Richard K. Breuer
Die Liebesnacht des Dichters Tiret
Inhaltsverzeichnis
Band I
August bis Dezember 1788. Als der Gelehrte Aleksander Mickiewicz sich in die schöne Madeleine, Tochter eines polnischen Aristokraten, verliebt, ahnt er noch nichts von den mysteriösen Umständen seiner Herkunft und von den Ereignissen, die ihn bald unversehens in die politischen Umbrüche hineinziehen werden. In Begleitung des geheimnisvollen, zuweilen verschrobenen Marquis d‘Angélique begibt er sich auf eine gefährliche Reise nach Frankreich und begegnet dem genialen Vordenker der Revolution Graf Mirabeau und weiteren historischen Personen. Die Welt beginnt, am Vorabend der Revolution aus den Fugen zu geraten ...
Der Schriftsteller stellt den umgeworfenen Stuhl auf und putzt ihn ein wenig ab.
»Ich möchte Sie bitten, Platz zu nehmen.«
Das Mädchen zögert für einen Moment. Dann hebt sie ihren langen Rock ein Stück, steigt über die zerbrochenen Fensterscheiben und umgeworfenen Regale, über all die zerrissenen und zerfledderten Bücher, Broschüren und Briefe eines Barnave, Condorcet, Desmoulins, Danton, Marat, Robespierre, Mercier, Mirabeau, Rivarol, Bretonne, Brissot, einer Roland, Duplessis, setzt sich auf den Stuhl und senkt ihren Blick, während der Schriftsteller mehrere Stricke aus seiner Tasche holt.
»Ihre Hände, wenn ich bitten darf!«
Wieder zögert sie. Wieder nur kurz. Dann verschränkt sie ihre Hände hinter der Stuhllehne.
»Es ist mir unangenehm, Mademoiselle, fürwahr, das ist es. Aber was kann ein ehrbarer Mann anderes tun, wenn die Sache in Gefahr gerät?«
Der Schriftsteller verknotet den Strick, der ihre Hände bindet. Dann macht er ihre Taille am Stuhl fest.
»Nennen Sie mir die Namen all jener Verräter, die mich im Kampf verlassen haben und, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, Sie sind frei.«
Er kniet nieder, hebt ihren Rock vom Boden und wickelt den Strick um ihre Füße herum.
»Monsieur … ich kann Ihnen die Namen nicht nennen. Es tut mir leid. Möchten Sie mit mir nun anstellen, was Sie für richtig halten, aber Sie werden mich nicht umstimmen können. Niemals!«
Der Schriftsteller zieht die Stricke fester und verknotet sie.
»Ich verlange weder etwas Unmögliches noch etwas Unehrenhaftes! Diese Verräter haben meine Sache mit Füßen getreten. Ich habe ihnen mein Angebot unterbreitet, aber kein Wort erreichte mich. Keine Ablehnung. Keine Zustimmung. Es ist fürwahr das Schlimmste, was einem widerfahren kann, die Ungewissheit in einer wichtigen Angelegenheit. Immer diese Hoffnung, dass mich die Antwort erreichen und sich alles zum Guten fügen wird. Oft wollte ich es glauben. Aber wie lange? Wie lange? Sagen Sie mir, Mademoiselle, wie lange hätte ich noch zuwarten müssen?«
Das Mädchen hebt ihren Kopf und sieht schweigend in die
Augen des Schriftstellers.
»Nun?«
Jenes Schriftstellers, der zu aller Anfang ein Leben voller Hoffnungen, voller Möglichkeiten lebte, der sich, so gut es ging, den gesellschaftlichen Verpflichtungen und Zwängen widersetzte. Er lebte für seine Vision, für seine Kunst. Und die Vision, die Kunst lebte für ihn. Das war sein Ehrgeiz. Und darin liegt die Wurzel all dieses tollwütigen Hasses begraben: Wer seine Kunst verspottet, der verspottet auch ihn. Wer seine Kunst missachtet, der missachtet auch ihn. Wer seine Kunst belächelt, der belächelt auch ihn. Viele dieser gekränkten und geknickten Seelen haben sich von der Welt zurückgezogen, haben ihre Illusionen aufgegeben, sie vergessen und leben in seltsamer Bescheidenheit. Andere sind an Kummer und Gram zugrunde gegangen, nur beseelt im Glauben, dass es eine Zukunft gibt, in der die Gerechtigkeit obsiegt und man an ihrem Grab ihre gedruckten Gedanken und gelebten Ideen beklatschen und bejubeln wird. Eine geringe Zahl wiederum hat durch die fehlende Anerkennung den nötigen Antrieb bekommen, der es ihnen möglich machte, mit mehr Ausdauer und Kraft aus dem Schatten der Mittelmäßigkeit hervorzutreten und ihre Projektemacherei voranzutreiben. Bleiben noch jene wenigen übrig, deren Seele sich über die Zeit verdunkelte, weil sie jede Kränkung, jede Schmach mit Hass parierten. Der einstmals hoffnungsfrohe und lebensbejahende Künstler und Visionär ist nur noch ein einsamer Gefangener seines blindwütigen Ehrgeizes.
»Mademoiselle … glauben Sie, dass ich Ihnen nicht wehtun könnte? Gar, weil ich mich Dichter nenne, dessen Hand, so scheint es, nur eine Feder zu führen versteht, die liebliche Verse aufs Papier zeichnet? Möchten Sie sich nicht täuschen.«
Der Schriftsteller holt aus seiner Rocktasche ein Rasiermesser, klappt es auf und beginnt mit der scharfen Klinge langsam das Kleid, von der Taille abwärts, zu zerschneiden. Die Oberschenkel des Mädchens, nur noch durch Strümpfe geschützt, kommen zum Vorschein. Er löst die hellen Strümpfe, legt das Messer zur Seite, kniet vor ihr hin und bettet seinen Kopf, seitlich geneigt, in ihren Schoß. Dann führt er seine Hand bedächtig auf ihren linken Schenkel. Seine dunklen Fingerkuppen beginnen die seltsamsten Tänze auf ihrer Haut zu vollführen, verfolgt von seinen unruhigen Augen. Ein wohliger Schauer durchströmt seinen, vielleicht auch ihren, Körper. Lange kann er sich nicht lösen. Schließlich, als eine Träne auf seine Wange fällt, lässt er ab und erhebt sich wieder. Er nimmt das Rasiermesser vom Boden und geht an die Rückseite des Stuhls.
»Möchten Sie noch etwas sagen, Mademoiselle?«, setzt er die Klinge des Messers an ihren Hals.
Er schließt die Augen und atmet den Duft ihrer Haare. Ein Windstoß fährt in das Zimmer, wirbelt Staub und Papierfetzen hoch und schlägt ein Buch auf.
»Ich bete, dass Ihnen Ihre Leser vergeben werden«, flüstert sie.
Er öffnet die Augen, während das Messer die Schlagader des Mädchens langsam durchschneidet. Aus dem tiefen Schnitt läuft das Blut hinab.
Auf die Schenkel.
Zur Seite.
Und färbt das weiße Kleid rot.
»Wenn ich daher alle die Staaten, welche heutzutage in Blüthe stehen, durchnehme und betrachte, so sehe ich, so wahr mir Gott helfe, in ihnen nichts Anderes, als eine Art Verschwörung der Reichen, die unter dem Deckmantel und Vorwande des Staatsinteresses lediglich für ihren eigenen Vortheil sorgen, und sie denken alle möglichen Arten und Weisen und Kniffe aus, wie sie das, was sie mit üblen Künsten zusammen gerafft haben, erstens ohne Furcht es zu verlieren, behalten, sodann wie sie die Arbeit aller Armen um so wenig Entgelt als möglich sich verschaffen mögen, um sie auszunutzen.«
Die Geschichte, wenn wir sie aufmerksam studieren, wiederholt sich, aber kaum jemand nimmt Notiz davon. Die Menschen, es steht zu befürchten, haben sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende nicht verändert. Sie mögen nach außen aufgeklärter und vernünftiger geworden sein, aber Leidenschaft und Gier sind nach wie vor die bestimmenden Faktoren bei weitreichenden Entscheidungen. Wer das nicht glauben mag, der muss sich nur die aggressiven Methoden der religiösen und weltlichen Werbeindustrie vor Augen führen, die Menschen jeden Alters erfolgreich locken und lenken. Die subtilen oder plakativen Werbebotschaften zielen nicht auf die Vernunft des gläubigen Käufers und Konsumenten, sie zielen auf sein Herz. Warum? Weil es sich so leicht manipulieren lässt.
Die Humanisten des ausgehenden Mittelalters und die Philosophen der Aufklärung hingegen dachten, dass Bildung und Bücher die Menschen zum Guten führen werden. Sie haben sich geirrt. Instinkte und tiefsitzende Leidenschaften lassen sich nicht durch Schule oder Bibliotheken formen. Des Weiteren, wir müssen es uns eingestehen, zielt die gegenwärtige Erziehung darauf ab, Untertanen zu formen, die gesellschaftlich funktionieren. Mit anderen Worten: Sie sollen ihren friedlichen Teil – Arbeit, Kinder, Konsum – in die Gesellschaft einbringen, aber die bestehende Ordnung nicht hinterfragen. Die Mehrheit des Volkes wird wie ein unmündiges Kleinkind behandelt, weil sie sich wie ein unmündiges Kleinkind verhält. Für Spielsachen, die ewige Glückseligkeit versprechen, aber nur kurzfristige Sättigung bringen, ist die Mehrheit der Menschen bereit, ihre Freiheit aufzugeben und das zu tun, was von ihr verlangt wird. Die französische Revolution hat die Ketten des Einzelnen gegenüber den Herrschenden gesprengt. Was hat der Einzelne mit der Freiheit gemacht? Nichts. Er hat sich wieder gefügt, ja, mehr noch, man hat ihm die Ketten gereicht und er war bereit, sich diese selbst anzulegen. Darin liegt das größte Paradoxon, das die Welt kennt: Obwohl wir in Ketten sind, bezeichnen wir uns als frei. Warum? Weil man uns glauben macht, wir besäßen den Schlüssel, der uns von den Ketten befreit. Aber ist irgendjemand der Meinung, der Mensch könnte sich vom Despotismus der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung lossagen?
»Ich dringe in die Materie ein, ohne erst die Wichtigkeit meines Gegenstandes zu beweisen. Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, um berechtigt zu sein, über Politik zu schreiben. Ich antworte nein und schreibe gerade deshalb über Politik. Wäre ich Fürst oder Gesetzgeber, so würde ich nicht meine Zeit damit vergeuden, zu sagen, was man tun muß; ich würde es tun oder schweigen.«
Mit meinen Bänden über die französische Revolution möchte ich zeigen, dass es vor über zweihundert Jahren mutige Menschen gegeben hat, die sich getrauten, eine bestehende Ordnung infrage und zur Diskussion zu stellen. Manch einer bezahlte dafür mit dem Leben – sei es auf dem Schafott, sei es durch die Hände des wütenden Mobs – oder mit einer tiefen Schuld.Wenige Jahre nur war es den Menschen vergönnt zu sehen, was eine kollektive Hoffnung und eine gemeinsame Vision auszulösen imstande sind. Die revolutionären Baumeister der damaligen Epoche dachten, der aufgeklärte Verstand würde ausreichen, um eine neue Gesellschaftsordnung auf den Trümmern der alten entstehen zu lassen. Die Welt, so hofften sie, würde schon bald eine bessere, friedlichere und gerechtere werden. Ist sie es geworden?
Die Geschichte des Dichters Tiret beginnt am 13. August 1759 im Städtchen Frankfurt, welches an der Oder liegt. In der Abenddämmerung spazieren dort in ausgelassener Laune der Adjutant des österreichischen Feldmarschall-Leutnants Freiherr von Laudon, der Adjutant des russischen Feldmarschalls Saltykow und ein junger Gesandter des französischen Königs Ludwig XV. Allesamt sind sie im Kriege mit den Preußen Friedrichs des Großen, die am gestrigen Tage in Kunersdorf, nicht unweit von Frankfurt, eine schlimme Niederlage haben hinnehmen müssen.
»Die Kapitulation ist noch nicht eingetroffen?«, fragt der französische Diplomat.
»Nau, wenn’s ums Verlieren geht«, antwortet der Österreicher, »da werden’s plötzlich fad, die Preußen. Aber beim Siegen, da sind’s die Ersten. Habt’s ihr gehört, dass sie die Schlacht für sich reklamieren?«
»Ist ja bitteschön unmöglich, weil ist ein Affront«, knurrt der Russe – »Die große russische Armee wird bald stehen in Berlin und sie machen der Zarin zum Geschenk. Sollen die Preußen schauen, wie wir Russen machen Krieg.«
»Ja, warum habt Ihr’s denn auf einmal so eilig? Sammeln wir doch bittschön unsere Kräfte, bevor wir dem Fritzl den Allerwertesten versohlen«, sagt der Österreicher – »Der preußische Adler, auch wenn er viele Federn hat lassen müssen, er bleibt gefährlich!«
»Verkehrte Welt, meine Herren«, resümiert der Franzose – »Sonst sind die Österreicher immer jene, die den Feind unterschätzen, die Russen jene, die ihn überschätzen. Wir sehen, jede Allianz lässt uns vom einstigen Feind lernen.«
Die Herren lächeln zustimmend. Eine Weile gehen sie so dahin, erzählen sich belanglose Ereignisse ihrer Kriegs- oder Diplomatentage. Fröhlich gestimmt kommen sie zu einem kleinen, bereits im Verfallen begriffenen zweistöckigen Mietshaus und bleiben davor stehen. Der Franzose holt einen Brief aus seiner Tasche, entfaltet ihn und beginnt, ihn zu überfliegen. Er nickt, faltet den Brief wieder zusammen und steckt ihn weg.
»Es ist im ersten Stock. An der Türe wird ein Kreidestrich angebracht sein.«
Der Russe zieht seinen Degen und beginnt damit in die Luft zu schlagen. Der Österreicher runzelt die Stirn.
»Wollen wir vielleicht wie die Tartaren einfallen?«
»Macht keine Scherze! Mongolenhorde haben gemordet meine Familie«, wird der Russe ungehalten.
»Also, bittschön, kann ich was dafür? Aber tun wir uns net streiten, sondern bringen diese … Angelegenheit hinter uns.«
Sie gehen ins Haus und kommen zur Treppe. Das letzte Tageslicht müht sich, das Innere zu erhellen. Es riecht nach Moder und Fäulnis. Eine fette Ratte läuft an den Stiefeln der beiden Adjutanten vorbei und zwängt sich in eine schmale Ritze. Der Russe deutet mit seinem Kopf zur Treppe. Der Österreicher nickt, dreht sich zum Franzosen, als der Russe mit großen Schritten nach oben eilt.
»Die Armee poltert, die Diplomatie tanzt. Bleibt zurück!«
Der Österreicher steigt vorsichtig die Treppe hoch. Am Treppenabsatz erwartet ihn der Russe.
»Ihr Österreicher seid langsam wie Feldkanone. Wenn ihr kommt, ist Schlacht lange vorbei«, flüstert er und deutet auf eine Türe, die sich zu ihrer Linken befindet.
»Dafür seid’s ihr Russen die Ersten, die nach einer Schlacht nach Haus gehen. Ich seh keinen Kreidestrich.«
»Attacke!«, ruft der Russe und wirft sich gegen die Türe, die keinen Widerstand leistet und zur Seite schwingt. Gemeinsam durcheilen sie den Vorraum und kommen in einem geräumigen Zimmer zu stehen, das von Kerzen erleuchtet ist. An einem gedeckten Tisch sitzen ein Mann und eine Frau, die die beiden Adjutanten verwundert ansehen. Die Frau, noch nicht dreißig, trägt ein elegantes Kleid und ist fein herausgeputzt. Ihr Parfum vermischt sich mit dem Duft der roten Rübensuppe, die auf dem Tisch angerichtet ist. Der Mann, etwa vierzig Jahre alt, von großem Wuchs und gepflegtem Äußeren – ein aufgezwirbelter Schnurrbart ziert sein schmales Gesicht – erhebt sich.
»Meine Herren, was hat dieser Überfall zu bedeuten?«, fragt er und stützt sich mit seiner rechten Hand auf den Tisch. Seine Stimme klingt fest. Die Frau blickt mit gesenktem Kopf auf ihren Porzellanteller, die beiden Hände verschwinden unter dem Tisch.
»Herr Kosciuszko?«, fragt der Österreicher den Mann.
»Wie bitte?«
»Heißen Sie Kosciuszko?«
»Ich … kenne niemanden mit diesem Namen.«
Der Österreicher dreht seinen Kopf zum Russen.
»War da jetzt ein Kreidestrich?«, flüstert er.
»War so dunkel. Wie kann ich sehen eine Kreidestrich?«, zischt der Russe zurück.
»Ihr Russen handelt, aber denkt nie!«
»Ihr Österreicher denkt, aber handelt nie!«
Der Russe steckt seinen Degen in die Scheide, als der Franzose das Zimmer betritt, sich an die Seite der Adjutanten stellt und den Mann zu mustern beginnt.
»Meine Herren! Ich möchte Sie bitten, wieder zu gehen!«, presst der Mann hervor.
»Ich denke, es ist Zeit mit der Charade aufzuhören, Herr Andrzej Kosciuszko«, sagt der Franzose und wirft einen längeren Blick auf die Frau.
»Ist er’s?«, fragt ihn der Österreicher.
Der Franzose bejaht. Der Russe zieht wieder seinen Degen, während der Mann sich auf die Lippen beißt.
»Woher möchten Sie wissen, dass ich Kosciuszko bin?«
»Wir kennen uns, Herr Kosciuszko. Ich war es, der Ihnen die Landkarten beschaffte. Vor einem halben Jahr … in Krakau. Sie wundern sich, dass ich mir Ihr Gesicht einprägen konnte? Mein Herr, die geheimen Dienste der Diplomatie vergessen niemals ein Gesicht, niemals einen Namen!«
»Verräter auch nicht«, murmelt der Mann und ballt seine linke Hand zusammen, während die Frau ihre Augen schließt. Der Österreicher wendet sich an ihn.
»Herr Kosciuszko, ich möchte Sie bitten, sich anzukleiden und uns auf die Kommandantur zu begleiten.«
Der Mann, der Kosciuszko heißt, regt sich nicht, antwortet nicht, starrt nur zu Boden. Die Frau, die ihre Augen wieder geöffnet hat, schiebt mit der linken Hand bedächtig eine Schale zur Seite und berührt dabei mit ihrem kleinen Finger die aufgestützte Hand des Mannes. Eine Weile wird nichts gesprochen. Durch die offenen Türen zieht der Wind in den Raum und lässt die Kerzen unruhig flackern. Schließlich löst Kosciuszko seine Hand vom Tisch.
»Ich werde Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn es mir erlaubt ist, möchte ich mir meine beste Kleidung anziehen.«
»Natürlich. Vor dem letzten Gericht erscheint man nur im besten Kleid«, gibt der Franzose zurück. Kosciuszko bedankt
sich, geht in einen Nebenraum und schließt die Türe. Der Österreicher seufzt.
»Neben all den zerstörten Munitions- und Versorgungswägen war das Weinlager in Bautzen der hinterhältigste Angriff seiner kleinen Husarentruppe. Alle Fässer haben sie hin g’macht. Der Feldmarschall und die Generäle waren außer sich. Waren ja die allerbesten Weine.«
Der Russe lacht.
»Österreicher ohne Wein ist wie Russe ohne Wodka! Seele wird ganz traurig.«
Die Frau blickt auf.
»Ist es mir gestattet, das Wort an die Herren zu richten?«
»Wie könnte man einer schönen Frau eine Bitte abschlagen?«, lächelt der Franzose.
»Ist das Regel von Diplomatie?«, fragt der Russe.
»Das ist die Regel der Galanterie«, antwortet der Franzose – »Madame, sprechen Sie.«
Die Frau sammelt sich.
»Ich habe keine andere Wahl, als mich Ihnen zu Füßen zu werfen, meine Herren. Die Mutter von Herrn Kosciuszko ist hier in der Obhut barmherziger Schwestern und wird wohl den Morgen nicht erleben. Deshalb ist Herr Kosciuszko in die feindliche Stadt gekommen und hat sich wohlgemut der Gefahr ausgesetzt. Ich bitte um drei Stunden Aufschub für ihn, sodass er noch Abschied von seiner geliebten Mutter nehmen kann. Ich verbürge mich mit meinem Leben, dass Herr Kosciuszko sich dem Gericht nicht entziehen wird.«
Der Österreicher schüttelt den Kopf.
»Wenn man sich diese allerschändlichsten Angriffe vor Augen führt, die Generalität sitzt ja seit Wochen auf dem Trockenen, so bleibt mir nichts anderes über, als Ihr Ansinnen auf das Entschiedenste abzulehnen. Es tut mir leid.«
»Meine Herren, vielleicht kann ich Sie doch noch umstimmen. Ich bin keine gemeine Frau, vielmehr fließt königliches Blut in meinen Adern. Der Stammbaum der Anjous, meiner Familie, reicht lange und weit zurück. Wir stellten die Könige von Ungarn, Polen und Jerusalem. Ich bin die letzte der Anjous und besitze eine stattliche Anzahl an Ländereien und Schlösser. Geld bedeutet mir nichts. Ich würde all meinen Reichtum als Pfand einsetzen.«
»Dies ist sehr aufopfernd, Madame«, geht der Franzose einen Schritt zum Tisch – »Verzeiht, wenn ich mir jedoch anmaße, Ihnen zu widersprechen. Der polnische Zweig der Anjous ist bereits vor einem Jahrzehnt ausgestorben.«
»Wer möchte das behaupten?«, fährt die Frau den Franzosen an – »Sind es nicht all jene, die davon Nutzen und Gewinn sich versprechen, für die eine Frau als toter Zweig gilt?«
Die Frau holt ihre rechte Hand hervor, streift einen imposanten Ring vom Finger und wirft ihn auf den Tisch.
»Seht selbst. Es ist der Ring der Anjous! Jeder kann erkennen, dass dieser Ring eine einzigartige Kostbarkeit ist. Damit könnte man leichtens hundert Weinlager kaufen.«
Der Österreicher geht an den Tisch und nimmt sich den Ring. Der Russe sieht ihm über die Schulter. Bewunderndes Gemurmel setzt ein. Der Franzose streicht sanft mit seinem Zeigefinger über einen leeren Porzellanteller. Sein junges Gesicht spiegelt sich darin. Die Frau senkt ihren Blick.
»Monsieur«, flüstert sie, »pourrais-je me permettre de vous soumettre une proposition?«
*
Kosciuszko, in einem festlichen Anzug, kommt aus dem Zimmer. Der Franzose wendet sich an ihn.
»Herr Kosciuszko, wir haben beschlossen, Ihnen bis Mitternacht Zeit zu geben, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu ordnen. Madame hat sich bereit erklärt, mit ihrem Namen und ihrem Vermögen für Sie zu bürgen.«
Kosciuszko sieht fragend zur Frau.
»Es ist nun einzig und allein Ihre Entscheidung!«
Eine Stille entsteht. Nur das Ticken der Standuhr, die im Zimmer steht, ist zu hören. Da erhebt sich die Frau, geht nah an seine Seite und flüstert ihm ins Ohr. Ihr Gesicht errötet.
»Najdrozszy, idz … i nie martw sic o mnie … troszcz sie o nasza Ojczyzne i o twojego Tadeusza … prosze, prosze Ciebie o to … spiesz sie, spiesz …«
Kosciuszko nimmt die Hand der Frau, hält sie in der seinen, dann gibt er ihr einen zarten Kuss darauf. Er wendet sich um.
»Die Großzügigkeit meiner Feinde beschämt mich. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich um Mitternacht wieder hier sein werde.«
Kosciuszko nimmt einen Gehstock, setzt seinen Hut auf und geht aus dem Zimmer, verfolgt von den Augen der Anwesenden.
*
Der Nachtwächter ruft zur vollen Stunde. Es ist Mitternacht. Der Franzose holt seine goldene Ferdinand-Berthoud-Uhr, die ihm Madame de Pompadour zum Geschenk machte, aus der Tasche seiner Weste, klappt den Deckel auf und liest die Uhrzeit. Der Russe öffnet eine neue Weinflasche und macht die Gläser voll.
»Pole ist nicht blöd. Wird nicht kommen. Lässt Geliebte in Stich.«
»Dank der Diplomatie sind wir net leer ausgegangen«, zuckt der Österreicher mit der Schulter – »Es wird sie schon noch geben, die Gelegenheit, den polnischen Halunken zu fassen.«
Der Franzose klappt den Deckel zu.
»Ja, er wird wohl nicht mehr kommen. Ich werde Madame davon in Kenntnis setzen«, sagt der Franzose, steckt die Uhr wieder ein, erhebt sich, nimmt den goldenen Ring in die Hand und geht zur geschlossenen Türe, die ins Schlafgemach führt. Er klopft leise an. Wartet. Öffnet die Türe und geht in das Zimmer. Der Russe nimmt einen kräftigen Schluck, stellt das Glas weg und wirft einen Blick zur Türe.
»Frau ist mutig wie Tiger. Mein russisches Weib würd mir kratzen die Augen aus dem Kopf, wenn sie hört, was ich gemacht habe hier.«
»Über die Geschäftemacherei der Diplomatie redet man net! Am besten, wir tun so, als ob …«, beginnt der Österreicher, wird aber von Schritten, die näher kommen, unterbrochen. Beide sehen zur Türe, die in den Vorraum führt. Mit einem Male steht Kosciuszko im Zimmer. Er ist außer Atem, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Seine Augen suchen nervös das Zimmer ab. Der Österreicher und der Russe erheben sich, sehen nicht die Pistole, die er in seinem Gehrock verborgen hält.
»Ich bin hier … und löse mein Versprechen ein.«
»Gut, Herr Kosciuszko. Bleiben Sie hier, wir werden …«
Der Franzose kommt mit der Frau, die in einem dunkelblauen Deshabillé gekleidet ist, aus dem Zimmer. Ihr Gesicht ist blass, ihr Blick gesenkt, ihre Bewegungen stockend. Als sie Kosciuszko sieht, zuckt sie zusammen. Sie beginnt zusammenhanglose Wörter zu murmeln. Kosciuszko geht zu ihr, nimmt ihre zitternde Hand und küsst sie leidenschaftlich. Schließlich lässt er sie los und wendet sich an den Franzosen.
»Mein Herr, ich stehe tief in Ihrer Schuld. Möchten Sie nun Ihr Versprechen halten und der Dame die Freiheit wiedergeben. Ich stehe zur Verfügung.«
Die Blicke der beiden Kontrahenten treffen sich und erzählen einander von Sieg und Niederlage.
»Wenn es mir erlaubt ist, werde ich Madame wieder ins Zimmer führen«, sagt der Franzose.
»Ich danke Ihnen«, kommt es leise von Kosciuszko. Der Franzose berührt die Frau sanft an der Seite und führt sie in das Schlafgemach zurück. Kosciuszko wartet, bis sich die Türe geschlossen hat, holt ein Medaillon aus Bernstein aus der Tasche und fährt mit den Fingern behutsam darüber. Er dreht sich zu den Adjudanten.
»Möchten Sie bitte dieses Medaillon der Dame übergeben. Es ist mir viel daran gelegen«, sagt er und legt das Medaillon auf den Tisch. Die beiden Adjutanten gehen neugierig zum Tisch. Der Russe nimmt das Medaillon in die Hand.
»Kann sehen ein Wort … «, dreht und wendet der Russe das Medaillon, während Kosciuszko in seinen Rock greift und die Pistole hervor holt.
»Verzeihen Sie mir«, sagt er leise, »wenn ich Sie mit meiner Tat brüskiere.«
»Was für Tat?«, fragt der Russe, ohne seine Augen vom Medaillon zu nehmen. Kosciuszko hält sich die Pistole an die Schläfe, spannt den Hahn und schließt die Augen.
»Was steht denn drauf?«, fragt der Österreicher, der über die Schulter des Russen schaut.
»Zegnajcie!«, flüstert Kosciuszko.
Der Abzug wird gedrückt. Der Hahn mit dem eingespannten Feuerstein schlägt auf die Metallkappe und löst einen Funken aus, der das Zündkraut und somit die Treibladung entzündet. Die Explosion befördert die Bleikugel aus dem Pistolenlauf und durch den Schädelknochen Kosciuszkos. Der Knall des Schusses hallt im Zimmer, als wäre eine Kanone auf freiem Felde abgefeuert worden. Kosciuszko fällt mit geborstenem Kopf nach hinten, das Medaillon dem Russen aus der Hand. Das Blut aus der klaffenden Wunde bildet in aller Schnelle eine rote Lache. Der Österreicher im weißen Militärrock, der über und über mit Blutspritzer bedeckt ist, schüttelt den Kopf.
»Was für eine Sauerei.«
»Was für mutige Tat!«, ist der Russe gerührt.
Der Franzose kommt aus dem Zimmer geeilt und verschafft sich einen Überblick.
»Und?«, fragt der Österreicher und nimmt vom Tisch eine Stoffserviette – »Was ist auf dem Medaillon oben g’standen?«, »Tiret«, antwortet der Russe, während seine Augen den Boden absuchen. Der Franzose bückt sich, hebt das Medaillon auf, wischt es sorgfältig ab und besieht es sich eingehend.
»Tiret?«, tupft der Österreicher sein Gesicht ab.
»Ja, einfach nur Tiret.«