selen den Blick auf ihren Geburtsort.

Fernab dieser Auseinandersetzung sah Milerna dem Dorf entgegen. Im Schein der hellen Flammen glitzerten die Tränen einer Mutter, die sich fest vorgenommen hatte, zu ihrer Tochter zurück zu kehren.

Doch als sie sich dem Dorf näherte, starb die Hoffnung zusehends. Eine erdrückende Hitze schlug ihr entgegen, dass sie die Hand vor Augen nehmen musste. Vor ihr brannten die Lehmhäuser lichterloh. Milerna konnte Hexen erkennen, die sich schützende Tücher vor ihr Gesicht hielten.

Ob Jung oder Alt, alle waren auf den Straßen und sahen sich um, woher der Angriff kam. Der Qualm des lodernden Feuers war unerträglich und trieb ihnen die Tränen in die Augen. Einst dachten Milerna, dass sie hier im Wald vor Angriffen sicher wären, aber auch hier wurden sie von den Jägern aufgespürt.

Xandras krächzte schrill. Sein Körper bebte vor Anspannung.

Milerna wusste, dass ihre Widersacher näher waren, als gedacht. Vor den Augen der Frau bauten sich dunkle Schatten auf, die sie nur zu gut kannte. Die Hexe konnte keine Gesichtskonturen entdecken, die rußgeschwärzten Kapuzen alles verdeckten.

»Ihr werdet sie nie bekommen!«, knurrte sie hasserfüllt den schwarzen Gestalten entgegen.

Milerna richtete ihre Hände bedrohlich auf die Schattenwesen und sprach grollende Worte in einer unbekannten Sprache.

»Närrische Hexen!«, zischte eine Stimme.

Der gellende Schrei einer Krähe hallte in der Finsternis wider.

In dieser Nacht verlor nicht nur Selen ihre Mutter, sondern auch Lydia ihr einziges Kind.

Außenseiter

Eine Frau mittleren Alters beugte sich zu dem Wäschekorb, den sie vor wenigen Minuten frisch gefüllt hatte, hinunter.

Ihr langes, zu einem Zopf geflochtenes Haar fiel ihr dabei in das feine Gesicht, während sie verloren in den Berg von Wäsche starrte, den sie nun an der Leine zum Trocknen aufhängen musste.

Ein Seufzer entfuhr ihren vollen Lippen, als sie das erste Kleidungsstück in die Hand nahm und den noch recht schweren Baumwollstoff befühlte.

Sie hasste diese Arbeit, doch wenn sie sich nicht darum kümmerte, würde der Wäscheberg so hoch wie das Zwergengebirge werden.

Ihr Mann war auf dem Feld, würde erst abends wiederkommen und dann etwas zu Essen verlangen.

Sicherlich war sie nicht sehr glücklich über diese Arbeitsteilung, aber so funktionierte ihre Gesellschaft seit Jahrhunderten und würde in dieser Form bestimmt noch weitere Dekaden überdauern. Schließlich sollte man ein funktionierendes System niemals ändern!

Plötzlich huschten zwei große Schatten an ihr vorbei und sie hörte das Getöse einer Menschenmasse. Ihr gedankenverlorener Blick richtete sich auf und sie konnte zwei Menschen erkennen, die an ihrem Grundstück vorbeirannten. Den Personen folgten zwei ungleiche Tiere, ein schwarzer Wolf und ein silberner Fuchs, welche die Frau schelmisch anzusehen schienen. Der Schreck war der Frau deutlich anzusehen. »Hexen!«, schrie sie schrill.

»Immer das Gleiche!«, keuchte Selen und versuchte einen Weg aus dem Dorf zu finden. Ihren Blick schweifte über die kargen Behausungen. Es war ein normales Dorf und sah wie jede kleinere Siedlung aus, die sie bis jetzt besucht hatten. Die Häuser waren nicht farbenfroh, überall herrschte ein trister Ton vor, der auf die starrsinnige bäuerliche Gesinnung der Bewohner schließen ließ. Bei diesem Gedanken rümpfte sie ihre spitze Nase. »Aber auch nur, weil du dich nie im Zaum halten kannst!«, zischte Axes, der auf gleicher Höhe war. Den Stoppeln an seinem Kinn zu urteilen, befand er sich mitten in der Pubertät.

Empört funkelte sie ihn an. »Dieses Mal war es berechtigt!«, stieß sie aus und holte einen Zug kalter Luft in ihre Lungen zurück. Der schnelle Lauf kostete Selen Kraft und so konnte sie nicht, wie es ihr Temperament verlangte, ihn verbal zurechtstutzen.

»Das sagst du jedes Mal!«, konterte Axes. Er hasste die ewigen Diskussionen über ihre übertriebene Haltung anderen Menschen gegenüber.

Selen verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Der Typ hat mich angebaggert!«, rechtfertigte sie sich und wäre fast über einen übergroßen Stein gefallen, der lose auf der befestigten Straße lag. Zum Glück Selen hatte gute Reflexe und fing sich rechtzeitig ab, bevor das Unheil geschehen konnte.

»Er fand deinen Hintern toll«, prustete Axes. »Was ist da schon dabei?« Er hätte an dieser Stelle gelacht und sich über sie lustig gemacht, wenn die Situation nicht so brenzlig gewesen wäre. »Einen Becher Wein wollte er dir obendrein noch ausgeben«, verstärkte er seine Aussage und wollte, dass sie einmal einsah, dass sie ungerechtfertigt gehandelt hatte.

Selen warf ihren Kopf in den Nacken. »Wie ich sagte, ich wurde belästigt«, keuchte sie verständnislos und beschleunigte das Tempo. »Er hat es nicht besser verdient! Außerdem wollte er mich abfüllen und willig machen, wie eine billige Dirne«, dabei spuckte sie das letzte Wort voller Abscheu aus. Sie konnte nicht verstehen, wie Frauen sich für Münzen so erniedrigen konnten. Sicher verstand sie es, wenn man Verdienstsorgen hatte! Davon blieb sie auch nicht verschont, aber sie würde sich niemals demütigen lassen und ihren Stolz verlieren.

Schlimmstenfalls musste man niedere Arbeiten verrichten, wie die Schuhe Fremder putzen oder Latrinen reinigen. Das waren Definitiv eklige Angelegenheiten, aber Selen hatte sich geschworen, lieber im Mist anderer zu wühlen, als ihren Körper zu verkaufen.

Axes blickte Selen verärgert aus dem Augenwinkel an. »Du hättest ihn abwimmeln können.«

Sie schüttelte stumm ihren Schopf. Es war nicht die Tatsache, dass er anbändeln wollte, was sie sauer machte, sondern eher die Dreistigkeit, dass er ein Mensch war und unter anderen Voraussetzungen anders gehandelt hätte.

Normalerweise hätten sie und Axes sich weiter gestritten, doch dieses Mal mussten sie dies verlegen.

Ihr ging langsam die Puste aus und die Wadenmuskeln schmerzten.

»Warum ausgerechnet einen Aknefluch?«, schrie er sie an.

Selen wandte ihren Kopf Axes zu, der sich entnervt mit einer Hand durch die Haare fuhr. »Er hat sich benommen wie ein törichter Grünschnabel, also soll er auch so aussehen«, rechtfertigte sie ihr handeln. Axes schüttelte kapitulierend den Kopf.

Schulterzuckend drehte sich Selen wieder dem Weg zu.

Sie musste zugeben, dass ihr Begleiter Recht hatte, ihr Handeln war zuweilen unüberlegt und übertrieben.

Vielleicht interpretierte sie in manche Handlungen zu viel hinein? Bis jetzt wurden sie in jedem Dorf als Magiewesen enttarnt worden.

In großen Städten wäre dies allerdings wesentlich unproblematischer gewesen als es nun bei diesem kleinen Dorf der Fall war. Hier galten Hexen als eine Seuche, schlimmer als die Pest oder Cholera. Keiner wusste, dass durch die andauernden Verfolgungen nur noch wenige ihrer Rasse am Leben geblieben waren, doch genau genommen interessierte das auch niemanden. Hexen symbolisierten das se und Magier, Druiden oder Elfe-so glaubte man-vollbrachten nur gute Taten.

Selen hasste dieses kleinkarierte Denken der Menschen, deswegen reagierte sie extrem, wenn sich ein `Normaler´ traute, mit ihr zu sprechen. Sie musste schon zu viel durch diese Rasse ertragen und konnte die blinde Wut nicht zügeln, wenn man sie herausforderte. Selen würde jäh aus den Gedanken gerissen, als sie einen vertrauten Duft wahrnahm.

Der vorherige Landregen hatte die Intensität, wie die Gräser des Waldes rochen, erhöht und so konnte die junge Hexe schon von Weitem das rettende Ziel erahnen. Ihre Augen weiteten sich freudig, als endlich der ersehnte Waldrand in Sichtweite kam. Selen kam es vor, als flüchteten sie schon seit Stunden vor dem wütenden Mob, gestärkt wurde dieser Eindruck von dem brennenden Schmerz in ihren Waden. Den langen Rock musste Selen raffen, damit sich ihre Füße nicht verfingen.

Krampfhaft lösten sich die Fingern vom Saum. »Axes, kümmer dich bitte um Ablenkung«, sagte sie etwas leiser und sah ihren Begleiter vielsagend an.

Dieser rollte genervt mit den Augen. Durch die lange Flucht war sein Hemd verschwitzt und er sehnte sich nun mehr denn je nach einem heißen Bad.

Axes und Selen bremsten scharf ab. Obwohl beide im Fliehen geübt und bei weitem nicht die Langsamsten waren, hatte sich der Abstand zu den wütenden Verfolgern nicht vergrößert.

Axes ging instinktiv in die Knie, um weiter zu rennen, wenn es nötig war.

Vor ihnen baute sich langsam eine Wand von Sterblichen auf. Nicht nur der Geschädigte, welcher nun wirklich einem Streuselkuchen glich, sondern auch die Gäste und die Bewirtung der Taverne, in der sie sich bei der besagten Tat befunden hatten, standen mit zornesroten Gesichtern und prustend oder schimpfend vor ihnen.

Selen schluckte schwer und ihr Blick wanderte zu Inuki, der leise knurrte. Der Rüde war sich bewusst, dass seine Herrin nicht immer richtig handelte, doch es war ihr nicht zu verübeln, dass sie überreagierte, wenn man ihre Vergangenheit bedachte. Seine durchdringenden Augen wanderten zwischen den Gesichtern der Menschen hin und her. Er würde seine Herrin bis zum Ende seines Lebens beschützen, das hatte er damals geschworen und er stand auch jetzt noch zu seinem Wort.

»Odys, du weißt, was zu tun ist!«, sprach Axes etwas ruhiger zu dem silbernen Fuchs zu seinen Füßen. Das Tier nickte seinem Herrn bestätigend zu und ließ die kalten Augen über die Menschen schweifen.

Mit einem kurzen Sprung stand er zwischen den Fronten.

»Wir werden euch zurück in die Abgründe schicken, aus denen ihr gekommen seid!« Ein hoch gewachsener Mann hatte das Wort ergriffen. Die restliche Meute stimmte rasch in die wüste Beschimpfung mit ein.

Der Fuchs schüttelte den Kopf über ein solches Verhalten. Ihm war es unklar, warum die Menschen sich gegenseitig töteten, wenn sie genauso gut voneinander profitieren konnten. Früher hatte er mit seinem Herrn für kleinere Dienste nzen bekommen, doch seitdem die junge Hexe dazukam, hatten sie keinen richtigen Auftrag und auch keine ruhige Minute mehr. Odys konnte sich diese Sache nur so erklären, dass es nicht mehr genügend Hexer und Hexen gab. Es muss für seinen Herrn eine Erleichterung gewesen sein, endlich eine Artverwandte zu treffen. Der Silberfuchs zuckte gleichgültig mit einem Ohr. Ihm sollte es Recht sein, solange er seine Mahlzeit bekam. Nun musste er allerdings für die nötige Deckung sorgen, damit sie entkommen konnten. Kurz schloss er seine Lider und konzentrierte sich auf die Kraft der Natur, oder wie die magischen Wesen es nannten, die Astralenergie, die in jedem Lebewesen schlummerte. Sie floss wie Blut durch den Körper, zirkulierte und kribbelte leicht, wenn man sie aktivierte. Allerdings konnten nicht viele Wesen diese Kraft nutzen. Bei jeder magischen Tätigkeit, ob Tier oder Hexe, musste man mit der Natur und sich selbst im Einklang sein.

Odys spürte, wie sich das berauschende Gefühl der Magie in seinem Körper sammelte. Jede Zelle fühlte sich wie ein einziger, lebender Organismus an, der für das Große zu atmen schien. Als er seine Lider öffnete, wusste er instinktiv was zu tun war. Der Fuchs spitzte sein Maul und fing an leise zu jaulen, dass es fast wie eine Beschwörungsformel für die Sterblichen klang.

Erschrocken wichen die Verfolger zurück. »Tötet die Hexen!«, schrie eine braunhaarige Frau schrill. »Ja, tötet sie!«, stimmte eine männliche Stimme aus der Menge zu.

Selen riss ihre Augen auf. Ihr wurden schon schlimmere Dinge an den Kopf geworfen und es war inzwischen üblich geworden, Morddrohungen zu bekommen, doch sie konnte sich nicht an die hasserfüllten Herzen der Menschen gewöhnen, die nach ihrem Tod schrien. Warum waren sie so? rden sie niemals in Eintracht nebeneinander existieren können?

Plötzlich stieg ein dicker, dichter Nebel vom Erdboden auf, dass es unmöglich wurde den jeweils Anderen vor Augen zu sehen. Eine schweißnasse, kalte Hand griff nach der Selens. Obwohl die junge Frau wusste, wem diese eisigen Finger gehörten, quietschte sie leise.

»Lass uns verschwinden!«, zischte Axes und zog Selen hinter sich her.

Ihr Blick wanderte prüfend zu Boden, wo sie Inuki erwartete. Selen konnte Inukis Umrisse kaum sehen, doch sie wusste, dass er sie wittern und ihr folgen würde. Langsam ließ sie sich aus der Gefahrenzone ziehen, hinein in den schützenden Wald. Nur die gehässigen Rufe der Dorfbewohner folgten ihnen noch.

»Werden sie uns je dulden?«, verschwendete Selen einen letzten Gedanken an die tobende Meute hinter sich.

Feuerwesen

Keuchend stützte sich Selen mit den Händen auf den Knie ab. Kleine Schweißperlen rannen ihre Stirn hinunter, hrend ihre Augen zwischen den tieferen Ästen der Bäume und den großen, heckenartigen Gebüschen hin und her wanderten.

Sie waren nun nicht ganz eine viertel Stunde gerannt, über umgestürzte Baumstämme gesprungen und hatten sich die Kleidung an dornigen Sträuchern aufgerissen. Dem festen Weg im Wald konnten die Hexenwesen nicht folgen, da sie der Pöbel dort viel zu schnell finden würde.

»Das waren jetzt ungefähr Fünf Kilometer. Das müsste reichen!«, keuchte Axes, der in die Hocke gegangen war und laut schnaufte. Er hasste diese Hetzjagden durch die Wildnis! Oftmals war es jedoch ihre einzige Chance zu entkommen.

Selen befühlte den stark mitgenommenen Saum ihres Kleides. Der Stoff war von der Feuchtigkeit der Erde schwer geworden. Noch hielten die Nähte, doch sobald sie trocknen würden, musste sie Nadel und Faden ansetzen, um das Schlimmste zu verhindern.

Inuki ließ die Zunge aus seinem Maul hängen, um seinen Körper etwas zu kühlen. Für das Tier war es kein Problem lange Strecken zu sprinten, jedoch nicht für die Menschen an seiner Seite. Inukis Augen wanderten zu Selen und blieben an ihrer Haut hängen, die jetzt stark gerötet war.

Odys schüttelte sein silbernes Fell und leckte sich über die Pfoten. Sein Blick ruhte auf seinem Herrn, der sich mit der Hand durch das wirre Haar fuhr. Den Silberfuchs regte diese aufreibenden Fluchten ebenfalls auf. Vom Charakter her war er sicherlich gutgesinnt, doch auch er bevorzugte es eher vor einem Kamin zu liegen, anstatt sich das Nachtlager in einer kalten, unbequemen Erdmulde suchen zu müssen.

Selen strich sich zitternd über die verkrampften Wadenmuskeln. Nur schwer konnte sie sich ein leises Schluchzen verbieten. Die Gegenbewegung zum Laufen brachte ihr etwas Erleichterung, doch es würde noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis der Schmerz vollkommen abgeklungen war. Die junge Frau wollte sich nicht beschweren, denn immerhin war es teilweise ihre Schuld, dass sie immer wieder in solche Situationen gerieten und schließlich eine spektakuläre Flucht den einzigen Ausweg bot.

»Ach, Selen!«, seufzte Axes, als er wieder ruhig atmen konnte.

Selen wandte sich ihm zu. »Was denn?«

Axes zog argwöhnisch eine Augenbraue hoch. »Den zickigen Unterton kannst du dir sparen, immerhin ist es deine Schuld, dass wir nicht länger als einen Tag in einem Dorf bleiben können.« Langsam richtete sich Selen auf. »Du weißt genau, dass es nicht allein meine Schuld ist!«, konterte Selen befehdend. »Ach ja?«, fragte Axes herausfordernd und stützte sich mit einer Hand am Stamm einer Esche ab. »Wer macht denn immer die Menschen darauf aufmerksam, dass wir keine normalen Leute sind?« Nun war er es, der einen klagenden Ton angeschlagen hatte.

Selen rümpfte ihre spitze Nase und biss sich unsicher auf die Unterlippe. Sie wollte ihm nicht Recht geben, auch wenn er es auf seiner Seite hatte. »Wir sind schon normal!«, warf sie dazwischen und blickte den jungen Mann mit einer Mischung aus Unsicherheit und Aggressivität an.

»Normale Menschen, die Magie aus Instinkt anwenden«, entgegnete er mit einem scharfzüngigen Ton. In seinen schwarzen Augen konnte man das Unverständnis für die junge Frau erkennen.

»Wir sind Kinder der Natur, wir sind eben Hexen«, wurde Selen nun lauter. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Fingernägel gruben sich in ihrer bleichen Haut. Die Pupillen wanderten ruckartig zwischen den beiden Augen Axess hin und her. Die junge Hexe scheute zwar keine Diskussion, doch jetzt wollte sie sich nicht für ihr Fehlverhalten rechtfertigen müssen.

»Aber das gibt dir nicht das Recht, instinktiv einen Menschen, der keine magischen Fähigkeiten zur Verteidigung besitzt, anzugreifen!«, entgegnete Axes.

Sein Blick wurde stechend, die Stimme ernst.

Selen kam dies wie ein Versuch vor ihre scheinbar verkorkste Erziehung wieder gerade zu rücken. Empört stampfte sie auf den Boden, die Tränen schluckte sie schwer hinunter. »Das mag ja vielleicht sein. Aber wer gibt ihnen das Recht uns zu töten?« Wenn die Junghexe laut gesprochen hätte, wäre sie ihren Emotionen nicht mehr Herr geworden. Selbst die dumpfen Schmerzen in ihren Waden waren zur Nebensache geworden. Sicher waren die Normalen ihr schutzlos ausgeliefert, wenn Magie ins Spiel kam. Doch die Menschen hatten Blut an ihren Händen kleben.

»Nein das Recht besitzt niemand, deshalb sollten wir Alle nicht so handeln«, sagte Axes etwas ruhiger, als er bemerkte in welche Richtung das Gespräch abdriftete. Wirsch fuhr er sich durch das kurze Haar. »Wir sollten uns ruhig verhalten und nicht andauernd die Magie, die wir besitzen, auch noch präsentieren!«

»Also sollen wir verleugnen, was wir sind?«, fragte Selen ablehnend. Gewiss wusste sie worauf ihr Weggefährte hinauswollte, doch sie wollte es aus seinem Mund hören.

Der Hexer verdrehte die Augen und schwieg für einen Augenblick, suchte nach den passenden Worten. »Wenn du es so nennen willst, dann verleugne dich«, antwortete er besonnen, nicht ein aggressiver Ton schwang in seiner Stimme mit. »Verleugne und lebe.«

Selens Augen nahmen einen gequälten Ausdruck an. »Das ist ein geheucheltes Leben«, flüsterte sie tonlos.

»Wir sind gejagte der Gesellschaft! Selen, wir können froh sein, wenn wir nicht lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.« Axes wollte zwar auch nicht so leben, doch dieses Leben hieß am Leben zu bleiben. »Komm Selen, wir müssen aufbrechen, sonst holen die uns noch ein«, sagte Axes versöhnlich und reichte Selen die Hand.

Matt lächelnd ergriff sie die größere, von Schwielen gezeichnete, Männerhand. Auch wenn Axes nur geringfügig älter war, als sie selbst, hatte er deutlich mehr Lebenserfahrung.

»Komm, Inuki«, nuschelte die Jugendliche und nickte dem Wolf zu.

Beide Seelentiere hatten die Unterhaltung mitbekommen, sich aber nicht eingemischt.

Selen war noch jung und wusste deshalb oft nicht richtig mit ihren Gefühlen umzugehen, aber sie hasste die Menschen nicht vom Grunde ihres Herzens. Sie war einfach nur tief enttäuscht und grenzte sich selbst ab, obwohl sie auch ein Sprössling dieser Rasse war.

»Nur noch wenige Tage, dann sind wir in Woran«, äußerte sich Axes, als er sich die Kleidung mit den Händen glättete. Seine lederne Hose sah mitgenommen aus. Einige Dornen hatten die zähe Hirschhaut durchstochen.

Selen sah an sich hinunter. Sie brauchte auch offensichtlich ein Nachtlager, wo sie ihre ramponierte Kleidung flicken konnte. In einer großen Stadt, wie Woran, wo jeden Tag viele Reisende ein- und auskehrten, war es für sie ein Leichtes unerkannt zu bleiben. »Aber erst müssen wir uns durch das Unterholz schlagen, bis wir einen Trampelpfad finden«, seufzte sie und setzte sich in Bewegung. Jäh rissen die Dornen eines buschgroßen Himbeerstrauchs lautstark ein weiteres Loch in Selens Rock. Seufzend nahm sie die Sache als gegeben hin. Sie konnte nichts daran ändern, dass ihre Kleidung von Mutter Natur entstellt wurde, zumal sie selbst daran Schuld hatte.

Eine angenehme Stille war zwischen die Gefährten getreten, als sie sich durch das Unterholz schlugen.

»Ich verstehe trotzdem nicht, warum die Menschen uns jagen«, flüsterte Selen mehr zu sich selbst, als zu ihrer Umwelt.

»Weil wir eben anders sind«, erwiderte Inuki die Aussage seiner Herrin in ihren Gedanken.

Für die Außenwelt hörte es sich an, als würde der achtzig Zentimeter hohe Wolf nur leise jaulen, doch Selen verstand seine tierischen Laute. Niemand anders konnte ihn verstehen, nicht einmal andere Hexen.

Selen schlug die tannenartigen Äste einer Eibe weg. »Ja, aber meine Großmutter hatte doch auch niemandem etwas getan«, flüsterte sie so leise, dass nur der Wolf ihre Worte verstand.

Inuki legte ein Ohr schief. »Deine Großmutter war eine wundervolle Frau gewesen, sie half den Menschen sogar.« Mit lang gestreckten Pfoten stieg der Wolf über einen abgebrochenen Ast hinweg. »Ich denke eher, dass dies etwas mit den Schatten zu tun hat, die einst auch deine Mutter töteten

Die Junghexe schluckte schwer den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, herunter.

Ihre Großmutter, Lydia, hatte ihr von jener schicksalshaften Nacht erzählt, als die Hütten niedergebrannten und alle Hexen des Konvents grauenhaft umgebracht wurden. Ihre Mutter starb in dieser Nacht ebenfalls.

Lydia flüchtete mit Selen in die Wälder des Zirkels. Nach einigen Tagen des Fußmarsches befanden sie sich in einem neuen Gebiet, in der Nähe einer Menschensiedlung, bei der sie sich schließlich niederließen. Dort bildete Lydia Selen weiter aus und mischte Kräutertinkturen für die Bewohner, damit diese sie nicht vertrieben. So lebten sie viele Jahre. Sicherlich fand die Junghexe in dieser Zeit keine Freunde, denn niemand wollte etwas mit einem magischen, verfluchten Wesen zu tun haben.

Redete ein Mensch mit ihr, wurde dieser von der Dorfgemeinschaft sofort missbilligend beäugt und ins Gespräch gezogen.

Eines Tages, es war noch nicht so lange her, schickte ihre Großmutter sie in den Wald, Anis, Augentrost, Johanniskraut und Passionsblume pflücken.

Diese Arznei brauchten sie für eine große Schlaflosigkeit, die sich über die Menschensiedlung gelegt hatte. Den Grund dieser Schlaflosigkeit wusste Selen jetzt, doch zu jener Zeit wollten sie nur hilfsbereit sein und mit den Menschen in Eintracht leben.

Als die Junghexe zurückkam, stand das Haus ihrer Großmutter in Flammen. Erst wollte sie ihr zur Hilfe eilen, doch dann erblickte sie das rußgeschwärzte Gesicht Lydias, welche hasserfüllt ein Wesen solcher Dunkelheit anstarrte, dass Selen es nur als Schatten im Gedächtnis behalten konnte. Die Aura dieses Wesens war kälter als Eis, dass sich selbst bei bloßem betrachten die Nackenhaare aufstellten. Selen musste aus den Büschen heraus zusehen, wie der Schatten ihrer Großmutter die Seele aus dem Leib sog.

Sie hätte helfen sollen, doch eine unbändige Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Letztendlich hatte sie feige die Flucht ergriffen.

Später erfuhr sie, dass die Dorfbewohner sie an die Jäger verraten hatten.

»Die Schatten sind unsere eigentlichen Peiniger«, flüsterte sie leise und schob ein weiteres Mal die schmalen, dunkelgrünen Blätter einer Esche weg.

»Die Normalen sind nur Werkzeuge«, bestätigte Inuki ihre Aussage.

Selen nickte stumm, ihre Augen verrieten, dass sie tief in Gedanken versunken war.

Die Wanderer waren schon eine lange Zeit durch den Wald gelaufen und geklettert.

Durch das lichter werdende Blätterdach konnte man erkennen, dass bald eine Lichtung oder eine Grasfläche folgen musste. Die Sonne wanderte schon gen Westen, die Mittagszeit war lange vorbei.

Unvermittelt drang ein tiefes, befremdliches Knurren an Selens Ohr.

»Was ist das?«, flüsterte sie und zog somit auch Axes Aufmerksamkeit auf dieses Geräusch.

»Dieses Knurren? Es ist ziemlich tief«, stellte er leise fest und legte nachdenklich die Finger an sein Kinn. Odys wandte den Kopf zu seinem Herrn und gab einen hellen Laut von sich.

Selen verstand nicht was der Silberfuchs seinem Partner mitteilte, doch sie konnte Axes Reaktion beobachten, dessen Augen sich leicht weiteten.

»Was ist?«, fragte Selen vorsichtig.

»Odys meint, dass er einen Duft aufgenommen hat, den er noch nie zuvor roch«, erklärte der Hexer leise und sah erwägend sein Seelentier an.

Inuki spitzte die Ohren und die hielt die Schnauze in die Luft. Nach wenigen Sekunden blinzelte er seine Partnerin an. Selen strich sanft über das Kopffell ihres Wolfes. »Inuki sagt, dass er einen Menschen und Wasser wittert«, erklärte sie Axes, der sie ebenso fragend ansah, wie noch vor wenigen Sekunden sie ihn.

Axes schürzte die Lippen. »Das passt nicht zusammen.«

»Dann müssen wir eben nachschauen!«, gab Selen eigensinnig zurück und wollte gerade den letzten Busch des Waldes hinter sich lassen, als sie ruppig zurück gerissen wurde. Sie stolperte ungeschickt nach hinten und konnte sich nur schwer abfangen.

»Warum hast du das getan?«, fauchte sie aggressiv.

Axes hatte immer noch den Saum ihres Kleides in der Hand, seine Augen waren starr an Selen vorbei gerichtet.

»Weil du dich umgebracht hättest!«, knurrte er leise zurück, nahm schließlich ihren Kopf in beide Hände und drehte ihn so, dass sie die gleiche Sicht wie er hatte.

Selens Augen weiteten sich, als sie entsetzt auf die Lichtung vor sich blickte.