Amanda Sthers
Schweine züchten
in Nazareth
Roman
Aus dem Französischen
von Karin Ehrhardt
Luchterhand
Die Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel »Les terres saintes«
bei Éditions Stock, Paris.
© 2010 Éditions Stock, Paris
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-06219-4
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Für Mathieu
»Frieden ist nicht so sehr ein Ausgleich von politischen Interessen als vielmehr einer von Hintergedanken.«
Unbekannter Kriegs-Stratege
Harry Rosenmerck an Rabbi Moshe Cattan
Nazareth, 1. April 2009
Sehr geehrter Rabbi,
seit ich beschlossen habe, nach Israel zu ziehen, um Schweine zu züchten, habe ich alle Ihre Instruktionen befolgt. Ich habe die Tiere auf Pfahlkonstruktionen untergebracht, wie bei den Hawaiianern, direkt über dem Meer. Nie hat auch nur ein Schweinefuß das Heilige Land betreten und wird es auch in Zukunft nicht tun. Es sei denn, Sie erklären sich damit einverstanden, sie für die Jagd auf Terroristen zu verwenden. (Im Übrigen habe ich in der New York Times des letzten Monats einen Soldaten der israelischen Streitkräfte mit einem Schwein an der Leine gesehen und, ganz ehrlich, ich finde, das macht unseren Ruf als hartgesottene Kerle kaputt!)
Ich bin ein Mann, der die Religion respektiert, auch wenn ich sie kaum praktiziere, und nie hatte ich die Absicht, Sie zu kränken.
Daher finde ich Ihren Brief ein wenig hart, und mich als »Hundesohn« zu beschimpfen, wird nichts an der Tatsache ändern, dass sich die israelischen Juden weiterhin mit Bauchspeck vollstopfen und dass ich ihn ihnen weiterhin verkaufe, in einem einzigen Restaurant in Tel Aviv übrigens. Ich für meinen Teil esse so was nicht, das ist mir zu viel Fett für meinen auch so schon überhöhten Cholesterinspiegel, und ich versuche ja auch nur, über die Runden zu kommen. Wenn ich ihnen kein Schweinefleisch verkaufe, werden sie es sich bei einem Goi holen. Die Eier mit Speck stehen auf der Speisekarte, Sie werden nichts daran ändern können. Die Leute finden das schick, wie Poule au pot oder Froschschenkel …
Wie ging nochmal diese Geschichte mit Schweineblut, Herr Rabbi? Erinnern Sie sich noch an die glorreiche Idee, das in Beutel abgefüllte Blut in städtischen Bussen verteilt aufzuhängen, damit die Terroristen, die sich in die Luft sprengen möchten, damit besprenkelt und unrein würden, auf dass das Paradies mit seinen zweiundsiebzig Jungfrauen ihnen verwehrt werde?
Wenn Sie es für mich hinbekämen, einen Vertrag mit den öffentlichen Verkehrsbetrieben an Land zu ziehen, müsste ich keinen Schweinespeck mehr verkaufen müssen.
Ich hätte gedacht, dass gerade Sie, mit Ihren politischen Ansichten, die sich von denen der anderen Rabbiner so wohltuend unterscheiden, und mit Ihrer geistigen Offenheit, Verständnis für mich hätten.
Kurzum, ich hätte Ihnen tausend Dinge zu sagen, die nichts mit Schweinezucht zu tun haben, aber ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, daher werde ich Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen und möchte hiermit erneut meinem tiefsten Respekt Ausdruck verleihen,
Harry Rosenmerck
Rabbi Moshe Cattan an Harry Rosenmerck
Nazareth, 3. April 2009
Sehr geehrter Herr Rosenmerck,
entweder halten Sie mich für einen Idioten oder Sie sind selbst einer. Es könnte auch sein, dass beides zutrifft und Sie von einer der beiden Tatsachen gar nichts wissen. Können Sie mir folgen?
Ach, Herr Rosenmerck!
Kommen Sie doch mal bei mir vorbei. Wir werden uns über den Talmud unterhalten und ich bringe Ihnen den Glauben zurück, der anscheinend einer merkantilen, ultra-kapitalistischen Gläubigkeit gewichen ist. Ich werde Ihnen Punkt für Punkt in aller Kürze antworten, denn das Pessachfest rückt näher und ich habe viel zu tun.
1. Wenn jeder so denken würde wie Sie, gäbe es keine Moral mehr. Kein Gut mehr, kein Böse. Die Möglichkeit, dass ein Anderer Speck an USAVIV, dieses Restaurant für Degenerierte, verkaufen würde, befreit Sie nicht von dieser Sünde. Wenn Sie in einem Raum sind, in dem sich ein vor Hunger sterbendes Kind befindet, in Gesellschaft von neun weiteren Menschen, und Sie essen sein letztes Stück Brot – dann können sie sich nicht damit rausreden, dass es sonst einer dieser Neun getan hätte: Sie waren es, SIE allein, der dieses Kind getötet hat.
2. Seit Langem schon glauben diese armen Palästinenser, die sich in Bussen voller Schulkinder in die Luft sprengen, an nichts mehr und noch weniger an Jungfrauen, die sie im Paradies erwarten würden. Sie bezahlen ganz einfach mit ihrem Leben die Versorgung ihrer Familien, dass sie ein anständiges Dach über dem Kopf haben und sich satt essen können.
Sie können Ihr Schweineblut behalten. Besser wäre es, die Steine aus unserer Trennmauer herauszubrechen. Nicht, um sie uns gegenseitig an den Kopf zu werfen, sondern um den Menschen anständige Häuser zu bauen.
3. Wenn Israel Wert darauf legen würde, was die NY Times und die anderen so denken, hätte es sich schon herumgesprochen. Wir sind das meistgehasste Land auf der Welt, manchmal zu Recht, manchmal, weil es eben so ist. Wir wollen nicht um jeden Preis gefallen oder für etwas gehalten werden, was wir nicht sind. Die Schweine sind recht nützlich für die Armee. Sie haben einen außergewöhnlichen Geruchssinn, und die Palästinenser, die in der Öffentlichkeit von einem Schwein berührt worden sind, können nicht mehr geopfert werden. Wir pfeifen auf das Bild, das die Soldaten mit den Schweinen abgeben.
Ich erwarte Sie in der Jeschiwa, dann können wir weiterreden. Waschen Sie sich vorher, um Himmels willen.
Der Ihre,
Rabbi Moshe Cattan
David Rosenmerck an Harry Rosenmerck
Rom, 1. April 2009
Papa,
ich höre nicht auf dir zu schreiben, auch wenn du schweigst. Um die Verbindung nicht abbrechen zu lassen. Um nicht eines Tages einem Fremden, der mein Vater wäre, gegenüberzustehen. Um dich nicht zu vergessen.
Bist du immer noch wütend auf mich? Wegen dieser kleinen Erklärung. Dieses kleinen Satzes, der meine Existenz verändert hat, aber doch nicht deine. Ja, ich liebe Männer. Im Übrigen sollte ich sagen, »einen« Mann. Ich habe eine Liebesbeziehung, Papa. Willst du nicht den Mann kennenlernen, der deinen Sohn glücklich macht? Willst du nicht mit mir reden, mich lachen hören?
Es ist seltsam, je seltener ich dich sehe, desto ähnlicher werde ich dir. Ich suche dich in meinen Spiegeln. Ich habe deine Haare. Die Wärme deiner Hände auf meinen, sogar im tiefsten Winter. Ich ertappe mich dabei, Rollkragen zu tragen, die ich als Kind gehasst habe und die du ständig getragen hast, als wir noch in London gelebt haben. Seitdem ich mir den Bart wachsen lasse, ist auf meiner Wange die gleiche babyglatte Stelle wie bei dir zu sehen.
Ich lege ein Foto bei.
Ich hoffe, du bist mit dieser komischen Geschichte glücklich. Wenn man bedenkt, dass ich nie ein Haustier haben durfte! Nicht einmal einen Goldfisch, du wolltest es nicht. Und jetzt bist du auf einmal Viehzüchter. Hast du Angestellte? Wie viele Schweine hast du? Sag mir nicht, dass du dich selbst um sie kümmerst. Trägst du Gummistiefel und Latzhosen? Mama sagt, du hättest kein Telefon. Ich glaube ihr nicht. Ich würde mich sowieso nicht trauen anzurufen. Das Schweigen auf Papier tut weniger weh. Wir sind nun alle voneinander getrennt. Mama, Annabelle, du und ich. Ich bin ein Puzzleteil auf dem falschen Kontinent. Oder vielleicht bist du es?
David
Monique Duchêne an Harry Rosenmerck
Paris, 2. April 2009
Lieber Ex-Ehemann und trotz allem Vater meiner Kinder,
ich will mich kurz fassen und dabei möglichst präzise sein. Du bist ein unverbesserliches Arschloch. Dein Sohn hat dir Hunderte von Briefen geschrieben, und du hast nicht einen von ihnen beantwortet.
Wenn du nur sehen könntest, was für einen Erfolg er bei den Premieren seiner Stücke hat, die Menschen, die begeistert applaudieren. »Ein Autor mit Genie«, das titelte La Repubblica nach der Vorstellung in Rom letzte Woche. Und er? Glaubst du, er hätte auch nur gelächelt? Nein. Den ganzen Abend, wie jedes Mal, hat er zur Tür geschaut statt auf die Bühne. Und gehofft, dich eintreten zu sehen.
Schrei ihn an! Streitet miteinander! Alles wäre besser als dein verdammtes Schweigen!
Andererseits möchte ich mich bei dir bedanken: Seitdem du die Schweinezucht aufgemacht hast, bin ich bei allen Pariser Diners mit von der Partie. Mit dieser Geschichte mache ich richtig Furore. Ich bin jedoch nicht gänzlich davon überzeugt, dass dies dem Antisemitismus den Garaus macht! Schweine als Terroristen-Spürnasen. Ha, ha! Wenn ich bedenke, dass ich deinetwegen konvertiert bin, und nun so was!
Erinnerst du dich an unser erstes Diner bei Cochonek? Wie gräbt man eine Goi an?
Meine Geschäfte laufen gut. Ich habe neue spannende und gut dotierte Fälle. Dem Herrn sei Dank, bei dem mickrigen Unterhalt, den ich von dir bekomme …
Habe ich dir schon erzählt, dass die alte Ziege Marine Duriet wieder geheiratet hat? Einen Russen. Keinen Juden. Einfach nur einen Russen. Und sie hat sich liften lassen; wenn sie lächelt, macht es krack.
Hast du Neuigkeiten von Annabelle? Das klingt hübsch: »des nouvelles d’Annabelle«, das könnte auch der Titel eines von Davids Stücken sein. Mir erzählt sie ja nichts. Ich glaube, sie ist traurig. Sie kommt bald aus New York zurück. Und beendet dann vielleicht ihr verflixtes Studium! Mehr als zehn Jahre Studium! Nach dem MBA will sie auch noch den Doktor machen … Wozu soll das gut sein? Sie soll uns endlich ein paar Enkelkinder machen!
Schreib deinem Sohn, ja? Sein Freund ist wirklich nett, by the way. Und benutze ein Telefon!
Monique
Harry Rosenmerck an Monique Duchêne
Nazareth, 6. April 2009
Liebe Monique,
das nennst du kurz? Dein Brief ist zwei Seiten lang, und du nervst.
Harry
Annabelle Rosenmerck an Harry Rosenmerck
NY, 10. April 2009
Lieber Papa,
ja, du hast recht, ich habe lange nicht geschrieben, verzeih mir … ich weinte, ich weinte um mein armes wundes Herz … Ich kann nicht glauben, dass Tränen, die verdunsten, an den gleichen Ort kommen wie das Meerwasser, der Regen oder das Wasser aus der Kloschüssel. Ich wünschte, es gäbe Fachärzte für Traurigkeit. Ich meine nicht Psychotherapeuten oder Akupunkteure oder sonstige Gurus. Richtige Ärzte, die den Herd der Traurigkeit aufspüren und ihn desinfizieren. Zuerst würde es weh tun. Dann würden sie ihn mit einer Art Paste bedecken, rosa wie Bonbons oder Mäusespeck für noch zahnlose Kinder, und statt mir würde die Traurigkeit ersticken. Und dann würde die Wand Risse bekommen und nicht mehr sein Gesicht haben und die Spiegel nicht mehr meins. Und ich würde den Liebeskummer-Arzt bezahlen, ich würde ihm alles geben, was er verlangt. Und ich würde meine Schuhsohlen aus Blei vor seiner Praxis abstellen, wie ein vergessenes Hollandrad. Die rosa Paste würde die Traurigkeit nicht auslöschen, es geht nicht darum, sie zu beseitigen, sondern darum, etwas Schönes daraus zu machen, Erinnerungen, über die man lachen kann.
Ich kann nur mit dir über meinen Herzschmerz reden. Mama will meine Freundin sein und David ist einfach zu schwul. Erinnerst du dich an den ersten Jungen, der mich traurig gemacht hat? Ich war etwa vier. Er mochte Esmeralda lieber. Ich hatte zu ihm gesagt: »Ich liebe dich, Didier, ich möchte deine liebste Freundin sein«, und er hatte mir geantwortet: »Ich mag Esmeralda lieber.« Das scheint die Geschichte meines Lebens zu sein. Dass hinter jeder Tür, die ich schüchtern öffne, sich eine Esmeralda verbirgt, bereit herauszuspringen wie ein Schachtelteufel.
Ich lief aus dem Kindergarten ins Freie. Ohne zu weinen. Ich hatte abgewartet, bis die anderen Kinder mich nicht mehr sehen konnten. Dann habe ich dir von meinen Liebeswunden erzählt und mir an deinem Hemd den Rotz abgewischt. Du hast mich getröstet, ohne viele Worte, ich vertilgte eine Waffel mit Puderzucker und dann haben wir im Auto gesungen.
Hier ist es kalt. Man könnte glauben, dass der Frühling gar nicht mehr kommen will. Er wartet vielleicht auf mein Lächeln, und ich, ich warte auf den Frühling.
Ich habe meine alten Gewohnheiten wieder aufgenommen. Ich mache Fotos, immer und überall. Anbei eine verwackelte Aufnahme. Und doch ist da irgendein Zauber. Dieses Foto, für mich ist es die Kindheit.
Wie geht es den Schweinen? Wenn du ein Telefon hättest, wäre es ein wenig einfacher, meinst du nicht auch? Wenn du an Schweinegrippe stirbst (ich weiß, hat nichts miteinander zu tun), wer wird mich dann benachrichtigen?
Ich drücke dich,
deine Tochter,
Annabelle
Harry Rosenmerck an Rabbi Moshe Cattan
Nazareth, 12. April 2009
Sehr geehrter Rabbi,
ich kann nicht in Ihre Jeschiwa kommen. Es ist nichts Persönliches, glauben Sie mir, aber ich habe so lange gebraucht, bis ich mir einen Farbfernseher leisten konnte, dass es mir jetzt schwerfällt, das Leben in Schwarzweiß zu sehen.
Man hat mich in der Schule als dreckigen Juden beschimpft. Da war ich fünf. Ich glaube nicht, dass meine Mutter das vorher mal erwähnt hatte. Ich war ein kleiner Junge, ihr Junge, aber jüdisch, ich hatte keine Ahnung, was das war. Ich bin nicht beschnitten worden, um nicht aufzufallen, wenn ich nackt bin. Man hat mir Deutsch beigebracht, damit ich in der Sprache des Feindes zurechtkomme und darüber hinaus, um die Philosophen im Original lesen zu können. Jude? Gewiss bin ich das. Gezwungen, mich euren uralten Ängsten zu unterwerfen und mit Frauen mit Perücken zu tun haben zu müssen, und mit euren schwarzen Gewändern und den Bärten, die bei dreißig Grad Hitze in diesen ersten Frühlingstagen schweißig glänzen, nein danke.
Ich danke Ihnen dennoch für Ihren Rat, mich zu waschen. Schweine zu züchten macht aus mir noch lange keins von ihnen, Ihr Mangel an Taktgefühl schon eher.
Wenn Sie über Schweine reden oder mir die Tefillin anlegen wollen, müssen Sie schon zu mir kommen. Oder vielleicht könnten wir uns auf einen Kaffee in der Stadt treffen?
Wenn man aus der Religion sein Leben macht, was weiß man dann vom Leben? Kommt es vor, dass Sie über Gefühle, über Ärger, Wut, Liebe sprechen und Gott dabei außen vor lassen?
Ich glaube nicht. Wie schade!
Mit dem höchsten Respekt, natürlich,
Harry Rosenmerck