Christine Westendorf
Liebeskind
Christine Westendorf
Liebeskind
Krimi
editionfredebold
fredebold&partner gmbh
schaafenstraße 25, 50676 köln
Copyright © 2008 fredebold&partner gmbh
Originalausgabe: „Liebeskind“
Titelabbildung: Getty Images, München
Leoni, Köln
Autorenfoto: © 2006 Dagmar Bressel
Umschlaggestaltung: Roland Pecher, Köln
Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln
ISBN (epub) 978-3-939674-69-6
ISBN (eBook pdf) 978-3-939674-70-2
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Die Figuren und deren Namen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
Für Matthias und für Felix
„Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, weil man es immer vor Augen hat)“.
Ludwig Wittgenstein
Elsa in Maschen, am letzten Tag der Sommerferien im August 1987.
Die anderen lachten, aber als Elsa sich ihnen zuwandte, hörten sie sofort damit auf. Ein aprikosengroßer Fleck machte sich auf ihrer rechten Gesichtshälfte breit. An den Rändern war er schartig ausgefranst, seine kraterhafte, rote Oberfläche ließ Elsa immer an Pockennarben denken. Auch schien er ihr noch viel größer zu sein, als er in Wirklichkeit war. Wenn sie sich in den Fenstern irgendwelcher Häuser betrachtete, kam ihr in den Sinn, alle Menschen um sie herum hätten ihre Spiegel gegen solche ausgetauscht, die verkleinerten, beschönigten. Aber in Wahrheit stimmte das nicht, dieses Mal bedeckte nahezu ihr ganzes Gesicht. Machte nur Halt vor der kartoffelartigen Nase und der Partie darüber, mit dem unter einem Schlupflid blitzenden, katzengrünen Auge. Zum Abschied schaute Elsa noch einmal verächtlich zu ihnen hinüber, jetzt lachte auch sie, ein Krächzen kam aus ihrem Mund.
Das hier war also das Ende. Schon morgen wäre sie in einer anderen Schule, weit fort. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass diese Geschichte einfach so aufhören würde. Sie ging den Weg zur Siedlung hinunter, und während sie ging, fühlte sie die Augenpaare der anderen heiß in ihrem Rücken. Ihre schwarzen Schuhe mit den hohen Absätzen, nur mühsam kam sie darin auf den ausgetretenen Steinen voran. Eben noch meinte Elsa, ein Gefeixe hinter sich gehört zu haben, doch da war nichts als ihre widerhallenden Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. In früheren Zeiten hätte sie sich keine Sorgen um ihren Lebensunterhalt zu machen brauchen, das Mal hätte ihre Existenz gesichert. Als Monstrum – zur Schau gestellt auf der hölzernen Bühne eines Kuriositätenkabinetts. Sie wäre die Attraktion gewesen auf dem Jahrmarkt, bestimmt hätte sie dort auch einen Freund gefunden. Ein unvergleichliches Paar wären sie gewesen – das Mädchen mit dem Feuermal und der Elefantenmensch.
Rainer Herold rieb sich die Augen und gähnte. Hinter ihm lagen viele Flugstunden von New York nach Hamburg, vor ihm ein wichtiger Geschäftstermin. Dazwischen lag Maschen. Er sah aus dem Fenster auf die ordentlich geharkten Wege, kein Grashalm wuchs, wo er nicht hingehörte. Maschen, das Kaff, wie sehr er es doch verachtete. Und seine Eltern lebten noch immer in diesem Haus, von dessen oberem Stockwerk er nun in die Nachbargärten hinunterschaute und in dem er vor fünfunddreißig Jahren geboren worden war. Gerade eben hatte er die beiden ziemlich kurz abgefertigt, trotzdem empfand Rainer keine Reue. Sie würden damit umgehen müssen, dass er erst einmal seine Ruhe haben wollte. Er saß auf der Bettkante in seinem alten Zimmer und starrte auf die Glasvitrine mit den Sportpokalen. Immer würden sie die Zeugen einer erfolgreichen Jugend bleiben. Seine Eltern hatten alles so gelassen, wie es gewesen war, bevor er fortging. Warum eigentlich? Rainer war zu müde, um ernsthaft darüber nachzudenken. Er ließ sich von der Bettkante auf die Daunendecke zurückfallen und schlief sofort ein.
Es war bereits dunkel, als er aufwachte. Schnell sprang er aus dem Bett, zog sich den an den Rändern ausgefransten, blauen Bademantel mit dem goldbestickten Klubabzeichen über und lief die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Seit er die Tür zu seinem Apartment in New York hinter sich zugeschlagen hatte, lag der Duft von Sauerbraten in der Luft. Seine Mutter und ihr Sauerbraten; kochen konnte sie wirklich. Dafür lohnte sich der weiteste Weg.
Auf dem letzten Treppenabsatz angekommen, stolperte er über seine Laptoptasche, die noch immer dort lag, wie er sie vorhin fallen gelassen hatte, und stieß sich den Fuß an der Bodenvase. Unten war es dunkel. Es roch auch nicht nach Essen. Fluchend rieb er sich seinen großen Zeh, machte Licht und fand schließlich einen Zettel auf dem Küchentisch. „Lieber Junge, wir sind heute Abend bei Schultes eingeladen und wollten dich nicht stören. Falls du Hunger hast, im Kühlschrank ist Heideschinken. Die Butter und das Schwarzbrot findest du, wie immer, in der Speisekammer. Bis nachher – Mama.“
Er zerriss das Blatt, dann warf er die Schnipsel in den Mülleimer. Da flog er um die halbe Welt, fairerweise musste er eingestehen, nicht nur, um seine Eltern zu besuchen, und dann waren die beiden einfach ausgegangen. Sie hatten nichts Besseres zu tun gehabt an diesem Abend, als den senilen Schulte und seine ewig nörgelnde Frau zu besuchen. Nachbarn, die sie sowieso täglich sahen. Sein Magen meldete sich wieder, doch die Aussicht auf ein paar belegte Brote machte seine Gier nach einer warmen Mahlzeit nur noch schlimmer. Nein, er würde nicht hier herumsitzen und warten, bis sie geruhten zurückzukommen.
Rainer Herold zog den Mantelkragen hoch, als er in den bedeckten Winterhimmel starrte. Während seine Augen die Sterne suchten, lehnte er sich für einen Moment an die Hauswand. Er bemerkte nicht, wie sich dabei eine Spinnwebe auf seinen Kopf legte, ein Überbleibsel des vergangenen Altweibersommers. Jetzt hing ein Teil davon vor seinem Auge herum. Hastig fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und sah den Rest des Gespinsts an seiner Hand kleben. Die gesponnenen Fäden waren mit Leichenteilen irgendwelcher Insekten durchsetzt, schwierig, das Zeug an seiner Hose abzuwischen. Rainer schüttelte sich. Wenn er etwas nicht leiden konnte, waren es von jeher Spinnen gewesen. Ein scharfer Wind schlug ihm entgegen, scheißkalt und nass war es hier, wie immer. Als er die Tür zum Gasthof öffnete, umfing ihn sogleich ein vertrauter Geruch von Schweinebraten, Rotkohl und Provinz. Neben dem Eingang stand der schmiedeeiserne Schirmständer, an der gegenüberliegenden Wand, wie früher, der alte Zigarettenautomat. Wenn er nur daran dachte, wie viel er gesehen und erlebt hatte, seit er zuletzt in Deutschland gewesen war. Doch hier, in dieser Kneipe, war gar nichts passiert. Allein die nordische Schneelandschaft hatte einen neuen, kitschig blauen Rahmen bekommen.
Er suchte sich einen Tisch, von dem aus er die gesamte Gaststube gut im Blick hatte. Die Kellnerin kam auf ihn zu, und er bestellte das Stammessen und ein großes Bier. Sie hatte Rainer nicht erkannt, dabei waren sie früher einmal in dieselbe Schule gegangen. Ob das an den paar Pfunden mehr lag, die er mit der Zeit angesetzt hatte? Nein, es konnte nur seine Ausstrahlung sein, die ihn tarnte. Der Geruch des Erfolges, den die Leute hier nicht kannten. Er war eigentlich keiner, der mit Kellnerinnen und Handwerkern die Bank gedrückt haben konnte. Zu ihm passte ein Lebenslauf mit entsprechenden Internaten in der Schweiz, nicht dieses Nest. Und doch war Rainer Herold genau hier aufgewachsen.
Elfi, die Kellnerin, hatte gerade sein Glas vor ihn hingestellt, und Rainer nahm den ersten großen Schluck. Mit dem nächsten Zug leerte er es gierig. Er hatte sich keine Zeit gelassen, wirklich etwas zu schmecken. Er wusste, dass es gut war. Zufrieden wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und begann, sich wirklich zu Hause zu fühlen. Das war eines der wenigen Dinge, die er in den Staaten ernsthaft vermisste; ein ehrliches Bier. Mochte es in Deutschland auch stickig zugehen, hier verstanden sie etwas davon. Er spürte, wie der Alkohol in seinem Körper zu wirken begann und sich jene wohlige Wärme ausbreitete, die er so angenehm fand.
Träge ließ er den Blick durch die Gaststube schweifen. In einer Ecke, ganz in der Nähe des Eingangs, saßen ein Mann und eine Frau um die siebzig und schwiegen sich an. Die beiden warteten auf ihr Essen, das offensichtlich schon lange auf sich warten ließ. Der Gesprächsstoff war ihnen ausgegangen, und so konnten sie nichts weiter tun, als einander zu ignorieren.
Rechts von ihm hatte es sich eine Familie gemütlich gemacht. Mutter, Vater und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, so um die zehn, elf Jahre alt. Die Frau hatte, obwohl sie vielleicht gerade einmal dreißig war, bereits die Matronenhaftigkeit älterer Tanten an sich, was durch die fleischige Form ihres Körpers und die nachlässige Kleidung mit den schief abgelaufenen Absätzen unter ihren Schuhen noch unterstrichen wurde. Zusätzlich fingen die Kinder jetzt auch noch an, miteinander zu streiten, und Rainer warf dem Mann einen mitleidigen Blick zu.
Der Stammtisch neben dem Tresen war verwaist, wahrscheinlich fand im Nachbarort gerade eine Sitzung des Taubenzüchtervereins statt. Lächerlich, der verschnörkelte Aschenbecher unter diesem massiven Metallgestell. In seiner Mitte baumelte eine Messingglocke, darüber hing ein weiß emailliertes Schild. In großen schwarzen Buchstaben warnte es den unbedarften Gast davor, sich hier einfach so niederzulassen. Und dann Alfred, der Wirt. Ein blasser Mann, der zu geifern anfing, sobald sich ein fremder Rock in sein Revier verirrte. Ob er wohl noch mit Marion verheiratet war? Wenn ja, hatten die beiden heute wahrscheinlich gemeinsame Kinder, mindestens fünf an der Zahl. Rainer konnte Alfreds Gören vor sich sehen, entsprechend ihrer Größe hintereinander aufgereiht wie die Orgelpfeifen, alle mit dem gleichen blassen Gesicht und dem fliehenden Kinn des Vaters wie wahrscheinlich auch der Dummheit ihrer Mutter ausgestattet. Und der älteste Sohn würde irgendwann den Gasthof übernehmen. Genau, wie Alfred es getan hatte. Die anderen Jungen würden ein Handwerk erlernen müssen. Dann könnten sie später, mit etwas Glück, in eine Klempnerei einheiraten oder in die Familie eines Fleischermeisters. Mit den Töchtern aber würde Alfred noch seine wahre Not haben und die eine oder andere Kuh verschenken müssen, damit sich ihrer einer erbarmte. Wenn doch nur endlich das Essen käme.
Rainer starrte aus dem Fenster, als die Eingangstür geöffnet wurde und zusammen mit der Kälte und Nässe des trüben Novemberabends eine Frau hereinkam, die ihm den Atem raubte. Sie war schön. Zögernd durchquerte sie die Gaststube und setzte sich auf einen Barhocker an den Tresen.
Von seinem Stuhl aus konnte er gerade noch die Konturen ihres ausdrucksvollen Gesichtes sehen. Dazu dieses sympathische Lächeln, das Alfred traf, als sie bestellte. Schlagartig war jegliche Müdigkeit aus seinem Körper gewichen. Fasziniert beobachtete Rainer die Fremde, die ebenso wenig hierher passte wie er. Sein Essen, das Elfi gerade vor ihn hinstellte, interessierte ihn nicht mehr. Fast hätte er sogar vergessen, noch ein zweites Bier zu bestellen. Er schlang den köstlichen Braten, die Kartoffeln und die Soße hinunter, ohne etwas zu schmecken. Den Rotkohl ließ er gänzlich unberührt. Jetzt hatte er nur noch ein Ziel – so schnell wie möglich fertig zu werden, um danach zu versuchen, die fremde Schönheit kennen zu lernen. Sollten ihr Rainers gierige Blicke aufgefallen sein, schließlich hatte er die ganze Zeit zu ihr hinübergestarrt, so schien sie nicht unangenehm davon berührt zu sein. Vielleicht hatte er ja Chancen bei ihr.
Die Kellnerin schreckte Rainer aus seinen Gedanken hoch.
„War alles in Ordnung?“
Er starrte geistesabwesend in Elfis rundes Gesicht. Dann murmelte er: „Vorzüglich.“
Elfi grinste.
„Ja, ist das denn die Möglichkeit, Rainer! Rainer Herold; der bist du doch, oder?“
Die Situation begann ihm lästig zu werden. Doch nun würde er sich wohl oder übel mit dem Schaf, wie Elfi früher in der Schule genannt worden war, beschäftigen müssen. Die anderen Gäste sahen schon zu ihnen herüber. Schnell reichte er ihr die Hand, zog sie auf einen der Plätze neben sich und hoffte, dass sie von nun an etwas leiser sprechen würde.
„Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob du es bist, ist schließlich ein paar Tage her. Wie geht’s denn so?“
Elfi streckte ihre Beine unter dem Tisch aus und kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer weißen Kellnerinnenschürze hervor. Ein Blick in die mittlerweile deutlich geleerte Gaststube zeigte Rainer, dass dieses Gespräch dauern konnte.
„Muss ja.“ Elfi holte tief Luft. Wie es aussah, war sie im Begriff, ihm die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens ausführlich schildern zu wollen. Rainer Herold musste etwas tun.
„Hat mich gefreut, dich wiederzusehen“, sagte er so galant wie möglich in den ersten Schwall ihrer Worte hinein. Dann holte er seine Geldbörse heraus und tat, als zähle er seine Barschaft.
Elfi wurde wieder zur Kellnerin. „Das macht dann 13 Euro und 25 Cent“, meinte sie.
Großzügig gab er ihr zwei Zehnerscheine. „Stimmt so, mach’s gut.“
Beleidigt schob Elfi daraufhin in Richtung Küche ab. Jetzt drehte er sich vorsichtig um und sah, dass die schöne Frau ihm zuzwinkerte. Rainer zog den Bauch ein, stand auf und kam dann mit dynamischem Schritt zu ihr herüber.
„Hat das Essen geschmeckt?“, fragte ihn die Schöne, und ihre Augen strahlten. Ein kokettes Lächeln spielte um ihren Mund.
Rainer spürte seinen Puls schneller gehen.
„Ja, für mich war es etwas Besonderes.“ Seine Stimme nahm einen tieferen Ton an. Dann sagte er langsam und mit geheimnisvollem Blick: „Der Geschmack der Vergangenheit.“
Er glitt auf den Hocker neben sie.
„Sie sind nicht von hier?“ Wieder dieses Lächeln. „Nein. Eigentlich ja, ich bin hier aufgewachsen, lebe aber seit einigen Jahren in New York.“
„Ach so.“
Sie schien wenig beeindruckt zu sein. Rainer musste sich etwas anderes einfallen lassen, denn schon war sie im Begriff, sich wieder Alfred, dem Wirt, zuzuwenden.
„Sie sind aber auch nicht aus dem Ort, oder?“
Jetzt stellte er einen seiner Füße auf der Verstrebung ihres Hockers ab. Dabei berührte sein Knie ihr Bein.
„Meinen Sie?“
„Sie sehen nicht so aus, als ob Sie hierher gehörten.“
„Wie sieht man denn aus, wenn man hier lebt?“
„Anders eben“, sein Blick streifte ihren Körper. „Sie sind bestimmt auf der Durchreise oder vielleicht vom Weg abgekommen.“
„Glauben Sie tatsächlich, dass ich mich verlaufen habe?“
Ihre weißen, ebenmäßig gewachsenen Zähne blitzten.
„Nein, Sie kommen mir alles andere als verloren vor.“
Für einen Moment sah ihm die Frau ganz tief in die Augen, und Rainer drohte das Spiel auf einmal aus den Händen zu gleiten. Er fühlte sich von ihr ertappt und senkte den Blick.
„Ich meine …“
Die Schöne schaute ihn noch immer an. Freundlich und aufmerksam, so wie man ein exotisches Tier in seinem Käfig im Zoo betrachtete.
„Ja?“
„Ich meine, Sie sind eben anders.“
„Wie denn?“
Rainer versuchte, sich auf das Hirschgeweih hinter ihrem Kopf zu konzentrieren. Wenn nicht bald etwas geschah, würde er anfangen zu stottern.
Endlich streckte sie Rainer ihre Hand entgegen.
„Angela.“
„Ich heiße Herold, Rainer Herold.“
„Freut mich.“
Schon sah sie wieder in eine andere Richtung, aber er durfte jetzt nicht nachlassen. Er musste eine Frage stellen, irgendeine. Auch auf die Gefahr hin, dass es nichts Originelles wäre. Hauptsache, sie blieb weiter hier sitzen und unterhielt sich mit ihm.
„Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was Sie hier tun.“
Angela schaute auf ihre Armbanduhr. „Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen, wenn Sie jedoch möchten, können Sie mich gern noch ein Stück begleiten.“
Wieder dieser tiefe Blick, der Rainer verunsicherte. Doch er würde sich die Chance nicht entgehen lassen. Er würde sie begleiten, egal wohin. Obwohl er sie gerade erst kennen gelernt hatte, war er sich in einem sicher; Angela könnte die Frau sein, nach der er gesucht hatte. Er musste mehr von ihr in Erfahrung bringen, also tat er, was er für das Beste hielt. Er half ihr in den Mantel, dann hielt er die Tür für sie auf.
Kaum waren sie draußen angekommen, als sie sich vor ihn hinstellte und ihn unverhohlen von oben bis unten musterte. Sie hatte einen spöttischen Blick dabei, Rainer begannen die Innenflächen der Hände feucht zu werden. Diese Fremde hatte so eine ganz andere Art als die Frauen, die er kannte. Sie schien genau zu wissen, was sie wollte, und er zweifelte nicht daran, dass sie Wege kannte, um zu bekommen, wonach ihr gerade der Sinn stand. Und wenn er sich nicht täuschte, wollte sie ihn, jetzt, in diesem Augenblick. Nun verzog sie den Mund zu einem schiefen Lächeln, bevor sie ihn zu sich heranzog und ihm einen leidenschaftlichen, fordernden Kuss gab. Rainer begann die Sache unheimlich zu werden und doch konnte er nicht verhindern, dass sich ihm sämtliche Körperhärchen aufstellten und ihn ein heißer Schauer überlief. Aber da war noch etwas anderes. Er spürte, wie sich ihm etwas aufs Gesicht legte –wie vorhin die Spinnweben. Wieder strich er mit der Hand über seinen Kopf, aber diesmal klebten keine Leichenteile daran. Da war nichts als ein kleiner Schweißtropfen, der nun an der tiefsten Stelle seiner Handfläche hängen blieb. Rainer rieb sich seine Hand schnell an der Hose trocken. Er war doch ein Kerl, verdammt, da durfte er sich nicht länger bitten lassen. Während er ihren Kuss erwiderte, begann er sich besser zu fühlen. Er fing sogar an, ihr über den Rücken zu streicheln, und Angela gab Rainers drängenderen Händen nach. Er hatte das Spiel wieder aufgenommen, sie stöhnte, er bestimmte die Richtung. Doch nach einer Weile löste sie sich und sah zum zweiten Mal auf ihre kleine schwarze Armbanduhr am rechten Handgelenk. Ihre Augen waren kühl.
„Ich muss nun wirklich los.“
„Was soll das heißen?“
Rainer hatte Mühe, seine Stimme, die dazu neigte, sich zu überschlagen, wenn er aufgeregt war, ruhig und tief klingen zu lassen. „Du kannst doch jetzt nicht so einfach verschwinden. Wir müssen uns unbedingt wiedersehen. Sag mir, wie ich dich erreichen kann.“
„Ich habe morgen einen Termin in Hamburg, dann muss ich weiter. Aber wenn du willst, können wir uns treffen, bevor ich abreise. Sagen wir so um zweiundzwanzig Uhr am ZOB, an der Haltestelle nach Travemünde.“
„Was, gibt es denn den alten Zentralen Omnibusbahnhof immer noch?“
„Bestimmt.“
„Und du glaubst, dass so spät noch ein Bus abfährt?“
„Ich weiß es nicht, aber ich wollte unbedingt noch einmal dorthin, bevor ich Hamburg wieder verlasse.“
Als er sie fragend anschaute, setzte sie hinzu: „Die Vergangenheit, du verstehst?“
Jetzt begriff er. Seine Schöne musste auch aus dieser Gegend stammen und wollte, wie er, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Rainer fand es zwar seltsam, dass ein Busbahnhof so wichtig für sie sein sollte, glaubte jedoch nicht das Recht zu haben, darüber zu urteilen.
„Gut, ich werde da sein. Und wie geht es weiter?“
„Das werden wir sehen“, sagte sie unbestimmt. Dann gab sie ihm einen letzten verheißungsvollen Kuss zum Abschied.
„Aber du wirst es nicht bereuen.“
Wortkarg saß Rainer Herold am Frühstückstisch und überflog die Schlagzeilen der Morgenpost. Dabei hatte er eigentlich vorgehabt, sich mit seinen Eltern zu unterhalten, herauszufinden, wie es ihnen ging. Hilde beobachtete die hinter der aufgeschlagenen Zeitung verborgene Gestalt ihres Sohnes und seufzte. Es fiel ihr schwer, sich seine geistige Abwesenheit mit dem Jetlag zu erklären.
„Was sind deine Pläne für heute“, fragte sie, während sie ihm den Brötchenkorb reichte.
Rainer starrte seine Mutter aus trüben Augen an und gähnte.
„Ausruhen, schlafen, mal sehen.“
Hilde Herold ging in die Küche hinüber. Sie lehnte sich gegen den Kühlschrank, den Blick aus dem Fenster auf die Reihe Blautannen gegenüber geheftet.
„Ihr habt mir gar nicht erzählt, dass die Elfi jetzt im Gasthof arbeitet.“
Rainer bemerkte, dass seine Eltern nicht mehr neben ihm saßen.
„Mama?“
Zögernd kehrte Hilde an den Tisch zurück.
„Wir wollten dich nicht langweilen.“
Er entschloss sich, über den Vorwurf in der Stimme seiner Mutter hinwegzugehen. Stattdessen grinste er sie nun jungenhaft an und nahm ihre Hand.
„Gestern Abend im Gasthof habe ich jemanden kennen gelernt. Ich wüsste gern, ob sie öfter im Dorf ist.“
„Wie sieht sie denn aus?“, murmelte Paul Herold gerade aus den Tiefen des Wohnzimmers hervor.
„Sie ist in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Eine auffällige Frau, sehr hübsch.“
„Und wie müssen wir uns das bildlich vorstellen?“
Paul Herold war an den Esstisch zurückgekommen und sah seinen Sohn erwartungsvoll an, Hilde musterte Rainer irritiert.
„Sie hat die schönsten roten Haare, die ich jemals gesehen habe.“ Rainer zeigte mit seiner Hand bis zur Hüfte. „Ungefähr so lang. Sie ist groß, beinahe so groß wie ich, und schlank, aber trotzdem ist ihre Figur sehr weiblich. Und sie hat sich angeregt mit dem Wirt unterhalten, deshalb bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, euch nach ihr zu fragen. Sie sieht nämlich eigentlich nicht so aus, als ob sie von hier wäre.“
Hilde Herold versuchte, ihren Ärger über den letzten Satz ihres Sohnes hinunterschlucken. Schon als Junge war er überheblich gewesen, oft hatte er sich in dem Bewusstsein, mehr zu wissen als andere, über seine Mitschüler lustig gemacht. Aber sie hatte wohl vergeblich gehofft, dass ihm das Leben diese schlechte Eigenschaft inzwischen abgewöhnt hatte.
Elsa zog die Gardine am Fenster ihres Hotelzimmers einen Spalt breit zur Seite und schaute in den trüben Wintermorgen. Der Kragen ihres Pullovers fühlte sich nass an. Sie musste schon eine ganze Weile geweint haben, ohne es zu bemerken. Warum hatte sie nur in diesem Dorf Halt gemacht? Seine Bewohner lebten noch immer beschaulich. So, als hätten sie niemals einen der Ihren auf dem Gewissen gehabt. Doch Elsa wusste es besser. Sie hatte überlebt, auch wenn sie heute eine andere war. Niemand würde sie wiedererkennen. Mittlerweile war sie eine attraktive Frau, eine Frau, die man nicht übersah. Allein – glauben konnte Elsa das nie.
Zuerst hatte es ihr Spaß gemacht, in dieser Kneipe bewundert zu werden. Die Verwandlung schien perfekt zu sein, als nicht einmal Alfred sie erkannt hatte. Genauso wenig wie Elfi, das Schaf.
Doch welch grausamer Zufall war es gewesen, an diesem Abend auf Rainer Herold zu treffen. Seitdem kam es ihr so vor, als habe sie lange Jahre in einem Kokon gelebt. Abgeschirmt und begrenzt durch dicke Wände in ihrer eigenen Welt. In einer Welt ohne Gefühl. Außengeräusche, Gesichter, Lachen und Weinen, all das war nur dumpf, verschleiert oder schemenhaft zu ihr durchgedrungen. Sie war wie in Watte gepackt gewesen, und bis gestern hatte sie diese Tatsache nicht einmal wahrgenommen. Die widerliche Fratze von Rainer war das erste Gesicht, das sie wieder klar gesehen hatte, seit damals. Jetzt schien ihr der Kokon zu klein zu werden, schon fing er an, auseinanderzuplatzen. Dahinter kam ihr Mädchengesicht zum Vorschein. Das Mädchen Elsa brauchte Raum.
Sie musste auf der Stelle von hier verschwinden, sonst würde sie sich am Ende noch verraten. Wie war sie nur darauf gekommen, Rainer zu küssen? Widerlich, wie scharf dieser Kerl auf sie gewesen war. Früher hatte Elsa sich nach nichts mehr gesehnt als nach seiner Aufmerksamkeit. Vor mehr als zwanzig Jahren war Rainer einer der wichtigsten Menschen für sie gewesen, der Freund ihres Liebsten. Doch wenn sie ihn sich heute vorstellte, den dicklichen, untrainierten Körper, das gockelhafte Gehabe, so erschien es ihr beinahe lächerlich, dass er einmal eine so große Bedeutung für sie gehabt hatte. Elsa hätte sich beim Gedanken an den gestrigen Abend noch im Nachhinein übergeben mögen, und jetzt war ihr tatsächlich schlecht. Sie kramte ein Tütchen mit einem Medikament gegen Sodbrennen aus ihrer Tasche hervor und knetete es fest zwischen den Fingern. Während sie den Inhalt des Tütchens in ihre Kehle laufen ließ, ermahnte sie sich, Rainer so schnell wie möglich zu vergessen. Elsa hatte genug gelitten. Ihre Vergangenheit war zusammen mit dem Mädchen Elsa gestorben, und sie hatte hart dafür gekämpft. Ein dünnes Rinnsal der weißen Emulsion rann von ihrem Kinn den Hals hinab, gedankenversunken wischte sie es ab. Und wenn es nun doch einen anderen Weg gab? Wenn sie selbst versuchte, das zu vollbringen, was keinem Arzt oder Psychologen in all den Jahren gelungen war? Was, wenn sie sich endlich an diesen Leuten rächte, die für alles verantwortlich waren? Vielleicht würde dann endlich alles gut werden. Während sie so dasaß und in die Wolken starrte, kam Elsa ein Plan in den Sinn. So einfach und genial, dass sie ernsthaft darüber nachzudenken begann.
Als Kommissarin Anna Greve an diesem Morgen Ende November erwachte und aus dem Bett stieg, fror sie erbärmlich. Schnell zog sie sich ihren Bademantel über, dann ging sie in die Küche hinunter, um Kaffee zu kochen. Das Wasser kam kalt aus dem Hahn. Seltsam, dachte sie, während sie den Mantel fester um ihren Körper zog. Sie griff an die Heizung und stellte fest, dass sie ebenfalls kalt war. Wahrscheinlich hatte Tom wieder einmal an der Nachtabsenkung herumgespielt. Er hatte den Ehrgeiz entwickelt, den Energieverbrauch in ihrem Haus so niedrig wie möglich zu halten. Das war im Prinzip auch in Ordnung, doch sie hasste es, am frühen Morgen frieren zu müssen. Mit zwei Bechern Kaffee in der Hand ging sie ins Schlafzimmer zurück und reichte einen davon ihrem Mann Tom, der sie nun aus verschlafenen Augen anschaute.
„Es ist eiskalt im Haus.“
Tom setzte sich auf. „Ich werde gleich nachsehen, was los ist.“
Anna ging derweil ins Badezimmer, wo sie auf ihren älteren Sohn Ben traf, der sie anstatt eines Grußes nur mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte und vor ihr auf und ab hüpfte. Dann fing er an, wild mit den Armen um sich zu schlagen. Schon zeigten sich rote Flecken auf seinem nackten Oberkörper.
„Hat Papa mal wieder die Heizung abgedreht?“
Ben wie auch Paul, dem jüngeren der beiden Brüder, gingen die Energiesparmaßnahmen ihres Vaters ebenfalls auf die Nerven. Zwar fand es Anna grundsätzlich gut, dass Tom den Kindern beizubringen versuchte, nicht verschwenderisch mit Dingen und Ressourcen umzugehen, aber manchmal schoss er dabei eben über das Ziel hinaus. „Ich weiß auch nicht, was los ist. Dein Vater sieht gerade unten nach.“
„Schreibst du mir eine Entschuldigung für die erste Stunde?“ Bens missmutiger Blick hatte einem listigen Lächeln Platz gemacht. „In dieser Kälte kriegt man ja einen zu viel, ich werde bestimmt zu spät kommen.“
Anna sah ihren vierzehnjährigen Sohn mahnend an.
„Sieh zu, dass du in die Klamotten kommst, du bist heute dran mit Brötchenholen.“
Nun kam Tom leise vor sich hin schimpfend zu ihnen ins Badezimmer, nahm seinen Morgenmantel vom Kleiderhaken und zog ihn sich über.
„So ein Mist“, knurrte er. „Ich glaube, die Heizung ist kaputt, und das bei dieser lausigen Kälte. Ich werde gleich mal Herrn Baumann anrufen, der soll sich die Bescherung heute noch ansehen.“
Na wunderbar, dachte Anna und hoffte inständig, dass es sich nur um eine kleinere Reparatur handeln würde. Ansonsten wären ihre Pläne für einen gemeinsamen Skiurlaub über Weihnachten damit geplatzt, denn eine neue Heizung und einen Urlaub würden sie sich gleichzeitig nicht leisten können.
An diesem Morgen hatte Anna es sehr eilig, zu ihrer Arbeitsstelle beim Landeskriminalamt im Hamburger Stadtteil Alsterdorf zu kommen. Sie wollte so schnell wie möglich ins Warme und hatte tatsächlich Glück. An diesem Tag schaffte sie den weiten Weg von ihrem Zuhause am Rande der Lüneburger Heide bis ins Büro, ohne im Elbtunnel im Stau stecken zu bleiben, wie es meistens der Fall war.
Lukas Weber beobachtete seine Kollegin Anna Greve sorgenvoll. Sie zitterte, dabei war es angenehm warm in ihrem gemeinsamen Büro.
„Morgen, Anna, Sie werden doch wohl nicht krank werden?“
„Es sieht so aus, als hätte unsere Heizung den Geist aufgegeben.“
„Umso wichtiger, dass unsere Gehälter endlich aufgebessert werden.“
Anna Greve sah von ihrem Schreibtisch auf.
„Glauben Sie das wirklich, Weber? Es ist doch jedes Mal vor den Wahlen das Gleiche. Erinnern Sie sich nicht mehr, was der Poll uns alles versprochen hat, als er damals Innensenator wurde?“
„Klar, aber jetzt weht schließlich ein anderer Wind in der Stadt.“
„Tatsächlich? Ich für mich kann jedenfalls keinen großen Unterschied ausmachen. Außerdem ist Hamburg nach wie vor so gut wie pleite.“
Anna nahm die oberste Akte vom Stapel ihres Schreibtischs und schlug sie auf. Dann machte sie sich an die Arbeit.
Rainer Herold sah auf die Uhr über der Küchentür, es war erst halb acht. Ihm blieben noch beinahe zwei Stunden Zeit bis zu seinem Treffen mit Angela. Eben noch hatte er mit seinen Eltern zu Abend gegessen. Endlich gab es Mutters berühmten Sauerbraten, und Rainer hatte gleich zwei Portionen davon in sich hineingeschaufelt. Wäre er wegen der bevorstehenden Verabredung nicht so aufgeregt gewesen, hätte er sich nur allzu gern noch eine Weile ausgeruht. Seine Eltern hatten Angela anscheinend noch nie gesehen. Würde sie hier im Landkreis leben, so wäre sie ihnen sicher schon aufgefallen. Auch Alfred, der Wirt des Gasthofs, in dem er sie gestern kennen gelernt hatte, konnte sich nicht daran erinnern, Angela schon jemals zuvor gesehen zu haben. Rainer hatte ihn heute Nachmittag gründlich nach seiner Schönen ausgefragt, allerdings ohne Ergebnis. Nicht einmal Elfi hatte ihm weiterhelfen können, dabei war sie früher für ihr fotografisches Gedächtnis bekannt gewesen. Zuerst war Elfi abweisend und zickig gewesen. Doch nach einer Viertelstunde, in der Rainer sie hatte reden lassen, war sie endlich bereit gewesen, sich seine Fragen anzuhören. Ebenfalls ohne Ergebnis. Diese Angela schien eine Unbekannte für sie alle zu sein, und doch war da etwas in ihrem Blick gewesen. Etwas, das ihm vertraut vorgekommen war. Die Ahnung eines Gesichtes begann aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen, aber es gelang ihm nicht, es zu fokussieren. Rainer wusste nicht, wohin mit seiner Assoziation dieser Frauenaugen. Nachher würde er Angela fragen, wo sie ihre Wurzeln hatte. Dieses Gefühl, ihr schon einmal irgendwo begegnet zu sein, war wohl nichts weiter als eine Wunschvorstellung.
Heute wählte Rainer seine Kleidung mit Bedacht. Als er anschließend sein Spiegelbild betrachte, war er eigentlich ganz zufrieden. Wäre da nur nicht dieser lästige Bauchansatz, den er trotz des vorteilhaften Schnittes seines Jacketts nicht ganz verstecken konnte. Er zog die Schultern hoch und atmete tief ein, um, wenn auch nur für einen kurzen Moment, die Illusion zu haben, eine einigermaßen sportliche Figur zu besitzen. Im Grunde passte diese Verabredung heute Abend überhaupt nicht in seine Pläne, schließlich musste er morgen früh aufstehen. Der Termin, vielleicht entscheidend für seine weitere berufliche Zukunft, würde um neun Uhr in Hamburg in den Geschäftsräumen der Bank stattfinden. Doch für Angela wollte er eine Ausnahme machen. Und wenn er darauf achtete, nicht zu viel zu trinken, dürfte er morgen, trotz einer hoffentlich durchwachten Nacht, dennoch einigermaßen fit sein.
Rainer setzte sich in Bewegung, obwohl er noch viel Zeit hatte. Aber er wollte vor Angela am Treffpunkt sein, um keinen Preis der Welt wollte er versäumen zu sehen, wie sie auf ihn zukam. Um sich die Zeit bis dahin zu vertreiben, steckte er im Gehen noch das Wochenblatt ein, eine Zeitung des Landkreises, die er früher gern gelesen hatte. Sie berichtete über Ereignisse wie Fasching, Dorf- und Schützenfeste oder Veranstaltungen der Freiwilligen Feuerwehr und der Kirchenjugend. Ganz besonders hatten ihn immer die Sportseiten interessiert, denn als Jugendlicher war er ein annehmbarer Fußballspieler gewesen. Zusammen mit seiner Mannschaft hatte er mehr als einmal in dieser Zeitung gestanden.
Anna Greve untersuchte gerade den Fall eines alten Mannes, der tot in seiner Wohnung aufgefunden worden war. Meistens eine Routinesache, trotzdem war es wichtig, genau zu prüfen, ob nicht doch mehr dahintersteckte. Soeben hatte sie ein abschließendes Gespräch mit Dr. Severin aus der Rechtsmedizin geführt, und er hatte ihr bestätigt, was sie zuvor schon angenommen hatte. Der Mann war an Altersschwäche gestorben, und selbst wenn sein Körper bereits stark verwest gewesen war, gab es an diesem Befund keine Zweifel. Anna klappte den Aktendeckel zu und goss sich einen Kaffee ein. Sie sah auf die große Wanduhr über der Tür. Eigentlich hatte sie Feierabend, konnte sich aber noch nicht dazu entschließen, nach Hause zu fahren. Es hatte beinahe den ganzen Tag gedauert, bis Annas Füße endlich wieder warm geworden waren, und an dieser Behaglichkeit wollte sie so schnell nichts ändern. Zum ersten Mal seit heute Morgen dachte sie wieder an das Malheur mit ihrer Heizung, als das Telefon klingelte.
„Ja, ich bin’s, Tom. Baumann ist gerade weg, er meint, wir brauchen einen neuen Heizkessel. Wird einiges kosten.“
„Wie viel“, fragte die Kommissarin, die ihren Traum vom Skiurlaub mit der ganzen Familie im gleichen Augenblick gefährdet sah.
„Kommt drauf an, lass uns nachher darüber reden. Ich habe für die Küche und das Bad zwei Heizstrahler besorgt, den Rest wird der Ofen übernehmen müssen.“
Anna knipste die Schreibtischleuchte aus und fing an, ihre Tasche zu packen.
Elsa und ihre Mutter an einem Winternachmittag in Maschen, im November 1978.
Vera Hollstein betrachtete ihre Tochter Elsa, die tief über den Küchentisch gebeugt mit ihren Buntstiften auf einer ausgedienten Zeitung herumkritzelte. Das neue Malbuch, das die Großmutter für sie gekauft hatte, lag verloren an der Tischkante. Sorgfältig schob Vera es weiter zurück, damit es nicht herunterfallen konnte, und schaute sich dabei den auf dem Einband abgebildeten Bauernhof an. Er war genau so, wie Vera sich einen vorgestellt hatte als Kind. Gerade Formen, helle freundliche Farben, ein Hund vor der Tür, ein paar Geranien im Fenster; übersichtlich; heil. Sie beobachtete Elsa, die selbstvergessen in ihrem eigenen Rhythmus, mal rechts, mal links auf den Rändern ihrer Zunge herumkaute, während die kleine Hand in schnellen Strichen über das Papier flog. Die Angewohnheit, in dieser Art und Weise ihren Mund zu bewegen, hatte sie sich von Friedrich abgeguckt oder er hatte sie ihr vererbt. Kaum vorstellbar, wie sich ein kleines Mädchen von selbst etwas Derartiges ausgedacht haben sollte. Ganz abgesehen davon, dass es ihr Gesicht entstellte, erhielt es dadurch auch einen dumpfen Ausdruck, wie ihn Vera auch aus dem Fernsehen kannte. Ihre Tochter, ein Fall für die „Aktion Sorgenkind“. So hieß die Lotterie, bei der man durch den Kauf von Losen behinderte Kinder unterstützte. Mit viel Glück konnte man auch selbst etwas gewinnen. Von Zeit zu Zeit wurde eine „Aktion-Sorgenkind“-Show am Samstagabend auch in die Wohnzimmer übertragen. Da konnte man dann miterleben, wofür das ganze Geld verwendet wurde. Vera sah das sehr gern, besonders die Ziehung der Hauptpreise. Und es waren immer ganz süße Kinder eingeladen, denen man ihr schweres Schicksal zumeist nicht ansehen konnte.
Vera wandte sich ab und machte sich an den Abwasch, der seit gestern Abend die Arbeitsplatte blockierte. Jeden Tag dasselbe. Eigentlich hätte sie längst anfangen müssen mit der Kocherei, schließlich würde Friedrich in ein paar Minuten zu Hause sein. Und während das heiße Wasser in das Waschbecken lief, starrte Vera ein letztes Mal zu Elsa hinüber, die gerade dabei war, die gemalten Bilder aus ihrer Zeitung herauszureißen und zu kleinen Bällen zusammenzuknüllen. Noch immer bewegte sich ihre Zunge dabei in diesem seltsamen Rhythmus. Ekelhaft, dachte Vera, als sie ihre Hände in das Wasser tauchte und dann vor Schmerz aufschrie. Sie hatte, in Gedanken wieder einmal nur mit ihrem Kind beschäftigt, vergessen, auch das Kaltwasser mit aufzudrehen.
Es war exakt neun Uhr, als Rainer Herold seinen Treffpunkt mit Angela erreichte. Er bezahlte das Taxi und sah sich um, hier, am Zentralen Omnibusbahnhof, hatte sich viel verändert. Er erinnerte sich an die einfachen Haltestellen mit ihren kleinen Dächern und den Plexiglaswänden, die früher gerade einmal einer Hand voll Leuten genug Platz geboten hatten, um sich vor Regen und Kälte zu schützen. Auf den Gehsteigen vor dem alten ZOB hatte jede Menge Müll herumgelegen, weit und breit war nicht einmal eine Imbissbude in Sicht gewesen. Wie sehr unterschieden sich die alten Bilder von damals doch von dem Anblick, der sich ihm heute bot. Er stand auf einer riesenhaften Verkehrsinsel, um die herum an die zwanzig Haltestellen angelegt worden waren, jede mit einer eigenen Spur ausgestattet. Gekrönt wurde das Ganze von einem ellipsenförmigen Dach, das dem Architekten wohl die Möglichkeit geboten hatte, sich künstlerisch auszuleben. Es war nichts mehr als ein designtes Anhängsel, ein Schmuckelement ohne praktischen Wert, denn um wirklichen Schutz zu bieten, war es viel zu weit nach oben gebaut worden. Auf den Gehsteigen musste man seinen Hut festhalten. Der Wind pfiff um die Ecken und zerzauste jedem, der hier wartete, das Haar. In der Mitte der Insel gab es einen Warteraum, zwei Fastfood-restaurants, ein hochmodernes Informationsterminal sowie mehrere Fahrkartenschalter. Und es war auffällig sauber. Die beiden Männer in ihren schmucken Uniformen, die ihm gerade entgegenkamen, schienen tatsächlich zu verhindern, dass sich hier wie früher Obdachlose oder anderes Pack zusammenrottete und die Gehsteige blockierte. Neugierig schlenderte Rainer an den Haltebuchten entlang und studierte die Reiseziele. Berlin, Amsterdam, Danzig, Kaliningrad, irgendwelche weiteren Städte in Polen, die er nicht kannte, und dann tatsächlich Moskau. Der Bus nach Moskau sollte kurz vor Mitternacht losfahren, also würde hier bis spät in der Nacht geschäftiges Treiben herrschen. Vermummte Gestalten zogen an ihm vorbei, viele schleppten großes Gepäck. Die meisten waren junge Männer. Alles war so ganz anders als in seiner Erinnerung, keine Spur von Seniorengruppen oder Schulklassen. Keine Spur von Reisefieber. Die Leute sahen so gar nicht aus, als stünden sie kurz vor Beginn einer Urlaubsfahrt. Die Haltestelle Travemünde war nicht zu entdecken. Wie sollte er Angela nur in diesem Gewimmel finden? Rainer sah sich um, er brauchte einen guten Überblick. Als er den Bahnhof fast umrundet hatte, sah er in Richtung des Brachgeländes, dort, wo früher das Automuseum gewesen war, zwei kleine Bushaltestellen, die die Zeit überdauert hatten. Lange Sonntagnachmittage hatte er damals mit seinem Vater in diesem Museum verbracht. Schon als Junge war er an den glänzenden Oberflächen der Oldtimer vorbeigestrichen. Er hatte verchromte Spiegel und Zierleisten bewundert und sich vorgenommen, irgendwann auch einmal mindestens eine dieser stolzen Karossen zu besitzen. Auf jeden Fall aber ein Auto, an dessen Scheiben sich die Nachbarskinder ihre Nasen platt drücken würden. Rainer entschied, zu der kleinen Haltestelle hinüberzugehen, nicht nur weil er den Ort von früher kannte. Sondern weil Angela, wenn sie nach ihm suchte, ihn sofort auf dieser beleuchteten Insel inmitten der Dunkelheit ausmachen würde.
Das Neonlicht flackerte, als Rainer sich auf die Bank setzte. In der spiegelnden Fläche der gegenüberliegenden Plexiglaswand überprüfte er kurz den Sitz seines Mantels, dann holte er die Zeitung hervor. Hier, nur einen Steinwurf vom geschäftigen Bahnhofstreiben entfernt, war es menschenleer. Er beobachtete einen einsamen Penner, der am Besenbinderhof entlang in Richtung Hauptbahnhof davontrottete. Rainer vertiefte sich in seinen Artikel über den VFL-Maschen. Es ging um die erste Herrenmannschaft, sie hatten bisher eine sehr gute Saison gespielt, und der Bericht machte ihm Lust, wieder dabei zu sein. Auf dem daneben abgedruckten Foto erkannte er auf Anhieb drei seiner früheren Fußballkumpel wieder. Wenn Angela also unbedingt im Landkreis bleiben wollte, vielleicht ... Er konnte sich plötzlich vorstellen, wieder hier zu leben.
Ein Geräusch ließ ihn von seiner Zeitung aufsehen. Es war wie ein Windhauch gewesen, der einen streift, wenn ein Mensch direkt neben einem seinen Mantel überwirft, oder doch mehr wie eine leichte Bewegung, die jemand macht, wenn er seinen Fahrschein aus der Tasche holt. Egal, irgendetwas, was er gehört, gespürt oder in der gegenüberliegenden Plexiglaswand gesehen hatte, hatte ihn aufmerksam gemacht. Für einen Moment erinnerte sich Rainer an eine Szene aus einem alten Film – „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ oder so ähnlich. Donald Sutherland, der Held, hatte auch einen solchen Schatten vorbeihuschen sehen. Auf der Suche nach seinem verlorenen Kind war er durch die Gassen der Altstadt von Venedig geirrt, und hinter jeder Ecke war es ihm erschienen, als ob er verfolgt würde. Mehr von einem Phantom als von einem realen Menschen aus Fleisch und Blut. Dann, ein, zwei Einstellungen später, war der Angriff erfolgt, und innerhalb von Sekunden hatte Donald auf dem Kopfsteinpflaster in seinem Blut gelegen und geröchelt. Dabei war er ein so sympathischer Kerl gewesen. Am Ende des Films hatte sich Rainer jedenfalls sorgfältig die Augen trocken gewischt, damit nicht gleich jeder im Kino sehen konnte, dass er geheult hatte. Jetzt hätte er einiges dafür gegeben, nicht allein zu sein. Wäre in diesem Moment ein Penner aufgetaucht, er hätte ihm die Füße geküsst und ihm Schnaps bis zum Abwinken besorgt.
Hastig legte Rainer die Zeitung zusammen. Er war schon dabei, wieder in Richtung der Lichter am ZOB zu gehen, als er zum zweiten Mal eine Bewegung wahrnahm, die sich in der gegenüberliegenden Plexiglaswand spiegelte. Fast als wäre die Person, die sie verursacht hatte, jetzt direkt hinter ihm. Er ließ die Zeitung liegen und sah sich um. Aber da war niemand, Rainer war allein. Doch durch die andere Plexiglaswand, an der er bis eben mit dem Rücken gelehnt hatte, sah Rainer kurz darauf wieder für einen Moment etwas von rechts nach links über den Rasen huschen. Unglaublich schnell hatte sich der Schatten bewegt, das konnte niemals ein Mensch gewesen sein. Aber was dann? Vielleicht das Scheinwerferlicht irgendeines Fahrzeugs, das in der Sackgasse dort hinten am Ende der Rasenfläche gewendet hatte? Nein, was er gesehen hatte, war definitiv ein Schatten gewesen, kein verirrtes Scheinwerferlicht. Und darüber hinaus war ihm irgendetwas an der Bewegung bekannt vorgekommen. Nicht die Gestalt des Schattens an sich, schließlich konnte er ja nicht einmal sagen, was für eine Form der Schatten gehabt hatte. Eher war es die Art und Weise der Bewegung gewesen. Rainer drehte sich wieder um, kniff die Augen zusammen und suchte die Gegend um die Haltestelle herum ab. Dabei fing er an, in seinen Erinnerungen zu kramen. Vielleicht hatte die Bewegung Ähnlichkeit mit der eines Phantoms aus einem alten Film gehabt, dennoch war er sicher, dass sie sich aus seinem eigenen Leben herleitete. Rainer fing an zu frösteln. Er stand auf, um ein paar Schritte zu gehen, heraus aus dem grellen Licht. Auf einmal kam er sich vor wie auf einem Präsentierteller. Rainer Herold griff in seine Manteltasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Er war nur einen Augenblick lang abgelenkt gewesen, aber nun bemerkte er, dass wirklich jemand hinter ihm stand. Rainer konnte den Atem des Schattens hören. Er wünschte sich einen Cut, die nächste Szene. Er hatte Angst davor, sich umzudrehen, und er kam auch nicht mehr dazu. Noch bevor er sich bewegen konnte, spürte er schon etwas Kaltes und Hartes an seiner Kehle. Allerdings war die metallene Klinge viel zu scharf, als dass er hätte fühlen können, wie sie sein Fleisch durchschnitt. Das Blut rann so schnell aus ihm heraus, dass Rainer augenblicklich kein Gefühl mehr in seinen Beinen hatte. Kälte breitete sich unerbittlich in ihm aus. Er fiel ins Gras und sah in den dunklen Winterhimmel, dann in das Schattengesicht. Kurz bevor er starb, wusste er auf einmal, wohin mit seiner Assoziation dieser merkwürdig kühlen Frauenaugen. In den Augen des Schattens über sich erkannte er das Mädchen Elsa. Fragend blickte Rainer sie an. Bilder seines Lebens zogen schnell an ihm vorbei und ganz zum Schluss Angela. Elsa.
Als Elsa sein Gesicht anschließend mit schnellen geschickten Bewegungen bearbeitete, hatte sie endlich Gelegenheit, seiner stummen Frage zu antworten.
„Ja, wir haben einander gekannt. Aber das zu wissen nützt dir jetzt auch nichts mehr.“
Tom saß mit Anna vor dem Kaminofen und betrachtete seine Frau. Was für wunderschöne bernsteinfarbene Augen sie doch hatte. Wenn Anna wie jetzt ins Feuer schaute, reflektierten die hellen Einschlüsse in ihren Pupillen das Licht und funkelten golden. Tom nahm Anna in den Arm und versuchte vergeblich, eine widerspenstige Strähne ihres kurzen schwarzen Haares glatt zu streichen. Anna wirkte so zart und zerbrechlich, besaß aber eine ungeheure Energie. Auch wenn sie viel kleiner war als er und beinahe knabenhaft wirkte, wusste er doch, wie stark sie sein konnte. Er nahm eine ihrer schmalen Hände in die seine.
„Was ist jetzt mit der Heizung“, holte sie ihn mit ihrer Frage soeben aus seinen Gedanken zurück.
„Baumann sagt, ein neuer Kessel muss her. Er hat am Anfang gehofft, dass es nur am Brenner liegen würde, dann wären wir mit tausend Euro dabei gewesen.“
„Und was wird ein neuer Kessel kosten?“
„Viertausend Euro, den Einbau inklusive.“
„Was? Für so ein Teil, das nichts weiter tut, als unser
Heizöl zu fressen, müssen wir so viel Geld zahlen?“
Anna wühlte in einem Stapel alter Zeitungen auf der Ecke des Wohnzimmertisches herum und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte.
„Hier, Tom, hör dir das an.“
Sie begann, aus einer Werbebroschüre für Zweistoffkessel vorzulesen, eine Heizung, die sich wahlweise mit Öl oder Holz befeuern lassen würde.
„Dieser Kessel macht Sie unabhängig, und Sie tun gleichzeitig etwas für die Umwelt. Holzverbrennung ist annähernd CO2-neutral“, fuhr Anna fort. „Der Baum vernichtet im Laufe seines Wachstums durch die Fotosynthese einen bestimmten Prozentsatz an CO2. Bei seiner Verbrennung wird ungefähr der gleiche Anteil an CO2 freigesetzt, sodass man von einer sehr umweltfreundlichen Art zu Heizen sprechen kann. Außerdem ist Holz ein nachwachsender Rohstoff, Öl dagegen nicht. Ich finde das sehr überzeugend.“
„Hört sich interessant an, aber bestimmt ist so ein Ding auch sehr teuer.“
Anna schlug die Broschüre noch einmal auf.
„Fünfeinhalbtausend Euro. Und der Menzel hat uns doch schon oft angeboten, Holz für den Kamin zu besorgen. Ich glaube, er hat eine Jagd gepachtet.“
Tom nahm sie wieder in den Arm. „Dann sollten wir mal mit ihm reden,“ sagte er. „Wenn er uns das Holz zu einem fairen Preis anliefert, ist das Ganze vielleicht gar keine so schlechte Idee.“
Anna sah ihren Urlaub nun endgültig den Bach hinuntergehen und seufzte.
In dieser Nacht träumte sie von Bäumen, deren mächtige Kronen im Wind wogten und in ihr ein tiefes Gefühl von Geborgenheit auslösten.
„Es gibt Arbeit, Kollegin Greve, am ZOB ist ein Toter gefunden worden.“
Anna, die gerade dabei gewesen war, ihren Mantel auszuziehen, knöpfte ihn gleich wieder zu, dann ging sie zusammen mit Weber über den Behördenparkplatz zu ihrem Dienstwagen.
Weber grinste.
„Soll ziemlich schlimm aussehen, ich hoffe, Sie haben schon gefrühstückt.“
Sie hielt inne und schaute ihrem Kollegen irritiert hinterher.
Anna sah den Toten auf dem Grün vor dem Kurt-Schuhmacher-Haus liegen und erinnerte sich. Dieser Platz war einst Schauplatz der harten Kämpfe der Arbeiterbewegung in Hamburg gewesen. Hier war schon früher einmal Blut geflossen, nicht erst gestern.
Ein paar Jugendliche waren im Morgengrauen auf ihrem Weg nach Hause über den Mann gestolpert. Zuerst hatten sie geglaubt, dass hier ein Penner seinen Rausch ausschlafen würde. Bis sie genauer hingesehen und dann panisch das Weite gesucht hatten. Nur weg, fort von dem Toten und der Rasenfläche, die sich um ihn herum bräunlich rot verfärbt hatte.
Anna streifte das Paar Handschuhe über, das ihr Huber, der neue Assistent von Dr. Severin, gerade gegeben hatte, und kletterte über die Absperrung, Lukas Weber immer einen Schritt hinter sich.