Brouillé
März 1789. Marquis d‘Angélique erfährt von einer außergewöhnlichen Teufelei im Schloss des Vicomte de Moucel. Gemeinsam mit dem polnischen Gelehrten Aleksander Mickiewicz und dem jungen amerikanischen Hitzkopf Thomas Duport begibt er sich zum Schloss Vallée-Chessy. Dort erfahren die drei vom rätselhaften Tod des alten Gutsverwalters, erstellen mit den Bauern der verhassten Gemeinde Clichy-sous-Bois die Beschwerdehefte, untersuchen das seelenlose Wasser einer kleinen Quelle im Wald von Vaujours und werden Zeuge einer Entführung. Bald schon bemerken sie, dass im Schloss nichts ist, wie es scheint. Aber jede Wahrheit kommt ans Licht.
überlieferte Briefpassagen: Brief eines Bauern an seinen Intendanten; königliches Zusammenberufungsschreiben; Auszüge aus erstellten Beschwerdeheften.
Band I Die Liebesnacht des Dichters Tiret ISBN 978-3-9502498-1-1
Band III Madeleine ISBN 978-3-9502498-3-5 (in Vorbereitung)
Band IV Penly ISBN 978-3-9502498-4-2 (in Vorbereitung)
Richard K. Breuer, geb. 1968, lebt und arbeitet in Wien. Wirtschaftlich geprägte Schulausbildung. Verschiedene Jobs im Banken- und Softwarebereich. Seit 2003 freiberuflicher Schriftsteller, Dramatiker, Drehbuchautor, Designer, Blogger, Comic-Texter und Luftschlossbesitzer. Absolvierung eines Verleger-Seminars bei Prof. Mazakarini. Autor der Woche (ORF Radio NÖ). Uraufführung seines Theaterstücks „Was ist die Liebe, Katarine?“ im TWW. Designer von „frisch gespielt - das Magazin für Brett- und Gesellschaftsspiele in Österreich“. Seine absurde Wiener Krimikomödie "Schwarzkopf" ist für einen Kinofilm im Gespräch.
Das Comic-Heft von Richard K. Breuer und Gunther Eckert das dschunibert prinzip - Alles, was Sie schon immer über die Schriftstellerei im Eigenverlag wissen wollen (sich aber nicht getrauten zu fragen) ist als ebook im Format PDF auf der Webseite gratis erhältlich.
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»Geiz, Ausschweifung und Ehrgeiz waren seine Götter, Tücke, Schmeichelei und Kriecherei seine Waffen, völliger Unglaube seine Religion; zum Grundprinzip hatte er die Meinung erhoben, Anständigkeit und Ehrenhaftigkeit seien Schimären, mit denen man sich schmücke, die es aber in Wirklichkeit nicht gebe […] ein Meister finsterer Untaten, dazu von größter Unverschämtheit, wenn er ertappt wurde; einen großen Wunsch zu gefallen und sich einzuschmeicheln; aber alles wurde verdorben durch den Geruch von Falschheit, der ihm trotz allem aus sämtlichen Poren strömte […] bösartig […] verräterisch und undankbar […]«
Zwei Jahre nach Band 1 mache ich mich nun daran, die einleitenden Worte für den vorliegenden Band 11 zu finden. Es scheint sich in dieser kurzen Zeitspanne nichts verändert zu haben. Der stete Lauf der Dinge, möchte man meinen, gäbe es da nicht diese weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch korrupte, hemmungslose und unkontrollierte Marktmechanismen begünstigt wurde und die es einer kleinen elitären Aristokratie ermöglichte, jahrzehntelang Geldsummen anzuhäufen, die jedes Vorstellungsvermögen und vernünftige Maß übersteigen. Nebenbei ging dieses stetige monetäre Anhäufen Hand in Hand mit der Einflussnahme und der Steuerung globaler Entscheidungen, der Konzentration und Vereinnahmung des Medienapparates und gipfelt nun in der beginnenden Eliminierung demokratischer Grundrechte sowie der Ausweitung politischer Machtbefugnisse, die bereits totalitäre Züge annehmen. Trotzdem. Kein Einspruch. Kein infrage stellen. Der Bürger ließ und lässt geschehen. Er vertraut seiner Regierung – oder ignoriert sie. Mehr noch, der Bürger erhofft und erwartet sich von seiner Regierung Sicherheit, Ehrlichkeit und Glückseligkeit – oder gar nichts. Beide, der Gutgläubige und der Skeptiker, ob sie wollen oder nicht, schmieden an einem weiteren Glied jener Kette, mit der eine spätere Generation in Bande gelegt und all jener Rechte und Freiheiten beraubt wird, für die unsere Vorväter in den Vereinigten Staaten und in Frankreich vor über 200 Jahren ihr Blut ließen.
Im Kaminzimmer, das einen guten Blick auf den festlich geschmückten und mit vielen Gästen gefüllten Ballsaal des Schlosses Vallée-Chessy gewährt, beobachtet im März des Jahres 1789 der Baron einer sehr angesehenen französischen Familie das ausgelassene Treiben und nippt hin und wieder an einem Glas süßen Portweins. Um ihn herum kleine und große Günstlinge, die ihn mit banalen, aber amüsanten Geschichten erfreuen. Um den einen oder anderen jungen Herren besser sehen zu können, hält er seine, an einer goldenen Kette befestigte, Lorgnette vor die Augen und blinzelt. Mit seinen gichtig-steifen Händen begrüßt er Neuankömmlinge oder tupft sich mit einem Parfumtuch die Wangen und den Hals. Der Graf einer sehr bekannten französischen Familie macht dem Baron in schmeichlerischem Ton die Aufwartung. Dieser lädt ihn ein, an seiner Seite Platz zu nehmen. Der Graf bedankt sich höflich, setzt sich und nimmt ein Glas Sherry, das ihm von einem Diener auf einem Silbertablett gereicht wird. Für das weitere Geschehen werden die beiden Herren von keiner sonderlichen Bedeutung sein, trotzdem wollen wir ihrem Gespräch folgen.
»Dieser Ximenes mundet vorzüglich«, setzt der Graf das Glas von seinen Lippen.
»Das wird Vicomte de Moucel sicherlich freuen, wenn er weiß, dass es unter seinen Gästen noch jemanden gibt, der einen Moscatello von einem Pedro Ximenes unterscheiden kann. Man sehe sich nur um und erschauere ob der dunklen Röcke, die hier getragen werden. Hâbleur würde vor Scham erblassen. Ich wäre liebend gerne diesem Fest ferngeblieben, aber in Versailles ist die Stimmung gänzlich dunkel, da der Thronfolger wieder einmal kränkelt.«
»Trinken wir doch auf die baldige Genesung des Dauphin.«
Beide heben ihr Glas, nehmen einen sehr dezenten Schluck und blicken mit großer Neugierde in den Saal.
»Wie geht es Moucel?«, fragt der Baron – »Habt Ihr etwas in Erfahrung bringen können?«
»Der Vicomte muss das Bett hüten. Chevalier de Castel-Jaloux sagte mir, dass sein Onkel einen Schwächeanfall erlitt und sich in seine Gemächer zurückzog.«
»Ein Schwächeanfall?«, murmelt der Baron und zieht einen Mundwinkel kurz nach oben – »Das erklärt, warum der Chevalier in einer äußerst guten Laune anzutreffen war. Vielleicht darf er sich schon bald mit dem Erbe seines Onkels schmücken. Die Ländereien sollen kräftige Gewinne abwerfen, wie ich erst kürzlich hörte. Was natürlich nur Monsieur Winterhalter zu verdanken ist, der mit strenger Hand die Geschäfte zu führen versteht. Solch einen Gutsverwalter würde ich mir wünschen.«
Der Graf nickt, sieht kurz nach rechts, dann nach links, kommt ein Stück näher und dämpft seine Stimme.
»Habt Ihr … die Sache von Monsieur Winterhalter gehört?«
»Man sagte mir, dass er sich in deutschen Landen aufhält.«
»Besser, werter Baron, viel besser. Er soll auf offener Landstraße von einem Räubergesindel erschlagen worden sein.«
»Was sprecht Ihr da? Der alte Winterhalter ist tot?«, schreckt der Baron auf – »Das … will ich nicht glauben.«
»Ich konnte durch eine glückliche Fügung das Gespräch zwischen dem Chevalier und einem mir unbekannten Herren folgen. Es steht außer Frage, dass man uns das Verbrechen vorenthalten wollte.«
»Ach?«, wird der Baron hellhörig.
»Vielleicht war es kein gewöhnlicher Überfall, der Monsieur Winterhalter zum Verhängnis wurde.«
»Wie meint Ihr?«
»Dem Chevalier«, macht der Graf eine geheimnisvolle Geste, »wie soll ich sagen, kommt es doch sehr gelegen, den alten Gutsverwalter seines Onkels unter der Erde zu sehen. Es würde mich nicht weiter verwundern, wenn der Chevalier sich finsterer Mächte bedient hätte.«
Der Baron ist sichtlich erstaunt.
»Ihr meint …«, unterbricht sich der Baron und sieht nachdenklich in den Saal – »Gewiss, dem Chevalier sind alle teuflischen Mittel recht, um seine unermessliche Gier zu stillen.«
Der Graf tippt nachdenklich mit einem Finger am Glas.
»Man erzählt sich, dass der Chevalier die … trickreichen Dienste von Monsieur Richard in Anspruch genommen hat. Um eine Waldquelle soll es gehen.«
»Eine Waldquelle?«, wiederholt der Baron – »Ist das alles?«
»Mehr konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen«, zuckt der Graf kurz mit der Schulter.
»Derartige Ablenkungen«, tupft der Baron mit seinem Tuch den Hals, »sind eines Aristokraten nicht würdig. Als wäre die Welt eine Theaterbühne mit einfältigen Schaustellern. Der Chevalier verkennt den Ernst der Lage, wenn er sich in die absurde Illusion eines greisen Taschenspielers versteigt.«
»Diese absurde Illusion, wie Ihr es nennt, könnte ihm … eine Million Livres bringen.«
»Eine Million Livres?«, wiederholt der Baron ungläubig, reicht seinem Pagen das Tuch und erhält ein frisch parfümiertes.
Der Graf und der Baron nehmen einen kleinen Schluck und beobachten für eine Weile die Gäste im großen Saal.
»Dieser junge Herr mit der schwarzen Augenklappe«, nimmt der Baron einen ihm unbekannten jungen Herren in Augenschein – »er sieht mir übel gezeichnet aus und trotzdem versteht er es, die Aufmerksamkeit einer reizenden Südländerin zu gewinnen. Kennt Ihr ihn?«
»Es ist Monsieur Duport, der Amerikaner.«
»Duport?«, hält sich der Baron die Lorgnette vor seine zusammengekniffenen Augen – »Etwa jener Duport, der diesen unsäglichen Aufstand in Guémar vom Zaun brach? So sieht also ein ausländischer Frevler aus, der bezahlt wurde, um Unheil in Frankreich zu stiften? Warum hat man ihn nicht in die Bastille geworfen?«
»Der König soll ihn begnadigt haben.«
Der Baron presst kurz die Lippen aufeinander.
»In dieser Nachsicht sieht man nur zu deutlich die große Schwäche des Hofes! All diese Aufwiegler, Freidenker und Protestanten … diesen gehört ein kurzer Prozess gemacht. Ich möchte es jedenfalls nicht dulden, dass ein ausländischer Frevler ungeschoren davonkommt. Jedermann soll erfahren, wie wir mit Aufwieglern zu verfahren gedenken.«
Der Graf macht eine zustimmende Geste, während der Baron seinen Kammerherrn zu sich bestellt.
»Sehen Sie diesen Herren mit der Augenklappe?«, fragt der Baron seinen Kammerherrn – »Ich wünsche, dass man diesem
eine schmerzliche Lektion erteilt.«
Der Kammerherr sieht kurz zu Duport.
»Sehr wohl«, verneigt sich der Kammerherr und geht davon.
Beide nippen von ihren Gläsern. Als der Graf seines abstellt, fährt ihm der Schreck ins Gesicht.
»In des Teufels Namen!«, flucht der Graf leise – »Man sehe sich das an: Marquis d’Angélique parliert in größter Vertraulichkeit mit dem Herzog von OrléansFUS!«
»Impertinent!«, brummt der Baron – »Ich will es nicht glauben, mit welcher Geringschätzung mich der Herzog damit behandelt. Aber ich weiß freilich den Grund für diese verächtliche Herabwürdigung. Vor wenigen Tagen war es, als mich die Königin bei einem freundlichen Spaziergang sichtlich bevorzugte und den Herzog mit einem kühlen Blick zu vergrämen wusste. Diese Kränkung wird er nicht vergessen haben … und nun möchte es mir der Herzog böswillig heimzahlen, indem er seine Gunst diesem impertinenten Lügenbold gewährt. Marquis d’Angélique hätte längst aus Frankreich verbannt gehört. Der ganze Hof weiß, dass er die Revolte in der Dauphiné zu verantworten hat. Aber nichts ist ihm geschehen.«
»Quod erat demonstrandum«, pflichtet ihm der Graf bei – »Damit ist hinlänglich bewiesen, dass der Marquis einflussreiche Fürsprecher am Hofe hat, die den König für ihn gütlich stimmen.«
»Ich hörte, dass der Marquis große Schulden haben soll.«
»Seine Eskapaden am Spieltisch sind jedermann wohlbekannt.«
»Ebenso seine Einsätze, die jedes gesunde Maß übersteigen.«
»In allem, was er tut, übertreibt er«, merkt der Baron verächtlich an – »Auch in der Wahl seiner Begleitung. Seht Ihr diesen ungelenken Herren im dunklen Rock? Wahrlich, diese sonderbaren Manieren müssten jeden Mann von Ehre und Geschmack beschämen. Wie kann sich der Marquis nur mit solch einer traurigen Gestalt an seiner Seite zeigen?«
»Nun, der Grund mag so einfach wie spitzfindig sein. Diese Gestalt ist Pierre Brouillé, ein Bankier aus Genf. Man erzählt sich, dass Minister NeckerFUS mit der Familie Brouillé in Freundschaft verbunden sein soll.«
»Dieses Genfer Hugenottenpack?«, zischt der Baron – »Der König machte einen Fehler, als er diesen protestantischen Scharlatan wieder an den königlichen Hof zurückholte. Er suchte damit das Volk zu besänftigen. Als würde Necker die leere Staatskasse wie durch Zauberhand füllen können. Lächerlich! Aber unerträglich, dass wir uns nun auch noch mit den GeneralständenANM herumschlagen müssen. Entsetzlich! Ich würde mir wünschen, dass der König endlich energisch mit dem Schwert vorgeht! Necker muss ein für alle Mal verbannt und die unglückliche Versammlung der Generalstände, die dem dummen Pöbel nur Flausen in den Kopf setzt, aufgelöst werden. Zum Wohle Frankreichs!«
»Wie man mir versicherte«, sagt der Graf, »wurde Marquis d’Angélique für die Generalversammlung in Versailles gewählt. Und wisst Ihr, wer ihm die Stimme gab? Die Bürger von Grenoble! Wir werden demnach alte Freunde, wie Graf MirabeauFUS und Marquis d’Angélique, in den Reihen des Dritten Standes wiedersehen.«
»Gott bewahre uns vor diesem bürgerlichen Pack«, stöhnt der Baron – »Das Geschrei der KommunenFUS, in der Versammlung nach Köpfen nicht nach Ständen abstimmen zu wollen, gefällt mir ganz und gar nicht. Wie kann es sein, dass diese frechen Menschen mit einmal eine bestehende Ordnung in Frage stellen? Monsieur Necker hat sich erweichen lassen, die Anzahl der Deputierten des Dritten Standes zu verdoppeln, weil er die Gunst des Volkes gewinnen wollte, dieser Narr. Wusste er denn nicht, dass, wenn man einem Nichtsnutz einen Finger gibt, dieser die ganze Hand für sich beansprucht? Aber nun muss es ein Ende haben, mit dieser hündischen Unterwerfung. Es wird niemals nach Köpfen abgestimmt! Nur nach Stand. Das war vor 150 Jahren so und es wird auch in den nächsten 150 Jahren so sein!«
Beide nippen an ihren Gläsern.
»Der Polizeiminister«, schüttelt der Baron sachte den Kopf, »beschwichtigt jeden Tag aufs Neue, während es in Paris gärt. Der König und seine Beamten sehen tatenlos zu, wie die Ordnung zerfällt. Ich sage, man sollte dieses Krebsgeschwür ausmerzen und sich dieses Gesindels entledigen.ZIT1«
»Wir dürfen nicht außer Acht lassen«, ergänzt der Graf, »dass Herzog von Orléans an dieser Gärung nicht gänzlich unschuldig ist. Er vergisst allzuoft seinen Stand, wenn er sich einen Vorteil erhofft.«
»Herzog von Orléans taugt eher für das sichere Kalkül der Habsucht, als für die unsicheren Projekte des Ehrgeizes.ZIT2 Beim Kartenspiel möchte man es ihm nachsehen, dass er die niedrigsten Kunstgriffe anzuwenden versteht und geschickt die richtige Karte aufdeckt, aber nicht in der Politik! Ich finde es in hohem Maße bedenklich, wenn er ohne Scham und Achtung vor dem König die Nähe der niederen Klassen sucht. Und ist nicht sein Palais RoyalANM in den letzten Jahren zu einem Hort der verworfensten Volksklassen verkommen? All diese verlotterten Cafés, Spielzimmer und Vergnügungsstätten! Wie kann ein Herr von königlichem Blute das eigene Haus dem Pöbel öffnen?«
»Lieber sehe ich meine Schlösser in Rauch aufgehen, verehrter Baron, als sie dem nichtsnutzigen Gesindel zu überlassen.«
»Wie wahr, werter Graf, wie wahr. Der König amüsierte sich erst kürzlich über den Herzog, als er zu ihm sagte: Jetzt, da Sie ein Ladenbesitzer geworden sind, sieht man Sie nur noch am Sonntag.ZIT3«
Beiden nippen an ihren Gläsern.
»Da fällt mir ein«, kommt es vom Graf – »Ich bin in Besitz einer ersten Abschrift eines köstlichen, schmalen Büchleins, das Marquis d’Angélique trefflichst zeichnet. Die Druckfahnen wurden mir vor wenigen Tagen aus der Druckerei DidotFUS heimlich zugespielt. Es ist eine Fundgrube beißenden Spotts gegenüber dem Marquis und dem Herzog. Wusstet Ihr, dass der gute Marquis bereits Frauenkleider trug, auf einem … delikaten Ball des Herzogs? Und dass es ihm darin sogar gefiel?«
Beide lachen gedämpft.
»Mehr noch«, fährt der Graf leise fort – »Herzog von Orléans wird in diesem Büchlein des Komplotts bezichtigt, gegen den König und die Königin.«
»Oh!«, tupft sich der Baron die Wange – »Wer auch immer solch Gerüchte verbreitet lebt gefährlich! Mit dem Herzog ist nicht zu spaßen. Ich hörte, dass viele Räubergesellen in Paris in seinem Sold stehen. Sie erledigen allerlei dünkelhafte Geschäfte und diskreditieren den Hof.«
»Vielleicht ist es nun der König höchstselbst, der einen Pamphletisten in Gold bezahlt, um den Herzog seinerseits in die Schranken zu weisen.«
»Faszinierend, werter Freund. Wie heißt der Verfasser dieses Büchleins?«
»Er nennt sich Tiret.«
»Tiret?«
»Ja, einfach nur Tiret.«
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FUSSNOTEN:
Herzog von Orléans: Ludwig Philipp Joseph Herzog von Orléans, geb. 1747
Necker: Jacques Necker, geb. 1732 – Finanzminister
Mirabeau: Honoré Gabriel Victor de Riqueti Comte de Mirabeau, geb. 1749
Kommunen: alte Bezeichnung für die Deputierten des Dritten Standes (Bürger) bei der Generalversammlung
Didot: berühmte franz. Buchdrucker- und Buchhändlerfamilie, seit 1713
In der Bibliothek des Schlosses von Fontaine, nicht unweit von Grenoble, liegt Aleksander Mickiewicz im Morgenmantel auf der Chaiselongue und schläft. Unter dem Morgenmantel trägt er das Nachtgewand und auf dem Kopf die Nachtmütze. Das Stakkato der Regentropfen, die unablässig gegen die hohen und breiten Glasfenster prallen, ist lautstark im großen Zimmer zu hören. Es ist merklich kühl. Der strenge Winter ist auch am Ende des Februarmonats von 1789 noch zu spüren. Ein Ofen, in der Ecke der Bibliothek platziert, strahlt nur wenig Wärme ab. Um die Chaiselongue stehen sechs Stapel zu je sechs Büchern. Marquis d’Angélique, Hausherr und Gastgeber, schreitet am frühen Vormittag mit großer Ruhe in die Bibliothek. Ein Diener öffnet die Tür und schließt sie hinter ihm. Der Marquis ist fein geputzt, trägt einen samtenen schwarzblauen Rock, eine dazupassende reich verzierte Weste mit goldenen Stickeinlagen, ein weißes Halstuch, Kragenbinde, dunkle Kniehose, weiße Nankingstrümpfe und ein Paar blank geputzter Schnallenschuhe. Seine graue gepuderte Perücke sitzt streng und korrekt. Er blickt sich im Zimmer um. Bemerkt die literarische Unordnung. Bemerkt die vielen Tintenkleckse auf dem Holzboden. Seufzend geht er zur Chaiselongue und sieht auf Mickiewicz herab. Dieser schläft tief und fest.
»Der Stil macht den MenschenZIT1«, murmelt der Marquis, greift in seine Rocktasche, holt einen kleinen Zettel hervor und liest einen Satz – »Quandoque bonus dormitat Homerus!«
Mickiewicz erwacht.
Blinzelt.
»Zuweilen schläft sogar der gute Homer?«, richtet sich Mickiewicz gähnend auf – »Wie kommt es, dass Ihr aus lateinischen Quellen zitiert?«
Der Marquis lässt den Zettel unbemerkt verschwinden.
»Ich habe mir erlaubt, meinen Bibliothekar zu beauftragen, eine Zitate-Sammlung anzufertigen. Ich gedenke, Euch eins ums andere Mal eine gelehrige Phrase an den klugen Kopf zu werfen. Auch wenn ich nur einen kleinen Stein habe, Goliath, so bin ich darob nicht minder gefährlich.«
Mickiewicz sieht den Marquis verdutzt an.
»Aber in den letzten Monaten kam mir Euer Bibliothekar nicht zu Gesicht.«
»Da ich bibliophile Zwistigkeiten zwischen Euch und meinem Bibliothekar fürchtete, habe ich ihn nach Grenoble gegeben. Ins Haus der Lameths.
Dort konnte er wenigstens Monsieur Duport bei seiner Arbeit behilflich sein. Für meine Aufgabe habe ich keine Kosten und Mühen gescheut, um den Bibliothekar der Akademie zu Lyon für mich zu gewinnen: Antoine-François DelandineANM2. Was sagt Ihr nun, Monsieur Mickiewicz?«
»O sancta simplicitas!«, antwortet Mickiewicz und erhebt sich – »Wann brechen wir auf?«
»Gemach, Monsieur Mickiewicz. Zuerst solltet Ihr Eure Reiselektüre zur Kutsche bringen lassen. Habt Ihr Euch schon entschieden? Oder wollt Ihr das Los entscheiden lassen?«
Mickiewicz blickt auf die Bücherstapel rund um ihn.
»Ich habe die Nacht über eine Auswahl getroffen. Sie fiel mir nicht leicht, Marquis, aber das könnt Ihr Euch vermutlich denken.«
»Gewiss. Wo sind die Bücher?«
»Vor Eurer gepuderten Nase.«
Der Marquis zieht eine Augenbraue hoch.
»Monsieur Mickiewicz! Meint Ihr nicht, dass es zu viele sind?«
»Ein Gelehrter, der mit weniger als drei Dutzend Büchern reist, ist kein Gelehrter, sondern ein Plebejer.«
»Natürlich«, seufzt der Marquis und läutet nach einem Diener, der die Anweisung erhält, die aufgestapelten Bücher in Kisten zu packen und zur Kutsche zu bringen.
Der Marquis wendet sich wieder zu Mickiewicz.
»Gehen wir doch in den Wintergarten, dort können wir uns ungestört über die seltsamen Vorfälle im Schloss Vallée-Chessy unterhalten.«
Die beiden gehen aus der Bibliothek.
»Seltsame Vorfälle?«, wiederholt Mickiewicz.
»Dem alten Gutsverwalter Winterhalter wurde der Garaus gemacht«, antwortet der Marquis – »Vom doppelgesichtigen Teufel!«
»Doppelgesichtiger Teufel?«, murmelt Mickiewicz – »Davon höre ich zum ersten Mal.«
»Das dachte ich mir«, nickt der Marquis und mustert Mickiewicz mit einem skeptischen Blick.
»Warum seht Ihr mich so seltsam an, Marquis?«
»Möchtet Ihr nicht endlich die Schlafmütze von Eurem Kopf nehmen, Monsieur Mickiewicz?«
Mickiewicz, ohne Schlafmütze, aber noch immer im Morgenmantel und in Hausschuhen, sitzt mit dem Marquis an einem Tisch, der überquillt vor kleinen Appetithäppchen. Ein Diener bringt eine Kanne aus weißem Porzellan, gießt Tee in die zarten Tassen, stellt die Kanne vorsichtig ab und geht zwei Schritte zurück. Mickiewicz nimmt einen Schluck vom Tee, während der Marquis eine Pistazie zum Mund führt.
»Wir werden zuallererst nach Melun reisen. Diese Stadt liegt nicht unweit von Paris, falls Ihr es nicht wissen solltet.«
»Melodūnum!«, merkt Mickiewicz an – »Es wurde 1420 von Heinrich V. von England eingenommen und etwa zehn Jahre später von der Jungfrau von Orléans befreit. 1513 wurde dort Jacques Amyot geboren, der die Söhne Heinrich II. erziehen durfte und dadurch mit reichen Pfründen belohnt wurde. Er übersetzte, im Einzelnen nicht alles richtig verstehend, aus dem Griechischen Heliodors Roman ›Theagenes und Charikleia‹ und …ANM3«
»Ich sollte Euch in ein Freudenhaus sperren!«, unterbricht der Marquis – »Das würde Euch auf andere Gedanken bringen.«
»Meint Ihr?«, nimmt Mickiewicz einen Bissen zu sich.
»Wenn ich es recht bedenke«, seufzt der Marquis, »dann fürchte ich, dass Ihr die liebreizenden Damen noch in die Keuschheit treiben würdet … und mich in den Wahnsinn. Nicht auszudenken.«
Der Marquis spießt mit einer kleinen silbernen Gabel ein Stück Ziegenkäse auf und riecht daran.
»Von Melun geht es direkten Weges zum Schloss Vallée-Chessy des Vicomte de Moucel, der zu einem besonderen Fest lädt, das wir nicht versäumen dürfen. Wir werden dort im Übrigen die Ehre haben, den jungen Herzog von Orléans anzutreffen. Noch vor Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass ein polnischer Gelehrter dem Vetter des Königs seine Aufwartung machen hätte dürfen, aber die Zeiten ändern sich. Herzog von Orléans besinnt sich der vielen einflussreichen Bürger, mehr noch, er sucht ihre Nähe. Die Einberufung der Generalstände öffnet die Augen von so manchem Aristokraten. Man kann es förmlich spüren, dieses leichte Beben, das Frankreich durchzieht.«
»Ich spüre nichts, werter Marquis!«, antwortet Mickiewicz und sucht mit seinen Augen den Brotkorb ab – »Herzog von Orléans wird gute, vermutlich eigennützige Gründe haben, manch Bürger an seiner Seite zu dulden.«
»Gewiss. So lange es dem Blut- und Schwertadel an Geld fehlt, werden reiche Bürger gerne zu einem Fest geladen. Deshalb habe ich eine kleine Charade vorbereitet, die nicht viel kostet, aber sehr nützlich sein wird. – Was, um Himmels Willen, suchen Eure Hände im Brotkorb?«
Mickiewicz sieht auf.
»Ihr habt noch immer kein russiches Brot für mich?«
Der Marquis macht eine entschuldigende Geste.
»Ich habe fünf Bäckermeister damit beauftragt, aber keiner von diesen war in der Lage, solch ein … seltsames Brot zu backen, das dunkel und hart ist.«
»Es ist nahrhaft, Marquis!«
»Das mag sein. Ich würde vorschlagen, Euer polnischer Magen gewöhnt sich an das französische Brot.«
»Ich werde mich nie daran gewöhnen, Marquis«, kaut Mickiewicz lustlos an einem Stück Weißbrot – »Erzählt Ihr mir nun von Eurer Charade?«
Der Marquis nimmt das Käsestück zu sich.
»Ich werde mir erlauben, Euch als Bankier Pierre Brouillé aus Genf vorzustellen.«
Mickiewicz blickt irritiert zum Marquis.
»Ich soll mich für einen Bankier ausgeben?«
»So ist es. Der Adel wird Euch zu Füßen liegen.«
»Diese Charade weist einen beträchtlichen Fehler auf!«
»Was sagt Ihr da?«, ist der Marquis verwundert – »Ich habe alle Eventualitäten im Voraus bedacht.«
»Ich lüge nicht!«, gibt Mickiewicz zurück – »Weder für geniale Ideen, noch für obskure Hirngespinste! Wobei Ihr keinen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen erkennen würdet.«
»Ein gelungener AperçuFUS«, nickt der Marquis – »aber niemand verlangt von Euch, zu lügen.«
»Wenn mich jemand mit Brouillé anspricht, werde ich darauf nicht reagieren dürfen, da ich weder Pierre Brouillé bin, noch so heiße.«
»Ihr wollt doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Ihr …«, kneift der Marquis ein Auge zusammen, überlegt und schüttelt dezent den Kopf – »Fürwahr … an Eure Ehrlichkeit dachte ich nicht im Geringsten.«
Der Marquis beginnt angestrengt nachzudenken, während Mickiewicz ein weiteres Stück Weißbrot aus dem Brotkorb nimmt.
»Nun gut!«, sagt der Marquis und sieht kurz zur Tischuhr – »Dieses unwesentliche Problem gedenke ich mit einem Scheinangriff zu lösen. Monsieur Duport wird uns dabei helfen. Ich erwarte ihn jeden Moment. Habt Ihr Euch schon mit Eurer Zukunft abgefunden, Monsieur Mickiewicz?«
»Ich werde tun, was ich tun muss«, antwortet Mickiewicz kauend.
Der Marquis nippt am Tee.
»Auch wenn ich Mademoiselle Madeleine … liebe und immer lieben werde«, ergänzt Mickiewicz.
Der Marquis verschluckt sich.
»Erinnert mich nicht an Euren lapidaren Treppensturz!«, tupft sich der Marquis die Lippen mit einem Tuch – »Was musstet Ihr auch vor den Augen der Dienerschaft und den Ohren der Fürstin Opalińska Euren Liebesschwur unter Tränen so oft wiederholen, dass ich diesen bis ans Ende meiner Tage nicht mehr aus dem Kopf bekommen werde? Die Fürstin wohl auch nicht.«
»Die Fürstin ist tot, Marquis!«
»Ich habe es nicht vergessen, Monsieur Mickiewicz«, merkt der Marquis an und nippt wieder am Tee – »Da wir gerade so ungezwungen über Euer Leben parlieren. Falls Ihr seltsame Gelüste in Eurer Kniehose verspürt, die Eure zukünftige Gemahlin nicht zu stillen bereit ist, nun, dann werde ich mich gerne Eurer annehmen.«
Mickiewicz sieht den Marquis länger an. Der Marquis seufzt.
»Nicht auf eine Weise, wie Euch gerade der obszöne Sinn steht. Ich würde Euch anraten, die dringlichsten Begierden im Hause von Madame Carità zu stillen. Oder ich stelle Euch eine offenherzige Dame vor, die nichts gegen eine Liaison und kostbare Geschenke einzuwenden hat, wenn Ihr versteht?«
»Ich solle mir … eine Geliebte nehmen?«
»Exakt!«
»Ich werde mein Eheweib immer achten und niemals betrügen!«
»Das war wohl zu erwarten. Und zu befürchten.«
Der Marquis nimmt einen kleinen Löffel süßer Marmelade zu sich.
»Weil wir gerade davon sprechen«, legt er das Silberlöffelchen zur Seite, »mein kurzer Aufenthalt im Kleiderschrank hat in der Tat dazu geführt, dass ich mir Motten eingefangen habe. Ich musste erst Letztens viele meiner Westen an die Dienerschaft verschenken, so löchrig, wie diese waren. Aber keine Sorge, Monsieur Mickiewicz, ich habe für neue Kleidung gesorgt. Wie gefällt Euch mein neuer Rock?«
»Ich sehe keinen Unterschied zu den hundert anderen, die Ihr bis jetzt getragen habt. Einer gleicht dem anderen.«
»Ich muss schon bitten! Die neuen Röcke sind nach der englischen Mode geschneidert! Ihr solltet Euch beizeiten um neue Kleidung kümmern. Mein Schneider steht Euch gerne zu Diensten. Aber wählt diesmal einen Stoff von guter Qualität.«
Mickiewicz belegt ein Stück Brot mit einer eingelegten kleinen Zwiebel.
»Besser in seinem Verstand als in seinen Kleidern Luxus zu treiben, Marquis«, erwidert Mickiewicz und versucht vom Brot und der kleinen Zwiebel abzubeißen, was zur Folge hat, dass die Zwiebel nach unten, auf den Tisch und von dort auf den Boden fällt. Der Marquis schüttelt sachte den Kopf.
»Ich hoffe, Ihr könnt Euch bis zum Fest den perfekten Umgang mit Messer und Gabel aneignen. Achtet mir darauf, dass Ihr den Herzog von Orléans nicht anpatzt. Das hätte er gar nicht gerne.«
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FUSSNOTE
Aperçu: geistreicher Einfall
Ein Diener tritt wenig später an den Tisch und möchte dem Marquis etwas ins Ohr flüstern, als er Mickiewicz unter dem Tisch sieht. Der Marquis winkt ab. Der Diener meldet ihm die Ankunft eines Gastes. Der Marquis weist den Diener an, ein weiteres Gedeck aufzulegen.
»Monsieur Duport ist eingetroffen!«, sagt der Marquis laut.
Mickiewicz schlägt von unten mit dem Kopf gegen die Tischplatte. Der Marquis seufzt. Mickiewicz kommt unter dem Tisch hervorgekrochen, legt die zuvor verlorene kleine Zwiebel auf seinen Teller, setzt sich und betastet seinen Kopf.
»Wie geht es Eurem Kopf?«, fragt der Marquis.
»Er schmerzt«, antwortet Mickiewicz.
»Destitutus ventis, remos adhibe!FUS«, merkt der Marquis an und taxiert Mickiewicz – »Eure Aufmachung lässt zwar zu wünschen übrig, aber Monsieur Duport kennt Euch bereits zur Genüge.«
Nachdem das weitere Gedeck aufgelegt wurde, wird der neue Gast von einem Diener hereingeführt. Thomas Duport, der junge Amerikaner, der im August seinen 21. Geburtstag begeht, hinkt, auf einen Spazierstock gestützt, langsam zum Tisch. Sein linkes Auge ist von einer schwarzen Augenklappe verdeckt, seine einstmals ebenmäßigen Gesichtszüge merklich entstellt. Der Marquis und Mickiewicz begrüßen Duport zuvorkommend, beinahe freundschaftlich, während ihm der Diener einen freien Stuhl anbietet. Duport setzt sich und rückt mit dem Stuhl näher zum Tisch. Ein anderer Diener gießt Tee in seine Schale.
»Wie geht es Euch, Monsieur Duport?«, fragt der Marquis und tupft seinen Mund mit einem feinen Stofftuch ab.
»Mein Gesundheitszustand hat sich in den letzten Wochen merklich verbessert, Marquis. Ich werde deshalb die Gastfreundschaft der Lameths nicht länger in Anspruch nehmen müssen.«
»Das ist schön zu hören, Monsieur Duport«, nickt der Marquis – »Hat man Ihnen erzählt, dass Alexandre LamethFUS zum Deputierten der Generalstände gewählt wurde?«
»Ja, er hat es mir gesagt«, antwortet Duport – »Ich freue mich schon sehr, im April nach Versailles zu reisen, wenn der König die Versammlung der Generalstände eröffnet.«
»Haben Sie sich entschieden?«, fragt Mickiewicz – »Möchten Sie über die politische Situation in Frankreich schreiben?«
»Ja, das will ich unbedingt«, macht Duport einen Schluck vom Tee und stellt hastig die Tasse ab – »Eine Zeitung in Boston hat großes Interesse daran, meine Briefe zu veröffentlichen. Ist es nicht aufregend zu wissen, dass die eigenen Gedanken von vielen Menschen gelesen werden? In wenigen Monaten werde ich den Lesern der Zeitung über die Versammlung der interessantesten und hellsten Köpfe Frankreichs erzählen. Ja, diese Köpfe werden über das Wohl ihres Landes entscheiden.«
»Das haben Sie hübsch gesagt, Monsieur Duport«, lächelt der Marquis – »Aber die Entscheidungsgewalt liegt noch immer beim König. Und das wird sich auch mit der Generalständeversammlung nicht ändern. Doch bevor wir weiter über die politische Lage befinden, muss ich Sie in meine kleine, sehr persönliche Charade einweihen. Wie ich Ihnen bereits in meiner letzten Nachricht mitteilte, werden wir zum Schloss Vallée-Chessy reisen und dort dem Gastgeber Vicomte de Moucel unsere Aufwartung machen. Dem Fest wird sogar Herzog von Orléans beiwohnen und diesem kann ich unmöglich einen polnischen Gelehrten vorstellen. Deshalb habe ich entschieden, dass Monsieur Mickiewicz unter einem fremden Namen reist.«
Duport sieht zu Mickiewicz, dann zum Marquis.
»Ist … das alles?«
Der Marquis hebt eine Augenbraue.
»Es geht bekanntlich nichts über einen einfachen Plan. Leider sträubt sich seine Heiligkeit, den falschen Namen in den Mund zu nehmen. Wir werden demnach für Ablenkung sorgen und die Wahrheit, falls es notwendig erscheint, ein wenig biegen. Monsieur Mickiewicz heißt fortan Pierre Brouillé und ist Bankier aus Genf. Sie dürfen nun applaudieren.«
Duport applaudiert.
»Das reicht!«, wehrt der Marquis ab.
Eine Weile wird nichts gesprochen. Duport hüstelt leise.
»Ich … möchte der Marquise meine Aufwartung machen, wenn es mir erlaubt ist.«
Der Marquis schüttelt sachte den Kopf.
»Leider ist meine Gemahlin für die nächsten Tage in Grenoble. Aber wenn wir von unserer Reise zurück sind, wird es sich bestimmt einrichten lassen, dass Sie von ihr empfangen werden.«
»Das … das ist sehr freundlich, Marquis.«
Der Diener füllt die Tassen mit Tee auf. Als er damit fertig ist, geht er wieder drei Schritte vom Tisch weg. Mickiewicz sieht zum Marquis, der gerade ein kleines Stück vom zarten Schinken auf seine silberne Gabel spießt und zum Mund führt.
»Wolltet Ihr uns nicht etwas über die sonderbaren Vorfälle im Schloss Vallée-Chessy erzählen, Marquis?«
»Sonderbare Vorfälle?«, wird Duport hellhörig.
Der Marquis legt die Gabel zur Seite.
»Ja, so würde ich es bezeichnen. Mir kam zu Ohren, dass Monsieur Winterhalter, der alte Gutsverwalter des Vicomte de Moucel, vor wenigen Wochen eines unnatürlichen Todes starb. Man fand seine Leiche nicht unweit des Schlosses im Graben der Landstraße. Um es kurz zu machen: Monsieur Winterhalter wurde erschlagen und seiner Habseligkeiten beraubt.«
»Was ist daran sonderbar?«, wirft Mickiewicz beiläufig ein – »An Straßenräubern gibt es in Frankreich keinen Mangel. Falls Ihr es vergessen habt, Marquis, die Menschen hungern und frieren.«
»Fürwahr, das ist der natürliche Lauf der Dinge«, zuckt der Marquis mit der Schulter – »Das Sonderbare erschließt sich auch mir nicht recht, aber der alte Vikar Ferré ließ mich durch eine Nachricht wissen, dass im Schloss der doppelgesichtige Teufel sein Unwesen treiben würde und dieser den alten Gutsverwalter auf dem Gewissen hätte.«
Der Marquis holt aus seinem Rock ein gefaltetes Stück Papier und reicht es Mickiewicz, der es langsam entfaltet.
»Doppelgesichtiger Teufel?«, beginnt Duport unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen – »Was hat es damit auf sich?«
»Das wird uns der Vikar sicherlich verraten«, antwortet der Marquis.
»Glauben Sie an Gespenster, Marquis?«, fragt Duport leise.
»Nein, nein, Monsieur Duport, hier handelt es sich bloß um die Übertreibung eines alten Geistlichen. Der Teufel steckt im Menschen, wie wir alle – und vor allem unsere gelehrte Heiligkeit hier – wissen, nicht wahr?«
»Woher kennt Ihr diesen alten Vikar?«, übergeht Mickiewicz die Spöttelei des Marquis und reicht Duport die Nachricht, die dieser sofort neugierig liest.
»Nur eine lose Bekanntschaft«, antwortet der Marquis.
»Und warum erzählte man ausgerechnet Euch von dieser sonderbaren Teufelei?«
»Der Vikar dürfte mir vertrauen«, lächelt der Marquis.
»Wenn dem so ist, werter Marquis«, runzelt Mickiewicz die Stirn, »dann gehörte dieser Vorfall in der Tat untersucht.«
Der Marquis kneift kurz ein Auge zu.
»Ihr möchtet mich doch nicht auf den Arm nehmen, Monsieur Mickiewicz? Aber nein, Ironie ist nicht die Stärke der polnischen Gelehrten. Vielleicht solltet Ihr Euch darin üben. Es würde der Geschichte guttun.«
»Welcher Geschichte?«, fragt Duport und faltet die Nachricht wieder zusammen.
»Wir sind nun einmal Teil einer großen Geschichte, Monsieur Duport. Manchmal ist sie gut geschrieben, manchmal lässt sie zu wünschen übrig, aber das Ende ist unausweichlich. Manch einer behauptet, es sei schon geschrieben.«
»Sie meinen das … sprichwörtlich?«, reicht Duport dem Marquis die Nachricht.
»Monsieur Duport!«, ermahnt ihn der Marquis und lässt das Papier in seinem Rock verschwinden – »Mit dieser Frage zerstören Sie jede Doppeldeutigkeit.«
»Das wollte ich nicht«, entschuldigt sich Duport und nimmt betreten einen Schluck vom Tee.
»Kommen wir wieder auf unsere Reise zu sprechen. Im Schloss Vallée-Chessy des Vicomte de Moucel werden wir einem hübschen Fest beiwohnen und, ich muss es betonen, Chevalier de Castel-Jaloux antreffen. Er ist jung, ehrgeizig und durchtrieben! Was fällt uns dazu ein, Messieurs?«
»Es könnte Euer Sohn sein«, antwortet Mickiewicz.
»Ich merke einen Anflug von Ironie, Monsieur Mickiewicz, auch wenn ich es nicht glauben möchte. Wie dem auch sei, der Chevalier ist der älteste Sohn des Vicomte de Moucel und er sieht es nicht gerne, wenn man sich in seine Angelegenheiten mischt.«
»Der Chevalier ist der leibliche Sohn des Vicomte?«
»Der Vicomte übernahm die Vormundschaft der Castel-Jaloux-Kinder, nachdem die Eltern unter … tragischen Umständen ums Leben kamen.«
»Dann … stimmt es, was die Lameths sagen?«, hüstelt Duport – »Dass Sie in Verbindung mit dem Tod des alten Castel-Jaloux und seiner Gemahlin stehen.«
»Sagt man das über mich?«, ist der Marquis überrascht – »Nun, ich war in der Tat in der Loge zugegen, als der hinterhältige Mord geschah! Aber zu meiner Entlastung möchte ich anführen, dass ich mich an diesem Abend mehr am Lustspiel in der Comédie-FrançaiseANM erfreute, als an der blutigen Meuchelei, die hinter meinem Rücken geschah.«
»Es gab ein Lustspiel?«, ist Duport erstaunt.
»Le barbier de Seville«, nickt der Marquis.
»Von Beaumarchais«, wirft Mickiewicz ein.
»Dann sind Sie … nicht gänzlich frei von Schuld, Marquis?«, fragt Duport zögernd.
»Wer ist schon gänzlich frei von Schuld?«, lächelt der Marquis und nippt vom Tee – »Vielleicht sollte ich Ihnen die Geschichte des Chevaliers Castel-Jaloux und seines Onkels, des Vicomte de Moucel, erzählen. Gut möglich, dass darin schon ein Hinweis auf den doppelgesichtigen Teufel zu finden ist.«
Duport rückt näher zum Tisch, während Mickiewicz ein kleiner, getrockneter Pilz von seinem Brot in die Teeschale fällt. Der Marquis bemerkt es, wartet kurz, dann fährt er unbeirrt fort.
»Vor etwa hundert Jahren war es, als ein Ahne des Chevaliers – der Ehrgeizigste der Castel-Jaloux, der keine Gelegenheiten ausließ, um alles an sich zu raffen, was auch nur annähernd nach Gold und Macht glänzte –, als dieser beim König vorsprach. Der alte Chevalier legte unumstößliche Beweise vor, die bezeugten, dass ein Hufschmied der Erbe des alten und angesehenen Rittergeschlechts der Moucels war. Dieser Hufschmied entstammte dem Dorf Marne-la-Vallée, welches nicht unweit der damals bereits im Verfallen begriffenen Burg Vallée-Chessy lag. Dem König blieb nichts anderes übrig, als den Schmied als Moucel zu legitimieren. Natürlich erst, nachdem sich der alte Chevalier bereit erklärte, eine gehörige Summe Staatspapiere zu kaufen. Woher der alte Chevalier das Geld hatte, ist nie geklärt worden. Manch einer behauptet, dass bereits damals findige Spekulanten ihr Gold gegeben hätten, um sich an dieser windigen, aber ertragreichen Unternehmung zu beteiligen. Andere behaupten, der alte Chevalier hätte einen sagenumwobenen Schatz im Fischteich seines Schlosses gefunden.«
»In einem Fischteich?«, holt Mickiewicz den aufgeweichten Pilz aus seiner Teeschale – »War dieser sagenumwobene Schatz vielleicht von einem Zwerg bewacht?«
Der Marquis kneift ein Auge zusammen.
»Nur weil ich meine Geschichten ein wenig ausschmücke, Monsieur Mickiewicz, heißt es nicht, dass Ihr Euch darüber lustig machen dürft. Wie dem auch sei, der Hufschmied wurde schließlich vom König als Vicomte de Moucel bestätigt. Da der neue Vicomte weder lesen noch schreiben konnte, bedurfte er eines Verwalters und der alte Chevalier erbot sich, selbstverständlich, einen für ihn bereitzustellen. Dass dieser dem alten Chevalier zu Diensten war, muss ich nicht gesondert hervorheben. Das pikante Detail an der Sache war, dass die Familie Castel-Jaloux die nächste Familie war, die beim neuerlichen Absterben des Moucel-Zweiges das Erbe hätte antreten dürfen. Was schließen wir daraus, Messieurs?«
Duport räuspert sich.
»Dass der Hufschmied nur sterben hätte müssen, damit der alte Chevalier an das Erbe gelangte?«
»Exakt, Monsieur Duport«, nickt der Marquis – »Ohne die hellseherischen Fähigkeiten eines CagliostrosFUS zu besitzen, wusste jeder am königlichen Hofe, was geschehen würde: der plötzliche Tod des Hufschmieds und das Übergehen des Erbes an den alten Chevalier.«
»Was aber nicht eintrat«, merkt Mickiewicz an.
»Das Schicksal meinte es gut mit dem glücklichen Hufschmied. Dem alten Chevalier wurde eine seiner zahlreichen Ausschweifungen zum Verhängnis und der älteste Sohn des Chevaliers war ein grundgütiger und besonnener Mann, weshalb der Hufschmied in Ruhe sein Schloss wiederaufbauen und Nachkommen in die Welt setzen durfte, die in späterer Folge sein Erbe günstig verwalteten.«
Der Marquis hebt einen Zeigefinger.
»Somit dürfen wir nicht einmal daran denken, das Wort ›Hufschmied‹ vor Vicomte de Moucel in den Mund zu nehmen. Niemand möchte an seine niederen Wurzeln erinnert werden.«
»Der Vicomte hat keine Nachkommen?«
»So ist es, Monsieur Mickiewicz.«
»Wer erbt zu guter Letzt den Besitz der Moucels?«
»Das Erbe geht in den Besitz der Familie Castel-Jaloux.«
»Somit schließt sich am Ende der Kreis.«
»Das ist keine Übung in Geometrie, Monsieur Mickiewicz, sondern der rechtmäßige Erbanspruch!«
»Aber Monsieur Mickiewicz hat Recht«, wirft Duport ein – »Der alte Chevalier dachte einst daran, den Hufschmied … also das alte Rittergeschlecht der Moucels zu beerben und das geschieht doch nun. Habe ich nicht Recht, Marquis?«
»Noch sind wir nicht soweit, Messieurs. Vicomte de Moucel ist am Leben und wird es sicherlich noch eine Weile bleiben.«
Der Marquis nippt vom Tee. Duport ist in Gedanken.
»Vielleicht«, hebt Duport den Kopf, »hat man Straßenräuber bezahlt, um den Gutsverwalter zum Schweigen zu bringen.«
Der Marquis und Mickiewicz sehen fragend zu Duport.
»Was hätte denn der Gutsverwalter verraten können, Monsieur Duport?«, fragt der Marquis.
»Vielleicht die Hintergründe eines Komplotts …«
»Was denn für ein Komplott?«, verwundert sich der Marquis.
»Ich … weiß nicht. Aber es könnte doch mit der Nachricht des Vikars zu tun haben … mit dem doppelgesichtigen Teufel. Wir sollten es herausfinden!«, antwortet Duport und wendet sich zu Mickiewicz, der gerade ein Stück Brot zu sich nimmt – »Möchten Sie uns dabei helfen, dieses Rätsel zu lösen, Monsieur Mickiewicz?«
Mickiewicz sieht Duport erstaunt an und schluckt hinunter.
»Was soll ein Bankier aus Genf schon dazu beitragen können?«
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FUSSNOTE:
Zitat: Kann man mit dem Kopf nicht durch die Wand, so kann man durch die Tür.
Lameth: geb. 1760
Cagliostro: eigentlich Giuseppe Balsāmo (1743 - 1795), Arzt, Naturforscher, Alchimist,
Geisterbeschwörer und rätselhafte Figur