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Richard Laymon: Der Käfig
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Die Originalausgabe
AMARA
erschien 2002 bei Headline Publishing, London
Copyright © 2002 by Richard Laymon
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-05521-9
V003
www.heyne-hardcore.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

ZUM BUCH
ZUM AUTOR
LIEFERBARE TITEL
VORWORT
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Copyright

LIEFERBARE TITEL

Rache – Die Insel – Das Spiel – Nacht – Das Treffen – Der Keller – Die Show – Die Jagd – Der Regen – Der Ripper – Der Pfahl – Das Inferno – Das Grab – Finster

ZUM AUTOR

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

1

Susan Connors, die stellvertretende Kuratorin des Charles-Ward-Museums, war erledigt. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten. Den ganzen Tag hatte sie gestanden, die beiden Handwerker beim Auspacken der Sammlung beaufsichtigt, ihre Checkliste abgehakt und erklärt, wo die Dutzende antiker Artefakte ausgestellt werden sollten.

Seit dem Tag, an dem sie eine Doppelschicht im Wagon-Train-Restaurant eingelegt und für die Konferenzteilnehmer Spareribs und Cheeseburger gegrillt hatte, war sie nicht mehr so lange auf den Beinen gewesen. O Mann … Wie lange war das her? Sechs Jahre? Da hatte sie noch studiert. Im letzten Semester.

Es schien ewig lange her.

Äonen.

Fast so lange her wie sechs Uhr heute früh.

Einer der Handwerker, ein Mann namens Top, hob eine Kanope aus ihrer Transportkiste. Sie war aus Alabaster, ein Stein, der aussah, als wäre frische weiße Milch zu etwas Festem erstarrt. Zerbrechlich. Die Skulptur eines Schakalkopfes bildete den Deckel. Susan markierte den Gegenstand auf ihrer Liste.

»Das kommt zu den anderen.« Sie zeigte auf den Platz neben dem mumienförmigen Sarg, wo bereits drei andere Steingefäße standen. Top trug die Kanope durch den Raum. Das Gewicht ließ ihn unbeeindruckt, obwohl er gebrechlich und alt genug aussah, um der Vater des anderen Arbeiters sein zu können. Als er das Gefäß abstellte, sagte er: »Das war’s dann, Miss. Der ganze Kram ist ausgepackt. Würden Sie hier unterschreiben?«

Sie kritzelte ihre Initialen auf den Lieferschein. Top riss einen Durchschlag ab und gab ihn ihr.

»Alles klar«, sagte er.

Nachdem er und der jüngere Mann gegangen waren, setzte sich Susan auf einen Klappstuhl – das einzige Möbelstück im Raum, das jünger als zweitausend Jahre war und nicht aus der Callahan-Sammlung stammte. Sie lehnte sich zurück, legte den rechten Fuß auf ihr Knie und seufzte vor Vergnügen. Die Schmerzen ließen nach. Als der Fuß sich wieder einigermaßen normal anfühlte, setzte sie ihn ab und legte den anderen hoch. Was für eine Erleichterung!

»Stör ich dich beim Meditieren?«, fragte eine Stimme.

»Tag?« Sie blickte sich um und sah Taggart Parker an der Tür stehen. »Was machst …?« Dann fiel es ihr wieder ein. Ihr Auto hatte sie heute Morgen mit einem Platten überrascht. Tag hatte sie zur Arbeit gefahren. »Komm rein«, sagte sie und stand auf.

Tag hakte ein Ende des Plüschabsperrbands aus und kam durch die Tür.

Er umarmte sie. Sie küsste ihn. Die Bartstoppeln waren seit heute Morgen schon wieder so lang, dass sie an ihrem Gesicht kratzten, aber es störte sie nicht. Sie drückte sich eng an ihn und strich über den weichen Stoff seiner Cordjacke. Etwas Hartes presste sich gegen ihren Bauch.

»Trägst du eine Waffe?«, fragte sie und bemühte sich, wie Mae West zu klingen. »Oder freust du dich, mich zu sehen?«

»Beides«, sagte Tag.

Sie griff nach unten und strich über den Wallnussholzgriff seines Colt Python. »Das nenn ich eine Kanone, Amigo.«

»Und ich kann gut damit umgehen.«

»Angeber.« Sie küsste ihn wieder. »Hey, wir sollten lieber damit aufhören, ehe der Chef reinkommt.« Sie trat einen Schritt zurück, hielt jedoch seine Hand fest. »Wie war dein Tag?«

»Es geht bergauf.«

»Bei mir auch.« Sie zeigte durch den Raum. »Sieh mal, was ich heute gemacht habe. Das ist die Callahan-Sammlung. «

Er ließ den Blick schweifen und schließlich auf dem Sarg ruhen. »Was ist das? Eine Mumie?«

»Klar.«

»Kann ich sie mir mal kurz anschauen? Ich habe noch nie eine echte Mumie gesehen.«

»Bist du sicher, dass du das sehen willst?«

»Unbedingt.«

»Sie ist schon eine Weile tot.«

»Wirklich?«

»Fast viertausend Jahre.«

»So lange schon?«

»Wir wissen noch nicht viel über das Mädel. Nur das, was auf der Liste stand, die Callahan hinterlassen hat. Sie heißt Amara.«

»Amara? Das ist ein hübscher Name.« Er grinste neckisch.

»Und sie war die Frau von Pharao Mentuhotep dem Ersten. Er herrschte in Ägypten während der elften Dynastie, ungefähr zweitausend Jahre vor Christus.«

»Tja, lass mal sehen.«

»Versprichst du, sie nicht anzufassen?«

»Vertraust du mir nicht, was fremde Frauen betrifft?«

»Ganz bestimmt nicht, wenn dir ihre Namen so gut gefallen.«

»So ist es nun mal … Amara, Amara, Amara. In so einen Namen kann man sich verlieben.«

»Okay, versprich mir, sie nicht zu berühren. Sie ist äußerst zerbrechlich.«

»Ich schwör’s.« Er gab Susan einen Klaps auf den Hintern. »Wahrscheinlich wird sich mein Bedürfnis nach Körperkontakt sowieso in Grenzen halten.«

Zusammen hoben sie den Deckel. Susan hatte die Mumie am Morgen nur kurz gesehen und betrachtete sie nun genauer. Das Haar war ein leuchtend roter Schwall, der einzige Teil der ehemals jungen Frau, der der Zeit widerstanden hatte. Es musste zum Zeitpunkt der Bestattung sorgfältig frisiert worden sein. Diejenigen, die sie ausgewickelt hatten, hatten vermutlich auch die juwelenbesetzten Haarnadeln entfernt. Ihre Augenhöhlen waren leer. Es befanden sich keine wertvollen Steine als Augenimitationen darin, wie es bei den Bestattungsritualen des Altertums üblich war. Keine Zwiebeln, um den Verwesungsgeruch zu überdecken, wie sie bei Ramses dem IV. gefunden worden waren. Auch keine Beutel mit Weihrauch und Myrrhe in den Körperhöhlen. Zweifellos hatten die Grabräuber sie mitgehen lassen. Wertvolle Gewürze blieben wertvolle Gewürze, auch wenn man sie aus einem grässlichen Leichnam geborgen hatte. Über dem Unterleib befand sich ein fast dreißig Zentimeter langer diagonaler Schnitt, der grob mit Bindfaden zugenäht war. Die Brüste waren zu faltigen Säcken geschrumpft. Die Schamgegend der Mumie war haarlos. Wahrscheinlich war die junge Frau nach ihrem Tod von den antiken Bestattern rasiert worden.

Susan bemerkte, dass Tag zur Seite blickte.

Sie schlossen den Deckel und verbargen das scheußliche Gesicht.

»Sehen alle Mumien so aus?«, fragte Tag. Seine blasse Gesichtsfarbe machte Susan Sorgen.

»Geht es dir gut?«, fragte sie.

»Ich hab mich schon mal besser gefühlt.«

»Sollen wir gehen?«

»Wir hätten schon vor fünf Minuten gehen sollen.«

 

In der Tiefgarage unter dem Marina-Towers-Wohnkomplex fuhr Tag langsam an Susans Jaguar vorbei.

»Er ist repariert!«, rief sie freudig aus.

»Ich musste zu Hause noch ein paar Minuten totschlagen, also habe ich dir das Reserverad montiert.«

»Du bist ein Schatz.«

»Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten. Dein Reifen hat nicht von allein Luft gelassen. Jemand hat nachgeholfen. Mit einem Messer, würde ich sagen.«

»Du meinst, jemand hat absichtlich …?«

Tag nickte. »Es könnte natürlich Zufall sein, dass es deinen Wagen erwischt hat, aber ich bezweifle es. Ich glaub, du hast dir einen Feind gemacht.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was ist mit Larry?«

»Er würde so was nicht machen. Das wäre so ungefähr das Letzte, was er tun würde. Er hat das Auto bezahlt, er würde es nicht beschädigen.«

»Es sei denn, es passt ihm nicht, dass es jetzt dir gehört.«

Tag bog auf seinen Parkplatz. Obwohl er langsam fuhr, quietschten die Reifen auf dem glatten Beton.

»Ich glaube nicht, dass es Larry war.«

»War ja nur eine Idee.«

Das Knallen der Türen hallte durch die Tiefgarage.

»Was hältst du davon, auf einen Drink mit reinzukommen? «

»Klingt gut.«

Sie fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock und gingen den schmalen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Als Susan ihre Wohnungstür öffnete, schlug ihr der warme, köstliche Geruch von Enchiladasoße entgegen.

»Abend, María«, begrüßte sie die rundliche, lächelnde Frau in der Küche.

María nickte eifrig.

»Hat alles geklappt heute?«

»Sí. Alles klar.« Ihre strahlenden Augen richteten sich auf Tag. »Ah, Señor Taggart. Margarita,

»Genau.«

Susan ließ sie allein und ging zum Kinderzimmer. Geoffrey war gerade damit beschäftigt, seine Zehen zu untersuchen, und blickte auf, als sie eintrat. Er grinste und gluckste.

»Hallo, kleiner Mann«, sagte Susan. »Hattest du einen schönen Tag?« Sie hob das Baby hoch, küsste seine Wange und klappte seine Windel auf. Sie fühlte sich feucht an. Susan zog den Jungen aus, trocknete und puderte ihn und legte ihm eine neue Windel an. Nach kurzem Kampf gelang es ihr, ihn in eine winzige braune Cordhose zu stecken. Dann zog sie ihm ein gelbes T-Shirt an, auf dem stand: RUTSCHGEFAHR BEI NÄSSE. »Fertig, mein Kleiner.« Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn ins Wohnzimmer.

Tag kam herein. Er reichte Susan eine Flasche Babynahrung und ein Glas Perrier. »Cocktails für alle«, verkündete er. Er setzte sich ihr gegenüber und schlürfte seine Margarita.

María trat ein und stellte eine Schüssel mit Tacos vor ihn auf den Tisch. »Gracias«, sagte er.

»De nada.«

Er sah zu, wie sie aus dem Zimmer ging. »Ich hätte auch gern so jemanden«, sagte er.

»Ich wünschte, ich bräuchte sie nicht.«

»Was willst du machen, den ganzen Tag zu Hause bleiben? «

»Es würde mir nichts ausmachen. Nach Geoffreys Geburt habe ich das drei Monate getan, und es hat mir gut gefallen.«

»Was ist mit dem Museum?«

»Das würde nicht weglaufen. Aber wie man so schön sagt, einer muss ja die Brötchen verdienen. Also bleibe ich wohl im Museum, und María bleibt bei Geoffrey.«

»Mit dem, was Larry verdient …«

»Ich will nicht noch mehr von ihm. Es ist schlimm genug, dass ich den Unterhalt für das Kind nehmen muss.« Sie sah zu dem Baby hinunter und fuhr fort: »Ich bin einfach nur froh, dass Geoffrey nicht weiß, was für ein widerlicher Typ sein Vater ist.« Sie lächelte den Jungen an, und er hörte lang genug auf zu nuckeln, um ein Grinsen zustande zu bringen. Säuglingsmilch tropfte aus seinem Mundwinkel. Susan tupfte sie mit einem weichen Taschentuch ab und blickte zu Tag. »Bleibst du zum Abendessen?«

»Das würde ich gerne. Aber ich muss nochmal raus. Ich hab heute Abend einen Kurs: Sicherheit bei Massenveranstaltungen. «

»Trotzdem musst du was essen.«

»Ich nehme mir was aus meiner Wohnung mit.«

Als er seine Margarita ausgetrunken hatte, ging er zu Susan und küsste sie. »Was ist mit später?«, fragte er.

»Wie viel später?«

»Halb elf, elf.«

»Da gehe ich ins Bett«, sagte Susan.

Tag grinste. »Ich weiß.«

»Ich hab letzte Nacht schon kaum geschlafen.«

»Ich auch nicht.«

»Da bin ich sicher.«

»Also, was meinst du?«, fragte Tag lächelnd.

»Wie könnte man da Nein sagen?«

Er küsste sie ein weiteres Mal. »Halt die Ohren steif, Kleiner.« Er strich Geoffrey über den Kopf.

Geoffrey musste aufstoßen.

»Man sagt Entschuldigung, mein Junge.«

 

Während Tag mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock fuhr, überlegte er, den Kurs ausfallen zu lassen und Susans Einladung zum Abendessen anzunehmen. Aber er brauchte den Kurs. Nächsten Monat war seine Sergeant-Prüfung angesetzt, und er musste sich so gut wie möglich darauf vorbereiten.

Die Türen glitten auseinander, und er trat in den Flur. Dann bog er nach links. Der Korridor war eng und still. Obwohl er noch nie in einem U-Boot gewesen war, hatte er oft daran gedacht, wenn er diese Gänge entlanggegangen war.

Man könnte glatt klaustrophobisch werden. Man könnte Atemnot bekommen. Man könnte sich an den Hals fassen und in kurzen, schmerzhaften Stößen um Luft ringen.

Als er um die Ecke ging, sah er ein Bündel auf dem Boden liegen. Es hatte die Größe eines menschlichen Körpers und war von verschossenen, hässlichen Klamotten bedeckt.

Es lag vor seiner Tür.

Er trat näher heran, und seine Hand schnellte zu der Pistole an seiner Hüfte.

2

Der Haufen vor Tags Wohnungstür bewegte sich. Ein Kopf tauchte auf, das Haar schmutzverklebt, das Gesicht aufgedunsen, fleckig und blass.

Tag erkannte sie sofort. Er blieb stehen und nahm die Hand von der Pistole. »Mable.«

Sie zog die Oberlippe hoch. Mehr ein hundeartiges Fletschen als ein Lächeln. Dem Zustand ihres Gebisses nach zu urteilen, waren die fehlenden Zähne dort eher zu beneiden. Sie wälzte sich herum, bis sie mit dem Rücken an die Tür gelehnt dasaß. Dann zog sie sich das Kleid über die dicken Oberschenkel.

»Ich bin wegen dir gekommen, Schätzchen.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Hab den Namen von deinem Namensschild abgelesen, verstehst du? Direkt von deinem Namensschild. Das kleine Plastikding auf deiner Uniform. Und dann hab ich im Telefonbuch nachgeschlagen.«

»Warum?«

»Weil du mein Typ bist. Hilfst du mir mal hoch?« Sie streckte die Hand aus. Tag wollte ihre schmutzige Pfote nicht berühren. Aber es wäre auch peinlich, sich zu weigern. Außerdem tat ihm Mable leid. Sie war vierzig Jahre alt und wohnte bei ihrer Mutter, einer verlotterten Frau, die als ihre Schwester durchging, wenn die Beleuchtung gnädig war. Letzte Woche hatte sie eine Begegnung mit einem halben Dutzend Jungs von den Braves gehabt, einem drittklassigen Baseballteam, das von einem Haushaltswarenladen aus der Gegend gesponsert wurde. Es hatte mit Beleidigungen angefangen. Und mit einer Gruppenvergewaltigung aufgehört.

»Wann sind Sie aus dem Krankenhaus entlassen worden? «, fragte Tag. Er nahm ihre Hand und half ihr hoch.

»Gestern. Direkt als Erstes hab ich mir gesagt, Mable, dieser Officer Parker, der ist genau dein Typ. Also hab ich im Telefonbuch nachgeguckt und bin rübergekommen, um dich zu besuchen. Lässt du mich rein?«

»Ich muss heute Nacht noch raus, Mable.«

»Ich komm mit, ja?«

Er öffnete die Tür. »Das geht nicht«, sagte er.

Sie folgte ihm in die Wohnung, sah sich mit verträumtem und von Schmerzmitteln verschleiertem Blick um und flötete: »Das ist aber echt ’ne schöne Wohnung.«

»Danke.«

»Macht mir gar nichts aus, hier zu warten.«

»Warten?«

»Klar. Du kommst doch zurück, und dann werd’ ich dir zeigen, was ich draufhab, Schätzchen.«

»Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Mable.« Er ging in die Küche. Mable folgte ihm nicht, deshalb nahm er schnell eine Handvoll Salami- und Schmelzkäsescheiben aus dem Kühlschrank, stopfte beides in eine Tüte und eilte zurück ins Wohnzimmer.

Mables Kleid lag auf dem Boden.

Nackt bis auf einen schwarzen Slip und einen roten Büstenhalter, der kaum etwas verbarg, saß sie auf dem Sofa. Mit lüsternem Blick fuhr sie sich mit der Zunge über die dicken Lippen. Eine Hand strich über einen dicken, fleckigen Oberschenkel. Die Cellulitis kräuselte sich.

»Uh, Mable.«

»Komm, steck ihn mir rein«, sagte sie. »Brauchst nicht schüchtern sein, Schätzchen.«

O Gott. Mit Schüchternheit hatte es weniger zu tun.

»Das sollte ich lieber nicht tun«, sagte Tag und bemühte sich, nur ihr Gesicht anzusehen. »Du scheinst mir noch nicht in der Verfassung für solche Spielchen zu sein.«

»Ich bin härter, als ich aussehe. Komm schon, Tag, nimm mich in den Arm, ich beiße nicht.«

Nein, du vielleicht nicht, aber ich wette, in deinem wirren Haar gibt es einiges, das mich beißen könnte.

»Schätzchen«, gurrte sie. »Mit mir kannst du Sachen erleben, von denen du nicht mal träumst.«

Stimmt genau. Ein Besuch beim Urologen. Hose runter und nachsehen lassen, warum es so brennt.

»Tut mir leid, Mable.« Er hob ihr Kleid auf und warf es ihr zu. »Danke für das großzügige Angebot, aber ich muss heute Abend an einem wichtigen Kurs teilnehmen. Zieh dich an. Ich bring dich nach unten.«

»Ich bin wohl nicht gut genug für dich, was?«

»Nein, darum geht es nicht. Ich hab’s bloß eilig.«

»Ich hätte dich richtig verwöhnen können. Heiß und feucht, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ich weiß das Angebot zu schätzen.«

»Tja, ich rühr mich nicht vom Fleck, bis du mir dein Leckerchen gibst, okay?«

Tag stöhnte. Er konnte nicht gehen, solange Mable in seiner Wohnung war. Und die Alternative? Zieh ihr das schwarze Höschen über die Schenkel und … um Himmels willen, nein. Sie war kein schlechter Mensch, nur eben ziemlich verrückt.

Verrückt. Traurig. Geil. Verflucht, was für eine Kombination. »Brauchst du Geld?«

»Wofür willst du mir Geld geben?«

»Für nichts.«

»Ich mach alles, was du willst, und zwar ganz umsonst, Schätzchen.«

»Mable, hör zu. Ich gebe dir Geld.«

»Wofür?«

»Damit du gehst«, sagte er. Das war grob, und er sah den Schmerz in ihren Augen. »Es tut mir leid, aber ich habe nicht vor, was mit dir anzufangen. In ungefähr fünf Minuten muss ich zu einer wichtigen Veranstaltung. Ich bin jetzt schon spät dran, und ich kann nicht gehen, solange du hier bist, also zieh dich bitte an und geh.«

»Ich bin nicht gut genug für dich, das ist der Grund. Ich bin nicht so hübsch und kultiviert wie diese Nutte ein paar Etagen tiefer.«

Er warf ihr einen wütenden Blick zu, schwieg jedoch.

»Sicher … klar, ich weiß alles über dich und sie, auch dass du letzte Nacht bei ihr geblieben bist, wo ich hier auf dich gewartet hab. Einsam und frierend.«

»Du warst es also.«

»Sie ist bloß ein dürres Klappergestell, Schätzchen. Du bumst sie doch nur.«

»Du warst das.«

»Du glaubst nicht, was ich alles mit meiner Zunge anstellen kann.«

»Du hast ihren Reifen plattgestochen, stimmt’s?«

»Ich? Nein. Nein, Sir, Officer.«

»Das war ziemlich mies, Mable. Jetzt zieh dein Kleid an, oder ich verhafte dich.«

»Weswegen?« Ein Träger des BHs rutschte herunter und entblößte einen dicken braunen Nippel.

»Unzucht in der Öffentlichkeit.«

»Ach ja?«

»Ja«, sagte Tag. »Und vielleicht auch wegen Hausfriedensbruchs. «

»Okay, okay.« Mable zog den Träger des Büstenhalters hoch, der ihre unförmigen Brüste bedeckte. »Gib mir mein Kleid, okay?«

Als Tag sich neben dem Sofa bückte, um das zerknüllte schmutzige Kleid aufzuheben, packte Mable ihn. Sie zerrte an seinem Arm. Er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel auf sie. Sie umklammerte ihn fest mit beiden Armen. Die schweren Brüste drückten sich wie Kissen gegen ihn. Fauliger Atem strömte ihm ins Gesicht.

»Mable!«, schnauzte er. »Verdammt, lass mich sofort …«

Ihre Lippen pressten sich auf seinen Mund. Ihre Zunge drängte gegen seine fest verschlossenen Lippen. Etwas Warmes und Feuchtes tropfte sein Kinn hinab.

Er wollte sich von ihr wegdrücken, doch seine Hände versanken in den weichen Fleischhügeln unter dem Büstenhalter. Sie stöhnte vor Erregung. »Ja, genau so, Schätzchen …«

»Mable … lass mich …«

Mable rollte herum. Sie fielen beide auf den Boden.

»Geh …«

Ihre dicke Zunge schob sich in seinen Mund. Der Geschmack nach saurer Milch ließ ihn würgen. Eine Hand schlängelte sich wild unter seinen Gürtel und suchte …

»Nein!«

Tag riss seinen Kopf zurück und schnappte nach frischer Luft. Im selben Moment zerrte er die wühlende Hand aus seiner Hose und bog sie am Gelenk nach hinten, bis Mable aufschrie. Er zwang sie mit dem Hebelgriff, von ihm herunterzurollen. Als er sich erhob, hielt er weiter ihre Hand fest.

»Okay«, keuchte er. »Aufstehen.«

Er half ihr, indem er ihren Arm verdrehte.

»Du Schwein!«, schrie sie. »Schwanzlutscher!«

»Halt die Klappe, Mable.«

»Wichs…« Sie jaulte vor Schmerz auf, als er ihren Arm ein wenig weiter verbog.

»Klappe, hab ich gesagt.«

Mit Hilfe des Armhebels steuerte er sie zur Tür. »Ich will keinen Ärger mehr mit dir, kapiert? Ich will, dass du nach Hause gehst.«

»Nein, ich will …«

»Ich möchte, dass du nach Hause gehst und nie mehr eine derartige Nummer abziehst. Weißt du, was ich tun werde, wenn du Susan oder mich nochmal belästigst? «

»Was?«

»Ich sag’s deiner Mutter.«

Ihr Kopf ruckte zur Seite, und sie funkelte ihn an. »Das lässt du lieber.«

»Doch, das mache ich.«

»Lass es lieber«, wiederholte sie, dieses Mal ängstlich.

»Entweder bist du ab jetzt ein braves Mädchen, oder ich geh zu deiner Mutter.«

»Ich wollte doch nur nett zu dir sein. Das war alles. Was ist falsch daran?«

»Die Art, wie du es angepackt hast. Ich lass dich jetzt los, und du ziehst dich an und gehst sofort nach Hause. Okay?«

»Na gut.« Ihre geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund.

Er ließ ihren Arm los. Sie lehnte schwer an der Tür, ihre Arme baumelten an den Seiten herab, der Kopf hing nach unten, das wirre Haar bedeckte ihre Augen. Tag drehte sich um. Er hob ihr Kleid auf, reichte es ihr und wandte das Gesicht ab, als sie es über den Kopf zog. Dann öffnete er die Tür.

Er sah zu, wie sie langsam den Flur entlangging. Vor dreißig Jahren war sie vielleicht ein süßes Mädchen gewesen. Nett. Freundlich. Höflich in der Schule. Nachts hatte sie ihre Mutter mit jedem Typen, der ein paar Dollar übrig hatte, im Nebenzimmer rummachen hören. Es war schwierig, sich anständig zu entwickeln … geistig gesund zu bleiben … bei so einer Kindheit. »Wiedersehen, Mable. Pass auf dich auf, ja?«

Sie blickte über die Schulter zurück. Tag sah Tränen auf ihrem Gesicht. Sie schniefte laut, wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und wandte sich traurig ab.

Tag machte die Tür zu und schloss sie ab.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

Zu spät, um zu dem verdammten Kurs zu gehen.

Er war müde, fühlte sich angeschlagen und schmutzig … als wäre etwas seit dreißig Jahren Totes gerade über sein Gesicht gekrochen. Er ging ins Bad und drehte die Dusche auf. Als das Wasser kochend heiß war, stieg er hinein und hielt das Gesicht unter den prasselnden Strahl.

3

April Vallsarra hatte die Hände auf die Steinbalustrade gelegt und genoss nach der Hitze des Tages die erfrischende Brise, die um ihre Wangen spielte.

Sie liebte es, nachts dort zu stehen. Die Luft war kühl. Sie mochte das Zirpen der Grillen. Der Duft der Wildblumen wehte aus dem Wald herüber, erfüllte und beruhigte sie.

Sie lauschte der Musik der Bäume in den Luftströmungen im Canyon. Das anschwellende Zischen, das schon bald wieder zu einem Flüstern würde. Es erinnerte sie an die Zeit, als sie mit ihrem Vater im Strandhaus gewohnt hatte. Das Geräusch der Brandung. Besonders nachts, wenn sie warm und geborgen im Bett gelegen hatte und die Wellen den Strand überspült hatten.

Sie stand da und lauschte den Geräuschen der Außenwelt. Der Wind wehte über die Dachterrasse, wirbelte um ihre nackten Fußgelenke und Waden, zog an ihrem Kleid und ihrem Haar.

Oft versuchte sie sich vorzustellen, wie diese Bäume aussahen. Sie stellte sich vor, dass sie sich bewegten wie Elefantenherden. Das hatte sie wenigstens gehört. Natürlich würde sie es nie genau wissen. Sie war blind zur Welt gekommen. Mit sechs Jahren hatte sie von zu Hause weggehen müssen, um eine Blindenschule in San Francisco zu besuchen. Damals war ihre Welt aus den Fugen geraten. Die Ehe ihrer Eltern war zerbrochen. Ihre Mutter zog nach Kanada, und sie hörte nie wieder etwas von ihr.

Sie war so unglücklich in der Schule, dass sie im Alter von elf Jahren versuchte, sich das Leben zu nehmen. Aus einer Strumpfhose knüpfte sie eine Schlinge, knotete sie an die Duschstange und sprang vom Rand der Badewanne. Die Stange hielt ihr Gewicht nicht und riss ab. April fiel auf den Badezimmerboden und brach sich das Handgelenk.

Ihr Vater rettete sie.

Nach einem langen Gespräch im Krankenhaus, während sie darauf wartete, dass ihr Arm gegipst wurde, wurde ihm klar, wie unglücklich sie in der Schule war.

Er nahm sie mit nach Hause.

Aber er wohnte nicht mehr im Strandhaus.

Das neue Haus lag hier im Canyon. Es stand an einem der Pässe, die sich zwischen Hollywood und Burbank durch die Berge schlängelten. Inmitten von drei Millionen Menschen war es eine Oase der Ruhe.

In dem Canyon standen keine anderen Häuser. Nur dieses. Ihr Vater hatte das Haus nach eigenen Plänen gebaut. Er nannte es seinen »Schlupfwinkel«. Es war ein zweigeschossiges Ziegelgebäude. Auf der großen Dachterrasse grillte ihr Vater die dicksten Steaks. Er veranstaltete dort die coolsten Partys, die in ganz L. A. Stadtgespräch waren. Die Gästeliste las sich wie das Inhaltsverzeichnis des Rolling Stone.

Damals nahm ihr Vater in seinem eigenen Studio im Keller Musik auf. Und was für ein Studio das war. Einmal kam John Lennon auf einen Cocktail vorbei und verkündete: »Gütiger Gott, hier könnte das Londoner Philharmonieorchester spielen, und man hätte immer noch Platz für eine verdammte Elefantenparade.«

Der Wind seufzte in den Bäumen. April legte ihren Kopf zur Seite. Die Brise strich über ihren Hals, spielte mit ihrem Haar.

Ein wundervoller Ort. So friedlich.

Abgeschieden von allem. Weit weg vom Lärm und den Abgasen der Stadt.

Sie überlegte, was sie zu Abend essen sollte. Einen Salat mit Krabben. Dazu ein eiskaltes Glas Weißwein. Ja, das wäre schön.

Einen Augenblick lang dachte sie, sie hätte das Knirschen von Füßen auf dem Kiesweg gehört.

»Dad?«

Das Wort kam ihr über die Lippen, ehe sie darüber nachdenken konnte.

Nein.

Das war unmöglich.

Ihr Vater war tot. Von zwei Gangstern erschossen worden, die er dabei erwischt hatte, wie sie sein Auto aufbrachen. Er hatte auf dem Rückweg von Nashville in einem Motel übernachtet. Mit einem Blick aus dem Fenster hatte er gesehen, dass zwei Schwachköpfe seinen Wagen knackten wie eine Sparbüchse. Als er hinausgegangen war, um sie zur Rede zu stellen, hatte einer von ihnen eine Pistole gezogen und …

Ihre Hände umklammerten die Balustrade.

Nein. Nicht heute Nacht.

Sie würde den Vorfall nicht wieder durchspielen. Es war schon zehn Jahre her.

Deshalb bin ich jetzt allein hier. Kaum hatte sie das Wort »allein« gedacht, ertönte erneut das Geräusch.

Ein Schritt auf dem Kies.

Wer könnte das zu dieser Zeit sein? Niemand würde mitten in der Nacht die lange Strecke aus der Stadt herfahren, um mich zu besuchen.

»Hallo, wer ist da?«

Ihre blinden Augen bewegten sich, als würde sie zur Einfahrt hinunterblicken. Sie lauschte.

Der Wind heulte durch die Bäume. Blätter raschelten.

»Ist da jemand?«

Keine Antwort. Stattdessen das Geräusch eines Reißverschlusses, der langsam heruntergezogen wurde.

»Da ist doch jemand.« Ihr Herz raste. »Was wollen Sie?«

Wieder lauschte sie.

Was, wenn es ein Eindringling ist?

Ich bin allein hier.

Lettie war tagsüber da gewesen, um ihr Lebensmittel zu bringen, ihr beim Saubermachen zu helfen und ihr eine Weile Gesellschaft zu leisten. Aber Lettie war schon lange weg. Vielleicht sollte sie jemanden anrufen …

Wieder das Geräusch. Ein Schritt auf dem Kies.

Langsam wich sie von der Balustrade zurück zur Mitte der Dachterrasse. Es war dunkel. Aber ihr war bewusst, dass sehende Menschen sie dort am Rand der Terrasse erkennen konnten. Hier in der Mitte war sie außer Sicht.

Und wenn er ins Haus einbricht?

Sie konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. Selbst wenn sie es schaffte, das Telefon zu erreichen, würde es eine Weile dauern, bis die Polizei in diesem entlegenen Ende des Canyons ankam.

Sie war dreiunddreißig Jahre alt. Männer hatten ihr immer wieder gesagt, wie schön sie sei. Dass ihr schulterlanges Haar glänze. Sie eine schlanke Figur habe. Gebräunte Arme und Beine.

Also war es gut möglich, dass, wer immer auch ins Haus einbrach, nicht wegen des Geldes oder des Fernsehers gekommen war.

Sondern ihretwegen.

Wieder ertönte ein knirschendes Geräusch. Vielleicht versuchte er, ein Fenster ohne stählerne Läden zu finden oder eine unverschlossene Tür.

Ihr Vater hatte gründliche Arbeit geleistet. Alle Fenster im Erdgeschoss waren mit dichtem Stahlgeflecht gesichert. Schließlich brauchte sie sowieso kein Tageslicht. Beziehungsweise gar kein Licht.

Die Türen waren aus Hartholz. Die Schlösser solide. Zu allem Überfluss waren die Türen zusätzlich mit geschmiedeten Eisengittern versehen.

Vielleicht versucht er, an der Mauer hochzuklettern. Ich bin ganz allein hier oben.

Jetzt fühlte sie sich verletzlich in dieser abgelegenen Gegend. Sie wünschte, sie würde hier mit jemandem zusammenwohnen. Jemand Starkem, der sie beschützen könnte.

Sie lief rückwärts in eine Topfpflanze. Die Blätter des Strauchs stachen sie durch den dünnen Stoff ihres Kleids in die Hüfte.

Sie hielt die Luft an.

Beruhig dich … beruhig dich. Er kann hier nicht raufklettern. Ich bin in Sicherheit.

Wirklich?

April erreichte den Grill und hockte sich daneben auf den Boden. Sie schlang die Arme um die Knie und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.

Eine lange Zeit wartete sie unter dem Nachthimmel zusammengekauert ab. Die Geräusche vor dem Haus verfolgten sie. Sie stellte sich vor, wie ein Mann auf einer Leiter an der Außenwand hochkletterte. Oder wie er ein unverschlossenes Fenster entdeckte. Sie bildete sich das Geräusch von Schritten ein. Sie stöhnte laut auf, als sie sich seine groben Hände auf ihrem Körper vorstellte. Eine Faust griff ihr ins Haar, die andere Hand fand ihre Brüste. Sie konnte seinen keuchenden Atem hören.

Zitternd und ängstlich nach Luft schnappend wartete und wartete sie.

Schließlich, als sie keine Geräusche mehr hörte, tastete sie sich zurück nach unten in ihr Schlafzimmer.

»O Gott, bitte«, flüsterte sie, nachdem sie ins Bett gegangen war. »Bitte schenke mir einen Gefährten. Bitte bring mir jemanden. Ich will nicht mehr allein sein.«

4

Wachmann Barney Quinn interessierte sich nicht besonders für das Museum. Es war immer so verdammt stickig darin, als würde jedes einzelne Stück dieses altertümlichen Gerümpels langsam und stetig seinen Gestank absondern. Wenn er morgens nach Hause ging, nahm er denselben Gestank an sich wahr. Der Gestank nach alten Gräbern. Der Gestank von dreitausend Jahre alten Schädeln.

Derselbe Gestank quoll aus diesen beschissenen alten Statuen in der Griechischen Sammlung. Meine Fresse. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich bald selbst in so ein Ding verwandeln. Wäre das nicht toll? Jedem dieser Mistkerle fehlte ein Arm oder ein Kopf oder sogar der Schwanz.

Eines Morgens wird man sich nach Öffnung des Museums fragen: »Wo steckt bloß der gute alte Barney Quinn?« Sie würden ihn erst finden, wenn sie in den Griechischen Raum gingen und die Statuen zählten. Eine zu viel. Da steht eine in einer beschissenen braunen Uniform. Vielleicht würden sie ihn stehen lassen und seiner Familie das Geld für die Beerdigung ersparen. Dann könnten sie von der Versicherung einen neuen Fernseher kaufen. Ein mieser Platz für den alten Barney Quinn. Sie würden ihn hier auf dem Friedhof der Statuen lassen, bis eine tollpatschige Putzfrau seinen Schwanz sauber abbrechen würde. Ruhe in Frieden, alter Barney Quinn.

»Scheiße«, murmelte er.

Ich brauch frische Luft. Ich muss mal einen Moment vor die Tür. Außerdem war es Zeit, George einen Besuch abzustatten.

Er ging durch das Foyer und stieß auf der anderen Seite eine metallene Feuertür auf. Der Flur war von einer Glühbirne über der Tür beleuchtet. Er begann, die Treppe hinabzusteigen. Verdammt, das Licht auf dem nächsten Absatz war ausgeschaltet. Er ging im Dunkeln weiter. Unten drückte er die Außentür auf. Er trat hinaus und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie offen zu halten.

Der Angestelltenparkplatz war bis auf seinen alten Grand Prix leer. Das war einmal ein gutes Auto. Sein ganzer Stolz, als er es gekauft hatte. Damals war alles besser gewesen. Ehe die da oben Wind von der Sache mit dem Bordell bekommen und seinen Arsch aus der Truppe katapultiert hatten.

Tja, Scheiße, man kann halt nicht immer gewinnen, oder?

Er zündete sich eine Zigarette an. Als er seine Lunge mit dem süßen blauen Dunst füllte und ein Prickeln durch seine Fingerspitzen ging, sah er den Hund am Rand des Parkplatzes. Old George, pünktlich auf die Minute. Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, ging in die Hocke und klatschte in die Hände. »Hier, Junge«, rief er. »Komm her. Komm zu Barney.«

Der Hund kam auf ihn zugetrottet, und die Marken an seinem Halsband klimperten.

»Ja, bist ein guter Junge.«

George lief in seine Arme, leckte sein Gesicht und stieß ihm beinahe die Zigarette aus dem Mund. »Ja, das ist mein guter Junge. Brav. Ich wette, du hast Hunger, was?«

Der dicke braune Schwanz wedelte.

»Na, dann komm. Mal sehen, was Barney für dich hat.« Nachdem er die Museumstür festgeklemmt hatte, ging Barney zu seinem Wagen. Der Hund lief voraus und blickte ungeduldig zu ihm zurück, die braunen Augen glänzten in der spärlichen Straßenbeleuchtung.

»Immer mit der Ruhe, mein Junge.«

Barney schloss sein Auto auf. Er griff ins Handschuhfach und nahm einen Frischhaltebeutel mit einem rohen Hackfleischbällchen heraus. »Ist nicht viel, Kumpel«, entschuldigte er sich. »Du willst es trotzdem, oder? Klar. Du kommst immer wieder. Ein zufriedener Kunde.«

Er öffnete den Beutel. Das Hackfleisch war noch teilweise gefroren, aber weich genug, um es zu zerteilen. Er brach kleine Stücke ab. Ein paar warf er in die Luft, damit der Hund sie auffing. Es gefiel ihm, wie George das Fleisch mit einem kurzen Schnappen aus der Luft holte. Andere Stücke hielt er ihm mit der Hand hin. George nahm sie wie ein echter Gentleman, indem er sie vorsichtig mit den Vorderzähnen anhob, ehe er sie schluckte.

»Das war’s, Kumpel«, sagte Barney lächelnd.

George sah mit großen hoffnungsvollen Augen zu ihm auf.

»Traurig, aber wahr.«

Barney kniete sich hin und ließ den Hund seine Finger ablecken. »Ja, alles weg. Aber komm morgen Nacht wieder. Dann hab ich ein paar neue Leckerchen für dich.«

Er ging zurück zur offenen Tür des Museums, während George neben ihm hertänzelte.

»Gute Nacht, George, alter Kumpel.«

Er tätschelte das braune Fell auf dem Rücken des Hundes und schloss die Tür. Dann schaltete er die Taschenlampe an und stieg die Treppe hinauf. Er musste dem Hausmeister einen Zettel wegen der kaputten Glühbirne schreiben. Da konnte man sich ja im Dunkeln den Hals brechen. Ein kleiner Ausrutscher konnte schon reichen.

Auf dem Absatz im Erdgeschoss drückte er die Metalltür auf und trat ins Foyer. Es war nur schwach beleuchtet. Er schaltete seine Taschenlampe aus und hängte sie wieder an den Gürtel, dann ging er zum Vordereingang. Er sollte sich lieber vergewissern, dass dort alles in Ordnung war, ehe er seine Runde über den Hauptgang drehte.

Nachdem er die Türen kontrolliert hatte, hörte er das Poltern.

Als wäre etwas Hölzernes auf den Boden gefallen. Er lauschte auf weitere Geräusche, aber es war still im Museum.

Er dachte: Das ist die Stille des Grabes, Barney, eine Stille, die man fühlen kann.

Wahrscheinlich hatte das Geräusch nichts zu bedeuten: ein Regalbrett, das von der Wand gefallen war, oder ein gerissenes Halteseil, so dass irgendwas von dem altertümlichen Kram umgefallen war. Andererseits …

Verflucht – er hätte die Tür im Auge behalten sollen, als er George gefüttert hatte. Vielleicht hatten sich ein paar Kinder reingeschlichen. Oder irgendwelche Penner, die einen Platz zum Schlafen suchten. Oder eine beschissene Katze.

Leise ging er zur Haupttreppe. Während er hinaufstieg, ließ er seinen Blick durch die Gitterstäbe des Geländers über die Galerie im ersten Stock schweifen. Es schien niemand dort zu sein.

Er wünschte sich seine Kanone, nur für alle Fälle. Aber in diesem verfluchten Museum ließen sie ihn keine Waffe tragen; sie sagten, sie wollten nicht, dass jemand verletzt würde. »Wenn es Ärger gibt, Barney, ruf die Polizei. « Klar, ich ruf die Polizei, und die finden dann eine Katze in der Callahan-Sammlung. Das würde dann jedem im Revier endgültig bestätigen, dass Barney ein ausgemusterter alter Sack war. Man musste ein Sondereinsatzkommando losschicken, um Barney vor einer Katze zu schützen. Na klar.

Zum Teufel.

Es klang, als käme das Geräusch wirklich von dort. Er fragte sich, wieso er diesen Eindruck hatte – nur weil der Callahan-Raum näher am Treppenhaus lag als die anderen Räume? Er ging zum Eingang. Warf einen Blick hinein. Dunkel. Sehr dunkel. Kein Licht im Raum. Barney konnte nur vage Umrisse erkennen. Er hakte die Absperrkordel aus und ließ sie fallen. Dann ertastete er den Lichtschalter. Klick. Ein Dutzend Lampen hinter den getönten Deckenplatten füllten den Raum mit weichem Licht.

He, wie ist das denn passiert?

Der Deckel des Mumiensargs lag auf dem Boden.

Barney stand reglos da und sah sich im Raum um: der Ausstellungskasten voller Schmuck, eine Ansammlung von Gold und Himmelblau, das Rad des Streitwagens, Dutzende von Statuetten, die steinernen Kanopen, der Sarg.

Niemand da.

Es sei denn, ein Eindringling hockte hinter der anderen Seite des Ausstellungskastens. Sie können mich sehen, aber ich sie nicht. Beobachten sie mich, während ich hier stehe? Hoffen darauf, dass ich die Schultern zucke und mich abwende? Hier ist nichts. Zeit, weiterzugehen.

Nein. Barney, der so viele Jahre als Polizist auf dem Buckel hatte, würde sich nicht derart leicht reinlegen lassen.

Leise ging er an dem Kasten entlang zum anderen Ende. Niemand versteckte sich dort.

Okay, aber wie ist der Sargdeckel auf dem Boden gelandet?

Von einer Katze runtergestoßen?

Wohl kaum.

Von Kindern?

Vielleicht.

Ich wünschte, ich hätte meine Kanone.

Den .38er Colt. Hohlspitzpatronen. Ein Schuss mit den Dingern haut jeden um.

Er stieß den Sargdeckel mit den Zehen an. Schweres Teil. Er stieg darüber hinweg und blickte in den Sarg. Als er die Mumie anstarrte, spürte er Übelkeit in seiner Kehle aufsteigen.

Verdammt … sie sah wirklich schrecklich aus.

Damals, als Barney noch ein unerfahrener Polizist war, hatte er einmal einem Feuerwehrmann geholfen, eine verkohlte Leiche aus den Trümmern eines abgebrannten Wohnhauses zu schleppen. Der Feuerwehrmann hatte das Ding als Schmorfleisch bezeichnet.

Dieses Mädel war kein Schmorfleisch, sah aber keinen Deut besser aus. Eher schlimmer. Als hätte jemand die Luft aus ihren Titten gelassen.

Es gefiel ihm ebenfalls nicht, wie das rote Haar auf ihrem Kopf aussah – wie schön und glänzend es war –, obwohl doch der Rest ihres Körpers ein Wrack war.

Er blickte an ihr herab und sah, dass sie keine Schambehaarung besaß. Verflucht, er wollte das nicht länger ansehen. Es war besser, sie zu bedecken.

Er bückte sich und hob den Sargdeckel hoch. Schwer wie eine Tür. Mein Gott. Aber er schaffte es, ihn auf den Sarg zu legen.

Barney wandte sich ab und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Alles schien in Ordnung zu sein. Er ging zur Tür und schaltete das Licht aus; Dunkelheit füllte erneut den Raum … und dann machte er einen Satz, als er das Krachen von Holz hinter sich hörte.

Er wirbelte herum. Im Halbdunkel konnte er erkennen, dass der Deckel wieder auf dem Boden lag.

»Heilige Scheiße«, murmelte er.

Er starrte den Deckel an. Eine Welle von Übelkeit und Kälte überkam ihn … und aus irgendeinem Grund schienen sich seine Hoden in die Bauchhöhle zurückziehen zu wollen. Ein Kribbeln lief über seine Unterarme, als sich die Härchen dort aufrichteten. Es war ein Gefühl, als wäre eine fiese Spinne in der Dunkelheit auf seinem nackten Arm gelandet und würde zu seinem Kopf hinaufkriechen, um in seinen Mund zu klettern. Er rieb sich übers Gesicht. Es war kalt. Und es fühlte sich taub an, als würden die Nervenenden sich vor dieser fürchterlichen Dunkelheit zurückziehen.

Er wollte raus, so schnell wie möglich. Aber er hatte Angst, dem Sarg den Rücken zuzuwenden. Wenn er sich abwandte …

Dann geschah es.

Das, wovor er sich bis ins Mark fürchtete.

Es geschah, und es war, als hätte er es tief in seinem Inneren gewusst.

Ruckartig, wie jemand, der aus dem Schlaf gerissen wurde, richtete sich die Mumie auf.