Das Motiv für dieses Buch ist und bleibt ein journalistisches: die ewig alte, ewig neue Frage nach dem Wie und Warum von Politik. Erst recht ist sie zu stellen, wenn sich politische Ereignisse und Eindrücke überdurchschnittlich stark verdichten wie in Wahl- oder Krisenjahren. Die Zeit zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2011 war beides, Wahlmarathon und Krisenstakkato. Nicht der schlechteste Moment also, die eine große Frage zu stellen, die mich umtreibt, seit ich politischen Journalismus betreibe: Was lässt die Politiker die Politik machen, die sie machen? Programm? Persönlichkeit? Nur die Umstände und vielfältigen Sachzwänge? Oder eben ganz maßgeblich auch jenes Bild vom Bürger, an dem sich die Politiker ausrichten. Und: Welche der vielen Facetten dieses Bildes entsprechen (noch) der Wirklichkeit, oder wo sind »die Menschen draußen im Land« ganz anders, als die meisten Politiker meinen?
Eingegangen in meine ganz persönlichen Antworten auf diese Fragen sind viele Gespräche mit Politikern oder unter Politikern, wobei sich deren Ansichten überraschend wenig nach Parteifarben unterschieden. Politikermeinungen über »die Bürger« und deren Wesen lassen sich mit ein bisschen Mut zur plausiblen Vereinfachung durchaus pauschal fassen. Eine Differenzierung nach Parteifarben wäre entlang bestimmter Details zwar möglich, erschien für die Zwecke dieses Buches aber nicht notwendig.
Manches Wort über »die Menschen« oder »die Deutschen«, das hier Eingang fand, ist in halb- oder nichtöffentlichen Gesprächen gefallen. Die entsprechenden Zitate sind in der Regel anonymisiert, aber doch so zugeordnet, dass ihre Authentizität offenkundig wird. Es geht in diesem Buch gleichwohl nicht darum, einzelne Politiker mit einzelnen Äußerungen »vorzuführen«. Es geht darum, dem Denken auf den Grund zu gehen, das Politik in Deutschland prägt. Dieses Buch ist keines gegen Politiker, sondern eines über Politiker.
Dank geht zuerst also pauschal, aber herzlich an die zahlreichen Gesprächspartner aus Politik und Journalismus. Dank für Rat und Tat und Unterstützung geht zudem an Kai Diekmann. An Peter Dausend, Sebastian Fischer-Jung (Polithek), Mariam Lau, Eckardt Lohse, Dietrich Menkens, Christoph Schwennicke.
Und vor allem an Karola, Julius, Titus und Kiara, denen dieses Buch in großer Liebe gewidmet sein soll.
Voilà, da ist es, das ganze große Bild vom Bürger in einem Satz: Politiker machen Politik für »die Menschen draußen im Land«, weshalb diese in kaum einer Rede unerwähnt bleiben. Sie sind Ausgangs- und Endpunkt aller politischen Arbeit, was Spöttern den Schluss nahelegt, dass die, die sie tun, sich im Kreis drehen, immerfort herum um die »Menschen draußen im Land«.
So wie jeder aufrechte Gaullist »la France profonde«, die Tiefe Frankreichs, die Provinz, für das einzig wahre Frankreich hält, so haben auch viele deutsche Politiker eine solche Idee von ihrem Land. Weniger pathetisch, gewiss, aber eben doch eine Idee. »La France profonde«, das sind für deutsche Politiker »die Menschen draußen im Land«.
Aber wer sind die? Und wo ist eigentlich »draußen«? Zunächst sind die Menschen irgendwie immer zwei: einmal der Einzelne und einmal alle, das Ganze. Natürlich reden Politiker in ihren Heimatwahlkreisen viel mit einzelnen Männern, Frauen, Kindern, die Namen und Gesicht haben und gern von sich erzählen. Wenn sie nach ihrem schönsten Erfolgserlebnis gefragt werden, berichten viele Abgeordnete deshalb davon, wie sie einmal dem Wahlkreisbürger Mustermann bei der Lösung eines ganz persönlichen Problems geholfen haben.
Problem, Einsatz, Lösung, Erfolg, Dank – so hinreißend einfach kann Politik sein. Klar ist aber auch: »Man kann zu noch so vielen Festen gehen, man wird immer nur einem Prozent seiner Wähler begegnen«, wie die inzwischen zur Familienministerin aufgestiegene Jungpolitikerin Kristina Köhler, jetzt Schröder, dem Journalisten Thomas Leif vom Südwestrundfunk einmal erzählte. Und das bedeutet: Wenn sie politisch-strategisch arbeiten, zum Beispiel Gesetze machen, haben Politiker »die Menschen« im Blick, hilfsweise »die Leute«, »das Ganze« oder »das Land«. Das ist in Wahrheit stets nur ein anderes Wort für Gesellschaft, welche als Begriff aber ziemlich aus der Mode gekommen ist. »Die Menschen«, das ist in der Praxis zwar genauso weit weg wie Gesellschaft. Aber »die Menschen« oder in der Steigerung »nah bei den Menschen« (u. a. Kurt Beck) – das klingt einfach bodenständig und irgendwie besser. Und das wiederum ist wichtig für Politiker.
Wer sind nun »die Menschen«? Laut Statistischem Bundesamt finden sie sich tatsächlich draußen im Land: In Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern leben nur 16 Prozent aller Menschen in Deutschland, 60 Prozent jedoch in Kommunen mit weniger als 50 000 Einwohnern. Also in der Provinz. Weshalb es in einer Hinsicht übrigens vollkommen egal war, ob die Bundesregierung nach Berlin gezogen ist oder nicht: In dieser schillernden Metropole (oder gar im Parlamentsviertel) findet sich nicht viel vom realen Leben der Mehrheitsdeutschen, das die Berlin-Befürworter glaubten, als problemgesättigte Folie für ihre Politik zu brauchen.
Bei den Deutschen draußen im Land klingelt der Wecker um 6.18 Uhr, und jeder Zweite dreht sich noch einmal um. Die Menschen draußen im Land sitzen im Schnitt 13 Stunden pro Woche vor dem Fernseher, nur ein Drittel dieser Zeit widmen sie einem Buch oder der Zeitung. Täglich verbrauchen sie 126 Liter Wasser. Die Männer heiraten mit 33, werden 77 und sprechen 16 000 Wörter pro Tag. Die Frauen heiraten mit 30 und werden 82. Sie kriegen ihr erstes Kind mit 31 und steigen 3796 Kilometer Treppen in ihrem Leben. Insgesamt verbraucht jeder, bis er stirbt, sieben Fernseher und zwölf PC. Die Deutschen verdienen im Durchschnitt 3000 Euro pro Monat (Vollzeitangestellte). 68 Prozent brauchen weniger als eine halbe Stunde zur Arbeit. Sie haben im Durchschnitt ein Kind, 42 Quadratmeter pro Kopf zum Wohnen (in Wohnungen), gehen 18 Mal im Jahr zum Arzt, telefonieren 37 Stunden mit dem Handy, essen 246 Äpfel und haben im Schnitt 138 Mal Sex im Jahr, wenn man diesbezüglichen Umfragen glauben mag. Sie besitzen rechnerisch ein Finanzvermögen von rund 200 000 Euro. Zwei von dreien haben Angst vor Arbeitslosigkeit, Krankheit oder einem schmerzvollen Tod. Neun von zehn sind gesetzlich krankenversichert, annähernd hundert Prozent haben ein Handy, aber nur vier von zehn Abitur. Mehr als vier Fünftel halten sich für diszipliniert und pflichtbewußt, jeder zweite ist übergewichtig, rund 30 Prozent sind in einem Sportverein, derweil die Zahl der Chorsänger schrumpft. So viel aus dem Statistischen Jahrbuch und artverwandter Literatur.
»Politik ist angewandte Liebe zum Leben«, schrieb einst Hannah Arendt. Liebe zum Leben der Menschen; nicht nur SPD-Urgestein Franz Müntefering zitiert das gern. Aber Politiker führen naturgemäß ein ganz anderes Leben als die allermeisten der Bürger, die sie regieren, und auch die immer noch stattlichen Mitgliederscharen der eigenen Partei sind für sie keine Orientierungshilfe, weil im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (viel) zu alt, zu männlich, zu gut gebildet, zu einkommensstark – selbst bei den »Volks«-Parteien. Folglich speist sich das Bild des Politikers vom Bürger zu größeren Teilen aus Umfragen, Statistiken sowie aus seinem Bauch und politischem Instinkt. Das mag man beklagen, aber eine realistische Aussicht, es zu ändern, besteht nicht, weshalb alles Jammern darüber wohlfeil ist. Man muss es einfach stehen lassen, wenn CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe am Rande eines Interviews von seiner Partei (und sich) sagt: »Wir wissen, wie die Leute ticken.«
Und weil dieses Bild vom Bürger das eines Durchschnittsdeutschen ist, erklärt sich plötzlich auch, warum fast alle deutschen Parteien auf dem einen oder anderen Weg in die Mitte streben, zum Durchschnitt. Die jeweilige Programmatik, das parteioffizielle Menschenbild also, sagt in diesem Zusammenhang vor allem etwas über die Ziele der jeweiligen Parteien. Darüber, welche Menschen in jenem Deutschland leben (würden), das sie für das erstrebenswerte halten. Über die Basis ihrer alltäglichen Arbeit dagegen sagt es nichts. Denn diese Basis sind die Menschen, die tatsächlich in Deutschland leben. Ein anderes Volk ist leider gerade nicht am Lager. Kurzum: Diese »Menschen draußen im Land« sind es also, die gewonnen, gezähmt oder umschmeichelt, beruhigt, angespornt oder gebremst werden müssen. Und das besonders in der Mitte, denn dort werden Wahlen in Deutschland nach wie vor gewonnen und verloren: Die großen politischen Wachwechsel in der Nachkriegszeit vollzogen sich, wenn ein politisches Lager dem anderen diese Mitte abgejagt hatte oder diese frustriert der Wahl fernblieb. Natürlich sehen die allermeisten Politiker, dass die Mitte schrumpft und zudem ein längst nicht mehr so sicher zu ortender Raum ist wie vor einigen Jahrzehnten noch. Nach ökonomischen Kriterien umfasste die Mitte der Gesellschaft in den 80er Jahren rund zwei Drittel der Bevölkerung; heute sind es noch gut 50 Prozent, sagen Soziologen.
Wenn also zum Beispiel die CDU die Mitte definiert als jene Bürger, »die zur Arbeit gehen, Steuern zahlen, Kinder erziehen«, dann schrumpft sie in dem Maße, wie die Zahl der Rentner wächst oder die Zahl der Mehrkindfamilien mit Trauschein abnimmt. Wenn die SPD wiederum bei ihren zentralen Begriffen Emanzipation und Partizipation stehen bleibt, wird ihr die Globalisierung zeigen, dass die älteste Partei Deutschlands inzwischen fast ein halbes Jahrhundert gedanklich hinterherhinkt. Und genau diese Globalisierung zieht auch dem offiziell viel individuelleren Menschenbild bei FDP und Grünen die Grenzen, weil immer mehr Bürger wieder stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft wollen, statt als Einzelne dem fortwährenden Modernisierungsdruck standhalten zu müssen.
So klammern sich die Parteien an das Bild von der »schweigenden Mehrheit«, von der Mitte und dem Durchschnittsbürger, der sie bewohnt. Denn was bleibt ihnen anderes übrig? Politik ist nun einmal res publica, die Sache aller. Politik kann man nicht für den Einzelnen machen, auch wenn sie jeden Einzelnen betrifft. Politiker brauchen deshalb ein Bild vom Bürger vor Augen, das die Züge eines Einzelnen trägt, aber zugleich alle abbildet.