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Inhaltsverzeichnis

VORSPANN - Jenin
TEIL 1 - Al Nakba
1 - Die Ernte
2 - Ari Perlstein
3 - Das nichtsnutzige Beduinenmädchen
4 - Die Vertreibung
5 - »Ibni! Ibni!«
6 - Yahyas Heimkehr
7 - Amals Geburt
TEIL 2 - El Naksa
8 - So groß wie der Ozean und all seine Fische
9 - Im Küchenbunker
10 - Vierzig Tage später
TEIL 3 - Die Narbe Davids
11 - Ein Geheimnis wie ein Schmetterling
12 - Yussuf, der Sohn
13 - Mosches wunderschöner Dämon
14 - Yussuf, der Mann
15 - Yussuf, der Gefangene
16 - Die Brüder sehen sich wieder
17 - Yussuf, der Kämpfer
18 - Hinter der ersten Baumreihe
19 - Yussuf geht
20 - Helden
21 - Ausklänge
22 - Auf Wiedersehen, Jenin
23 - Das Waisenhaus
TEIL 4 - Al Ghurba
24 - Amerika
25 - Ein Anruf von Yussuf
TEIL 5 - Qalbi fi Beirut
26 - Majid
27 - Der Brief
28 - »Ja«
29 - Liebe
30 - Eine Geschichte über die Ewigkeit
31 - Wieder in Philadelphia
32 - Eine Geschichte von der Ewigkeit, für immer unvollendet
33 - Bedauernswert ist eine Nation
34 - Hilflos
35 - Der Blumenmonat
36 - Yussuf, der Rächer
TEIL 6 - Illy Bayna-na
37 - Eine Frau, von Mauern umgeben
38 - Hier, dort und anderswo
39 - Der Anruf von David
40 - David und ich
41 - Davids Geschenk
42 - Mein Bruder David
TEIL 7 - Baladi
43 - Dr. Ari Perlstein
44 - Halt mich, Jenin
TEIL 8 - Nihaya wa Bidaya
45 - Für unsere Töchter
46 - Geschöpfe Gottes
47 - Yussuf, der Preis Palästinas
NACHWORT
GLOSSAR
QUELLENNACHWEIS
Copyright

NACHWORT

Die Figuren in diesem Buch sind erfunden – Palästina ist es nicht. Die historischen Ereignisse und die bekannten Personen, die in der Geschichte erwähnt werden, sind oder waren real. Um die historischen Gegebenheiten möglichst genau nachzeichnen zu können, habe ich mich auf viele verschiedene Textquellen gestützt, die ich im Literaturverzeichnis angegeben habe. In einigen Fällen habe ich auch im Text daraus zitiert. Ich bin den Historikern dankbar, die sich darum bemühen und bemüht haben, die Dinge wieder geradezurücken – und dafür oft persönliche und berufliche Nachteile hinnehmen mussten.

Es war ein langer Weg, diese Geschichte zu schreiben und an die Öffentlichkeit zu bringen. Unter dem Titel The Scar of David wurde sie erstmals veröffentlicht, bei einem kleinen Verlag, der kurz danach pleiteging. In der Zwischenzeit aber wurde sie ins Französische übersetzt und von Èditions Buchet/ Chastel unter dem Titel Les matins de Jénine herausgebracht. Marc Parent, mein wunderbarer Lektor bei Buchet/Chastel, machte mich mit Anna Soler-Pont von der Pontas Literary and Film Agency bekannt, die zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung meine Agentin wurde. Anna hauchte dem Roman neues Leben ein. Daraufhin wurde das Buch in zwanzig verschiedene Sprachen übersetzt, und Bloomsbury bot mir an, es noch einmal auf Englisch herauszubringen. Für diese zweite Chance bin ich Anna und Bloomsbury zu großem Dank verpflichtet. Ganz besonderen Dank schulde ich Alexandra Pringle, die an das Buch geglaubt hat und es unter solch außergewöhnlichen Umständen zur Veröffentlichung annahm. Dank auch an Anton Mueller, meinen Lektor, der meinen Roman mit Weisheit und Erfahrung (und großer Geduld mit mir) so viel besser gemacht hat. Weiterhin Dank an meine Korrektorin Janet McDonald für ihre ausgezeichnete Arbeit.

Die Idee zu diesem Buch kam mir, nachdem ich eine Kurzgeschichte von Ghassan Khaled gelesen hatte. Darin wird ein palästinensischer Junge von einer israelischen Familie in einem 1948 eroberten Haus gefunden und wie ein eigenes Kind aufgezogen. Im Jahre 2001 schrieb mir Dr. Hanan Ashrawi eine E-Mail, nachdem sie einen Essay von mir gelesen hatte, der von meiner Kindheit in Jerusalem handelte. Dr. Ashrawis Nachricht lautete: »Ein sehr bewegender Artikel – persönlich, palästinensisch und menschlich geschrieben. Ich habe den Eindruck, Sie könnten eine erstklassige Lebensbeschreibung verfassen. Wir brauchen eine solche Erzählung. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?« Dr. Ashrawi verdanke ich also die ursprüngliche Ermutigung zum Schreiben. Ein Jahr später reiste ich nach Jenin, denn ich hatte gehört, dass sich in diesem Flüchtlingslager ein Massaker abspielte, das vor der Welt geheim gehalten werden sollte. Das Lager war zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden und sogar für Hilfskräfte und Reporter tabu. Die Schrecken, die ich dort mit eigenen Augen gesehen habe, gaben mir letztlich den Anstoß, diese Geschichte zu erzählen. Meine Inspiration habe ich aus der Standhaftigkeit, dem Mut und der Menschlichkeit der Bewohner von Jenin gezogen.

Ein Preis der Leeway Foundation half mir, den finanziellen Schwierigkeiten zu begegnen, die sich im Laufe des Schreibens einstellten. Ich bin dieser wunderbaren Organisation und allen ähnlichen Vereinigungen dankbar für ihre Wertschätzung und Unterstützung künstlerischer Arbeit. Die Liebe und Ermutigung meiner Freunde haben meine Selbstzweifel zerstreut, besonders in Zeiten, in denen sich Schulden und Absagebriefe von Verlagen türmten. Ich stehe für immer in der Schuld von Mark Miller, der mir seine Freundschaft und Unterstützung geschenkt hat, auch wenn ich mürrische Phasen hatte. Ich bin außerdem noch anderen Menschen zu Dank für ihre Liebe und Hilfe verpflichtet, besonders Mame Lambeth, die dieses Manuskript insgesamt dreimal in verschiedenen Stadien gelesen hat. David Mowrey ist der beste Freund, den ich je hatte. Ich habe ihn samstags zu den unmöglichsten Zeiten überfallen, um mit ihm zu frühstücken.

Ein herzliches Dankeschön an die folgenden Leute, deren Großzügigkeit, Rat und Ermutigung mir beim Schreiben dieses Romans sehr geholfen haben (ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht): Dr. Evalyn Segal, Gloria Delvecchio, Karen Kovalcik, Peter Ciampa, Yasmin Adib, Beverly Palucis, Martha Hughes, Nader Pakdaman, Anne Parrish, William Kowalski, Dr. Craig Miller und Anan Zahr.

Obwohl ich ihn nur ein einziges Mal kurz persönlich getroffen habe, hat der mittlerweile verstorbene Dr. Edward Said dieses Buch maßgeblich beeinflusst. Er beklagte einmal, dass es keine palästinensischen Stimmen in der Literatur gebe – diese Enttäuschung habe ich mir zum Anlass für meine Arbeit genommen. Er hat sich für Palästina eingesetzt, mit Intellekt, moralischer Stärke und einer ansteckenden Leidenschaft, die so viele von uns berührt hat. Mir erschien er überlebensgroß. Ich wusste zwar, dass er krank war, aber irgendwie glaubte ich wohl, er sei auch größer als der Tod. Leider hatte ich unrecht. Er hinterlässt eine schmerzliche Lücke, die auch in den Seiten dieses Buchs zu spüren ist.

Mein allergrößter Dank aber gilt Natalie. Ihre Mutter zu sein erfüllt mich mit tiefer Freude, und die bedingungslose Liebe, die sie mir schenkt und von mir empfängt, hält mein Herz am Leben.

QUELLENNACHWEIS

Gedichte, Verse und Presseauszüge wurden aus folgenden Übersetzungen zitiert:



Amrilkais, der Dichter und König: Sein Leben dargestellt in seinen Liedern. Übertragen aus dem Persischen von Friedrich Rückert. Stuttgart: Cotta, 1843.

[Teil 2 (8)]

Darwish, Mahmud. Weniger Rosen – Gedichte. Aus dem Arabischen übersetzt von Khalid Al-Maaly. Berlin: Schiler, 2005.

[Teil 5 (30)]

Fisk, Robert. Pity the Nation (1990). In Auszügen übersetzt von Annegret Kabbani unter www.hadarat.de

[Teil 5 (33)]

Gibran, Khalil. Der Prophet. Neu übersetzt von Ulrich Schaffer. Freiburg: Herder Verlag, 2006.

[Teil 5 (34, 35)]
[Teil 6 (37)]

1

Die Ernte

1941




In einer fernen Zeit, ehe die Geschichte über die Hügel gefegt kam und Gegenwart und Zukunft auslöschte, ehe ein Sturm das Land packte und ihm Namen und Charakter austrieb, ehe Amal geboren wurde, gab es östlich von Haifa ein kleines, friedliches, von der Sonne verwöhntes Dorf mit offenen Grenzen, das von Feigen- und Olivenanbau lebte.

Es war noch dunkel, als die Dorfbewohner von Ein Hod sich auf das Morgen-Salat, das erste der fünf täglichen Gebete, vorbereiteten. Nur die Babys schliefen. Der Mond stand tief, sah aus wie eine Schnalle, die Erde und Himmel zusammenhielt – die Andeutung eines zaghaften Versprechens. Glieder reckten und streckten sich, Wasser sprengte den Schlaf weg, hoffnungsvolle Augen weiteten sich. Nach dem Wudu, der rituellen Waschung vor dem Salat, stiegen gemurmelte Shahadas in den Morgennebel: Hunderte flüsternder Stimmen bezeugten, dass es keinen anderen Gott als Allah gebe und sie seinem Propheten Muhammed dienten. An diesem Tag beteten die Menschen draußen und mit besonderer Ehrfurcht, denn die Olivenernte stand vor der Tür. Bei einem so wichtigen Anlass erklomm man die felsigen Hügel am besten mit einem reinen Gewissen.

Vor dem ersten Morgenlicht warfen die Dorfbewohner Mondschatten auf ihre Gebetsteppiche, und ein Orchester aus Kleingetier – Grillen, erwachende Vögel und bald darauf Hähne – stimmte dazu sein Lied an. Die meisten Menschen baten einfach um Vergebung ihrer Sünden, manche beteten eine zusätzliche Ruka’a. Auf die eine oder andere Weise sagte ein jeder: »Allah, mein Herr, Dein Wille geschehe heute. Dir unterwerfe ich mich, und Dir erweise ich meine Dankbarkeit.« Anschließend machten sich die Dorfbewohner in Richtung Westen zu den Olivenhainen auf. Sie staksten, um die Berührung mit Kakteenstacheln zu vermeiden.



In der Erntewoche vibrierte Ein Hod jeden November aufs Neue vor Energie, und Yahya Abu Hasan spürte es bis in die Knochen. In der Hoffnung, den Nachbarn zuvorzukommen, überredete er seine Jungen dazu, frühmorgens mit ihm das Haus zu verlassen. Doch die Nachbarn hegten die gleichen Gedanken, und die Ernte begann stets gegen fünf Uhr morgens.

Verlegen wandte Yahya sich zu seiner Frau Basima um, die einen Korb mit Planen und Decken auf dem Kopf trug, und flüsterte: »Umm Hasan, nächstes Jahr stehen wir vor ihnen auf. Ich hätte gern eine Stunde Vorsprung vor Salim, dem zahnlosen alten Mistkerl.«

Basima verdrehte die Augen. Ihr Mann grub diese brillante Idee jedes Jahr wieder aus.



Als die Dunkelheit dem Licht wich, stiegen die Geräusche, die die Ernte dieser edlen Frucht stets begleiteten, von den sonnengebleichten Hügeln Palästinas empor. Das Klopfen von Stöcken, die gegen Äste schlugen, das Rascheln von Blättern, das Herabplumpsen von Früchten, die auf alten, unter den Bäumen ausgebreiteten Planen und Decken landeten. Während sie sich abrackerten, sangen die Frauen Volksweisen vergangener Jahrhunderte; spielende Kinder wurden von ihren Müttern getadelt, wenn sie ihnen in die Quere kamen.



Yahya machte eine Pause, um seinen verkrampften Nacken zu massieren. Es ist praktisch Mittag, dachte er, als er sah, dass die Sonne fast im Zenit stand. Schweißgebadet stand Yahya auf seinem Stück Land, ein stämmiger Mann mit einer schwarzweißen Kufiya um den Kopf, den Saum seines Gewands nach Art eines Fellachen in die Schärpe gesteckt, die er um seine Taille geschlungen hatte. Er betrachtete die Pracht um sich herum. Moosgrünes Gras stürzte die Hügel hinab über die Felsen, spross um die Bäume herum und an den Stämmen empor. Sanasil – Steinmauern –, bei deren Ausbesserung er seinem Großvater geholfen hatte, wanden sich die Anhöhen hinauf. Yahya ließ seinen Blick zu Hasan und Darwish schweifen, deren Brustmuskeln sich bei jedem schwungvollen Stockschlag auf die Olivenzweige unter ihren Gewändern abzeichneten. Meine Jungen! Stolz schwellte Yahyas Herz. Hasan wird ein kräftiger Kerl, trotz seiner Lungenprobleme. Allah sei Dank.



Die Söhne bearbeiteten die Bäume jeweils von zwei Seiten, während ihre Mutter Decken voller frischer Oliven wegzog, die später am Tag gepresst werden sollten. Yahya konnte sehen, wie Salim im angrenzenden Hain seine Ernte einbrachte. Zahnloser alter Mistkerl. Yahya lächelte, immerhin war Salim jünger als er. Tatsächlich besaß sein Nachbar Weisheit und großväterliche Geduld, Eigenschaften, die sich in seinen Zügen widerspiegelten, die von vielen Jahren Olivenholzbearbeitung im Freien gegerbt waren. Nach seiner Pilgerreise nach Mekka durfte er sich »Haj« nennen, und der neue Titel verlieh ihm symbolisch den Rang des Älteren. Abends rauchten die beiden Freunde immer gemeinsam Huka und debattierten, wer am härtesten gearbeitet hatte und wessen Söhne am stärksten waren. »Für deine Lügen wirst du zur Hölle fahren, Alter«, sagte Yahya und führte die Pfeife an die Lippen.

»Alter? Du bist älter als ich, du alter Knacker«, entgegnete Salim.

»Wenigstens habe ich noch alle Zähne.«

»Von mir aus. Hol das Brett raus, damit ich dir wieder mal beweisen kann, wer der Bessere ist.«

»Du bist dran, du verlogener, zahnloser, schwächlicher Sohn deines Vaters.«

Beim Backgammonspiel und blubbernden Hukas wurde dieser alljährliche Zwist beigelegt, und sie spielten so lange weiter, bis ihre Frauen sie mehrmals rufen lassen mussten.



Zufrieden mit dem morgendlichen Arbeitstempo, absolvierte Yahya das Dhuhr-Salat und setzte sich auf die Decke, auf der Basima Linsen und Makluba mit Lamm und Joghurtsauce angerichtet hatte. Ein wenig entfernt stellte sie eine Mahlzeit für die Wanderarbeiter hin, die das Angebot dankbar annahmen.

»Mittagessen!«, rief sie Hasan und Darwish zu, die gerade das zweite Salat des Tages beendet hatten.

Um das dampfende Tablett mit Reis und kleinere Teller mit Saucen und eingelegtem Gemüse versammelt, wartete die Familie darauf, dass Yahya im Namen Allahs das Brot brach. »Bismillahi al-Rahmani al-Rahimi.« Die Jungen fielen ein und griffen hungrig nach dem Reis, den sie zu mundgerechten Happen formten und in Joghurt tunkten.

»Köstlich, niemand kocht so gut wie du!« Darwish, der Schmeichler, wusste, wie er sich Basimas Gunst versicherte.

»Allah segne dich, mein Sohn.« Sie grinste und schob ein zartes Stück Fleisch auf seine Seite des Reistabletts.

»Und ich?«, protestierte Hasan.

Darwish flüsterte seinem älteren Bruder neckend ins Ohr: »Du kannst nicht so gut mit Frauen.«

»Hier bitte, Liebling.« Basima suchte einen Leckerbissen für Hasan heraus.

Ohne das übliche Verweilen bei Halawa und Kaffee war die Mahlzeit schnell vorbei. Es gab noch eine Menge Arbeit. Basima hatte ihre großen Körbe gefüllt, damit die Helfer sie zur Olivenpresse tragen konnten. Beide Söhne mussten ihren Teil der Oliven noch am Tag der Ernte pressen, damit das Öl keinen ranzigen Geschmack annahm. Doch bevor es zurück an die Arbeit ging, wurde ein Gebet gesprochen.

»Lasst uns Allah zuerst für seine Mildtätigkeit danken.« Yahya zog einen alten Koran aus der Tasche seiner Dishdasha. Das heilige Buch hatte seinem Großvater gehört, der die Haine vor ihm gehegt und gepflegt hatte. Obwohl Yahya nicht lesen konnte, betrachtete er gerne die hübsche Kalligrafie, während er Suren aus dem Gedächtnis rezitierte. Die Jungen verbeugten sich, lauschten ihrem Vater ungeduldig beim Herbeten der Koranverse und rannten den Hügel hinunter zur Presse, sobald er es ihnen erlaubt hatte.

Basima wuchtete einen Korb mit Oliven auf den Kopf, nahm rechts und links jeweils eine Webtasche voller Speisen und übrig gebliebenen Nahrungsmitteln in die Hand und schritt mit anderen Frauen, die Krüge und Habseligkeiten kerzengerade auf dem Kopf balancierten, den Hügel hinab. »Allah sei mit dir, Umm Hasan«, rief Yahya seiner Frau zu.

»Und mit dir, Abu Hasan«, antwortete sie. »Beeil dich.«

Als er allein war, lehnte Yahya sich in die Brise, blies sanft in das Mundstück seiner Nai und spürte, wie aus den kleinen Löchern unter seinen Fingerspitzen Musik drang. Sein Großvater hatte ihn gelehrt, wie man diese altehrwürdige Flöte spielte, und ihre Melodien gaben Yahya ein Gefühl der Verbundenheit mit seinen Ahnen, den zahllosen Ernten, dem Land, der Sonne, der Zeit, der Liebe und allem, was gut war. Wie immer zog Yahya beim ersten Ton die Brauen über seinen geschlossenen Augenlidern hoch, als wäre er immer wieder aufs Neue überrascht, wie seine einfache, handgeschnitzte Nai seinen Atem in etwas so Erhabenes verwandeln konnte.



Ein paar Wochen nach der Ernte lud man auf Yahyas alten Lastwagen Öl, vorwiegend aber Mandeln, Feigen, eine bunte Mischung Zitrusfrüchte und Gemüse. Hasan platzierte die Trauben ganz oben, damit sie nicht zerquetscht wurden.

»Ich verstehe nicht, weshalb du die ganze Strecke bis Jerusalem fahren willst«, sagte Yahya zu Hasan. »Tulkarem ist bloß ein paar Kilometer weit, und das Benzin ist teuer. Selbst Haifa ist näher, und in beiden Orten ist der Markt genauso gut. Außerdem weißt du nie, welcher Hundesohn von Zionist sich in irgendeinem Gebüsch versteckt oder welcher britische Bastard dich anhalten wird. Wozu das Ganze?« Doch der Vater wusste schon, warum. »Du machst diese lange Fahrt, um dich mit Ari zu treffen?«

»Ya abuya, ich habe ihm versprochen, dass ich komme«, antwortete Hasan. Ein flehentlicher Unterton lag in seiner Stimme.

»Nun, du bist jetzt ein Mann. Pass auf dich auf! Sorg dafür, dass deine Tante bekommt, was sie braucht, und sag ihr, dass sie uns bald besuchen kommen soll«, erwiderte Yahya. Dann sagte er zu dem Fahrer, einem seiner Neffen: »Allah schütze dich, mein Sohn.«

»Allah schenke dir ein langes Leben, Ammu Yahya.«

Hasan küsste seinem Vater zuerst die Hand und dann die Stirn – Gesten der Ehrerbietung, die Yahya mit Liebe und Stolz erfüllten.

»Allah schenke dir sein Lächeln und schütze dich, solange du lebst, mein Sohn«, sagte er, als Hasan hinten in den Lastwagen kletterte.

Als sie anfuhren, galoppierte Darwish auf seinem geliebten Araber Ganush neben ihnen her. »Lass uns ausprobieren, wer schneller ist. Weil der Laster schwer beladen ist, gebe ich dir eine Stunde Vorsprung«, forderte er Hasan heraus.

»Renn mit dem Wind um die Wette, Darwish. Er ist deinem Tempo eher gewachsen als diese alte Klapperkiste. Ich treffe dich dann in Jerusalem in Ammitu Salmas Haus.«

Hasan sah seinen jüngeren Bruder auf dem ungesattelten Pferd davonfliegen, die Hatta, deren lose Enden nach dem Wind haschten, eng um den Kopf gewickelt. Darwish war kilometerweit, ja vielleicht sogar landesweit der beste Reiter, und Ganush war das schnellste Pferd, das Hasan je gesehen hatte.



Neben der staubigen Straße erstreckte sich eine ruhige Waldlandschaft, verzaubert vom Duft nach Zitrusblüten und wilden Hennasträuchern. Hasan öffnete den Beutel, den seine Mutter ihm täglich füllte, brach ein Bröckchen ihrer klebrigen Mixtur ab und hielt es sich unter die Nase. Er atmete so tief ein, wie seine asthmatischen Lungen es zuließen. Sauerstoff strömte durch seine Adern, als er eines der geheimen Bücher öffnete, deren Studium Frau Perlstein, Aris Mutter, ihm aufgetragen hatte.

2

Ari Perlstein

1941




Ari wartete am Damaskustor, wo die Jungen sich vier Jahre zuvor zum ersten Mal getroffen hatten. Er war der Sohn eines deutschen Professors, der frühzeitig vor den Nazis geflohen war und sich in Jerusalem niedergelassen hatte. Dort hatte seine Familie ein kleines Haus von einem bekannten Palästinenser gemietet.

Die beiden Jungen hatten sich 1937 auf dem Bab-Al-amud-Markt angefreundet, wo Hasan hinter Handkarren mit frischem Obst, Gemüse und verbeulten Ölkanistern gesessen und in einem arabischen Gedichtbuch gelesen hatte. Der kleine jüdische Junge mit den großen Augen und einem unsicheren Lächeln war auf Hasan zugegangen. Er hinkte – das Andenken an einen schlecht verheilten Beinbruch und an das Braunhemd, das dafür verantwortlich war. Er kaufte eine große rote Tomate, zog ein Taschenmesser hervor und zerteilte sie. Eine Hälfte behielt er, die andere bot er Hasan an.

»Ana ismi Ari. Ari Perlstein«, sagte der Junge.

Fasziniert nahm Hasan die Tomate.

»Goo day sa! Schalom!« Hasan probierte es mit den einzigen nichtarabischen Wörtern, die er kannte, und gab dem Jungen ein Zeichen, sich zu setzen.

Zwar konnte Ari ein paar Brocken Arabisch, doch keiner konnte die Sprache des anderen. Dennoch fanden sie in ihrem beiderseitigen Gefühl von Unzulänglichkeit schnell eine Gemeinsamkeit.

»Ana ismi Hasan. Hasan Yahya Abulhija.«

»Salam alaykum«, antwortete Ari. »Was für ein Buch liest du?«, fragte er auf Deutsch und wies auf das Buch.

»Book.« Englisch. »Dis, book.«

»Yes.« Englisch. »Kitab.« Buch, arabisch. »Ja.« Sie lachten und verspeisten ein weiteres Stück Tomate.

So entstand im Schatten des europäischen Nazismus und trotz der wachsenden Kluft zwischen Arabern und Juden in Palästina eine Freundschaft, die sich dank jugendlicher Unschuld, dank des Rückzugs in die Literatur und eines Desinteresses an Politik vertiefte.

Jahrzehnte nachdem der Krieg die beiden getrennt hatte, erzählte Hasan seinem jüngsten Kind, einem Mädchen namens Amal, von seinem Freund aus der Kindheit. »Er war wie ein Bruder«, sagte Hasan und klappte ein Buch zu, das Ari ihm geschenkt hatte, als ihre Kindheit zu Ende ging.



Obwohl Hasan später zu einem Koloss heranwuchs, war er mit zwölf ein kränklicher Junge, dessen Lunge bei jedem Atemzug pfiff. Seine Atemprobleme machten ihn bei den rücksichtslosen Jungenbanden und ihren derben Spielen zum Außenseiter. Genauso animierte Aris Hinken seine Klassenkameraden zu unbarmherzigem Spott. Beide zogen sich in sich selbst zurück und erkannten im jeweils anderen den gleichen Charakterzug wieder, und beide hatten in ihrer eigenen Welt und Sprache schon früh Zuflucht bei Dichtern, Essayisten und Philosophen gefunden.

Was bislang eine lästige gelegentliche Fahrt nach Jerusalem gewesen war, wurde ein willkommener wöchentlicher Ausflug, denn Ari erwartete nun Hasan, und sie verbrachten Stunden damit, einander Wörter wie »Apfel«, »Orange«, »Olive« auf Arabisch, Deutsch und Englisch beizubringen. »Die Zwiebeln kosten einen Piaster das Pfund, gnädige Frau«, übten sie. Hinter dem Karren mit seinem in Reihen angeordneten Obst und Gemüse machten sie sich lustig über die arabischen Stadtjungen, ihre affektierte Sprechweise und ihre ausgefallenen Kleider, die kaum mehr als eine Zurschaustellung serviler Bewunderung für die Briten waren.

An den Wochenenden begann Ari sogar die traditionelle arabische Tracht zu tragen, und oft fuhr er mit Hasan nach Ein Hod. Durch das Eintauchen in die Klangwelt der arabischen Sprache und in die Aromen der arabischen Küche erlangte Ari respektable Kenntnisse der fremden Sprache und Kultur. Dies war mit ein Grund dafür, dass er Jahrzehnte später als Professor an die Universität Hebron berufen wurde. Hasan wiederum lernte Deutsch zu sprechen, las sich holpernd durch einige englische Werke in Dr. Perlsteins Bibliothek und begann, die Traditionen des Judentums zu schätzen.

Frau Perlstein liebte Hasan und war dankbar dafür, dass er sich mit ihrem Sohn angefreundet hatte, und Basima brachte Ari ebenso starke mütterliche Gefühle entgegen. Obwohl sie sich niemals trafen, lernten die beiden Frauen einander über ihre Söhne kennen, und jede schickte den Sohn der anderen mit Bergen von Essen und Leckereien nach Hause, ein Ritual, das Hasan und Ari widerwillig über sich ergehen ließen.

Mit dreizehn, ein Jahr vor seinem Schulabschluss, bat Hasan seinen Vater um Erlaubnis, mit Ari zusammen in Jerusalem eine weiterführende Schule besuchen zu dürfen. Aus Angst, die Schule würde seinen Sohn davon abbringen, das Land, das er einmal erben würde, zu bebauen, sagte Yahya Nein.

»Die Bücher wären dir nur im Weg. Du wirst nicht mit Ari zur Schule gehen, und das ist mein letztes Wort.« Yahya war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch Jahre später tadelte er sich selbst tief bestürzt und bedauerte, Hasan seinen Herzenswunsch abgeschlagen zu haben. Eines Tages, als die ganze Familie nicht weit entfernt von ihrem Zuhause, zu dem sie nie mehr zurückkehren würde, im Freien campierte, schutzlos der Gnade des Wetters ausgeliefert, bat Yahya seinen Sohn um Vergebung. Yahya war zum Flüchtling geworden, welkte in der Verwahrlosung des Exils zusehends dahin und weinte sich an Hasans nachsichtiger Schulter aus. »Vergib mir, mein Sohn. Ich kann mir nicht vergeben. « Und wegen dieser Entscheidung und wegen des Kummers, den sie ausgelöst hatte, beschloss Hasan, seinen Kindern mit dem Hungerlohn, den er für seine harte Arbeit erhielt, eine Ausbildung zu ermöglichen. Viele Jahre später sagte er zu seiner kleinen Tochter Amal: »Habibti, alles, was wir jetzt noch haben, ist die Bildung. Versprich mir, dass du dich mit ganzer Kraft in deine Ausbildung stürzt.« Und das kleine Mädchen gab dem Vater, den es bewunderte, sein Wort.

Obwohl Hasan nicht das Privileg genoss, nach der achten Klasse weiter in die Schule gehen zu dürfen, erhielt er von Frau Perlstein, die ihren lernbegierigen jungen Schüler jede Woche mit Bergen von Büchern, Lernstoff und Hausaufgaben heimschickte, ausgezeichneten Privatunterricht. Basima und Frau Perlstein hatten den Plan mit den Privatstunden ausgeheckt, um Hasan aus der Niedergeschlagenheit zu reißen, die er nach Yahyas letztem Wort in Sachen Ausbildung empfand. »He, Bruder!« Die jungen Männer umarmten sich, fassten sich bei den Händen und küssten einander auf beide Wangen, wie die Araber es tun. Sie entluden den Laster, nachdem sie den Fahrer mit einigen der anderen Straßenhändler bekannt gemacht hatten. Bevor sie den Weg zu Aris Haus einschlugen, strebten die Freunde durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt ihrem üblichen Genussziel zu. Von Bab al-Amud wanderten sie in Richtung al Qiyamah. Den Läden entströmten Aromen von irdenen Gefäßen, Sirup und verschiedenartigen Ölen, während Verkäufer auf dem Gehsteig Passanten lautstark zum Kosten animierten. Ari und Hasan betraten den Souk Khan al-Zeit, strichen mit den Händen über Leder und Seide, die von den Ladenwänden herabhingen. Nur noch wenige Schritte, und sie erreichten das Mahfuz-Café.

»Zweimal Honig-Apfel«, rief Hasan dem Kellner zu.

»Das kann nicht gut sein für deine Lunge, Hasan«, ermahnte Ari ihn. »Weiß Onkel Yahya, dass du rauchst?«

»Natürlich nicht!«

Bei den Perlsteins lieferte Hasan die beiden Tabletts mit Halawa und Kunafa ab.

»Das Übliche von Mutter«, sagte er auf Deutsch.

»Danke«, entgegnete Frau Perlstein und nahm die Süßigkeiten in Empfang.

Sie war eine zurückhaltende, hochgewachsene Frau, deren Erscheinungsbild, so dachte Hasan, ganz und gar nicht auf ihr großes Herz hindeutete. Als er sie sah, suchte er instinktiv nach dem Familienerbstück, das sie stets an der Brust trug. Eins, zwei, drei, vier … achtzehn. Er gewöhnte sich an, die kleinen Perlen auf ihrer Brosche zu zählen, während sie seine Hausaufgaben kontrollierte.

Im Laufe der Jahre erwies sich Hasan als fleißiger Schüler mit schneller Auffassungsgabe. Frau Perlstein betreute ihn weiter, bis er 1943 mit Ari seinen »Abschluss« machte. Es war das Jahr, in dem die beiden jungen Männer sich eine Weile lang aus den Augen verloren, da Ari an seiner Schule ein paar Freunde fand und Hasan einem Beduinenmädchen namens Dalia verfiel, die Ganush, das Pferd seines Bruders, gestohlen hatte.

3

Das nichtsnutzige Beduinenmädchen

1940 – 1948




Anders als bei den arrangierten Ehen, die damals üblich waren – schon vor der Geburt geplant und stets innerhalb des eigenen Familienclans –, war der Bund Hasans mit Dalia aus verbotener Liebe erwachsen. Hasan stammte von den Gründervätern von Ein Hod ab und war Erbe der riesigen Ländereien, mit Obstgärten und fünf eindrucksvollen Olivenhainen. Dalia dagegen war die Tochter eines Beduinen, dessen Stamm jedes Jahr ins Dorf gekommen war, um bei der Ernte zu helfen, und sich irgendwann dort niedergelassen hatte.

Dalia war die jüngste von zwölf Schwestern, eigensinnig und unkonventionell. Obwohl sie unter der Knute ihres strengen Vaters stand, trug sie nicht immer den Hidschab, die traditionelle Verschleierung, sondern ließ ihre Haare im Wind flattern. Anders als die braven Mädchen zog sie ihren Rock hoch, wenn sie einer Eidechse nachjagen wollte, und verdreckte ihr buntes Beduinenkleid mit Schlamm und Kaktusdornen. Oft vergaß sie, ihren Beutel mit seltsamen neuen Käfern, die sie den Tag über gesammelt hatte, wieder auszuleeren – dann bekam sie eine Tracht Prügel von ihrer Mutter. Aber Dalias Entdeckerfreude war stärker. Sie genoss es, Zeit mit ihren sechs-und achtbeinigen Freunden zu verbringen – bis sie einen vierbeinigen Freund bekam, ein Pferd namens Ganush.

Sein junger Herr, Darwish, Sohn des Yahya Abulhija, fragte sie immer, ob sie auf Ganush reiten wolle, wenn sie sich zufällig in den Hügeln trafen. Aber sie durfte nicht zusammen mit einem Jungen auf einem Pferd gesehen werden. Ihr Vater würde sie schlagen, wenn er davon erfuhr.

»Nein«, antwortete sie mit dem resoluten Ton einer Elfjährigen, aber kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, wurde ihr Gesichtsausdruck weicher und schien ein »Vielleicht« auszudrücken. Darwish sagte leise: »Ich gehe einfach vorneweg, und ich schwöre bei meiner Ehre, dass ich mich nicht nach dir umdrehen werde, wenn du auf dem Pferd sitzt.« Er wirkte vertrauenswürdig, und außerdem war hier in den Hügeln weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Ihr Herz war rein. »Wie komme ich da drauf?«

»Ich mache es dir einmal vor, dann kannst du es probieren, während ich mich umdrehe«, schlug Darwish vor. Ganush gestattete der zierlichen Person, seinen Rücken zu erklimmen, und dann schritt er langsam los. Plötzlich wurde sie von der Angst gepackt, man könnte sie mit einem Jungen und seinem Pferd erwischen. Sie bat darum, sofort anzuhalten, und rannte davon, nachdem sie abgestiegen war.

Einige Wochen später kehrte sie an die Stelle zurück, um ihr wunderbares vierbeiniges Geheimnis wieder zu treffen. Schließlich kam es, zusammen mit Darwish, und sie spürte die Magie von Neuem. Das Geheimnis sollte mehr als zwei Jahre andauern, und während dieser Zeit lernte Dalia, alleine zu reiten. Darwish hätte alles für sie getan, sie hätte bloß zu fragen brauchen. Während der zwei Jahre sprachen sie nie ein Wort, nur am allerersten Tag. Wenn Darwish sie kommen sah, wandte er immer sofort seine Augen ab, um nicht unhöflich zu sein, dann drehte er sich um und hielt Ganush fest. Derweil zog sie ihre Thoba hoch – sie trug Hosen darunter –, bestieg das Pferd und ritt davon. Darwish wartete, bis sie zurückkam, und das ganze Ritual spielte sich rückwärts ab.

Den Leuten im Dorf erschien Dalia wie eine wilde Zigeunerin, die aus den Gedichten und Farben der Beduinen gemacht war anstatt aus Fleisch und Blut. Manche glaubten sogar, das Kind sei vom Satan besessen, und überzeugten Dalias Mutter, einen Sheikh zu holen, der mit Koranversen den Teufel austreiben sollte. Die meisten aber dachten, das Mädchen würde schon irgendwann vernünftig werden. Man war sich einig, dass man Dalias Willen »brechen« musste. Sie war inzwischen fast vierzehn, und ihre kindische Sorglosigkeit musste ihr abgewöhnt werden.

»Brich ihren Willen, schlag sie, erteil ihr eine Lektion!«, riet eine andere Beduinenfrau ihrer Mutter. »Schau nur, wie sie diese Orange isst! Welche Schande für ihre Familie! Alle Jungen starren sie an.« So dachte man im Dorf über Dalia. Das Klimpern ihrer Fußkettchen störte die Frauen. Aber noch mehr wurmte sie, dass Dalia nicht im Geringsten auf ihren Unmut reagierte. Sie dachte nicht daran, sich für irgendetwas zu entschuldigen, das konnte man aus ihrer Körpersprache ablesen, und das erinnerte die Frauen an das unwiederbringlich vergangene Glück, von dem sie sich einstmals freiwillig getrennt hatten. Dalias ungezügelte Sorglosigkeit hatte eine sexuelle Komponente, umso mehr, weil sie selbst nichts davon ahnte.

Basima, Umm Hasan, hielt Dalia für eine gottlose Diebin ohne jegliches Schamgefühl, denn Dalia hatte das Pferd ihres Sohnes Darwish »gestohlen«, für eine heimliche Pause von der knochenharten Erntearbeit. Niemand hätte überhaupt davon erfahren, wäre Dalia nicht vom Pferd gestürzt und hätte sich den Knöchel gebrochen. Die Wellen der Empörung schlugen hoch und weckten die Aufmerksamkeit von Hasan. Das ganze Dorf war in heller Aufregung. Darwish überlegte sich, wie er Dalia verteidigen könnte, aber er wusste, dass man sie noch viel schlimmer bestrafen würde, wenn herauskam, dass er an der Geschichte beteiligt gewesen war.

Dalias Vater, dessen Ehre auf dem Spiel stand, schwor sich, der Frechheit seiner jüngsten Tochter ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Er band sie an einen Stuhl, der in der Dorfmitte aufgestellt wurde, und verbrannte ihr die Hand, die das Pferd gestohlen hatte, mit einem glühenden Eisen.

»War es diese Hand? Streck sie aus, damit ich sie verbrennen kann«, forderte ihr Vater, bei den Dorfbewohnern nach Zustimmung heischend. Als Dalia ihre rechte Handfläche darbot, fügte er wütend hinzu: »Und wenn du schreist, verbrenne ich dir auch noch die andere.«

Dalia gab keinen Ton von sich, als das glühende Metall die Haut ihrer rechten Hand versengte. Die Menge japste nach Luft. »Die Beduinen sind so grausam«, bemerkte eine Frau. Andere beschworen Dalias Vater im Namen Allahs, Gnade walten zu lassen, denn Allah ist gnädig. Al Rahman. Aber ein Mann muss zeigen, dass er der Herr des Hauses ist. »Meine Ehre darf nicht besudelt werden. Tretet zurück, das ist mein gutes Recht«, verkündete der Beduine. Es war sein gutes Recht. La hawla wala quwata illa bill-ah.

Dalia schloss den Schmerz in sich ein, während der schreckliche Geruch von verbranntem Fleisch das Leben in ihrem Innersten ansengte. Ihr Dasein im Einklang mit der Natur, ihr im Winde flatterndes Haar, das Klimpern ihrer Fußkettchen, der süße Duft ihres Schweißes, wenn sie sich anstrengte, die Zigeunerfarben in ihr – das alles wurde an diesem Tag zu einem Haufen Asche, mitten auf dem Dorfplatz, unter dem tiefblauen Himmel. Hätte sie geschrien, wäre das Feuer vielleicht nicht so weit in sie eingedrungen. Aber sie schrie nicht. Sie entdeckte einen Hasen und durchbohrte ihn mit ihrem hypnotischen Blick. Mit der Hand umklammerte sie den unvorstellbaren Schmerz und hielt ihn dort fest, während sie die Zähne zusammenbiss und stille Tränen weinte. Für den Rest ihres Lebens sollte Dalia die Angewohnheit haben, in bestimmten Momenten die Finger ihrer rechten Hand gegen die Handfläche zu reiben und die Kiefer wie einen Schraubstock zusammenzupressen, als hielte sie etwas Lebendes in der Hand, das einen Ausweg sucht.



Basima war beunruhigt von dem Gleichmut des Beduinenmädchens und wollte nichts zu tun haben mit »dieser Familie«. Ihr war nämlich nicht entgangen, dass Hasan die junge Dalia aufmerksam beobachtete, während sie ihre tägliche Arbeit auf dem Feld und im Dorf verrichtete.

Für Basima war Dalia ein »nichtsnutziges Beduinenmädchen«, das nur Ärger in ihr friedliches Dorf bringen würde. Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, als ihr Sohn, der junge Hasan Yahya Abulhija, in den Bann von Dalias Schönheit und unkonventioneller Art gezogen wurde und beschloss, sie zu heiraten.

Mit seiner typischen Entschlossenheit und dem widerwilligen Segen des Vaters ging Hasan zu seiner Mutter, um ihr seine Entscheidung mitzuteilen.

»Ya ummi, Heiraten ist keine Sünde«, sagte Hasan betont diplomatisch.

»Nein, nein, nein, nein, nein!« Basima schäumte vor Wut. Sie ruderte mit den Armen, zog jammernd an ihrer Thoba, schlug sich auf die Brust und ins Gesicht, während sie Allah anrief. Sie klagte über die Demütigung und verfluchte den Tag, an dem »dieses Beduinenmädchen« Ein Hod betreten hatte. Sie würde sich furchtbar schämen, wenn sie den Dorfbewohnern sagen müsste, dass ihr Sohn rebellierte und die Cousine ablehnte, die ihm schon versprochen war.

»Ya Abu Hasan, was werden die Leute über uns reden?«, lamentierte sie.

Yahya versuchte, seine Frau zu beruhigen. »Umm Hasan, lass es gut sein. Er ist jetzt ein Mann. Wir können ihn zu nichts zwingen.«

Aber sie wütete weiter, als hätte sie ihren Mann nicht gehört. »Dass unser Wort nichts gilt? Dass wir einem Mädchen versprechen, es könne unseren Sohn heiraten, und ihm dann gestatten, uns den Gehorsam zu verweigern? Was hat meine arme Nichte falsch gemacht, dass eine dreckige Beduinendiebin ihr vorgezogen wird?«

»So ist Allahs Wille. Lass es gut sein, Frau! Unser Land wird gerade von den Zionisten auf den Kopf gestellt, und du bist schlechter Laune, weil dein Sohn ein hübsches Mädchen heiraten will, das du nicht magst. Hörst du denn nicht die täglichen Neuigkeiten? Weißt du nicht, dass die Zionisten jeden verdammten Tag Briten und Palästinenser töten? Sie wollen die Briten loswerden, damit sie uns loswerden können, und alle sind zu dumm, um das zu begreifen oder irgendetwas dagegen zu tun.« Mit der einen Hand griff Yahya nach seinem Stock, mit der anderen nach seiner Nai. Dann ging er nach draußen, angewidert von seiner Angst, die sich durch die dauernden BBC-Berichte über die immer militärischer vorgehenden Zionistengruppen noch verstärkt hatte.

Yahya stand auf den Marmorstufen seines Hauses. Er blies in seine wertvolle Nai, bewegte die Finger und hob die Brauen, als der erste Ton erklang. Er spielte für seine Bäume. Er wollte die Unbeschwertheit und den Frieden wieder heraufbeschwören.

»Hör auf!« Basima kam auf die Terrasse gestürmt, die Yahya selbst geplant und gefliest hatte. Sie war wütend.

»Irgendwann breche ich das Ding noch mal entzwei«, knurrte Basima leise, damit die Nachbarn sie nicht hören konnten. Die Befürchtung, zu weit gegangen zu sein, überkam sie, und sie stapfte wieder davon. Ungehalten murmelte sie immer noch vor sich hin, als sie über die Perserteppiche im Eingangsbereich und durch die großen, gefliesten Mauerbögen ins Wohnzimmer lief, wo sie mühsam in die Knie ging und sich auf einem Kissen am Boden niederließ. Vor Jahren hatte Yahya Sofas anschaffen wollen, so wie bei den Briten, aber sie hatte keine gewollt. Jetzt hätte sie nichts gegen Sofas gehabt. Unruhig breitete sie ihre Gebetsmatte aus, um den Willen Allahs zu erfüllen. Nachdem sie zwei Ruka’as gebetet hatte, stand sie wieder auf und lief über weitere Perserteppiche hinweg in die Küche. Sie betrachtete das Muster aus blauen und grünen Kacheln, das Yahya angelegt hatte. Er ist vielleicht stur, aber er ist auch ein Künstler, dachte sie. Ya Yahya, wie kannst du dieser Ehe nur zustimmen!

Egal, wie sehr Basima auch bettelte oder drohte, sie konnte ihren Sohn nicht umstimmen. Nur Darwish verstand die Entschlossenheit, mit der Hasan sich gegen die Mutter stellte, denn auch er liebte Dalia. Und als die Familie um Dalias Hand bat, weinte Darwish zusammen mit seinem geliebten Ganush und mit Fatuma, seinem anderen Araberpferd. Fatuma mit der markanten Blesse war Ganushs Gefährtin.

Dalias Vater, der von der Last seiner jüngsten Tochter befreit wurde, stimmte erleichtert zu, und wie es der Brauch verlangte, bekam er zwei Tage später die Mitgift für sie. An diesem Tag beobachtete Dalia durch die kleinen Löcher ihres Netzfensters, wie eine Abordnung von Männern ihrem Vater Geld und Gold überbrachte. Die beeindruckende Mitgift berührte sie allerdings weitaus weniger als der Anblick von Darwish, der sich unter den Männern befand.

In dieser Sache hatte sie nichts mitzureden, aber ihr gefiel die Vorstellung, eine Arusa zu werden, so wie kleine Mädchen Spaß daran haben, sich wie Erwachsene anzuziehen. Wenn es doch bloß für Darwish gewesen wäre.



An Dalias Hochzeitstag schrubbten und polierten ihre weiblichen Verwandten – Mutter, Tanten, verheiratete Schwestern und Cousinen – jeden Quadratzentimeter ihres Körpers. Immer wieder trugen sie ihr Aeeda auf die Haut auf und rissen sie wieder ab, von ihren Beinen, ihren Schenkeln, ihren Armen, ihrem Bauch und ihrem Po. Dalia reckte jedes Mal den Kopf, um die kleinen Haufen aus schwarzen Haaren zu sehen, die ihr mit jedem Ruck ausgerissen wurden. Sie glaubte zu spüren, wie elektrische Ströme durch ihren Körper flossen. An der empfindlichen Haut zwischen den Beinen tat es am meisten weh. »Ganz ruhig, meine Tochter«, sagte die Mutter, als sie Dalias Beine weit spreizte. Bismillahi al-Rahmani al-Rahimi. Mit der Sicherheit und Geschicklichkeit der Hebamme riss die Mutter das Schamhaar, das der Tochter erst vor Kurzem gewachsen war (und auf das Dalia so stolz war), mit einer einzigen Bewegung aus. Dalia sprang auf vor Schmerzen. Die Frauen lachten wohlwollend. »Komm, meine Tochter. Komm zu uns, in die Welt der Frauen.« Als eine Tante bemerkte, dass Dalias Schenkel feucht wurden, sagte sie zu ihrer Schwester: »Sieht aus, als würde deine Tochter eine gute Ehefrau abgeben. « Da lachten sie wieder, und Dalia fügte sich gehorsam in ihre Verwandlung.

Sie beobachtete im Spiegel, wie ihre Augen verführerisch mit Kajal umrandet wurden, was ihr Gesicht älter und reifer wirken ließ. Sie war eine prächtige Arusa, so, wie es in ihrer Kultur üblich war, und sämtliche kleinen Mädchen schauten sie bewundernd an, genau wie sie damals die Bräute, die für ihre Hochzeit herausgeputzt wurden, bewundernd angeschaut hatte.

Sie trug glitzernde Geschenke um den Hals, quer über die Stirn, um die Hand- und Fußgelenke und an den Ohrläppchen. Derart geschmückt heiratete Dalia mit ihren vierzehn Jahren Hasan Yahya Abulhija in einer prunkvollen Zeremonie. Es war eine Feier, die vieles widerspiegelte: die Wiederherstellung der Ehre von Dalias Vater, die heftige Verbitterung Basimas und die Melancholie im Herzen Darwishs.

Die kleine Braut, behängt mit der Hälfte ihres Körpergewichts in Gold, wohnte ihrer eigenen Hochzeit still bei. Ständig rieb sie sich die Hände, fest presste sie ihre Kiefer aufeinander, selbst als sie von Gratulanten geküsst wurde.

Bevor sich die Männer den Frauen anschlossen, feierten sie alleine. Sie opferten ein Lamm, tanzten ausgelassen und sangen ihre Freude heraus. Schwermütig führte Darwish eine Dabka für seinen Bruder an. Er prostete dem Bräutigam zu, im Herzen Liebe, heimliche Trauer und den Willen, sich Allah zu fügen.

»Insha’allah, du bist als Nächstes dran, mein Bruder«, sagte Hasan mit Überzeugung, als er Darwish umarmte.

»Insha’allah.« So Gott will.



Zehn Monate nach der Hochzeit machte Dalia sich im Dorf beliebt, indem sie einen Sohn gebar, den sie Yussuf nannte. Von da an wurde Dalia, die erst fünfzehn Jahre alt war, respektvoll »Umm Yussuf« genannt, und Hasan rief man »Abu Yussuf«.

Schon vor der Geburt Yussufs war Basima freundlicher gegenüber Dalia geworden. Sie kam nicht umhin, Dalias Fleiß im Haushalt, das Geschick, mit dem sie ihrer Mutter bei deren Tätigkeit als Hebamme des Dorfes zur Hand ging, und die Zufriedenheit ihres frischgebackenen Ehemanns anzuerkennen. Die Familien einigten sich darauf, dass Darwish die Nichte heiraten würde, die Hasan verschmäht hatte – damit war Basimas Ehre gerettet.

Dalias Unerfahrenheit bewog Basima, ihre Beduinentochter in die Welt der Mutterschaft einzuführen. Sie brachte ihr bei, in welchen Abständen sie dem Kind die Brust geben musste und was sie tun sollte, wenn es unter Koliken litt. Sie weihte sie in die Geheimnisse ein, wie sie ihren Körper straffen und sich die Aufmerksamkeit ihres Ehemanns nach der Geburt des Kindes erhalten konnte.

»Irgendwann verlierst du alles. Die Brüste, die Oberschenkel, alles hängt nach unten. Aber das Geheimnis heißt Olivenöl.« Basimas Augen verengten sich und funkelten verschwörerisch, als sie sich zu Dalia beugte und ihr die Schönheitsrezepte erklärte, die sie einst selbst entdeckt hatte. »Das sind Frauengeheimnisse, die ich nur an dich und, insha’allah, Darwishs Ehefrau weitergeben werde, da Allah mich nicht dazu ausersehen hat, Töchter zu bekommen.«


»Raus aus meinem Haus!« Basima stieß die Frau fort und ging zu Dalia. »Schluss mit dem Kummer, meine liebe Dalia. Lass uns eine neue Rose züchten, für einen neuen Anfang.« Damit holte sie ihre Schwiegertochter aus dem Tal der Tränen und beendete die Trauerphase.



Drei Jahre später, als die Olivenbäume gerade ihre silbriggrüne Farbe verloren, explodierte eine Bombe in der Nachbarschaft. »Verdammte Zionisten! Was um alles in der Welt wollen die denn von uns?«, schrie Basima dem aufsteigenden Rauch entgegen. Die Ängste ihres Mannes waren jetzt auch ihre eigenen. Ihr Herz krampfte sich zusammen, in ihrem Kopf drehte sich alles, und ihre Beine gaben unter ihrem Körper nach, als sie in ihr Rosenbeet stürzte. Sie war noch am Leben, als Dalia auf sie zugerannt kam und ihre letzten Worte mitbekam: »Binti, binti!« Meine Tochter, meine Tochter.

Nach Basimas Tod wurde Dalia zur Hüterin der Rosen. Sie kreuzte sie, um bestimmte Farben oder einen besonderen Duft zu bekommen, so, wie Basima es ihr beigebracht hatte. Sie vergrößerte den Garten und pflanzte einen Busch der weiß gestreiften roten Rosen, Basimas Lieblingssorte, auf ihr Grab. Jede Woche ging sie zusammen mit Yussuf zum Friedhof, um die Rosen zu pflegen. Einige Monate später, als Dalias zweiter Sohn Ismael auf der Welt war, nahm sie auch ihn mit, in einer Trageschlinge auf dem Rücken.

Doch als die Gefahr von Zionistenangriffen immer größer wurde, ging sie allein zum Friedhof und ließ ihre Jungen derweil im Schutze des Dorfes zurück, in der Obhut von Verwandten. Bei einer dieser Gelegenheiten kam es zu einem Unfall, der Ismaels Gesicht für den Rest seines Lebens zeichnen sollte.

Jeder in der Familie hatte hinterher seine eigene groteske Version des Unfallhergangs. Yussuf, der einzige Augenzeuge, sprach nie darüber, auch nicht, wenn er danach gefragt wurde.

Damals war Yussuf vier, und der Staat Israel war noch nicht geboren. Ismael war knapp sechs Monate alt. Er war unruhig gewesen an diesem Tag, hatte viel geweint, in derselben Wiege, in der schon sein Vater gelegen hatte. Sie war alt und abgenutzt, aber Basima hatte darauf bestanden, dass Dalia ihre Kinder hineinlegte, denn sie war von einem syrischen Sheikh gesegnet worden, dem man nachsagte, er könne die Kranken heilen und Wunder bewirken.

Als Dalia schwanger mit Ismael war, hatte Basima persönlich das Seitengitter der Wiege mit Zedernholz verstärkt. Außerdem hatte sie einen neuen Bezug und ein Polster gekauft, das sie ebenfalls mit eigenen Händen festnagelte. Als Ismael in der Wiege lag und weinte, während Dalia auf dem Heimweg vom Friedhof war, nahm Yussuf das Baby aus den weichen, bestickten weißen Deckchen, die Basima genäht, aber vor ihrem Tod nicht mehr ganz fertiggestellt hatte, hoch. Weil das Kind viel schwerer war, als Yussuf erwartet hatte, und dazu noch strampelte, ließ er es fallen. Im Sturz blieb das Gesicht des Babys an einem Nagel hängen, der die Haut der Länge nach aufriss, von der Wange bis auf Höhe des rechten Auges.

Dieser Tag hinterließ eine Narbe, die Ismaels Gesicht für immer zeichnen und ihn am Ende zur Wahrheit führen sollte.