Richard K. Breuer
Rotkäppchen 2069
BASIC EDITION
(c) 2006 Privatausgabe von Richard K. Breuer, Wien
(c) 2008 Taschenbuchausgabe von Richard K. Breuer, Wien
[Inhalt] Um ihren gesundheitlichen und sexuellen Problemen auf den Grund zu gehen, werden zwei Frauen und zwei Männer im August des Jahres 2069 an einen Quantenrechner angeschlossen und einem künstlichen Traum ausgesetzt. Doch das Experiment von Prof. Storm geht schief und die vier Versuchspersonen müssen von selbst einen Weg aus der virtuellen Welt finden, verfolgt vom künstlich intelligenten Überwachungsprogramm GIACOMO, das dies mit allen Mitteln verhindern will. Jetzt können nur noch Rotkäppchen und Egon, der Zwerg Margulevs, helfen. Eine irrwitzige, chaotische und absurde Reise beginnt. Werden sie den Notausgang finden?
*
[Richard K. Breuer] lebt und arbeitet in Wien. Wirtschaftlich geprägte Schulausbildung. Verschiedene Jobs im Banken- und Softwarebereich. Seit 2003 freiberuflicher Schriftsteller, Dramatiker, Drehbuchautor, Designer, Blogger, Comic-Texter und Illusionist. Absolvierung eines Verleger-Seminars bei Prof. Mazakarini. Autor der Woche (ORF Radio NÖ). Aufführung seines Theaterstücks Was ist die Liebe, Katarine? im TWW. Designer von frisch gespielt - das Magazin für Brett- und Gesellschaftsspiele in Österreich. Dr. Scherr vom Wiener Literaturhaus spricht von „beeindruckender Professionalität“ (Börsenblatt 1/2010). Seine absurde Wiener Krimikomödie Schwarzkopf ist für einen Kinofilm im Gespräch. Der historische Krimi im Agatha-Christie-Stil Brouillé wurde zur Leipziger Buchmesse 2010 präsentiert. Die historischen Romane Madeleine und Penly sowie die autobiographische Fiktion Der Fetisch des Erik van der Rohe für das Jahr 2011 geplant. Die Bücher sind als Taschenbuch als auch als ebooks erhältlich. Webseite mit allen Informationen:
In einer großen Buchhandlung sitzt B in der Mitte der Ebene 2. Vor ihm ein Tisch, auf dem ein geöffneter Koffer liegt, in dem sich Unmengen von ein und demselben Buch stapeln. Die Beine hat er von sich gestreckt, ab und zu gähnt er ungeniert. Er sieht übermüdet aus – so, als hätte er schon eine Ewigkeit nicht geschlafen – und beginnt ein afrikanisches Volkslied zu summen, tappt mit den Fingern den Takt und beobachtet lustlos die Vorgänge im Geschäftslokal. Ein älteres Ehepaar kommt die Treppe herauf und steuert geradewegs auf B zu. Am Tisch angekommen, kramt die ältere Dame in ihrer Tasche, holt ein Buch hervor und hält es B unter die Nase.
DAME »Haben Sie das meinem Mann verkauft?«
B nimmt das Buch in die Hand, prüft es eingehend, wiegt den Kopf hin und her.
B »Könnte sein ...«
Die ältere Dame tippt auf das oberste Buch des Stapels.
DAME »Das ist doch das Gleiche hier! Sie nehmen mich wohl nicht ernst, junger Mann!«
B »Wollen Sie vielleicht eine Widmung?«
B schlägt das Buch auf, zückt einen alten Füllfederhalter, nimmt die Kappe ab und will ansetzen, als sich ein Tintentropfen von der Federspitze löst und auf die Buchseite kleckst. Bs Stirn legt sich kurz in Falten. Er blickt zur älteren Dame, deren Nasenflügel merklich zittern, und lächelt.
B »Was darf ich schreiben?«
DAME »Glauben Sie vielleicht, dass ich auf Ihre limbischen Aktionen hereinfalle? Natürlich will ich keine Widmung! Ich frage mich nur, wie Sie die behördliche Zensurstelle austricksen konnten?! Das ist ein widerlicher Schmutz, den Sie da zu Papier brachten! Pfui! Sie sind hochgradig pervers! Aber Ihre Basalganglien können vielleicht noch erlöst werden ... ich habe hier eine Broschüre über das Kloster der heiligen Narren. Sprechen Sie mit der Ordensleitung, die kann Ihnen helfen, wieder ein frommer und gottesfürchtiger Mensch zu werden.«
Ein zweiter Tropfen löst sich von der Federspitze, fällt langsam nach unten und klatscht auf die Buchseite. B hebt die Augenbrauen, nickt, steckt die Kappe auf den Füller und den Füller weg, schließt das Buch und reicht es der älteren Dame.
B »Wollen Sie vielleicht ein zweites Exemplar?«
DAME »Unerhört! Ich werde Sie bei der SSI melden! Alfred, wir gehen!«
Aber Alfred macht keine Anstalten zu gehen. Er schüttelt den Kopf und beginnt zu lachen.
ALFRED »Ah, pas possible, jetzt wird abgereschnet, finalement!«
DAME »Alfred?! Hast du heute schon wieder nicht deine Pillen genommen? Wir werden sofort einen Termin bei Dr. Eggelhofer vereinbaren ... das ist doch nicht normal, so wie du dich die letzte Zeit benimmst. Und hör auf mich so unverschämt anzustarren, du blamierst mich in aller Öffentlichkeit ...«
ALFRED »Mais non, dü dümmes Weib ... isch bin nischt Alfred, je suis ... Fantomas!«
Alfred reißt sich die Maske vom Gesicht und zeigt auf B.
FANTOMAS »Quel dommage! Mit dir fangé isch an, mon ami ... ünd dann, dann sind die anderen dran! Die Schandé lastet wie ein schwerer Stein auf meiner Seelé, weißt dü das? Oui, Fantomas est sans pitié ... isch bin gnadenlos! [kneift ein Auge zusammen] C’est quoi ce bruit bizarre?«
Ein Auto kracht mit Getöse durch die Auslage in die Ebene 2, überschlägt sich mehrmals, schlittert am Wagendach dahin und pulverisiert dabei eine Vielzahl an Regalen. Knapp vor dem Tisch kommt das Auto zum Stehen. Der aufgewirbelte Schutt rieselt zu Boden. Im Hintergrund kippt ein Buchregal langsam nach vor, stößt ein weiteres an und dieses wiederum ein weiteres. Fantomas zieht einen goldenen Colt.
FANTOMAS »Haha, züm Erschießen lüstig, mais le passé est le passé ... vorbei ist vorbei ... gleisch bist dü tôt ... dü ...
Hürenkind!«
Der Dominoeffekt endet beim letzten Regal, das Fantomas unter sich begräbt. Die Fahrertüre wird aufgestoßen und Tom Thomsen, der das Stereotyp eines Privatdetektivs aus den 1930ern verkörpert, kriecht aus dem zerbeulten Wagen hervor. Er hebt seinen Hut vom Boden auf, putzt damit die Glassplitter von seinem grauen Sakko, setzt ihn auf, geht zum Tisch und nimmt sich ein Buch vom Stapel. B trommelt mit den Fingern am Tisch.
B »Bist du bescheuert? Ich hab dir doch gesagt, du sollst vor der Buchhandlung parken und nicht darin, oder?«
TOM THOMSEN deutet mit einer Hand nach hinten »Mit dieser verdammten Karre hätte ich mir beinahe das Genick gebrochen ... die Bremsen waren hinüber, haben nicht mehr gegriffen und da hoppelte ein Rieseneichhörnchen vor meinen Wagen ... weiß der Teufel, was das mitten am Gehsteig verloren hatte. [sieht auf das Buch] Was für ein hirnrissiger Titel ... bist du jetzt zum Märchenonkel geschrumpft? [blättert] Was ist denn das für ein Schweinekram? Ich dachte, du wolltest diesmal anständige Literatur stehlen?«
B zuckt mit der Schulter, will die Füße wieder von sich strecken, als er zwei Uniformierte die Treppe hochkommen sieht. Er steht auf, klappt den Koffer mit den Büchern zu und verschließt ihn.
B »Wir müssen gehen!«
[starting point: #ref_irgendwo_im_nirgendwo]
Sechs Abenteurer – drei Männer, drei Frauen – stehen im Kreis unter einer alten Trauerweide. Es ist still. Ab und zu vernimmt man Vogelgezwitscher, ab und zu rauscht der Wind durch die Äste. Minuten vergehen. Ein Abenteurer räuspert sich:
»Weiß jemand, was wir hier in dieser beschissenen Gegend verloren haben?«
Der Mann WOLF , der das fragt, ist etwa zwei Meter groß, trägt einen Dreitagesbart und einen Harnisch aus schwerem Hartleder. Zwischen seinen Zähnen wird ein Zahnstocher herumgeschoben. Ein großes Schwert ist auf der Schulter fixiert. Ein anderer Mann ROB, nur von durchschnittlicher Größe, ist wie ein Kreuzritter gekleidet. Er steckt in einer engmaschigen Kettenrüstung, darüber ein weißes Tuch mit einem roten Kreuz in der Mitte. Ein bescheidenes Schwert baumelt an seinem Gurt. Der dritte Mann MERLIN ist nur mit einem Nachthemd bekleidet und barfüßig. Er beobachtet konzentriert den Baum, murmelt in sich hinein, sabbert ab und zu aus dem Mund und zählt die Blätter der Trauerweide – im Moment ist er bei 283. Eine der Frauen FRANZI, sie sieht wie ein Spitzbube aus, ist von kleiner, schlanker Statur. Ihr Gesicht, von einem Pagenkopf eingerahmt, zieren viele Sommersprossen. Ein weißes Rüschenhemd, eine Leinenweste, eine Raulederhose und Lederstiefel, die bis zu den Knien gehen, bekleiden sie. Eine andere PERSE hat ihre ausgesprochen weibliche Figur in ein dunkles Lederkleid gepresst, wobei das Mieder aus beigem Leinenstoff ihre Brüste offenherzig darbietet. Ihre langen Haare sind zu einem Zopf geflochten und um ihren Hals trägt sie ein besonderes Lederband, das sich zu einer kleinen Peitsche – einer Neunschwänzigen – entrollen lässt. Die Letzte der Frauen SARA trägt einen knallroten hautengen Latexanzug, über den ihre langen glatten hellblonden Haare fallen, und gelbe Gummistiefel.Wolf deutet auf seine Brust.
WOLF »Man nennt mich Wolf! [zu Rob] Was ist mit dir? Warum blinzelst du mich an?«
ROB »Ich ... wollte das nicht machen ... ah, ich bin Rob!«
WOLF »Rob? Von mir aus. Was ist mit unseren Damen? Habt ihr einen Hauch von einer verschissenen Ahnung, wo wir sind?«
Drei Köpfe werden geschüttelt. Merlin sabbert aus dem Mund. Eine gelbe Kokosnuss fällt vom Baum. Sara geht auf Wolf zu und bleibt knapp vor ihm stehen.
SARA »Entschuldige, Wolfskopf ...«
WOLF »Bist du taub? Ich heiße Wolf!«
SARA »Sara möchte, dass Wolf ihr einen Gefallen tut.«
Wolf, etwa einen halben Meter größer als Sara, mustert sie von oben bis unten. Er kneift ein Auge zu. Der Zahnstocher wandert vom linken zum rechten Mundwinkel.
WOLF »Spinnst du? Ich rühr keinen Finger, nicht für dich, nicht für sonst wen. Ist das klar?«
Sara setzt einen flehenden Blick auf.
WOLF »Also gut, was willst du?«
SARA »Sara verspürt dieses tiefe Verlangen, am Atmen gehindert zu werden!«
Zögernd fährt Robs Hand nach oben. Vier Augenpaare sehen zu Rob. Das fünfte zählt die Blätter des Baumes (869).
ROB »Darf ich ... aufs Klo?«
Im Hintergrund verschwindet die gelbe Kokosnuss.Sara streckt Wolf ihren Hals entgegen und wartet. Nichts geschieht.
PERSE »Sie möchte, dass du sie würgst.«
WOLF »Sie ... sie möchte, dass ich sie würge? [zu Sara] Tickst du noch richtig ...«
Sara packt Wolfs Intimteile. Ein schmerzvolles Gurgeln ist zu hören. Der Zahnstocher fällt zu Boden, die Augen werden weit aufgerissen, der Körper beginnt sich seitlich zu krümmen. Sara lässt los und dreht sich zu Rob. Er schluckt und sieht fragend in die Runde. Wolf richtet sich wieder auf, hebt den Zahnstocher vom Boden und steckt ihn zwischen die Lippen. Dann tippt er Sara auf die Schulter. Sie dreht ihren Kopf zu ihm und bekommt eine Ohrfeige, die sie umwirft. Der Zahnstocher wandert vom rechten zum linken Mundwinkel.
WOLF »Kann mir einer sagen, warum mir diese Hexe meine Eier flach quetschen wollte?«
Vier Köpfe werden geschüttelt. Merlin zählt (1385). Sara hält sich die Backe.
WOLF »Also gut, verschnüren wir sie. Hat jemand ein Seil bei der Hand?«
Alle verneinen. Wolf beginnt Franzi zu mustern.
WOLF »Was ist mit dir? Gib mir deinen Ledergürtel!«
FRANZI »Meinen Gürtel? Aber dann hält die Hose nicht und ...«
Wolf nimmt Franzi am Hals.
WOLF »Jetzt hör mal gut zu, Sprosse, es ist mir scheißegal, ob dir die Hose passt oder nicht. Aber wenn wir die Gestörte da nicht gleich einwickeln, beißt sie mir den Schwanz ab. Und auf das stehe ich nicht … nein, ganz sicher nicht. Also, her damit!«
Franzi fädelt ihren Gürtel aus, den Wolf sofort an sich nimmt und damit zu Sara geht, die gerade Anstalten macht aufzustehen. Er drückt sie nieder und bindet ihre beiden Arme mit dem Gürtel zusammen. Sie richtet sich auf, prüft die Fesseln und versucht sich zu befreien, was aber nicht gelingen will. Sie beginnt zu toben und zu schreien, stürzt sich auf Wolf und gibt ihm einen harten Fußtritt in die Weichteile. Wolf geht langsam in die Knie, dann kippt er zur Seite weg. Sara dreht sich zu Perse.
SARA »Sara ist nicht schlimm, will nur den Gürtel am Hals spüren! Bitte, bitte ...«
PERSE »Ich seh schon, mit den Männern ist heute nichts anzufangen. Na mal sehen, was ich für dich tun kann.«
Perse nimmt Sara den Gürtel ab, schlingt ihn einige Male um ihren Hals und fixiert ihn. Sara beginnt zu keuchen, tut sich schwer beim Atmen. Perse beugt sich über Wolf.
PERSE »Ist noch alles dran, Wolfilein? Ich heiße übrigens Perse. Soll ich dir das buchstabieren?«
Wolf rappelt sich auf. Er steckt sich den Zahnstocher zwischen die Lippen, als Franzi beginnt ihn sorgfältig abzuputzen. Wolfs Stirn legt sich in Falten.
WOLF »Was treibst du da?«
FRANZI »Ich? Ich ... ich mache nur sauber. Ich bin Franzi, falls ... mich der werte Herr rufen möchte.«
WOLF »Franzi? Was ist denn das für ein bescheuerter Name? Hm ... kann es sein, dass dir gerade deine Hose runtergerutscht ist?«
FRANZI »Oh, meine Hose ... verzeiht, verzeiht ...«
Die Augen von Wolf, Rob und Perse werden groß.
WOLF »Ja, das hab ich ja noch nicht gesehen?! Ist das ein Schwanz?«
PERSE »Ziemlich klein ... ist eher ein Stummel.«
ROB »Aber sie sieht wie ein Mädchen aus ... ist Franzi ein Mädchen?«
Franzi lächelt.
FRANZI »Ja, natürlich bin ich ein Mädchen ... dieses kleine Detail, das hat nichts zu bedeuten ... ist nicht weiter von Belang. Ich bin das Fräulein Franzi. Die Herrschaften haben doch kein Problem damit?«
Kopfschütteln. Franzi zieht ihre Hose hinauf. Perse deutet auf Merlin, dem gerade Speichel über seine Unterlippe tropft.
PERSE »Fehlt nur noch der da.«
Wolf geht zu Merlin, tippt ihm mehrmals auf die Brust.
WOLF »Hallooo!? Verstehst du mich?«
MERLIN »4800, 4801, 4801, 4801, ...«
Merlin stoppt. Wendet sich zu Wolf.
MERLIN »Ich bin Merlin, der Zauberer von Oz. Meine Aufgabe ist es, das Schwachsinnige zu beschützen ... und die Blätter dieses heiligen Baumes zu zählen ... 4802, 4803, 4804, …«
Er zählt konzentriert weiter. Die Runde beobachtet ihn für eine Weile. Wolf seufzt.
WOLF »Weiß vielleicht jemand, wie’s jetzt weiter geht? Ach, Rob weiß es?!«
ROB »Ah ... nein, nein, ich ... ich will aufs Klo.«
WOLF »Mach, was du willst. Aber pinkle mir nicht auf die Stiefel, okay?«
Rob geht hinter den Baum, hantiert an der Rüstung und beginnt sich zu erleichtern.
PERSE »Hört ihr dieses liebreizende Plätschern? Das erregt mich. Was ist mit dir, Wolfilein? Hättest du nicht Lust?«
WOLF »Ein Wolf hat immer Lust! Ich würde sagen, komm und bedien dich!«
Perse stellt sich vor Wolf und beginnt seine Hose aufzuknöpfen.
PERSE »Das werde ich! Also, Wolfilein, da kann ich nur sagen: WOW! Das hätt ich dir nicht zugetraut!«
WOLF »Ha, was meinst du, wen du vor dir hast? Ich kann zum Tier werden, wenn ich will. Da steht mein kleiner Wolf so stramm, dass nicht mal eine Axt ihn umhauen könnte.«
PERSE »Wachsen dir bei Vollmond Haare?«
WOLF »Verarschst du mich?«
Perses Hände umfassen den kleinen Wolf, spielen mit ihm herum. Wolf schließt die Augen, während Perse ihr Halsband abnimmt.
PERSE »Was ich jetzt mache, wie soll ich sagen, das ist nicht einfach zu verstehen. Aber du darfst mir nicht böse sein. Versprichst du mir das?«
WOLF »Warum soll ich dir böse sein, ha? Mach nur, was dir in den Sinn kommt und ...«
Perse holt mit der Peitsche aus und schnalzt Wolf mitten ins Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen kann Wolf keinen Finger mehr rühren und ist gelähmt. Rob kommt wieder hinter dem Baum hervor, sieht, wie Perse ekstatisch ihren Lederrock rafft und ans Werk geht. Rob stellt sich zu Merlin, der gerade bei 8945 ist.
ROB »Ich verstehe die Mädchen nicht?! Am Anfang sind sie immer so nett ... und dann später ... dann werden sie immer so gemein. Kennst du vielleicht eine liebe Prinzessin, die mich mag?«
MERLIN »8992, 8993, 8994 ...«
Perse löst Wolfs Lähmung. Irritiert zieht dieser seine Hose hinauf und beginnt wie verrückt zu brüllen.
WOLF »WAS ZUM TEUFEL HAST DU MIT MIR GEMACHT?«
PERSE »Jetzt reg dich ab. Ich hab dir doch gesagt, dass du mir nicht böse sein sollst, oder? Ich ... ich hab dich nur gelähmt. Mit einem ganz bestimmten Peitschenschlag, den mir mein indischer Meister Rwawnda gezeigt hat. Der ist sensationell! Funktioniert im Prinzip wie eine simple Akupressur und hat keinerlei Nebenwirkungen. Wir müssen also weder Arzt noch Apotheker befragen, aber was ich nicht verstehe, ist, warum dein kleiner Wolf meine Vagina nicht mag. Hast du ein Problem damit?«
WOLF »Ein Problem soll ich damit haben? Siehst du meinen Schädel? Der glüht wie Lava! Und mein gestählter Körper zittert wie Espenlaub! [leise] Und weißt du warum, Perse? Weil mir bei deiner beschissenen Akuseppdingsbums die Sicherungen rausgesprungen sind! Mach das nie wieder mit mir! Hast du das verstanden? Nie wieder!«
PERSE »Ja, ja, schrei nicht wie ein Berggorilla herum, wenn du beim Höhepunkt den Schwanz einer Libelle hast. Mich erregt es eben, wenn der Mann keinen Mucks mehr von sich gibt. Versteht ihr? Und weil das nicht so einfach ist – welcher Mann hält schon die ganze Zeit still? – da habe ich mir das mit der Lähmung beibringen lassen. Ist doch prima, oder?«
WOLF »Du hast ne Meise, Perse!«
PERSE »Im Übrigen hat dir Franzi was zu sagen. Sie steht hinter dir.«
WOLF »Franzi?«
Wolf dreht sich um. Franzi, sichtlich verlegen, beginnt Wolf abzuputzen.
FRANZI »Ja, also ... es war so ... ich ... ich hab Euer strammes Hinterteil gesehen ... und das hat wohl mein Schwänzchen sehr erregt und ... da hab ich mich hinter Euch gestellt und ... versteht Ihr das, Herr Wolf?«
WOLF »Du hast mich in den Hintern ... ? Scheiße, ich hab nichts mitbekommen. Moment, da war doch was. Ein Kitzeln. Nicht unangenehm, zugegeben, aber ... Verdammt, was geht da mit euch vor? Seid ihr alle verrückt? Und du, Franzi, du ...«
FRANZI »Ja, Herr Wolf?«
Sie blickt zu Boden.
WOLF »Du rührst meinen Hintern nicht mehr an! Niemand rührt meinen Hintern jemals an. Ist das klar?«
Franzi nickt und geht einen Schritt zurück. Perse schüttelt den Kopf, während sie an der Rüstung von Rob hantiert.
PERSE »Diese Blechdose ist einfach nicht abzukriegen. Willst du mir nicht helfen, Robilein? Hoppla, du zierst dich ja. Was ist denn los?«
ROB »Das ... das mag ich nicht. Ich will lieber die Geschichte von Schneewittchen hören. Du ... du kennst doch das Märchen, oder?«
PERSE »Du willst eine Prinzessin, Robilein? Oje, da bin ich definitiv die Falsche, also so ziemlich am anderen Ende der Skala ... es sei denn, du stehst auch auf die bösen Tanten.«
Perse lacht. Rob setzt sich nieder und beginnt zu weinen. Perse seufzt.
PERSE »Also gut, Rob, wenn wir mal Zeit haben, dann spiele ich dir Rotkäppchen vor. Einverstanden?«
ROB hört auf zu Weinen »Versprochen?«
PERSE »Ja, versprochen. Aber den schlappen Wolf hier, den müssen wir austauschen!«
Wolf grummelt. Rob lächelt, steht wieder auf und wischt sich die Tränen ab, während am Himmel eine kleine Wolke in Regenbogenfarben schillert, Sara sich an Wolf wendet, eine gelbe Kokosnuss vom Baum und Merlin auf den Kopf fällt.
SARA »Sara ... bekommt zu viel Luft! Das Atmen geht ganz leicht ... Wolf muss etwas dagegen tun!«
Wolf nickt, löst den Gürtel, wickelt ihn wieder um ihren Hals, zieht fest und fixiert ihn.
WOLF »Ist es so eng genug?«
SARA »Mmmm … nein!«
WOLF »Und jetzt?«
SARA »Aah ... [atmet schwer] gut ...«
MERLIN »Was machen Sie mit meiner Assistentin? Lassen Sie sie sofort los! Moment ... ich kenne euch?«
Fünf Köpfe wandern zu Merlin, der sich verwirrt umsieht. Wolf beugt sich zu ihm.
WOLF »Na? Ist Merlin aufgewacht?«
MERLIN »Was? [zu Sara] Schnell, laufen Sie weg, ich werde die Polizei anpiepen. Mein Gott, ich ... ich habe ein Nachthemd an?! Was ... was ist da nur los? Bin ich in der Virtuality?«
PERSE »Virtuality?«
MERLIN »Kein Zweifel ... die bunte Wolke kann unmöglich real sein. Ja, jetzt erinnere ich mich ... zwar nur schemenhaft, aber das hat garantiert mit dem BioShake zu tun, der so schal schmeckte ... danach war ich wie weggetreten ... und Dr. Sablotznik schnallte mich auf die Liege. Warum? Ich versteh das nicht ...«
WOLF »Wer ist Sablotznik? Was ist ein BioDingsbums? Du redest wie ein Uhu, der zu viel Hirn gefressen hat, weißt du das?«
MERLIN »Ja, natürlich ergibt das für euch keinen Sinn ... ihr seid geHIREt ... Probanden einer virtuellen Reise. Was ihr hier seht, ist nicht wirklich, auch wenn es so aussieht oder sich so anfühlt ... euer ErinnerungsVolumen ist so eingestellt, dass ihr nicht wisst, wer ihr im richtigen Leben seid und dass ihr noch vor einer guten Stunde in meinem Labor mit mir gescherzt habt. Und euer BewusstseinsFaktor ist so gering, dass euch nicht mal ein sprechender Pinguin komisch vorkommen würde. Falls ihr mich versteht!?«
Wolf und Perse sehen sich fragend an.
PERSE »Vielleicht war es diese große Frucht, die Merlin auf den Kopf gefallen ist?! [zu Merlin] Wenn Ihr so klug seid, dann sagt uns doch, wohin wir gehen müssen!«
MERLIN »Ach, die gelbe Kokosnuss hier? [grübelt] Die Aufprallsimulation muss wohl meine subliminale Programmierung gestört haben ... deshalb kann ich jetzt klar und vernünftig denken. [zu Perse] Am besten, ihr geht einfach geradeaus, immer der Nase nach, dann findet ihr schon zum Exit. Die Scripts von NovoTale verwenden eine lineare Storyline, dadurch könnt ihr gar nicht vom Weg abkommen, nicht mal, wenn ihr das wolltet. [zum Himmel] Dr. SABLOTZNIK! Ich finde dieses Spielchen nicht sehr amüsant, also holen Sie mich und Sara sofort hier heraus! Sie wissen, dass ich Sie melden muss ... da kennt die Académie Physique leider kein Pardon. Also machen Sie es nicht noch schlimmer als es jetzt schon ist, hören Sie? Vielleicht kann ich für Sie mildernde Umstände ins Feld führen ... zum Beispiel Ihre rigorose Diät, die durchaus zu einer kurzfristigen mentalen Blockade geführt haben könnte ... zusätzlich haben Sie auch noch in den letzten Monaten bis spät in die Nacht designt und codiert, haben sich keinerlei Pause oder Auszeit gegönnt. Dr. Kravitz, B und natürlich Sara, wir alle haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Wir sind doch eine große Familie und kleine Zwistigkeiten, wie diese hier, werden wir untereinander lösen, das verspreche ich Ihnen. Also, Dr. Sablotznik, wenn Sie mich hören, geben Sie mir ein Zeichen und ...«
Ein Pinguin fällt auf Merlins Kopf.
PINGUIN »Huh ... das war aber ein heftiger Absturz ... ist das hier Madagascar?«
MERLIN »9973, 9974, 9975, ...«
Die anderen suchen mit ihren Augen den Himmel ab, während der Pinguin wieder verschwindet.
FRANZI »Vielleicht ist Sablotznik ein Gott?«
PERSE »Ein Gott, der eine Diät macht?«
Wolf geht ein Stück von den anderen weg, blickt sich um. Der Zahnstocher wandert von rechts nach links.
WOLF »Also gut, vielleicht ist Merlin ja nicht völlig verblödet. Seht ihr hier irgendwo eine Straße?«
PERSE »Du stehst auf einer, Wolfilein. Und vielleicht nimmt uns ja der Wagen mit, der da gerade des Weges kommt?«
WOLF »Was? Warum hast du mich nicht früher gewarnt? So eine verfluchte Scheiße …«
Wolf möchte zur Seite springen, stolpert, knallt mit dem Schädel auf das Steinpflaster, überschlägt sich mehrere Male und fällt in den Straßengraben. Nach einer Weile kriecht er hinauf, ruft den anderen zu.
WOLF »Wo ist die verdammte Karre, die mich beinahe überfahren hat?«
Die anderen zeigen in eine Richtung, aus der ein Ochsenkarren gemächlich näher kommt. Grummelnd steht Wolf auf und geht zu den anderen. Franzi beginnt Wolf abzuputzen.
PERSE »Na, Wolfilein, haben wir unseren Zahnstocher verloren?«
WOLF »Schnauze, Perse!«
ROB »Sollen wir ... den Wagen anhalten?«
WOLF »Na, was denn sonst? Bleibt hier, ich mach das!«
Wolf geht dem Ochsenkarren entgegen, der neben ihm anhält. Ein Bauer in einfacher Kleidung lächelt vom Kutschbock, hebt seinen Hut und grüßt freundlich.
BAUER »Ah, Fremde, wie ich seh … möchtet’s vielleicht ein Stückerl mitfahren? Heut ist mein Glückstag, hab einen alten Schatz g’funden ... war in lauter Galläpfeln versteckt, ist das net verruckt? Die Millionen hol ich jetzt vom Hof und bring’s in die Stadt ... na, die werden alle Augerln machen ... der Neid wird’s zerfressen. Mordsakerlot. Dich kann ich gern mitnehmen, musst mir halt a bisserl zur Hand gehen ... dein Schaden soll’s net sein ... bin ja jetzt eine reiche Herrschaft! Und für deine Freunderln findt sich schon was ... a Dienerschaft tät ich gut gebrauchen ... aber die müssen laufen, sonst verschmutzen’s mir den schönen Wagen. Des verstehst du doch?«
Wolf nickt, zückt sein Schwert und hackt den Bauern um. Als er Perse aus den Augenwinkeln näher kommen sieht, dreht er sich zu ihr und lässt das Schwert hinter seinem Rücken verschwinden.
WOLF »Ah ... Perse, wollte euch gerade rufen ... der Bauer überlässt uns den Wagen ... er, er hat nichts dagegen, aber ein kleiner Schwächeanfall [der Bauer fällt vom Kutschbock, eine Blutfontäne ergießt sich im Hintergrund] ... oh, das hat nichts zu bedeuten ... das kommt schon mal vor.«
PERSE »Ist ja trashig, was du da machst. Ich gehe besser nach hinten.«
WOLF nachäffend »Ist ja trashig. [ruft ihr nach] Was heißt das überhaupt? [zu den anderen] Braucht vielleicht jemand eine Leber? Nein? Eine Niere hätt ich auch noch hier ... [hält sie hoch] das ist doch eine Niere, oder?«
FRANZI »Darf ich das sauber machen, Herr Wolf?«
WOLF »Bedien dich ...«
Franzi reinigt den Kutschbock, dann nimmt sie mit Wolf, der sein Schwert wegsteckt, Platz. Rob hilft Merlin auf den Wagen. Sara möchte sich nicht helfen lassen. Probiert es ein, zwei Mal, bis sie es schafft und sich, vollkommen außer Atem, an die Seite setzt. Wolf nimmt die Zügel in die Hand und wirft einen Blick zurück.
WOLF »Alle da?«
ROB »Nein!«
WOLF »Was denn, wer fehlt denn noch?«
ROB »Perse ...«
WOLF »Wo zum Henker treibt die sich wieder herum?«
Franzi deutet zur Seite.
FRANZI »Treiben ... ist wohl das richtige Wort dafür, Herr Wolf.«
Wolf dreht seinen Kopf zur Seite, bekommt große Augen.
WOLF »Perse, bist du vom Teufel geritten, was machst du mit dem Kerl ... oder von dem, was da noch übrig ist?«
Perse richtet sich auf, streift ihr Lederkleid gerade.
PERSE »Ich dachte … ach, nicht so wichtig.«
Perse steigt auf den Wagen. Rob hilft ihr.
ROB »Der Bauer ist ... tot und du ... du ...«
PERSE »Robilein, mach den Mund wieder zu. Glaubst du, dieses kleine Vergnügen hat ihn gestört? Und wenn unser Herr Wolf nicht so einen Stress machen würde, dann hätte ich’s beinahe genossen, aber so vergeht einem ja der Appetit.«
Wolf beißt die Zähne zusammen und beginnt die beiden türkisen Ochsen anzutreiben.
PERSE »Wolfilein?«
WOLF »Ja?«
PERSE »Warum fahren wir nicht?«
WOLF »Scheiße, ich prügle den Viechern das Blaue aus den Augen, aber die wollen nicht von der Stelle. Sieht nach einer Wegfahrsperre aus. Was ist mit dem Kutscher, Perse? Kannst du ihn vielleicht ins Leben zurückholen?«
Die Abenteurer lassen den Ochsenkarren stehen und gehen die gepflasterte Landstraße zu Fuß entlang. Nach 512 Schritten baut sich vor ihnen eine Schenke auf, die einen verwahrlosten Eindruck macht. In einem kleinen Gatter begrüßen fünf Pferde die Ankommenden. Wolf öffnet die Glastüre zur Schenke und lässt die anderen eintreten. Die anwesenden Gäste, zumeist Bauern oder einfache Leute, verstummen, ihre dunklen Augen starren die Abenteurer an, die sich an einen Tisch setzen. Der Wirt kommt zu ihnen, wirft einen Blick auf Sara.
WIRT »Ah, Fremde, wie ich seh. Das Mädchen keucht wie meine Großmutter. Warum hat sie einen Gürtel um den Hals?«
WOLF »Kümmere dich um deinen Scheiß!«
ROB »Sie ... hat das gerne.«
Der Wirt lächelt.
WIRT »Ach? Meine Cousine zweiten Grades ist auch ganz verrückt danach. Zu Weihnachten hab ich ihr eine Schlinge geschenkt und sie war völlig aus dem Häuschen. [zu Wolf] Ist das nicht witzig?«
WOLF »Ich lach mich tot. Bring uns Bier!«
Der Wirt geht kopfschüttelnd weg.
PERSE »Wolfilein, du bist ziemlich grob gewesen. Der hat es doch nur gut gemeint.«
Sara steht auf und geht ein wenig herum. Wolf wendet sich an Perse.
WOLF »Ich finde das nicht so gut, dass sie da so herumspaziert ...«
Sara bleibt hinter Wolf stehen, beugt sich zu ihm hinunter.
SARA »Wolf könnte ... Sara daran hindern?!«
Wolf schließt kurz die Augen. Er steht auf und geht zum Tresen, wo der Wirt gerade die Bierkrüge voll macht.
WOLF »Sag, hast du irgendwo ein Seil herumliegen?«
WIRT »Sie will auf einen Sessel gefesselt werden, hab ich Recht? [Wolf nickt] Ich sag’s ja, genauso wie bei Beth, meiner Cousine zweiten Grades. Damals, im Frühling, als die Familie einen Ausflug nach Ort’n machte, da ...«
WOLF »Hast du nun ein Seil für mich oder willst du mich voll quatschen?«
Der Wirt greift unter die Theke, holt einen verstaubten Koffer hervor und öffnet ihn.
WIRT »Alles, was der brave Erotomane benötigt. Seile in jeder Länge und Stärke, ein paar Tücher, ein paar Handschellen, eine Ledermaske, eine orientalische Spirale, die kann ich empfehlen, diverse Gürtel und Klemmen, Liebeskugeln in allen Größen, Videos, eMagazine, Hörspiele, eBooks, …«
WOLF »Okay, her mit dem Seil.«
WIRT »Wofür wird’s denn gebraucht? Falls Ihr tibetisches Bondage praktizieren wollt, dann ...«
WOLF »Gib mir einfach nur ein beschissenes Seil.«
Wolf geht mit einem Seil zu Sara, die wieder auf ihrem Stuhl sitzt und beginnt sie festzubinden.
SARA »Die Füße!«
WOLF »Was?«
SARA »Wolf soll Saras Füße nicht vergessen!«
WOLF »Dafür reicht das Seil nicht.«
SARA »Sara will, dass Wolf ihre Füße ...«
WOLF »Ich hab’s verstanden ... flipp nicht aus!«
Wolf geht zum Wirt, der den Koffer wieder hervorholt.
WIRT »Die Füße, stimmt’s?«
Wolf nickt. Der Wirt gibt ihm ein weiteres Seil. Wolf geht zurück, kniet sich vor Sara nieder und wickelt das Seil um ihre gelben Gummistiefel, als zwei große Schatten über ihn fallen und eine dumpfe Stimme erklingt.
GARDIST #1 »Ah, Fremde, wie ich seh. Uns gefällt nicht, wie du die Kleine behandelst!«
Wolf richtet sich auf und dreht sich um. Zwei Gardisten, die mit Hellebarden bewaffnet sind und in ordentlichen Kettenrüstungen stecken, schütteln unfreundlich die Köpfe. Wolf will etwas entgegnen, aber Rob ist schneller.
ROB »Nein, nein, sie will das so.«
GARDIST #2 »Natürlich will sie es. [zum ersten Gardisten] Hast du das gehört, Lucius?«
Die beiden beginnen herzhaft zu lachen. Wolf macht einen Schritt zurück, will zum Schwert greifen, als einer der Gardisten seine Hellebarde zur Seite stellt, sich vor Sara kniet und das Seil löst.
GARDIST #1 »Ihr müsst eine Attila-Schlinge um ihren Hals legen und diese dann mit ihren Füßen verbinden. So kann sie selbst Druck auf ihre Atemwege ausüben. Das ist angenehmer für sie.«
Wolfs Stirn legt sich in Falten. Langsam nimmt er die Hand vom Schwertgriff. Der Gardist schlingt das Seil einige Male fachmännisch um die gelben Stiefel, führt es zum Hals, macht eine besondere Schlinge, die sich löst, wenn nicht gezogen wird, zieht sie über Saras Kopf, lockert den Gürtel und justiert die Enge der Schlinge. Dann richtet er sich auf und begutachtet sein Werk. Sara zieht ein wenig an ihren Füßen, was zur Folge hat, dass die Schlinge sich um ihren Hals zusammenzieht. Sie blinzelt erregt. Der Gardist klopft Wolf lachend auf die Schulter.
GARDIST #1 »Das wird schon werden … Ihr braucht nur ein wenig Übung, dann läuft es wie von selbst. Beth könnte Euch da sicherlich gut helfen. Sie ist die Cousine vom Wirten. Kennt Ihr sie?«
Wolf winkt ab. Perse lädt die beiden an ihren Tisch und bestellt zwei Bierkrüge für sie, die sogleich gebracht werden. Die Runde stößt auf das Leben an, trinkt, während Merlin mit sich selbst beschäftigt ist und in einen leeren Bierkrug sabbert.
GARDIST #2 »Wohin geht die Reise, wenn man fragen darf?«
PERSE »Wenn es stimmt, was Merlin erzählt hat, dann sollten wir nach Exit. Kennt ihr das?«
GARDIST #2 »Noch nie davon gehört. Aber wenn Ihr die Straße weiterfahrt, kommt Ihr zur Stadt, dort weiß man vielleicht, wo Exit ist. [blickt zu Merlin] Eurem Freund hier scheint es nicht so gut zu gehen. Was hat er denn?«
WOLF »Merlin? Der hat sie nicht alle ...«
ROB »Aber er hat mit einem von da oben gesprochen!«
Alle blicken kurz an die Decke.
GARDIST #2 »Ach? Was Ihr nicht sagt?! Es heißt ja nicht umsonst, dass die, die arm im Geiste sind, einen guten Draht zum Himmel hätten.«
GARDIST #2 »Vielleicht hat er eine prophetische Gabe?!«
PERSE »Möchtet Ihr ihn fragen? Nur zu, Ihr könnt es gerne probieren.«
GARDIST #2 »Großer Merlin, ist es mir erlaubt, eine Frage an Euch zu richten?«
Die Blicke wandern zu Merlin. Nichts tut sich. Die Gardisten werden unruhig. Da stößt Rob eine der angelehnten Hellebarden an, die zur Seite kippt und Merlins Kopf trifft, der mitsamt seinem Stuhl umfällt. Die anderen schauen verdutzt. Merlin rappelt sich auf, während im Hintergrund ein Weihnachtsmann aus dem Kamin fällt.
MERLIN »Auweh ... was war das jetzt? [greift sich an den Kopf] Hat vielleicht jemand ein Asproxyn? Ich habe starke Kopfschmerzen und ... was macht denn der Weihnachtsmann im Kamin? Wir haben doch August?! Oh, ich seh schon, Dr. Sablotznik treibt noch immer seine Späße mit mir. [blickt zur Decke] Aber wenn ich wieder draußen bin, dann ... dann sind Sie dran! Hören Sie mich, Dr. Sablotznik? Seien Sie vernünftig, beenden Sie die Sache und bringen Sie sich nicht um Kopf und Kragen. Sie sind der beste Quantentechniker, den es zurzeit auf der Welt gibt ... was können wir nicht noch alles gemeinsam erschaffen? Mit Dr. Kravitz steht uns die Virtuality offen! Also? Ich gebe Ihnen eine letzte Chance! [blickt in die Runde] Was starrt ihr mich so an?«
GARDIST #2 »Entschuldige, oh ehrwürdiger Merlin, frage den großen Sablotznik, ob es mir erlaubt sein wird, Sylvia zu heiraten.«
Merlin überlegt für einen Moment.
MERLIN »Was ich jetzt sage, wird euch beiden nicht sonderlich gefallen, aber ... es gibt keine Sylvia, es gibt keine Schenke. Alles, was ihr hier seht, ist nicht real, sondern virtuell. Ihr seid so genannte SubRoutinen, die nur einem programmierten Script folgen und sich um die Probanden hier kümmern sollen. Und ich, ich bin ein User! [Stille] Der Witz funktioniert nur dann, wenn ihr den Film ›Tron‹ gesehen habt ... nein, den kennt ihr natürlich nicht.«
GARDIST #2 »Ihr behauptet also, dass es keine Sylvia gibt? Ha, das ist ja geradezu lächerlich. Heute Morgen habe ich sie am Markt getroffen. Sie zwinkerte mir zu. Ihr seid ... ein Scharlatan, ein Lügner, nichts anderes seid Ihr. Ich gebe Euch den Rat zu schweigen, sonst ...«
MERLIN »Du willst mir drohen?«
Merlin steigt auf den Tisch.
MERLIN »Ich habe euch doch bereits gesagt, dass ihr nur kleine, unbedeutende SubRoutinen seid, die nur das tun, was in ihrem begrenzten Script steht. [deutet herum] So wie all die anderen hier. Aber das versteht ihr nicht. Weil die Scriptprozesse dafür nicht ausgelegt sind. Was würde auch eine SubRoutine der niederen Klasse mit dem Wissen anfangen, dass sie eine SubRoutine ist? Ich könnte ewig so weiterphilosophieren, aber das macht keinen Sinn. Lasst mich in Ruhe und verschwindet. Oder mit anderen Worten: Geht mir aus der Sonne und stört meine Kreise nicht. [lacht, murmelnd] Schön langsam finde ich Gefallen an diesen limitierten Scripts. Irgendwie grotesk, aber diese Macht ... diese grenzenlose Macht ... ich bin allwissend, jedem überlegen und fühle mich in einer gottähnlichen Position ... nein, nein, ich ... ich bin Gott! [zu den anderen] Und ihr, ihr seid nur Punkte oder Flöhe in der Welt der Götter. Lästig könnt ihr freilich werden, aber sonst? Und jetzt verlange ich anständige Kleidung ... Kleidung, die einem Gott gebührt!«
Die beiden Gardisten sehen sich kurz an und nicken. Sie erheben sich und nehmen ihre Hellebarden.
GARDIST #1 »Euer Freund beleidigt uns!«
Perse steigt auf den Tisch, stellt sich neben Merlin.
PERSE »Nein, nein, Merlin ist nur ein Schausteller ... ein Schmierenkomödiant, der die Rolle gestern einstudiert hat. Das hat er doch, stimmt’s Merlin?«
Merlin runzelt die Stirn.
MERLIN »Ich heiße nicht Merlin, ich bin Prof. Storm! Und du bist Persephone, eine Probandin meines Experiments! Und wie man sehen kann, möchte dein Unbewusstes, dass du dich nicht versteckst, dass du den Ton angibst. Wenn du genügend subtile Effekte erzielst, werden wir keine Probleme haben, die relevanten traumatischen Verdrängungs-Verknüpfungen zu finden. Aber genug der Fachsimpelei. Jetzt möchte ich, dass man mich auf Händen zum nächsten Exit trägt.«
Merlin klatscht mehrmals in die Hände. Nichts tut sich. Perse nimmt einen der leeren Bierkrüge und schlägt damit Merlin auf den Hinterkopf. Er verstummt, beginnt vor sich hin zu starren und aus dem Mund zu sabbern.
PERSE »Seht nur, wie verwandlungsfähig Merlin ist. Zuerst spielte er den herrschsüchtigen Tyrannen und nun den Dorftrottel, der kein Wort herausbringt.«
Perse zwinkert Wolf zu, steigt mit Merlin vom Tisch und verbeugt sich. Die Gäste beginnen zu applaudieren. Die beiden Gardisten flüstern miteinander. Perse geht zu ihnen.
PERSE »Kann mir vielleicht einer der strammen Gardisten zur Hand gehen? Mein Pferd ... es lahmt seit heute
Morgen und bewegt sich nicht mehr von der Stelle.«
GARDIST #1 »Das haben wir gleich ... gehen wir nach draußen.«
Die anderen sehen den beiden nach, bis sich die Eingangstüre hinter ihnen schließt. Der zweite Gardist trinkt seinen Krug leer, dann zwinkert er Franzi zu.
GARDIST #2 »Wollt Ihr vielleicht meinen großen Hengst sehen? Er wird Euch mit Sicherheit gefallen.«
Franzi lächelt schüchtern und geht mit ihm hinaus. Wolf und Rob trinken in aller Ruhe aus und ordern eine weitere Runde, als man von draußen einen Gardisten schreien hört.
»Lucius! Was hat das Luder mit dir angestellt?«
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Die Abenteurer sitzen wieder am Tisch, trinken ihr Bier, bis auf Sara, die sich mit ihrer Schlinge spielt, und Merlin, der seinen Spucknapf voll macht. Ein fahrender Händler kommt durch die Türe und fällt tot um. Wolf tippt sich an die Stirn.
WOLF »Perse, du hast dich nicht im Griff!«
PERSE zuckt mit der Schulter »Wolfilein, jetzt sei nicht so streng mit mir, ich habe mich nur ein wenig vergnügt. Ich weiß nämlich, wie lange es dauert, bis das Lebenslicht eines kräftigen Mannes erlischt. Ich habe das im kleinen Finger.«
WOLF »War das jener kleine Finger, der sich in den Kehlkopf des zweiten Gardisten gebohrt hat?«
PERSE »Ich dachte, der will Franzi etwas antun … ich hatte ja keine Ahnung!«
WOLF »Wie? Franzi wollte ihm mit heruntergelassener Hose einen hinterhältigen Besuch abstatten!«
PERSE »Aber die beiden Gardisten waren noch quicklebendig, was sich jedoch geändert hat, als du über die Türschwelle getreten bist. Wir hätten das Ganze auch als ein kleines Missverständnis abtun können, aber du musstest ja gleich ...«
WOLF »Soll das etwa heißen, dass ihr mir jetzt die Schuld gebt?«
PERSE »Immerhin war es dein großes Schwert, das sich in den Allerwertesten der beiden bohrte, oder war das eine Halluzination?«
WOLF »Was hätt ich denn sonst machen sollen, nachdem sie euch als, ich zitiere, verfluchte Hexen bezeichneten? Und was haben sie noch gebrüllt? War es nicht: ›Und Sablotznik wird euch auch nicht helfen, der Scheiterhaufen wartet bereits‹? Die wollten euch tot sehen! Mausetot! Stimmt’s, Rob?«
Rob bejaht stotternd.
Wolf nimmt verärgert einen Schluck.
WOLF »Scheiße, ist das warm …«
Perse seufzt.
PERSE »Wolfilein? Gibst du Merlin wieder seinen Spucknapf zurück?«
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