Madeleine
Die Literatur, die Poesie, die schönen Künste und Wissenschaften,
die Erzeugnisse des Gehirns können niemals einen Menschen ernähren.
RT: @ mercier_gemälde_von_paris via @ balzac_verlorene_illusionen
CROWDFUNDING! 99 förderliche Leser müssen es werden, bevor Madeleine in einer kleinen Taschenbuchauflage gedruckt wird. Es ist ein Versuchsballon, der herausfinden soll, ob es möglich ist, kleinere (Kunst-) Projekte durch eine Community vorzufinanzieren. Wie sieht also das Prozedere aus? Der geneigte und interessierte Leser und Förderer bestätigt mir seine verbindliche Absicht, einer der ›99‹ zu werden. Das heißt, er schickt mir vorab eine E-Mail an tiret@1668.cc (oder jede andere Adresse, die mich erreicht). Nach Bestätigung, dass noch ein Platz frei ist, ist der Betrag von fünfundzwanzig €uro zu überweisen. Nach Bekanntgabe des 99. Förderers wird der Druck des Taschenbuchs in die Wege geleitet und sollte in wenigen Wochen an die geneigte Leserschaft ohne weitere Kosten verschickt werden können. Natürlich birgt die Förderung auch eine Gefahr, die nicht verschwiegen werden soll: das Nichtzustandekommen der ›99‹. Somit würde das Buch nie auf Papier gedruckt werden. Deshalb liegt es bei jedem Einzelnen, die Kunde in die weite Welt zu tragen, auf dass sich die verschworene Gruppe der ›99‹ bildet. Und wer möchte nicht Teil einer besonderen Gemeinschaft sein? Für Fragen stehe ich natürlich jederzeit zur Verfügung.
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März 1789. Zwei mächtige polnische Fürsten wollen Aleksander Mickiewicz und die beiden Töchter der Opalinski, Madeleine und Ludomila, tot sehen. Um ihr Ziel zu erreichen, werden ein brutaler Söldnertrupp und ein venezianischer Meuchelmörder ins französische Elsaß gesandt, wo sich die Gesuchten aufhalten sollen. In der abgelegenen Waldlichtung von Saint-Jean Saverne, nicht unweit von Haguenau, kommt es schließlich zum Gefecht. Es wird nicht das letzte sein. Eine Tour-de-Force durch das vorrevolutionäre Frankreich.
überlieferte Briefpassagen: Briefe von Gouverneur Morris
Weitere Informationen: http://www.1668.cc
Am 17. August 1661 gab Jean Fouquet, Vicomte de Melun et Vaux, in seinem prächtigen Schloss Vaux-le-Vicomte ein derart prunkvolles Fest, das selbst den Sonnenkönig Ludwig XIV. vor Neid erblassen ließ. Wie konnte Fouquet zu solch einem Reichtum gelangen? Während der Minderjährigkeit Ludwig XIV. wurde er von der Königinwitwe Anna von Österreich und ihrem ersten Minister und Liebhaber Cardinal Mazarin zum Oberintendanten der Finanzen bestellt und nutzte diese Stellung weidlich aus. Jener Mazarin, der Kardinal Richelieu nachfolgte und dem die einen eisernen Fleiß, scharfblickende Menschenkenntnis und zähe Ausdauer attestierten, während andere wiederum von einer unersättlichen Habgier sprachen, die verantwortlich war, dass er Handel und Gewerbe zugrunde gehen ließ und das Volk in Elend und Not stürzte.
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Fouquet, der Cardinal Mazarin in Prunk und Verschwendungssucht in nichts nachstand, wurde am besagten Tage, nach seinem prächtigen Fest, arretiert und vom König eines Staatsverbrechens beschuldigt. Fouquets Besitz wurde konfisziert und er selbst in das berühmte Gefängnis Pignerol geworfen, wo er 1680 starb.
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Über 300 Jahre später leben wir in einer Welt, in der es keinen Sonnenkönig mehr gibt, dafür aber eine illustre Reihe Mazarins und Fouquets. Deren Namen sind jedermann ein Begriff oder können, ohne Aufwand, in den einschlägigen Wirtschaftsmagazinen ermittelt werden (abgesehen vielleicht von jenen, die es vorziehen, im Hintergrund zu bleiben). Wie konnte es also geschehen, dass die aufgeklärten und gebildeten Bürger des 20. Jahrhunderts ein Regierungs- und Wirtschaftssystem erwählten, das solch eine immense Habgier nicht nur duldete, sondern diese sogar noch förderte und nach ihr verlangte? Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat nichts an der ungleichen Verteilung zwischen Arm und Reich verändert, ganz im Gegenteil. In den Vereinigten Staaten von Amerika, die die erste Demokratie der Neuzeit mit den Worten
We the People
begründeten, häuften 1 % der Bevölkerung etwa 50 % des gesamten Vermögens an, während 40 % rein gar nichts besitzen. Was wir nun sehen werden, ist die langsame, aber beständige Aushöhlung des einstmals souveränen Nationalstaates durch multinationale Unternehmen. Diese global agierenden Macht- und Profitzentren sind im Begriff, Verfassung und Menschenrechte aufzuweichen, um Einfluss und Gewinn bis ins Unendliche zu steigern. Die Habgier, wenn man so will, wurde nicht nur legalisiert, sondern für notwendig befunden, der Bürger hingegen wurde entmündigt und für dumm verkauft. Stück für Stück. Am Ende wird es nur noch eine elitäre Minderheit geben, die alle Macht und alles Vermögen auf sich vereinigt. Ist das absurd? Kein bisschen. Multinationale Unternehmen, »too big to fail«, bestimmen bereits im größten Maße Politik und Medien und können dadurch ungestraft die unglaublichsten Verbrechen begehen. So verurteilen wir politischen Faschismus und religiösen Fanatismus, akzeptieren auf der anderen Seite aber einen menschenverachtenden Ersatzkapitalismus [nach Joseph Stiglitz, US-Wissenschaftler und Nobelpreisträger] der Profite privatisiert und Verluste verstaatlicht. Wie lange kann dieses System gut gehen, das von einem stetigen Wirtschaftswachstum spricht und außer Acht lässt, dass die Menschheit nur einen Planeten mit endlichen Ressourcen zur Verfügung hat? Machen wir uns da nicht etwas vor? Besser: wird uns da nicht etwas vorgemacht?
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Der vorliegende Band unterscheidet sich erheblich von den vo rangegangenen beiden, die den Fokus auf Aleksander Mickiewicz und das angenehm leichte Leben des Adels im Ancien Régime legten. In diesem Band ist vom polnischen Gelehrten keine Spur, wenngleich er in den Köpfen der Protagonisten eine gewichtige Rolle spielt. Man könnte sagen, er löst eine Tragödie aus, ohne persönlich anwesend zu sein. Nebenbei tauchen wir nun erstmals in die Niederungen des Menschen hinab, erzählen von Mord und Totschlag und vom Versuch der Unterprivilegierten, das kärgliche Leben zu meistern. Das mag freilich nicht sehr angenehm zu lesen sein, aber notwendig, um zu verstehen, woher dieser Hass kam, der späterhin eine Ordnung umstürzen und vielen Menschen den Kopf kosten würde. Für jetzt aber sollte der geneigte Leser nur aufpassen, dass ihm das Lachen nicht im Halse stecken bleibt. Und in Anlehnung an den kommenden Band IV Penly gilt bereits hier die Weisheit: Wer zuletzt überlebt, lebt am längsten.
Wien, im Mai 2011
Der alte Mann setzt sich auf ein Fass, atmet schwer.
»Wasz macht er in Lodz?«
Die alte Frau gießt aus einem Tonkrug Wasser in einen Holzbecher und reicht diesen dem alten Mann. Er bedankt sich mit einem Nicken und nimmt einen Schluck.
»Warum tut er mir dasz an? Geht einfach davon. Ich brauche ihn. Wer szorgt für ein paar Münzen, wer beschützt Hausz und Hof, wenn ich nicht mehr kann?«
Die alte Frau sieht zu einem kleinen Fenster hinaus. Es dämmert.
»Du biszt nur Bauer, Pionek. Dein Hausz, dasz iszt nur eine nasze Hütte, dein Hof nur eine vertrocknete Wiesze. Und dein Szohn iszt Diener einesz Herrn. Weiszt, Pionek, esz gibt da eine Kapelle, bei Lodz. Esz heiszt, dasz dort der Teufel schläft. Wer ihn aufweckt, kriegt einen Wunsch erfüllt.«
Der alte Mann blickt auf.
»Ich kenn die Mär, Weib.«
Die alte Frau sieht starr aus dem Fenster.
»Dann weiszt auch, wenn der Teufel einmal wach iszt, er nicht mehr einschlafen wird. Szo lange, bisz er szich an toten Szeelen szattgefreszen hat.«
»Ja, ich weisz, Weib.«
»Der Teufel hat schon lang keine Szeele mehr gefreszen, Pionek. Er iszt hungrig.«
Der alte Mann erhebt sich.
»Ich geh nach Lodz.«
Die alte Frau dreht sich zum alten Mann.
»Esz hat keinen Szinn, Pionek. Aber ich weisz ja, du muszt esz tun. Nimm dich nur in Acht, der alte Onufry und szeine Aaszgeier wollen deinen Szohn in Stücke reiszen.«
Der alte Mann sieht zur alten Frau.
»Warum? Wasz hat er dem Onufry gemacht?«
Die alte Frau sieht wieder aus dem kleinen Fenster.
»Dein Szohn iszt mit Hebanowy, der Jüngszten vom Onufry fort.«
Der alte Mann erbleicht.
»Wasz redeszt du da?«
Die alte Frau seufzt.
»Du haszt nur deine kleine Hütte im Kopf, Pionek. Sziehst nit, wasz vor dir pasziert. Bialy, dein Szohn, der hat esz mit der Hebanowy gehalten. Deszhalb iszt er in der Nacht fort.«
Der alte Mann schöpft Atem.
»Mit der Hebanowy? Iszt er alleine … nach Lodz?«
Die alte Frau blickt zu Boden und bekreuzigt sich.
»Ich bin nur eine Hebamm, Pionek. Ich bring die Menschen auf die Welt, wenn Gott esz will.«
Der alte Mann greift sich zitternd an die Stirn.
»Dann iszt er mit der Jüngszten vom Onufry nach Lodz?«
»Dasz Herz, Pionek«, deutet die alte Frau auf ihre Brust, »dasz Herz iszt esz, dasz unsz Dummheiten machen läszt. Aber dasz Herz iszt unschuldig, weiszt? Der Kopf iszt esz, der bösz iszt.«
Der alte Mann schüttelt den Kopf.
»Erzähl mir keine Weiszheiten, altesz Weib, ich musz gehen.«
»Ja, dasz muszt du, Pionek.«
Die alte Frau gibt ihm seinen Hut und Stecken. Er öffnet die Holztür und tritt mit abgewetzten Lederschuhen, die mit Lumpen umwickelt sind, ins Freie. Es ist noch dunkel, aber man spürt die Kraft des Morgens. Die Kühle lässt den Atem des alten Mannes gefrieren, während der Wind mit den silbergrauen Haaren der alten Frau spielt. Der alte Mann macht sich auf den Weg.
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Der Knecht holt ein Pferd aus dem Stall. Es ist ein junger Achatschecken, dessen helles Fell eine schachbrettähnliche Musterung aus roten und gelben Flecken aufweist. Der alte Onufry klopft dem Pferd an die Seite.
»Du suchst einen Tartaren, Galkin, Sohn von Dassajew, und hier habe ich einen.«
Galkin geht um das Pferd herum.
»Schau es dir nur gut an, Galkin. Es ist gesund und noch keine drei Jahre alt. Es ist das Pferd eines Herrn.«
Galkin öffnet das Maul, besieht sich die Zähne.
»Ja, Galkin, du bist ein Herr. Nicht so ein nichtsnutziger Lump wie Bialy. Sag, weißt du, wo Bialy sein könnte?«
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Eine Hand hämmert gegen die Holztür. Mehrmals. Heftig. Die Tür wird von der alten Frau geöffnet. Eine Gruppe junger Männer steht mit ihrem Anführer davor.
Wie oft haben wir von solch einer Szenerie schon gelesen? Da die Jugend, die den Wunsch hat, endlich eine Rolle in der Geschichte spielen zu dürfen. Dort das Alter, das nichts mehr will, nichts mehr hat, genügsam ist mit dem, was die Geschichte noch für sie bereithält. Der Erzähler entspricht den Wünschen, er verteilt die Rollen und gibt jedem der acht jungen Männer einen Namen. Das hätte er nicht müssen. Weil, der gewitzte Leser mag es bereits erahnen, deren Tod bereits sorgfältig im Voraus skizziert ist.
»Wir szuchen Bialy, vom alten Pionek«, faucht der Anführer – »Wo iszt er, altesz Weib?«
Die alte Frau sieht sich die jungen Männer an. Der Anführer ballt die rechte Hand zur Faust und hält sie drohend in die Höhe.
»Wo iszt der Hundt hin, szag schon, altesz Weib!«
Die alte Frau mustert stumm den Anführer, der ein Messer aus seinem Gürtel zieht.
»Redt schon, du Weibszteufl, oder ich schneidt dich auf!«
Die jungen Männer grölen und ergehen sich in wüsten Beschimpfungen. Die alte Frau wendet sich an den Anführer.
»Du biszt Žak, ich kenn dich. Deine Mutter hat szich die Szeele aus dem Leib geschrien, alsz szie dir dasz Leben schenkte. Szie hätt szich einen beszern Szohn verdient!«
Žak hält ihr drohend das Messer hin.
»Wenn du jetzt nicht dein Maul aufmachszt, altesz Weib, dann mach ich dich tot!«
Žak fuchtelt mit seinem Messer vor ihrem Gesicht. Die alte Frau schweigt. Die jungen Männer wirken ratlos. Der spindeldürre Rzadszy wendet sich leise an Žak.
»Lasz gut szein …«
Žak gibt Rzadszy einen Tritt, dieser verliert das Gleichgewicht und fällt zu Boden.
»Szag mir nicht, wasz ich machen szoll!«, faucht Žak – »Ich geb die Befehle!«
Czarno, der jüngste der Gruppe, hilft Rzadszy auf die Beine, während Žak sich wieder an die alte Frau wendet.
»Wo iszt der Hundt? Szag!«
Die alte Frau schweigt. Žak hält ihr drohend das Messer hin.
»Ich schneidt dich auf, Weib!«
Die alte Frau schweigt.
»ICH BRENN DEIN HAUSZ NIEDER!«, brüllt Žak.
Die alte Frau schweigt.
»Da kommt Onufry«, sagt Koniec.
Žak und die anderen drehen sich überrascht zur Straße. Onufry zügelt das Pferd vor der Gruppe, macht aber keine Anstalten vom Pferd zu steigen. Er trägt lederne Handschuhe. Mit seiner kurzen Reitgerte zeigt er auf Žak.
»Lass die Hebamme in Frieden! Der Hundesohn ist mit meiner Hebanowy nach Lodz, zur kleinen Waldkapelle.«
Ein Raunen geht durch die Gruppe.
»Die Kapell iszt verflucht!«, stößt Padlina aus.
»Dort schläft der Teufel!«, ruft Koniec.
»Dasz bringt kein Glück!«, flüstert Toizserca.
»Der will unszere Szeeln!«, nickt Kozoczu.
»Ich geb meine nit!«, schüttelt Ósmy den Kopf.
Žak bringt seine Leute mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er wendet sich an Onufry, blickt zu ihm hinauf.
»Sztimmt dasz, Onufry? Iszt ein langer Weg nach Lodz.«
Onufry fixiert Žak.
»Du wirst nicht von mir bezahlt, um Fragen zu stellen, sondern um zu machen, was ich dir sage. Geht das in deinen dämlichen Schädel?«
Žak presst kurz die Lippen aufeinander, dann dreht er sich zu seinen Männern.
»Wir reiten nach Lodz!«
»Gut«, ist Onufry zufrieden und wartet, bis Žak sich wieder zu ihm dreht – »Bring mir meine Tochter!«
Bevor Žak antworten kann, ist es der junge Czarno, der mit der Faust in seine Hand schlägt und sich an Onufry wendet.
»Ich werdt dem Kerl …«
Onufry versetzt Czarno mit der Gerte einen Schlag ins Gesicht.
»Mit dir Bastard habe ich nicht gesprochen«, zischt Onufry, beugt sich ein Stück zu Žak und fixiert ihn – »Wehe, deine Männer krümmen meiner Hebanowy auch nur ein Haar! Hast du mich verstanden?«
»Tak!«, bejaht Žak und macht dabei eine beschwichtigende Geste – »Und wasz szollen wir mit Bialy machen?«
Onufry beruhigt kurz sein Pferd, zieht die Zügel stramm.
»Der verfluchte Hund ist nur der Sohn eines Bauern. Und was machen wir mit Muschiks, die abhauen oder mir in die Stube scheißen?«, fragt Onufry, blickt in die Runde und gibt sich selbst die Antwort – »Wir knüpfen sie auf!«
*
Ein Tagelöhner, der eine kleine Ziege an einem Seil mit sich führt, und der alte Mann gehen die Landstraße entlang. Die kleine Ziege meckert und will nicht mehr weiter.
»Dasz Zicklein iszt allesz, wasz ich noch hab. Der Pfarrer in Szachy willsz haben. Mehr hab ich nicht. Szieben Mäuler musz ich sztopfen und keiner gibt mir Arbeit, weiszt.«
Der Tagelöhner zieht am Seil, schleift die kleine Ziege förmlich hinter sich her.
»Vor drei Nächt iszt mein Jüngszter in den Himmel. Hatte Fieber. Konnt nicht mal der liebe Herrgott wasz machen«, bekreuzigt sich der Tagelöhner – »Er wirdsz jetzt besztimmt beszer haben, da oben, im Himmel.«
»Dasz wird er«, pflichtet ihm der alte Mann bei – »Gott wird dafür szorgen, dasz unsz allen Gerechtigkeit widerfährt.«
Die beiden gehen eine Weile schweigend nebenher.
»Warum gehszt du nach Lodz?«, fragt der Tagelöhner.
»Ich szuche meinen Szohn.«
»Dein Szohn iszt fort? Warum? Er iszt der Szohn von einem freien Bauern, du haszt Hausz und Hof, dasz gehört dir. Andere szind nur die Knecht einesz Herren, der mit ihnen machen kann, wasz er will. Ein Edelmann hat meine Jüngszte geschwängert. Jetzt musz ich ein Maul mehr sztopfen, weiszt, und der Edelmann hatt nur ein paar Münzn und viele Schläg für mich übrig. Warum iszt dein Szohn fort?«
»Er hatte Sztreit mit dem alten Onufry.«
»Der reiche Pferdehändler aus Pabianice? Der hat einem Jud dasz Hausz angezündet und ihm allesz genommen. Iszt lang her, aber ich hör die Schrei noch immer. Bekomm ich nit ausz dem Kopf, weiszt?«
Ein Reiter, hoch zu Ross, trabt ihnen gemächlich entgegen. Die beiden bleiben stehen. Ziehen ihre Hüte. Senken ihre Köpfe. Verharren. Bis der Reiter sich entfernt hat. Die beiden setzen ihre Hüte wieder auf.
»Iszt ein Koszack!«, sagt der Tagelöhner und sieht dem Reiter nach – »Der will besztimmt zum alten Daszajew. Auch ein Koszack. Die kennen kein Erbarmen, wenn esz ihnen juckt. Kommen vielleicht wieder die Muszelmänner zu unsz? Iszt wieder Krieg?«
»Immer iszt Krieg.«
Am sechsten des Februars, im Jahre 1789, haben sich im polnischen Reichstag die Deputierten zusammengefunden. Darunter viele der mächtigsten Fürsten, die MagnatenANM, die großen Einfluss auf den König haben und damit die eigentlichen Herrscher Polens sind. Aber da die Magnaten oftmals uneins sind, was die innere und äußere Politik ihres Landes betrifft – die persönliche Bereicherung gilt mehr als das Wohl Polens – konnte die russische Zarin 1772 Teile Ostpolens annektieren und ihrem Reich einverleiben. Obwohl diese Annektion den Fürsten bedeuten hätte müssen, nun gemeinsam gegen jeglichen äußeren Feind vorzugehen, änderte es ihre selbstsüchtige Haltung in keiner Weise. Bald wird sich auch das rächen. Doch 1789 geht alles noch seinen gewohnten Gang. Da sich die Sitzung des Reichstags um eine Stunde verschoben hat, ziehen sich drei der Deputierten in ein Zimmer zurück. Sie haben eine wichtige Angelegenheit zu besprechen, die keinen Aufschub duldet. Fürst Wielkopolski, dicklich und schwerfällig, lässt sich auf eine gepolsterte Bank fallen. Fürst Raczynski wählt einen gepolsterten Stuhl, gegenüber der Bank, und setzt sich mit aller Vorsicht. Sein Kammerdiener reicht ihm ein parfümiertes Tuch, mit dem er sich Wangen und Stirn abtupft. Graf Laski wartet, bis es sich die beiden Fürsten bequem gemacht haben, so dann setzt er sich ebenfalls. Wielkopolski klatscht in die Hände. Augenblicklich kommen drei Diener zu ihm. Unterwürfig reicht man ihm auf einem polierten Tablett geräucherte Fischköpfe und einen Silberpokal mit Rotwein. Wielkopolski greift sich einen Fischkopf und steckt sich diesen in den Mund. Raczynski rollt verächtlich die Augen, als er der wilden Schmatzerei seines Gegenübers ansichtig wird und lässt sich von seinem Diener Luft zufächeln. Graf Laski sitzt nur da. Regungslos. Und wartet. Wielkopolski leckt sich die Finger ab. Wählt einen weiteren Fischkopf.
»Also, Laski, was weiß man von diesem Bastard?«
Laski löst seine Starre, fährt mit seinem Zeigefinger über die Unterlippe, dann beugt er seinen Oberkörper um eine Nuance vor und zur rechten Seite, dort, wo Wielkopolski thront.
»Dieser … Bastard, Monseigneur, heißt Aleksander Mickiewicz. Er ist Gelehrter der Akademie zu Krakau und von keiner auffälligen Statur. Über seinen Lebenswandel gibt es nicht viel zu berichten und auf der politischen Bühne ist er nie sonderlich aufgefallen. Er genießt in Gelehrtenkreisen einen hervorragenden Ruf. Er gilt als kühler Kopf, ist stoisch und den Frauen gegenüber reserviert eingestellt. Man könnte meinen, dass ihm das slawische Blut gänzlich fremd sei.«
Wielkopolski schluckt hinunter, während Raczynski kurz in sein Tuch hüstelt.
»Wie kommt es«, setzt Racznyski mit hoher Stimme zu einer Frage an, »dass ihn dieser sonderbare Marquis aus Grenoble beschützt?«
Laski wendet seinen Kopf um eine Nuance zu Raczynski.
»Vermutlich, Monseigneur, spielte dem Marquis der glückliche Zufall in die Hände. Auf einer Soiree der Opalińskis wurde ihm der Gelehrte vorgestellt. Vielleicht, wir wissen es nicht, wurde der Marquis von den Opalińskis ins Vertrauen gezogen. Gewiss ist nur, dass sich der Marquis auf eigennützige Weise dieses Gelehrten angenommen und ihn vor unseren Handlangern gerettet hat. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, ist Monsieur Mickiewicz längst in Frankreich und für uns unerreichbar …«
»Unerreichbar?«, brüllt Wielkopolski dazwischen – »Unerreichbar ist er dann, wenn er auf dem Mond spazierte. Aber er ist nur in Frankreich. Schickt ihm einen Söldnertrupp auf die Fersen, die sollen ihm endgültig den Garaus machen. Ich will mich nicht mehr mit diesem lächerlichen Wurm befassen müssen!«
Wielkopolski nimmt verärgert einen Schluck aus dem Pokal und verschüttet dabei ein wenig Rotwein. Laski will etwas entgegnen, wird aber mit einer Handbewegung Wielkopolskis zum Schweigen gebracht.
»Sagt mir jetzt nicht, dass wir Zeit haben, Laski. Ich weiß, dass Potocki bereits alle Urkunden hat, die es braucht, um diesen nichtsnutzigen Kerl zu einem Anjou zu machen. Noch hält ihn der Schatzmeister hin. Aber wie lange geht das noch? Der König wartet doch nur auf eine Gelegenheit, uns zu schwächen. Ja, er will uns bluten lassen, der Hurensohn. Aber ich gebe meinen Teil des Erbes nicht mehr her. Nicht für einen verfluchten Bastard!«
»Ich möchte meinen Teil genauso wenig geben müssen und es führt wohl kein Weg vorbei, den Gelehrten seines Lebens zu berauben«, nickt Raczynski und sieht zu Laski – »Aber dafür einen wilden Haufen aus Halunken und Strolchen beauftragen?«
Raczynski lacht spitz in seine flache Hand. Dann fasst er sich und fährt ruhig fort.
»Das ist geradezu grotesk! Polen unterhält gute Verbindungen zu Frankreich, aber wie würden wir dastehen, wenn dieser mordende Söldnertrupp mit uns in Verbindung gebracht wird? Hach, nicht auszudenken, diese Schmach.«
Raczynski presst sich das Tuch gegen die Stirn.
»Ha!«, ruft Wielkopolski – »Ich habe gute Männer, auf die ist Verlass!«
»Verlass?«, wiederholt Raczynski verächtlich und sieht zu Laski – »Nein, das geht nicht an! Ich möchte in dieser so wichtigen Angelegenheit meine eigene Lösung präferieren!«
Wielkopolski prustet.
»Wollt Ihr den Bastard vielleicht zu Tode parfümieren?«
»Ihr beleidigt mich!«, empört sich Raczynski in hellem Ton und gibt seinem Diener einen Wink.
Dieser reicht ihm ein Glas Wasser. Raczynski taucht die Spitze seines Tuches kurz darin ein und betupft seine Lippen.
»Ich schlage vor, dass wir einen ausgesuchten Mann nach Frankreich entsenden, der diese für uns so unangenehme Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt schafft. Auf eine dezente, leise und unserem Stand angemessene Art und Weise.«
Wielkopolski mustert Raczynski mit einem skeptischen Blick.
»Ihr wollt ihm also einen Meuchelmörder auf den Hals hetzen?«
»So ist es!«, nickt Raczynksi und verlangt nach Luft.
Wielkopolski sieht zu Laski, dann wieder zu Raczynski und beginnt zu lachen. Raczynskis Mundwinkel zucken immer wieder kurz nach oben, während ihm der Diener Luft zufächelt und das Lachen von Wielkopolski merklich anschwillt.
»Ihr solltet zuweilen den französischen Hof besuchen, Wielkopolski. Vielleicht bringt man es zu Wege, Euch noch Manieren und Etikette beizubringen. Aber Euer Französisch ist, wie ich höre, von einer beschämenden Tonalität.«
Wielkopolski schlägt mit der flachen Hand auf die Bank.
»Genug, Raczynski! Macht, wie Ihr es für richtig haltet. Ich werde meine Bluthunde beauftragen und diesen Bastard in Stücke reißen. Von ihm soll nichts mehr übrig bleiben. Nichts! Gar nichts!«
Wielkopolski nimmt einen Schluck. Raczynski seufzt und wendet sich von seinem Gegenüber ab. Laski wartet kurz, dann beugt er sich ein Stück vor.
»Messieurs, ist es mir erlaubt, meine Meinung darzulegen?«
Die beiden geben mit einer kurzen Geste ihr Einverständnis.
»Vielleicht mag es eine gute Idee sein, beide Wege einzuschlagen«, wendet sich Laski ein wenig nach rechts, dann ein wenig nach links – »Fürst Wielkopolski schickt einen Trupp von Söldnern nach Frankreich und Fürst Raczynski beauftragt einen Meuchelmörder. Am Ende ist es nicht weiter von Belang, wer denn nun unser Problem löst, solange Aleksander Mickiewicz zu Tode gebracht wird. Wir erinnern uns, dass die Opalińskis bereits in der sicheren Annahme waren, sich dieses Problems entledigt zu haben. So einen Fehler dürfen wir uns kein zweites Mal erlauben. In Anbetracht der Wichtigkeit und Dringlichkeit unseres Problems ist eine doppelte Beauftragung durchaus angebracht. Was meinen die hochgeschätzten Fürsten hierzu?«
Raczynski und Wielkopolski sind in Gedanken. Schließlich geben sie mit einem kurzen Nicken ihre Zustimmung und Laski fährt fort.
»Wie mir aus einer durchaus verlässlichen Quelle berichtet wurde, hat es Monsieur Mickiewicz nicht nur zu Wege gebracht, den Überfall auf seine Kutsche abzuwenden, sondern auch noch die ältere Tochter der Opalińskis in andere Umstände zu bringen.«
»Der Kerl hat die hässliche Opalińska geschwängert?«, ruft Wielkopolski und beginnt lauthals zu lachen.
»Mademoiselle Ludomila?«, ist Raczynski erstaunt – »Ich hätte diesem Mickiewicz mehr Geschmack zugetraut. Aber was soll man von einem Gelehrten, für den nur der innere Reiz Schönheit ist, auch anderes erwarten?«
Raczynski lässt sich ein parfümiertes Stofftuch reichen. Er beginnt, seinen Hals abzutupfen, während das Gelächter seines Gegenübers langsam abflaut. Laski ergreift wieder das Wort.
»Wenn es also stimmt, dass Monsieur Mickiewicz Vater wird, müssen wir dann nicht berücksichtigen, dass die Mutter seines Kindes einer angesehenen Familie entstammt? Auch wenn die Opalińskis vom Reichsrat geächtet sind, so dürfen wir diese Verbindung nicht außer Acht lassen. Herzog von Olmütz hat sich der beiden Schwestern angenommen und beschützt sie. Ich denke, er steht in Diensten des Marquis oder schuldet ihm eine Gefälligkeit.«
Wielkopolski lässt sich Wein nachfüllen.
»Wir werden die Welt von diesem hässlichen Weib befreien. Nach ihr kräht kein Hahn. Wer war es eigentlich, der die Opalińskis an den König verraten hat?«
Wielkopolski nimmt einen großen Schluck.
»Die näheren Umstände dieses Verrats liegen im Dunkeln«, antwortet Laski – »Wir müssen aber annehmen, dass der Verräter aus dem näheren Umfeld der Familie gekommen sein muss und …«
Laski wird durch das Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Diener meldet Graf Potocki. Die Herrschaften bitten ihn herein.
»Monsieur le comte«, erhebt sich Laski, während die beiden Fürsten sitzen bleiben und dem neuen Gast nur zunicken – »Es freut mich, Euch wieder zu sehen.«
»Ganz meinerseits, Monsieur le comte. Ich komme in einer, mir nicht unwichtigen Angelegenheit.«
Potocki wird gebeten, Platz zu nehmen. Er setzt sich in einen Stuhl, der gegenüber von Laski steht. Potocki holt aus einer Mappe ein Dokument.
»Monseigneurs, Stanislaus Poniatowski, Großschatzmeister von Litauen, hat mich gebeten, auf die geringe Zahl der Reiterei in unseren Reiterkompanien eindringlichst hinzuweisen.«
Wielkopolski schlägt mit einer Hand auf das Sitzpolster.
»Was sagte er letztens über unsere leichte Reiterei?«
»Sie sei ein verwirrter Haufen«, rümpft Raczynski die Nase.
»Ja, ein verwirrter Haufen!«, knurrt Wielkopolski – »Was will er von uns?«
Potocki wartet, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben.
»In der heutigen Sitzung, der 63. Session [ANM], soll nun endlich beschlossen werden, die Reiterkompanien zum Ende des Maimonats auf bis zu 150 Mann zu erhöhen. Für die Rekrutierung dieser Männer, sowie Bereitstellung der Pferde und Ausrüstung, sollen dafür jeweils 4000 polnische Gulden aus der Schatzkammer gezahlt werden. Nun sind aber die Verhandlungen für einen Kredit über zehn Millionen Gulden ins Stocken geraten. Deshalb hat sich nun Bankier Tepver erboten, 100.000 Ducaten ohne Zinsen vorzuschießen.«
Potocki sieht zu Wielkopolski, dann zu Raczynski.
»Was will er dafür?«, knurrt Wielkopolski.
»Er würde sich wünschen, dass man für seine Person das Indigenat erteile und man es seinen beiden Schwiegersöhnen erlaube, Ländereien anzukaufen. Der Großschatzmeister würde es gerne sehen, wenn diese Forderungen so bald als möglich erfüllt werden, Monseigneurs.«
Schweigen.
»Meinetwegen«, seufzt Raczynski.
»Dann soll es in Gottes Namen so sein«, gibt auch Wielkopolski seine Zustimmung – »Woher haben diese Aasfresser so viel Geld?«
Potocki steckt das Dokument wieder in die Mappe.
»Sie wissen, wie man es vermehrt«, antwortet Potocki, ohne Wielkopolski anzusehen, und erhebt sich – »Monseigneurs, Monsieur le comte, ich danke Ihnen für Ihre Zustimmung in dieser so wichtigen Angelegenheit zum Wohle unseres Landes.«
Laski erhebt sich ebenfalls und verabschiedet Potocki sehr höflich. Als die Tür geschlossen wird, setzt sich Laski wieder und streicht seine Kniehose glatt. Wielkopolski sieht zur Tür.
»Diesen Potocki werde ich auch noch wie eine fette Made zerquetschen!«
»Was seid Ihr nur so vulgär, Wielkopolski?«, schüttelt Raczynski abschätzig den Kopf und wendet sich an Laski – »Wir wollten noch die letzten Details unserer Lösung besprechen.«
Laski beugt sich wieder ein klein wenig vor.
»Die beiden Töchter der Opalińskis werden sich nach Frankreich begeben, um Monsieur Mickiewicz und Marquis d’Angélique zu treffen. Wir können davon ausgehen, dass die Heirat in Frankreich vollzogen wird.«
»Heirat?«, überschlägt sich die Stimme Raczynskis.
»So weit wird es nicht kommen!«, knurrt Wielkopolski.
Laski nickt.
»Ja, wir werden es zu verhindern wissen. Aber der Marquis ist ein Fuchs und Meister des Ränkespiels. Über ihn werden wir demnach Monsieur Mickiewicz nicht zu fassen bekommen. Der Weg zu diesem führt nur über die beiden Schwestern. Ich konnte in Erfahrung bringen, dass die beiden zu einem Jagdfest Kardinal Rohans geladen sind. Es wird in zwei Wochen in Haguenau, im französischen Elsaß [ANM] stattfinden. Auch ist mir zu Ohren gekommen, dass Monsieur Mickiewicz in Liebe zu Mademoiselle Madeleine, der jüngeren Tochter der Opalińskis, vergeht. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man sich ihre Schönheit vor Augen führt. Ich bin der festen Überzeugung, wenn Mademoiselle Madeleine an die Tür von Monsieur Mickiewicz klopft, wird er ohne Zögern öffnen und sich zu erkennen geben.«
»Ihr haltet ihn für so unvorsichtig?«
Laski lächelt.
»Die Liebe, Monseigneurs, führt auch den vorsichtigsten Mann blindlings zur Schlachtbank.«
Ivanovitsch Malafeev Dassajew betritt den großen Pferdestall seines Gutshofes. Es riecht nach Mist und Stroh.
»Zeig mir das Pferd, Galkin!«
»Ja, Vater.«
Galkin führt das junge Pferd aus dem Gatter und zu seinem Vater. Dassajew öffnet das Maul des Achatschecken.
»Es ist ein Tartare, Vater«, sagt Galkin, während der unruhige Schecken die Ohren abwechselnd senkt und hebt.
»Wie alt soll das Ross sein?«
»Drei Jahre, Vater.«
»Hat dir das der Händler gesagt?«
»Ja, Vater.«
Dassajew geht um das nervöse Pferde herum.
»Hast du dir die Zähne angesehen?«, fragt Dassajew.
»Das hab ich, Vater.«
»Das Pferd ist sechs Jahre alt. Zumindest. Es hat keine Milchzähne mehr! Ist dir das nicht aufgefallen?«
»Ich dachte, die Backenzähne des Tartaren sind noch Milchzähne und …«
Dassajew bringt Galkin mit einer Geste zum Schweigen und geht an die Seite des Tieres.
»Es ist ein Russe, kein Tartare! Er hat eingefallene Flanken! Hörst du nicht, wie kurzatmig der Gaul ist?«
Dassajew beobachtet, wie das Pferd die Vorderfüße aufsetzt.
»Es fuchtelt!«, schüttelt Dassajew verächtlich den Kopf – »Wir werden den Russen zurückgeben. Bei wem hast du es gekauft?«
»Beim alten Onufry, Vater.«
Dassajew sieht streng zu Galkin.
»Ich habe dir doch verboten, bei ihm zu kaufen.«
»Er machte mir ein gutes Angebot, Vater.«
»Das nennst du also ein gutes Angebot?«, schüttelt Dassajew den Kopf – »Jeder Stallknecht hätte bemerkt, dass dieser Gaul nichts taugt. Jeder Stallknecht! Du bringst ihn morgen zurück!«
»Ja, Vater.«
Dassajew geht, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Stall. Galkin sieht seinem Vater nach, dann führt er den Achatschecken in ein Gatter. Ein Knecht, der Pferdemist aus dem Nebengatter schaufelt, hebt seinen Kopf und stützt sich mit beiden Händen auf die Schaufel.
»’sz Pferdt taugt nit, junger Herr«, kommt es vom Knecht.
Galkin dreht sich zu ihm.
»Sattel mein Pferd!«, fährt er ihn an.
Der Knecht stellt die Holzschaufel zur Seite, holt Galkins Pferd, einen Brauntiger, sattelt es und führt es zu ihm. Galkin nimmt die Zügel.
»Und jetzt mach weiter!«, zischt Galkin dem Knecht entgegen – »Oder ich lass dich wie einen Hund prügeln!«
Der Knecht geht zurück und beginnt wieder zu schaufeln, während Galkin mit seinem Pferd ausreitet. Wenig später kommt eine Magd in den Stall und schlägt dem Knecht auf die Schulter.
»Iszt der gnädig Herr da?«
»Der isz nit da«, dreht sich der Knecht zu ihr und deutet mit dem Kopf zum Achatschecken – »Weiszt, der kleine Galkin, der hat nur Augn für die Hebanowy, vom Onufry. Deszhalb hat er szich ein lahmen Gaul aufschwatzen laszen. Die Lieb macht blind. Der kleine Galkin, dasz iszt ein böszer Bub.«
Der Knecht lacht laut auf. Verfaulte Zähne sind zu sehen. Die Magd schüttelt den Kopf.
»Was erzählszt da, du dummer Hundt? Unszer gnädiger Herr nimmt Galkin mit. Fort gehensz. Wirszt schon szehen, der junge Herr wird unsz alle stolz machn! Er iszt ein guter Bub.«
Der Knecht lacht heiser auf und stellt die Schaufel weg.
»Ich bin auch ein guter Bub, weiszt?«, fasst der Knecht mit seinen schmutzigen Händen an die Brüste der Magd – »Heut szindsz aber weich.«
»Hab den Bengel grad sztillt«, antwortet die Magd und macht sich los – »Musz den gnädign Herrn szuchn! Ein Gaszt iszt kommen.«
»Geh, esz dauert nit lang«, zieht sich der Knecht die Hose herunter.
»Nit jetzt«, verlässt die Magd schnellen Schrittes den Stall.
Der Knecht sieht ihr nach, zieht seine Hose hinauf, nimmt die Schaufel und beginnt wieder, Pferdemist aufzuhäufen. Er blickt zum unruhigen Achatschecken im Nebengatter und spuckt auf den Boden.
»Taugszt einen Dreck, du lahmer Gaul! Wirszt bald vorn Karrn szpannt. Dann wirszt die Peitschn vom Herrn szpürn.«
*
Zwei Tagesreisen von Warschau entfernt, breitet sich vor dem Reiter eine weite, flache Ebene aus. Die Luft ist kühl und feucht, während die Sonnenstrahlen des Februars bereits erahnen lassen, dass der Frühling nicht mehr lange auf sich warten lässt. Das Pferd des Reiters ist ein Rotfuchs, ein leicht geapfelter, ins dunkle Rot gehender Türke mit weißlicher Mähne. Er trägt seine Last ohne Anstrengung und geht im Schritt. Diese kräftige Pferderasse ist ein Abkömmling des persischen Pferdes und vermischte sich einst mit dem tartarischen. Die Tiere sind leicht, von gutem Atem und scheuen keine Strapazen. Der Reiter sitzt locker im Sattel. Neben den Satteltaschen, einer Decke, Wasserschlauch, Pulvertasche und Proviantsack kommen zwei Halfter zum Vorschein. In dem einen steckt eine Flinte mit kurzem Lauf, in dem anderen eine Pistole. Ein leicht gekrümmter Säbel ohne Korb – die Schaschka – steckt in einer hölzernen Scheide und ist über die Schulter geworfen. Der besondere Säbel verrät, dass der Reiter Kosake ist und dem niederen polnischen Landadel angehört. Während des gemächlichen Ritts verändert sich die Landschaft kaum. Felder. Wiesen. Flure. Kleine Waldstücke. Ein Bach, der ohne Mühen durchquert werden kann. Dann und wann kleine Hütten oder notdürftige Holzverschläge der ländlichen BevölkerungANM. Hin und wieder begegnen dem Reiter andere Reisende, zumeist Bauern und Knechte, die armselig gekleidet, ohne Schuhwerk, nur mit Lumpen an den Füßen, in das nächste Dorf gehen oder ihren Esel antreiben, der einen kleinen Karren hinter sich herzieht. Die Bauern bleiben stehen, ziehen ihre Hüte, senken ihre Köpfe und warten, bis der Reiter an ihnen vorbeigetrabt ist. Aber der Reiter nimmt diese Unterwürfigkeitsrituale mit keiner Geste zur Kenntnis. Nach einer Stunde gemächlichen Ritts erreicht er eine Abzweigung und schlägt den Weg nach Buchin ein, zum Gutshof der Dassajews. Beim großen Herrschaftshaus angekommen, steigt er von seinem Pferd. Ein junger Knecht kommt zu ihm, senkt seinen Kopf und wartet, bis ihm die Zügel in die Hand gegeben werden. Während der Rotfuchs zur Tränke geführt wird, streift sich der Reiter die ledernen Handschuhe ab und klopft sich den Staub der Landstraße von der Hose. Die Frau des Hauses tritt mit einer Magd vor die Tür und besieht sich den Neuankömmling.
»Jemeljan Aljechin!«, ruft die Frau erfreut und breitet die Arme aus – »Mein guter Jan!«
»Agnieszka!«, lacht Aljechin.
Sie umarmen sich.
»Wie geht es meinem großen Bruder?«, löst sich Agnieszka.
»Der übliche Gang der Welt, Schwester. Wer eine große Familie hat, hat vielerlei Verpflichtung. Mein Eheweib ist brav und liebt ihre Kinder über alles. Meine vier Söhne werden bald ein Alter erreicht haben, da sie auf eigenen Füßen stehen können und die drei Mädchen sind bereits versprochen und werden in den nächsten Sommern den Hof verlassen.«
Agnieszka sieht ihren Bruder eine Weile zärtlich an, dann senkt sie ihren Blick.
»Wie lange werdet ihr diesmal fortbleiben?«
»Ich weiß es nicht. Was bekümmert dich, Schwester?«
»Es geht mir um Galkin, unseren jüngsten Sohn. Ivanovitsch möchte ihn auf die Reise mitnehmen, aber er ist noch so jung und verträumt. Ich bitte dich, Bruder, sprich mit Ivanovitsch, wirke auf ihn günstig ein, so dass ich meinen Jüngsten noch einen Sommer bei mir haben darf.«
Aljechin zögert mit der Antwort. Agnieszka nimmt Aljechins Hand in die ihre.
»Nur einen Sommer, mein Bruder, nur einen Sommer.«
»Wenn es der Wille des Vaters ist, werde ich nicht das Wort gegen ihn richten, Schwester!«
Agnieszka blickt bittend in seine Augen. Aljechin streicht nachdenklich um seinen aufgezwirbelten Schnauzbart.
»Gut. Ich werde mit ihm reden.«
»Ich danke dir, Bruder!«, küsst sie seine Hand – »Und jetzt komm in die Stube. Der alte Dassajew möchte dich sehen.«
Agnieszka gibt der Magd die Anweisung, Ivanovitsch zu suchen und ihm mitzuteilen, dass Besuch gekommen ist. Die Magd nickt und geht davon.
*
Agniezska führt ihren Bruder in die Stube, wo der Älteste der Dassajews auf der Bank sitzt und seine Pfeife schmaucht. Der alte, dickbäuchige Dassajew trägt seinen weißen Haarkranz, sowie seinen silbrigen, mächtigen Schnurrbart, dessen Spitzen bis zu den Schultern herunterhängen, mit sichtbarem Stolz. Eine rote Knollennase wird umrahmt von gut durchbluteten Wangen, buschigen Augenbrauen und dunklen Augen, die von einer unerschütterlichen Kraft und Zähigkeit und von seinen Vorfahren erzählen, die die Steppen beritten und keinen Kampf scheuten. Die Dassajews, genauso wie die Aljechins, entstammen Kosakenfamilien, die sich westlich des Dneprs ansiedelten und vom polnischen König in seinem Reich aufgenommen wurden. Sie sollten als Vormauer das polnische Kernland gegen die russischen, türkischen und tartarischen Heere schützen. Für diesen Dienst erhielten sie Subsidien in Form von Ländereien an der Ostgrenze Polens und gehörten damit dem polnischen Kleinadel an. Aber mit den Jahren kamen diese Ländereien unter den Einfluss der Magnaten. Diese mächtigen polnischen Fürsten herrschen in ihren weitläufigen Provinzen uneingeschränkt und absolut. Sie dulden weder die Bevormundung ihres Königs, noch den Ungehorsam ihrer Untertanen. Die Aljechins und Dassajews sind Freie, müssen aber Dienst für ihren Magnaten tun. Ihre Urgroßväter haben diesen ihr Wort gegeben. Und die Söhne der Söhne halten ihr Wort. Als der alte Dassajew Aljechin begrüßt, bricht diese unbeschreibliche Lebensfreude in dem alten Mann aus. Er lacht aus vollem Herzen und trägt Agnieszka auf, dem Gast sofort ein besonderes Mahl zu reichen. Agnieszka gießt aus einem Krug die Ziegenmilch in tönerne Becher, schneidet mehrere Scheiben vom dunklen Brot und schöpft die kalte Rote-Rüben-Suppe in die Holzteller. Während Aljechin ausgiebig isst und trinkt, wird er immer wieder vom alten Dassajew angehalten, von seinen Söhnen und ihren Pferden zu erzählen und ob sie ihm Ehre machen, und ob sie schon ordentlich mit der Schaschka umgehen können, und ob sie – vor allem! – mit der Lanze vertraut sind. Aljechin gibt ausführlich Antwort.
*
Ivanovitsch Malafeev Dassajew und Jemeljan Aljechin verlassen den Gutshof, schlendern den kleinen, schmalen Zufahrtsweg, der zur Landstraße führt, entlang. Obwohl es merklich kühl ist und der Wind unangenehm in die Kleidung fährt, scheint es die beiden nicht sonderlich zu stören. Knechte und Mägde senken ihre Köpfe und warten, bis die gnädigen Herren vorbei sind. Die beiden kommen zu einem großen Gemüsegarten, der von einer Steinmauer umfasst ist, setzen sich auf die hüfthohe Mauer und holen ihre Pfeifen aus den Taschen.
»Wielkopolski möchte uns sehen«, sagt Dassajew – »Wir reiten morgen bei Sonnenaufgang von hier los.«
»Wie lang sind wir fort?«, stopft Aljechin den Tabak in der Pfeife fest.
»Vier Wochen. Vielleicht länger.«
»Reiten wir allein?«
»Nein«, entzündet Dassajew den Tabak in seiner Pfeife – »Fünf Männer kommen mit uns. Wielkopolski hat sie ausgesucht.«
»Können wir ihnen trauen?«
»Man wird sehen«, antwortet Dassajew und sieht kurz in Richtung seines Hofes – »Ich werde meinen Jüngsten mitnehmen. Es wird Zeit für Galkin, sich zu beweisen.«
»Agnieszka glaubt, dass er noch nicht so weit ist.«
»Mein Entschluss steht fest. Er kommt mit und wird mir und meinen Ahnen Ehre machen.«
»Gut«, sagt Aljechin und bringt ebenfalls den Tabak zum Glühen – »Ich werde ein Auge auf ihn haben.«
»Sollte dir Galkin nicht den nötigen Respekt erweisen, bitte ich dich als Freund, ihn zu bestrafen.«
»Du hast mein Versprechen«, nickt Aljechin.
Beide beginnen an ihren Pfeifen zu paffen. Ein Hase läuft über den Acker. Ein Fuchs verfolgt ihn. Der Hase schlägt Haken. Einen. Zwei. Drei. Vier. Dann verschwinden die beiden im Unterholz eines kleinen, dunklen Waldstücks.
»Der alte Dassajew spricht noch immer nicht mit dir?«, fragt Aljechin.
»Kein Wort.«
Dassajew nimmt einen kräftigen Zug von der Pfeife. Beide blicken schweigend über die Felder und zum kleinen, dunklen Waldstück.
Madeleine, die jüngere Tochter der Opalińskis, zieht den Hahn der Pistole zurück, legt an, sieht über den Lauf der Pistole hinweg und nimmt ihr Ziel sorgsam ins Visier: Eine Vogelscheuche aus Stroh, über die ein weißes Laken geworfen ist. Mehrere Einschusslöcher sind zu sehen. Madeleine atmet ruhig und wartet. Dann, als sie den richtigen Moment spürt, zieht sie mit dem Zeigefinger am Abzug. Der Hahn löst sich und schnellt nach vor, entfacht das Zündkraut und bewirkt augenblicklich die Explosion der Treibladung. Die Bleikugel durchschlägt das weiße Laken und bleibt im Stroh stecken. Madeleine lässt die Pistole langsam sinken. Es riecht nach verbranntem Schießpulver. Major Haddengast, ein Offizier der Englischen Krone im mittleren Alter, geht an Madeleines Seite, nimmt ihr die Pistole aus der Hand und reicht ihr eine geladene. Dann geht er zwei Schritte zurück und wartet. Auf den Schuss. Der keine Minute später erfolgt. Die Bleikugel durchschlägt erneut das Laken und verfängt sich im Stroh. Haddengast nimmt Madeleine die leer geschossene Pistole ab.