Wild, Rebeca
»Genügend gute Eltern«
Erwachsene und Jugendliche im Dialog über Lebensprozesse, Schule und Fremdbestimmung
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Beltz Taschenbuch 878
© 2006 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal
Umschlagfoto: © Leonardo Wild, Quito
Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum
e-book ISBN: 978-3-407-22418-7
Einleitung |
1. Kapitel November: Erstes Elterntreffen unter der Glaskuppel |
2. Kapitel Familiengespräche mit neuen Eltern |
3. Kapitel Nachtgespräch an der Karibik |
4. Kapitel Dezember: 2. Dialogabend: Lebensprozesse und ihre Gesetzmäßigkeiten |
5. Kapitel Familiengespräch nach einem Unfall |
6. Kapitel Arbeitsgruppe Physik |
7. Kapitel Januar: 3. Dialogabend: Lernen und Entwicklung |
8. Kapitel Familiengespräch: Kind mit besonderen Bedürfnissen? |
9. Kapitel Englischkurs im Sprachinstitut (Gespräch einer Jugendlichen mit Eltern und Betreuern) |
10. Kapitel Februar: 4. Dialogabend: Sprache und Entwicklung |
11. Kapitel Familiengespräch: Großfamilie |
12. Kapitel Schulwechsel für einen Jugendlichen |
13. Kapitel März: 5. Dialogabend: Familie und Entwicklung |
14. Kapitel Antrag auf Alleinverantwortung |
15. Kapitel Sekundaria: Brennende Fragen |
16. Kapitel April: 6. Dialogabend: Die häusliche Umgebung |
17. Kapitel Familiengespräch: Adoptiveltern |
18. Kapitel Wochenversammlung in der Sekundaria |
19. Kapitel Mai: 7. Dialogabend: Familie, Schule und Gesellschaft |
20. Kapitel Familiengespräch: Geburt eines Kindes |
21. Kapitel Ehemalige Schüler sprechen mit Eltern |
22. Kapitel Treffen der Zentren für autonome Aktivitäten |
Glossar wichtiger Begriffe dieses Buches |
Teilnehmer am Dialog |
Bibliografie |
Die folgenden Gespräche resultieren aus einer Vielzahl von menschlichen Begegnungen, die alle um Erfahrungen kreisen, die mit dem »Pesta«, offiziell »Centro Experimental Pestalozzi«, in Ecuador in Bezug stehen. Und obwohl ich in meinen Büchern seit über 25 Jahren schon manches über diese Schule geschrieben und berichtet habe, wurde mir immer bewusster, wie wichtig es ist, diese Gespräche zwischen den Eltern, Schülern und Lehrern zu dokumentieren und sie niederzuschreiben.
Es sind nun fast 40 Jahre, seit mein Mann und ich unsere ersten Versuche als »genügend gute Eltern«* machten und ziemlich schnell merkten, dass dies ein heikleres Unternehmen ist als das eines Bauern, der sein Land bestellt. Trotzdem verzichteten wir darauf, die Lösung unserer täglichen Probleme im Umgang mit unserem Sohn in die Hände von Erfahreneren zu legen und stellten uns der Herausforderung, die täglich auftauchenden Fragen im Zusammenspiel von eigenem Entdecken, Gesprächen untereinander und Nachforschungen über die Entstehung und |10|Entwicklung des Lebens anzugehen. Diese höchst interessante Auseinandersetzung hat sich nicht nur auf unser privates Leben ausgewirkt.
Unser Zusammenleben mit unserem ersten Sohn Leonardo wurde umso leichter, je mehr wir unsere Zuwendung und die Umgebung auf seine echten Bedürfnisse abstimmen konnten. Das zog auch andere Familien an, und eine Gruppe von Vorschulkindern und ihren Eltern gab neue Gelegenheit für Erfahrungen und Austausch. Nichtsdestoweniger schulten wir Leonardo, als er sechs Jahre alt war, ganz normal ein und machten uns nicht so viele Gedanken darüber, wie sein Lehrer in einer Grundschulklasse mit 55 Kindern seinem »Bildungsauftrag« gerecht werden konnte.
Im Jahr 1977 unternahmen wir einen neuen Anlauf, mit dem dann der »Pesta« seinen Anfang nahm. Diesmal ging es darum, unserem zweiten Sohn Rafael ein geeignetes Umfeld für seine Vorschulzeit zu organisieren. Die Zeit war offenbar reif für ein breiteres Interesse. Immer mehr Eltern fanden Gefallen an diesem neuartigen Kindergarten und vertrauten uns ihre Sprösslinge an.
Der Vergleich zwischen dem Lebensgefühl unserer beiden Kinder – bei Leonardo immer mehr beeinträchtigt durch Fremdbestimmung und den Druck einer »höheren Schule« und bei Rafael getragen vom zunehmenden Vertrauen in seine eigenen Entscheidungen – führte uns schließlich dazu, die Verantwortung für unsere Söhne auch für die »Schulzeit« zu übernehmen. Wir hatten kein vorherbestimmtes Konzept, aber doch eine Intuition für die Richtung, der wir folgen und in der wir unsere Lernprozesse machen wollten.
In den ersten zwölf Jahren arbeiteten wir in einem gemieteten Haus mit einem schönen Grundstück. Die Umgebung gestalteten wir so, dass außer rund 80 Kindern zwischen drei und sechs Jahren nun auch zunehmend Primar- und Sekundarschulkinder Tag für Tag aus einer Vielzahl von Angeboten wählen konnten. |11|Unter diesen Umständen konnten wir Erwachsenen mitverfolgen, wie in den verschiedenen Etappen Handlungen durch echte Entwicklungsbedürfnisse bestimmt und gesteuert werden, falls dafür die emotionalen Grundlagen vorhanden sind.
Mitten im Trend unserer Zeit, Kinder zunehmend von Fremdpersonen betreuen, erziehen, therapieren oder beschäftigen zu lassen, erwuchs daraus ein für uns wichtiger Erfahrungsschatz. Denn dieser »Ausnahmezustand« machte es auch notwendig, wahrzunehmen und zu verstehen, was rund um uns und mit uns selbst täglich geschah. Schnell wurde klar, dass wir Erwachsenen Zeit zum Nachdenken und Zeit für den Austausch untereinander brauchten, und nicht den ganzen Tag für die Kinder anderer Erwachsener Verantwortungen übernehmen konnten.
Die Kinder und Jugendlichen nutzten – außer sonstigen selbst gewählten Aktivitäten – die spezifisch vorbereitete Umgebung nur am Morgen. Die Nachmittage und gewisse Abende waren also für die »Erwachsenenarbeit« reserviert: Besprechungen der Betreuer über ihre Erlebnisse im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, Organisation und Gestaltung der Umgebung, persönliche Auseinandersetzung mit didaktischen Materialien und offene Dialoge unter allen Mitarbeitern. Ein zentrales Team, das sich aus freiwilligen Vertretern aller Arbeitsbereiche zusammensetzte, diskutierte außerdem praktische und verwaltungstechnische Angelegenheiten, die uns alle angingen, und traf im Konsens die notwendigen Entscheidungen.
An regelmäßigen zweistündigen Familiengesprächen mit jeweils zwei Betreuern nahmen – selbst bei geschiedenen Paaren – beide Eltern teil. Die Treffen wurden jedes Mal von allen Betreuern, die im Kindergarten- oder Schulteam zusammenarbeiteten, vorbereitet. Für die verschiedenen Entwicklungsetappen wurde je ein Elternabend monatlich angeboten. Die Themen waren der Vertiefung menschlicher Reifeprozesse und deren Beziehung zum Umfeld gewidmet.
|12|In den ersten zwölf Jahren war diese »Schule«, deren Priorität der innere Entwicklungsplan und nicht die vorgeschriebenen Unterrichtspläne waren, vom ecuadorianischen Kultusministerium notdürftig geduldet. Jahr für Jahr unterzeichneten die Eltern einen Vertrag und bestätigten darin, dass sie für ihre Kinder diese Art von Erziehung freiwillig wählten und bereit waren, sich regelmäßig über deren Prinzipien zu informieren. Aus Praxis, Reflexion und einer Vielzahl psychologischer und neurologischer Forschungen entstand über die Jahre ein überzeugendes Konzept und schließlich konnten uns die Behörden die vollkommene Anerkennung für die Pflichtschuljahre nicht länger vorenthalten. Damals wurde vorgeschlagen, dass ein interdisziplinäres Team aus Pädagogen, Psychologen, Ärzten, Neurologen, Soziologen und Unternehmern dieses »Schulexperiment« ohne Klassen, Noten und äußeres Programm in seinem Werdegang begleiten und in Beziehung zu der sich rapide verändernden Gesellschaft und ihren Anforderungen setzen solle. Leider ist solch eine wichtige Kooperation nie auf kohärente Weise zustande gekommen.
Die offizielle Anerkennung brachte jedoch keinerlei finanzielle Förderung mit sich. Die Eltern mussten noch immer für die laufenden Unkosten aufkommen, doch ein System von Stipendien sorgte von Anfang an dafür, dass auch Familien mit beschränkten Mitteln an dieser andersartigen Erziehung teilnehmen konnten. Fast alle Betreuer waren selbst Eltern und bereit, zum Wohl ihrer eigenen Kinder die vielschichtigen Verantwortungen in diesem Zentrum für eine geringe Entlohnung zu übernehmen.
Im Jahr der öffentlichen Anerkennung konnte der Pesta mit nun 180 »Schülern« durch das Zusammenkommen glücklicher Umstände in ein eigenes Gelände am Fuß eines alten Vulkans umziehen. In den nächsten fünfzehn Jahren entwickelte sich diese Arbeit an diesem Ort ohne heftige Widerstände und reifte in einer Umgebung, die reich an natürlichen und kulturellen |13|Möglichkeiten war, und die so für viele ein Ort des Friedens und der Entspannung wurde.
Durch eine parallele Struktur alternativer Wirtschaft – eine zinslose Spar- und Darlehenskasse und einen Markt mit komplementärer Währung – gelang es zehn Jahr lang, den zunehmenden Wirtschaftsdruck teilweise abzufangen. Doch im Jahr 2000 wurde Ecuador zwangsweise dollarisiert. Diese Maßnahme bewirkte eine deutlich zunehmende Verarmung weiterer Kreise der Bevölkerung und wurde auch in verstärkten Kontrollen und Einengungen von Spielräumen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, einschließlich des Kultusministeriums, spürbar. Ein schon zur Gewohnheit gewordenes Gefühl, dass der »Pesta« ein sicherer Zufluchtsort für viele Familien sei, wurde allmählich von der Angst verdrängt, dieses kleine Paradies könnte durch das immer feindlicher werdende Umfeld gefährdet werden.
Dieses Gefühl wurde zusehends bestätigt, denn unter dem zunehmenden Druck brachten immer weniger Erwachsene genügend Zeit und Ruhe für ihre Familien auf, um den ungeeigneten Einflüssen von draußen Einhalt zu bieten. Die Betreuer bemerkten immer mehr Anzeichen von Stress bei den Kindern und hatten zunehmend Mühe, die Umgebung entspannt zu halten. Doch eine entspannte Umgebung ist nach unserem Verständnis die Bedingung, dass echte, zur Reifung notwendige Entwicklungsprozesse – und nicht Anpassungs- oder Verteidigungsstrategien – zum Zuge kommen.
Unter diesen Umständen wurde schließlich bei Eltern und Betreuern das Bedürfnis wach, zusätzlich zu den nach Entwicklungsetappen organisierten regulären Elternversammlungen zu einem weiteren Austausch über das Thema »Lebensqualität für alle Generationen« zusammenzukommen. Auch ehemalige Pesta-Eltern und ältere und frühere Schüler nahmen diese Gelegenheit wahr, unter der Glaskuppel unseres »autodidaktischen Netzwerks« über die Zusammenhänge ihrer Erfahrungen zu |14|sprechen. Dabei warfen die angegangenen Themen oft neue Fragen auf.
In den folgenden Kapiteln habe ich versucht, etwas von solchen Gesprächen herüberzubringen, die für den Inhalt unserer Arbeit besonders bedeutungsvoll gewesen sind. Auch spiegeln sie das Spannungsfeld wider, das oft zwischen dem Werdegang der Eltern und der von ihnen gewählten Schule bestand. Denn in Erwachsenen, für die Fremdbestimmung normal gewesen ist und die durch sie auf Umwegen auch Liebe und Zuwendung bekommen haben, kommen immer wieder neue Zweifel auf, ob sich die neue Generation ohne »Unterricht« an eine Welt anpassen wird, die »nun mal so ist wie sie ist«. Die Priorität, Lebensprozesse zu erkennen und zu achten, bedarf darum ständiger Neubesinnung und neuer Entscheidungen.
Diesem Spannungsfeld versuchte ich in der Struktur eines ineinandergreifenden Dreiecks Gestalt zu geben, das sich aus Elterndialogen, spezifischen Betreuer- und Familienberatungen und aus Gesprächen mit und unter Jugendlichen aufbaut, die sich in der sensiblen Phase der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Erwachsenenwelt befinden.
Dafür habe ich außer den Jugendlichen Menschen mit verschiedenem Hintergrund zu Wort kommen lassen: solche, die gerne und entschieden Eltern sein wollten, andere, die sich gegen ihren Willen und mit Widerständen in diese Situation fanden, und einige Varianten zwischen diesen beiden Polen.
In diesen verschiedenen Gruppen zeigen sich Haltungen unterschiedlicher Art: Menschen, die glauben, alles »richtig« machen zu müssen und die sich dafür Rezepte erhoffen. Andere, die aus äußeren oder inneren Zwängen daran zweifeln, ob es überhaupt möglich ist, sich dem Leben in Eigenverantwortung zu stellen. Andere, die aus Unsicherheit oder sonstigen Prioritäten doch immer wieder versuchen, der Verantwortung für ihren eigenen Werdegang und für den ihrer Kinder auszuweichen |15|oder eben keine andere Lösung finden, als sie zeitweise zu delegieren. Und auch solche, die sich trotz aller Schwierigkeiten auf das Abenteuer der Eigenständigkeit einlassen und sich neuen Fragen öffnen, ohne dabei »richtige« oder »endgültige« Antworten zu erwarten, und die sich darauf einlassen, dass der Weg zum Ziel »genügend gute Eltern« im konkreten Alltag immer wieder gefunden werden muss.
So kommen Menschen mit verschiedenem persönlichem Hintergrund ins Gespräch. Hier werden sie oft unerwartet mit Themen konfrontiert, die für viele ungewohnt sind. Es ist eine Einladung zur Auseinandersetzung mit vernetzten Zusammenhängen und Prozessen, die aus äußeren Umständen, inneren Befindlichkeiten, der Bedeutung von Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen und grundsätzlichen Lebensfragen entstehen.
Die Themenkreise, die sich dabei entwickeln, sind nicht als Fachwissen zu verstehen, sondern als Anhaltspunkte für die Entscheidung, in welchem Rahmen und in welcher Richtung wir »genügend gute Eltern« sein oder werden möchten.
Sind wir zufrieden mit dem Standard herkömmlicher Methoden?
Sehen wir uns schon darum als »genügend gute Eltern«, weil wir unseren Nachwuchs nicht vernachlässigen, misshandeln oder ihm mit Härte unseren eigenen Willen aufzwingen?
Sympathisieren wir vielleicht mit denen, die für ihre und die Freiheit ihrer Kinder alle Erwägungen der Rücksichtnahme und des gesunden Menschenverstandes opfern?
In den Gesprächen tritt immer wieder die Hoffnung zu Tage, das Zusammenleben mit jungen Menschen so zu gestalten, dass erfreuliche und authentische Beziehungen entstehen und gepflegt werden können und dass das gemeinsame Leben harmonischer und sinnvoller werden kann, auch die Ahnung, dass solche Erfahrungen weitere Kreise ziehen werden, in denen eine neue Entwicklung möglich ist. Dabei geht es natürlich um praktische |16|und alltägliche Probleme, aber auch um die Notwendigkeit, Lebensprozesse besser verstehen zu lernen.
Hieraus erwachsen verschiedene Gesprächsebenen:
Die »Strategie der Evolution«, d.h., durch die Interaktion von Erwachsenen und Kindern allen Generationen menschliche Reifeprozesse zu ermöglichen, und der Frage nach den Analogien zwischen den Entwicklungsetappen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nachzugehen.
Das Bild, dass unsere Kinder mindestens bis zum 18., eher bis zum 21.–24. Lebensjahr »menschliche Embryonen« auf verschiedenen Ebenen sind, die sich aus dem Lebensbereich der Eltern allmählich als selbstständige, einfühlsame und denkende Menschen in die Gesellschaft hineinentwickeln.
Fragen nach dem Sinn der Familie, nach »Mutter- und Vaterrollen« oder »Rollen« überhaupt.
Fragen nach den Zusammenhängen zwischen Biologie und Kultur.
Vergleiche zwischen häuslichen Lebensbereichen, in denen die Bedürfnisse aller Familienmitglieder ihr Gleichgewicht suchen, und spezifisch für Heranwachsende vorbereiteten Umgebungen, in denen kindliche Entwicklungsbedürfnisse Vorrang haben und die exklusive Aufmerksamkeit der Erwachsenen genießen.
Die Bedeutung von geeigneten und entspannten Umgebungen und deren wichtigste Elemente, damit in ihnen Reifeprozesse stattfinden können, die statt durch äußere Programme und Forderungen durch die Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung gesteuert sind.
Beziehungen zwischen »spontaner Aktivität«, Nicht-Direktivität«, Grenzen und Regeln, individuellen und sozialen Reifeprozessen, Unterscheidung von Situationen der Pflege und eigenständiger Entwicklung.
Erörterungen, dass Kinder nicht zu frühzeitigen Abstraktionen |17|gedrängt werden, sondern wirklich »auf der Erde landen« und durch ihre Interaktion mit einer sinnvollen Umgebung ihre Instrumente zur Gestaltung eines sinnvollen Lebens ausbilden können.
Die Besorgnis mancher Eltern, ob eine »freie Erziehung« mit ihrer Religion zu vereinbaren sei.
Die Entdeckung, dass die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen an Qualität gewinnen, wenn sie in Umgebungen stattfinden, die für alle Beteiligten Lernprozesse ermöglichen. Dazu gehört, zwischen Wissen und Verstehen unterscheiden zu lernen, kindlichen Denkweisen nachzuspüren und unseren eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen.
Auch die Problematik, wie Eltern, die auf dem Weg zum respektvollen Umgang mit Kindern und sich selber sind, mit ihren eigenen Eltern, Verwandten, Freunden und Nachbarn zurechtkommen können.
Die Beiträge der Jugendlichen werfen auf diese Fragen neues Licht. Wie interpretieren sie die Bemühungen von Erwachsenen, mit den eigenen Kindern neue Wege zu gehen, die ihnen selbst verschlossen waren?
Welche Unterschiede nehmen sie an sich selbst wahr, wenn sie sich mit anderen vergleichen, die eine traditionelle Erziehung genossen haben?
Wie schätzen sie ihre eigenen Prozesse ein, welche Hoffnungen und Ziele ergeben sich für sie und wie stellen sie sich einer Welt voller widersprüchlicher Anforderungen?
All diese Aspekte können aber nicht für sich allein betrachtet werden, denn in Wirklichkeit hängen sie auch mit dem bestehenden Wirtschaftssystem und dem Gesundheitswesen zusammen und spielen sich gegenseitig die Karten zu.
Welche Zusammenhänge gibt es darum zwischen einem Wirtschaftssystem mit dem Zwang zum ökonomischen Wachstum, Konkurrenzverhalten, Machtstrukturen, Leistungsdruck und nicht selten doppelter Moral und der Erwartung|18|, dass sich Kinder möglichst früh »auf die Zukunft vorbereiten« und sich einem Lebensstil unterwerfen, der ihrer inneren Entwicklung oft feindlich ist?
Und schließlich: Welche neuen Strukturen und Lebensumstände können geschaffen oder erweitert werden, die uns ermöglichen, in Kooperation mit der Natur, anderen Menschen und im Einklang mit dem eigenen Potenzial als Mensch zu leben und zu reifen?
Der Ausdruck »genügend gute Eltern« geht zurück auf die Bezeichnung der »genügend guten Mutter« bei Donald W. Winnicott. Es geht dabei darum, dass die Beziehungsperson adäquat auf die Bedürfnisse des Kleinkindes reagiert. »Adäquat« bedeutet in diesem Falle Reifung ermöglichendes Verhalten, und zwar nicht nur im Sinne von liebender Zuwendung, sondern auch das Angebot altersgemäßer (Frustrations-)Reize. Siehe D.W. Winnicott: Reifungsprozess und fördernde Umwelt im Kapitel »Die Rolle der Mutter«, S. 189, Gießen 2001 oder ders. in: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1973
|19|1. Kapitel
Moderator: Guten Abend, liebe Miteltern und Mitarbeiter des »Pesta«! Vom Koordinationsteam der »Fundación Educativa Pestalozzi« wurde ich für diese speziellen Treffen, die nun bis Mai regelmäßig einmal im Monat stattfinden sollen, zum Moderator erkoren. Als solcher möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass ihr so zahlreich hier erschienen seid. Besonders begrüßen möchte ich auch euch junge Leute vom Autodidaktischen Netz! Dieses Gebäude ist ja vor allem für euch geschaffen worden.
Zum Beginn des Abends möchte ich kurz erklären, wie es überhaupt zur Idee dieser Dialogabende gekommen ist: Im zentralen Team der »Fundación Educativa Pestalozzi«, das alle laufenden Entscheidungen für den Pesta zu treffen hat und sich – wie ihr wisst – aus freiwilligen Vertretern der verschiedenen Arbeitszweige – Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe, Autodidaktischem Netz, Verwaltung, Schreinerei und Wohnprojekt – zusammensetzt, wurde uns zunehmend deutlich, dass seit ein paar Jahren nicht nur im ganzen Land, sondern leider auch im »Pesta« ein zunehmender Druck von vielen Seiten zu spüren ist.
Es scheint darum an der Zeit, dass wir uns zusätzlich zu den regulären Elternabenden und Familiengesprächen, die ja nach Altersgruppen getrennt sind, zusammensetzen. So können wir uns alle kennen lernen, uns über den jetzigen |20|Stand der Dinge informieren und – so hoffe ich – auch unser Verständnis über die Ursprünge und Grundlagen dieses besonderen Lebensraums vertiefen. Ich bin froh, dass auch die Gründer dieser Arbeit über die nächsten Monate an unseren Gesprächen teilnehmen können.
MW: Seit der Wirtschaftskrise in Ecuador haben wir uns der zusätzlichen Aufgabe gewidmet, ein Netz von alternativen Wirtschaftsbeziehungen zu knüpfen. Unsere Hoffnung ist, dass in diesem Netz auch die besonderen Lebensbedingungen des »Pesta« aufgefangen werden können. Darum waren wir in der letzten Zeit nicht – so wie früher – in regelmäßigem Kontakt mit den Kindern und euch Eltern. Doch die Teams haben wir regelmäßig in Gesprächen und in der Materialarbeit begleitet.
RW: Für mich ist es etwas Besonderes, an diesem ersten Dialogabend euch neue Eltern zum ersten Mal zu treffen Es ist aber auch eine Freude, so viele altbekannte Gesichter vor mir zu haben. Für diejenigen, die uns praktisch nur vom »Hörensagen« oder von flüchtigen Begegnungen kennen, möchte ich die Gelegenheit benutzen, ein wenig von den Anfängen des »Pesta« zu erzählen. Es ist ja unsere persönliche Geschichte und darum vielleicht am ehesten dazu geeignet, uns von der Vorstellung einer Institution zu befreien, die – wie manche Leute meinen – den »Erziehungsauftrag« mit einem neuen Konzept angegangen ist. So gelingt es uns vielleicht besser, auf menschlicher Basis miteinander ins Gespräch und allmählich auch auf grundsätzliche Fragen zu kommen.
Das »Centro Experimental Pestalozzi«, das ihr jetzt mit einer Schülerschaft von 180 Kindern und Jugendlichen, mit mehreren Arbeitsteams, weitläufigem Gelände und Gebäuden kennt, fing ganz klein bei uns zu Hause an. Und zwar in dem Moment, als wir uns als junges Ehepaar eingestanden|21|, dass wir zwar glücklich über die Geburt unseres Sohnes, aber in der Praxis als Eltern ziemlich unfähig waren. Mit unseren 27 Jahren hatten wir eine Ahnung von vielerlei Dingen, hatten auch manche Kenntnisse und interessante Erfahrungen gesammelt. Aber von unserem eigenen Kind verstanden wir so gut wie nichts, wussten nicht, was es brauchte, um zufrieden mit sich selbst und seiner Umgebung aufzuwachsen. So machten wir uns das Leben gegenseitig oft schwer; wir suchten Ratschläge bei Nachbarn und Freunden, doch die waren widersprüchlich und verschlimmerten oft unsere Lage.
Ein geliehenes Buch vermittelte uns Einsichten in die zentralen Ideen Maria Montessoris: die sensiblen Phasen und das Phänomen spontaner Aktivitäten in einer geeigneten Umgebung. Damit öffnete sich uns der Blick für ein neues Panorama und erweckte den Wunsch, uns zusammen mit unserem Kind auf den Weg in eine wenig bekannte Landschaft zu machen. Das äußere Szenario dafür war eine Studentenwohnung mit einem kleinen Garten auf der karibischen Insel Puerto Rico.
Bereits nach unseren ersten Versuchen, die Umgebung zu Hause vorzubereiten und genauer hinzuschauen, was unser einjähriger Sohn darin unternahm, veränderte sich unser gemeinsames Leben. Die Situationen wurden entspannter, die Beziehung liebevoller und wir bekamen echtes Interesse an menschlichen Entwicklungsprozessen. Nicht nur das Kind, auch wir »Alten« lernten jeden Tag etwas Neues dazu. Nachbarskinder gingen ein und aus, genossen die Atmosphäre und wollten kaum nach Hause. Durch gewisse Umstände kamen wir dann nach Kolumbien und organisierten dort eine Spielgruppe, in der neben unserem vierjährigen Sohn fünfzehn weitere Kinder eine glückliche Zeit verbrachten. Doch danach schickten wir Leonardo normal in die Schule und wandten uns – allgemein ausgedrückt – anderen Dingen zu.
|22|Auf Umwegen kamen wir schließlich nach Tumbaco. Inzwischen war Leo zwölf. Von seiner früheren Lebensfreude und seinen vielseitigen Interessen war nur noch wenig übrig geblieben. Er gewann sie erst zurück, als wir ihm die Möglichkeit gaben, nicht mehr in die Schule zu gehen. Rafael, unser zweiter Sohn, kam gerade ins Kindergartenalter. In Erinnerung an frühere gute Erfahrungen machten wir uns daran, in einem gemieteten Haus mit weitläufigem Außengelände nochmals einen Kindergarten einzurichten.
Hier lebten wir zwölf Jahre in einer intensiven Symbiose mit dem »Pesta«. Von den vier ersten Kindergartenkindern stieg die Zahl bald auf neunzig. Nach zwei Jahren entschieden wir uns, Leonardo anzubieten, zu Hause zu bleiben, obwohl wir damals für sein Alter noch keine spezifische Umgebung vorbereitet hatten. Rafael schulten wir gar nicht erst ein und begannen mit der Aufbereitung der Umgebung für seine Entwicklungsstufe. Zwei zusätzliche provisorische Hallen auf dem gemieteten Gelände beherbergten so gut es ging eine stetig wachsende Menge an Materialien. Die Primarschulkinder wuchsen heran. Manche blieben weiter bei uns und unvorhergesehen standen wir vor der Aufgabe, uns auch noch mit den Bedürfnissen und Prozessen von Jugendlichen auseinander zu setzen.
So gingen jeden Morgen rund 160 Heranwachsende und um die zehn Betreuer in unserem Haus und Gelände aus und ein. Die Nachmittage verbrachten wir mit Team- und Elterngesprächen. Unser Privatbereich war praktisch auf unsere Schlafzimmer reduziert.
MW: Wie sich herausstellte, wurde es zu einer echten Herausforderung, die ursprünglichen Intuitionen und Einsichten nicht aufzugeben, die uns auf diesen Weg gebracht hatten. Wir weigerten uns standhaft, Unterrichtseinheiten und Schulprogrammen zu folgen, die Kinder in Klassen einzuteilen, sie zu examinieren und zu benoten. Stattdessen reicherten |23|wir die Umgebung ständig an – bis dahin, wie sie heute beschaffen ist. Alle Kinder und Jugendliche konnten in dieser Umgebung immer wieder frei wählen. Wir Erwachsenen näherten uns dadurch dem Verständnis, was Kinder wirklich brauchen, und lernten zwischen echten Entwicklungsbedürfnissen und Ersatzhandlungen zu unterscheiden und notfalls Grenzen zu setzen.
Die ständige Auseinandersetzung mit dem Kultusministerium war ein zusätzlicher Impuls, uns mit den Erfahrungen anderer Alternativschulen, mit Studien der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie auseinander zu setzen. Solche Forschungen verglichen wir mit gängigen pädagogischen Techniken und verknüpften sie mit Analysen über den Zustand der Welt, in der wir leben. Die Aktivitäten der Kinder und unsere Erkenntnisse dokumentierten wir so weit wie möglich. Dank dieser Bemühungen erreichten wir nach 10 Jahren der »Illegalität« die vollkommene Anerkennung der Behörden für dieses ungewöhnliche pädagogische Konzept.
RW: Doch blieben unsere eigenen Wahrnehmungen im Zusammenleben mit den Kindern und Jugendlichen der wichtigste Faktor in diesem Prozess. Dazu kam das Verständnis, dass es in diesem Ansatz ja nicht nur um die Kinder, sondern auch um uns Erwachsene geht. Die Hingabe, mit der wir uns dem Aufbau eines andersartigen Lebensraums widmeten, war also gar nicht so selbstlos wie man glauben könnte, sondern eine exzellente Gelegenheit, den Gesetzmäßigkeiten des Lebens auf die Schliche zu kommen.
MW: Hin und wieder ergaben sich konkrete Situationen, die uns halfen, trotz aller Hindernisse und Unsicherheiten unsere selbst gewählte Aufgabe nicht aufzugeben. Zum Beispiel wurde uns der Vertrag für das gemietete Gelände gerade in dem Jahr gekündigt, in dem wir durch eine Zahl unvorhergesehener Umstände in ein eigenes Gelände umziehen konnten. Hier wurde in den letzten fünfzehn Jahren all das |24|entwickelt, was heute den Pesta ausmacht. Doch jetzt ist es an der Zeit, das Liebgewonnene und Gewohnte aufzugeben und auf der Basis der gewonnenen Einsichten etwas Neues aufzubauen, um den Inhalt der Arbeit zu bewahren.
Kurz zu erwähnen wäre noch, dass nach den ersten fünf Jahren der Arbeit auf Wunsch der damaligen Eltern die »Fundación Educativa Pestalozzi« als legaler Schutz für die wachsende Schule gegründet wurde. Diese legale Struktur wird auch in Zukunft für die weitergehenden Projekte verantwortlich sein.
Mit dieser kurzen Vorgeschichte könnten wir jetzt wohl den Dialog eröffnen.
Moderator: Hat jemand einen Kommentar oder ein Anliegen, über das er gerne sprechen möchte?
Irene: Ich bin eine »neue Pesta-Mutter«. Unser Sohn hat dieses Jahr im Kindergarten angefangen. Wir waren froh, hier einen Ort zu finden, wo wir unser Kind mit gutem Gewissen abgeben konnten. Mein Mann und ich arbeiten in einem Geschäft in Quito. Kein leichter Job, viel Konkurrenz und – zugegeben – keine gute Arbeitsatmosphäre. Aber für unser Kind wünschen wir uns etwas Besseres. In dieser tollen Umgebung und mit liebevollen Erwachsenen kann es jeden Tag genießen, was wir uns nur gelegentlich gönnen: frische Luft und Freude am Leben. Aber zu Hause sind unsere Möglichkeiten beschränkt. Wir kommen gerädert von der Arbeit zurück und kaum mit der Haushaltsarbeit zu Rande. Wie können wir das alles schaffen und dazu noch ständig darüber nachdenken, welche berechtigten und unberechtigten Ansprüche ein Vierjähriger an seine Eltern stellt?
Gabriela: Wenigstens hast du noch einen Lebensgefährten, der dich unterstützt! Als mein Kind auf die Welt kam, merkte ich mit Schrecken, dass ich statt einem eigentlich zwei Kinder zu betreuen hatte. Mein Mann fand, er brauche geradezu ebensoviel Pflege |25|wie das Kind. Eine Zeit lang versuchte ich, Mutter für beide zu spielen, gab es aber schließlich auf. Mit dem Resultat, dass ich alles alleine zu bewältigen habe – Geld verdienen, den Haushalt führen und das Kind betreuen. Wenigstens an den Elternabenden im Pesta habe ich das Gefühl, nicht so allein mit meinen eigenen Vorstellungen und Problemen zu sein. Mit anderen über mich und mein Kind reden zu können, ersetzt mir ein wenig die Familie. Meine Eltern sind seit der Scheidung gegen mich und würden mich nur unterstützen, wenn mein Kind in eine normale Schule ginge.
Roberto: Scheinbar sind wir heute in einer gesunden Mischung hier beisammen. Wir selbst sind »alte Eltern« mit einer langjährigen Erfahrung im Pesta. Wie die meisten zweifelten wir am Anfang, ob wir denn wirklich verantwortlich vorgingen, indem wir einen ungewohnten Weg für unsere Kinder gewählt hatten. Aber wir bekamen immer wieder Bestätigungen, dass es den Kindern gut ging, auch wenn wir Erwachsenen in einer andern Welt lebten und zu selten auf einer Wellenlänge mit ihnen waren. An wie vielen Elternabenden haben wir darüber diskutiert, ob es nicht doch besser wäre, die Kinder wenigstens ein bisschen zu schubsen und zu motivieren, um sicherzustellen, dass sie für die »harte Wirklichkeit« unserer Gesellschaft genügend vorbereitet sein würden! Erst als wir merkten, mit welchem Selbstvertrauen unsere Jugendlichen dann ihren Weg machten, fühlten wir uns entspannt genug, um tiefer über Fragen der Entwicklung nachzudenken. Jetzt haben wir eine Achtjährige in der Primaria und können mit der Situation ganz anders umgehen.
Bestimmt sind unter euch welche, die zwischen der Freude an der Lebendigkeit der Kinder und den Sorgen um ihre Zukunft hin und her gerissen sind. Vielleicht zweifelt ihr noch, ob es nicht doch besser wäre, allen gleichaltrigen Kindern den gleichen Lernstoff vorzusetzen, so wie es auch |26|heutzutage allgemeiner Brauch ist. Die neuen Kindergarteneltern haben womöglich wieder ganz andere Fragen. Ich erwarte mir jedenfalls einen interessanten Austausch für die kommenden Monate.
Diana: Ja, ich bin gerade eine von den Neuen. Vor einem Jahr brachten wir unsere Tochter in diesen Kindergarten. Wir sind Eltern, die von Anfang an alles möglichst gut machen wollten. Wir entschieden uns für eine Hausgeburt, lasen so viel wir konnten über Erziehung und versuchten alles perfekt zu machen. Den Pesta wählten wir unter anderem, weil wir uns hier mit den anderen Eltern beraten können. Die Familiengespräche haben wir weidlich ausgenützt.
Aber jetzt bin ich gerade ziemlich frustriert. Ich hätte gerne, dass die Betreuer, die doch ausgebildete Leute sind, mir klarere Anweisungen geben und mir genauer sagen, was ich richtig und falsch mache, statt sich nur so über meine Erlebnisse zu erkundigen. Und wenn sie mir auf mein Drängen doch Ratschläge geben, passen die auch wieder nicht so richtig auf meine Situation. Könnt ihr uns nicht eine Art Handbuch geben, damit wir zu Hause dem gleichen System folgen wie ihr in der Schule? Kommen die Kinder nicht durcheinander, wenn wir Eltern es zu Hause anders machen als ihr in dieser vorbereiteten Umgebung?
Victor: Für mich liegt das Problem wieder ganz anders. Meine Frau hat sich intensiv mit Kindererziehung befasst und ist nun überzeugt, sie sei die Expertin und ich mache alles falsch. Sie meint, diese Dialogabende würden mir gut tun, damit ich verstehe, wovon sie redet. Aber ehrlich gesagt: Oft finde ich es auch nicht gut, wie sie mit unsern beiden Kindern umgeht. Wenn ich zum Beispiel müde von der Arbeit nach Hause komme, möchte ich keinen Geschwisterstreit. Schließlich bin ich der Alleinversorger der Familie. In meiner Arbeit habe ich es mit wichtigen Problemen zu tun. Sie dagegen behauptet, Kinder aufziehen sei sogar noch anspruchsvoller |27|und trage außerdem zu ihrer persönlichen Entwicklung bei. Aber in alltäglichen Situationen ist auch sie hilflos. Wer von euch kann mich zum Beispiel darüber aufklären, was ich machen soll, wenn meine beiden Buben andauernd streiten und ich am Wochenende meine wohlverdiente Ruhe haben will?
Moderator: Ich würde gern daran erinnern, dass zur Erörterung spezifischer Fragen Familiengespräche mit den Betreuern angemeldet werden können. Es wäre schön, wenn wir unsere Anliegen bei den Dialogabenden so weit gefasst formulieren, dass sie unser Verständnis vertiefen und wir nachvollziehen können, wie jedes konkrete Lebensproblem auf verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, verstanden und dadurch neu angegangen werden kann.
Hier kommen wir ja aus verschiedenen Lebenssituationen zusammen. Unter uns sind Eltern, die sich ihre Kinder wirklich gewünscht haben. Andere, die ins Elternsein hineingeschlittert sind, ohne sich viel dabei gedacht zu haben. Sogar solche, die gegen ihren Wunsch in diese Lage gekommen sind und vielleicht erst nach Umwegen und Widerständen ihre Aufgabe akzeptierten.
Gar nicht so viele von uns sind Eltern, die ihre Kinder in einer klassischen Familie aufziehen. Manche leben noch in einer Großfamilie, die ihnen zwar Schutz gibt, aber auch Einschränkungen auferlegt. Unter den Alleinerziehenden haben wir Geschiedene und andere, die von Anfang an ihr Kind ohne Partner aufgezogen haben.
Wahrscheinlich sind wir auch mit ganz verschiedenen Motiven zum Pesta gekommen: Manche haben zwar eine Alternative gesucht, aber erst allmählich gemerkt, was das Spezielle hier ist. Manche wurden vielleicht von anderen überredet oder kamen wegen der schönen Umgebung. Und einige sind sowohl Betreuer als auch Eltern hier.
|28|Bei all diesen Unterschieden verstärkt sich mein Wunsch, diese Abende zur Vertiefung der Grundideen zu nutzen, auf die unsere Erfahrungen zurückgeführt werden können. Dann können wir entscheiden, ob diese Ideen mit unseren Erwartungen übereinstimmen oder ob wir einen andern Rahmen für unsere elterliche Verantwortung vorziehen.
Maria: Ich bin wirklich froh über dieses zusätzliche Angebot zum Dialog. Es ist zwar leicht zu sehen, wie gut diese Umgebung und Herangehensweise meiner Tochter tut, aber zu Hause fühle ich mich oft hilflos und überfordert. Ich brauche klare Richtlinien, damit die Kluft zwischen dem Kindergarten und meiner eigenen Umgebung kleiner wird.
Edgar: Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Schließlich zahle ich pünktlich jeden Monat meinen Beitrag, weil ich eben darauf vertraue, dass die Lehrer es mit meinem Kind gut machen. Das ist schließlich ihre Pflicht. Aber was ich zu Hause mache, ist meine Sache. Euer Argument, dass eure Methode dem heutigen Stand der Wissenschaft entspricht und dass man damit bessere Resultate erhoffen kann als im herkömmlichen System, das so großen Wert aufs Auswendiglernen legt, genügt mir, um mich als Vater ruhig zu fühlen.
Anita: In diesem Punkt haben wir unsere kleinen Differenzen zu Hause. Zugegeben war ich es, die sich für diesen Kindergarten begeistert hat. Gleich beim ersten Besuch hatte ich das Gefühl, wir Erwachsene wären heute besser dran, wenn wir in solcher Umgebung hätten aufwachsen können. Aber es ist nicht einfach, den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Diese Gesprächsrunden geben uns beiden vielleicht die Möglichkeit, unsere Meinungsverschiedenheiten in Sachen Kindererziehung etwas zu verringern und Streit zu vermeiden.
Jugendlicher: Ich bin eigentlich hergekommen, um besser zu verstehen, was ich und meine Freunde seit unserer Kindheit hier erlebt haben. Für uns war der Pesta so normal wie es |29|das Wasser für die Fische ist. Wir haben meistens nicht so viel darüber nachgedacht. Erst später ging uns auf, dass wir in einer besonderen Situation groß geworden sind. Was waren das für Erwachsene, die uns diese Chance gegeben haben? Allmählich wird mir klar, dass es für euch Eltern gar nicht so einfach gewesen ist, an uns etwas Neues auszuprobieren. Jetzt bin ich interessiert, von welchen Gedanken ihr dabei ausgegangen seid.
Georg: Also, unsere einzige Tochter ist schon aus dem Pesta herausgewachsen. Sie ist vom Kindergarten bis zum 18. Lebensjahr hier geblieben. Was mich in den ersten Jahren besonders überzeugt hat, war der ständige Austausch zwischen Eltern und Betreuern. Ich habe sogar versucht, ein paar Grundideen in meinen Beruf einfließen zu lassen und erstaunliche Erfolgserlebnisse dabei erlebt.
Johannes: Das kann ich nur bestätigen. In meinem Job werde ich regelmäßig zu Managerseminaren geschickt. Am Anfang war ich verblüfft, weil ich die meisten Ideen längst aus den Elternabenden im Pesta kannte: Freiräume für alle Mitarbeiter für persönliche Initiative, Eigenverantwortung, grünes Licht zum Experimentieren und viel Austausch untereinander. Solche Themen waren mir längst bekannt. Leider ist es zu Hause mit meinen vier Kindern nicht so einfach wie in der Firma. Vielleicht helfen uns diese Dialoge herauszufinden, woran das liegt.
Francisco: Hoffentlich nimmt mir’s niemand übel, wenn ich in dieser Runde ein bisschen den Querkopf spiele. Was haben wir davon, wenn wir ein System, das zugegeben nicht perfekt ist, mit einem andern System vertauschen, von dem man aber auch nicht wissen kann, was letztendlich dabei herausschauen wird? Meiner Meinung nach brauchen wir in diesen unsicheren Zeiten mehr Sicherheit, mehr Kontrolle, klarere Strukturen und straffere Zügel. Das heißt eben: anerkannte Schulabschlüsse und Diplome, damit unsere Kinder |30|später mit der Wirklichkeit zurechtkommen, die da draußen auf sie wartet. Kommt denn ihr Betreuer, die ihr uns an den Elternabenden dieses neue System erklärt, zu Hause mit euren eigenen Kindern zurecht oder habt ihr die gleichen Probleme wie wir, die wir im normalen Lebenskampf stehen?
Jugendlicher: Ich würde mir wünschen, dass einer von euch Erwachsenen etwas sagen würde, was eher mit meiner eigenen Erfahrung übereinstimmt. Unter uns Jugendlichen verstehen wir uns meistens gut. Aber hier unter so vielen Erwachsenen fehlt es mir an den rechten Worten. Ich wäre dankbar, wenn einer von euch für mich einspringen würde.
Margarita: Gut, ich will einen Versuch starten, auch auf die Gefahr hin, dass das Bild, das mir gerade vorschwebt, für andere nicht ohne weiteres zugänglich ist. Es entspringt meiner eigenen Erlebniswelt, was ja in einem Dialog erlaubt sein soll. Vielleicht lässt es ein wenig anklingen, was mir die letzten Jahre als Betreuer und gleichzeitig Mutter bedeutet haben.
Wenn die Rede davon ist, ein System mit einem andern zu vertauschen, kommt es mir vor, als wenn jemand ein Musikstück nach einer vorgegebenen Partitur abzuspielen versucht. Das kann richtig oder falsch sein, das Stück kann einem gefallen oder auch nicht. Aber man ist zufrieden, wenn man es ordentlich zu Ende bringt.
Was mich gelockt hat, mich mehr und mehr auf diesen Weg eines respektvollen Umgangs einzulassen, war aber eine Art Melodie, ein musikalisches Thema, das zuerst mein Gefühl berührt und dann immer mehr meine Gedanken angeregt hat. Ich konnte damit improvisieren, ein neues Thema dagegen stellen, nachspüren, wie es sich mit dem vorhergegangenen verband und wieder auseinander ging. So wie eine Fuge, die ihre eigene Struktur entfaltet und mein Fühlen und Denken erweitert und vertieft. Das ist kein nach Noten spielen, sondern eine selbst erfundene Komposition, die viele |31|unvorhergesehene Wendungen zulässt und andere zum Mitspielen einlädt. Dabei weiß keiner, wie dieses Musikstück enden wird. Doch wer mitspielt, hat seine Freude daran.
Jugendlicher: Mir klingt das bekannt. Das ist genauso, wie wir zusammen musizieren. Aber so wie ich unsere Eltern einschätze, ist dieser Vergleich wahrscheinlich nicht sehr beruhigend. Sie sorgen sich immer noch, wie die Sache denn enden wird.
Moderator: Vielleicht ist es aber eine Einladung zu der Überlegung, welche Themen uns für die nächsten Zusammenkünfte am Herzen liegen. Ich persönlich würde mir wünschen, dass es welche sind, die uns wirklich bewegen oder, wie Margarita es ausdrückt, unsere Gefühle und Gedanken berühren und zum Improvisieren anregen.