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Charlotte Link

Das Echo der Schuld

Roman

Autorin

Charlotte Link ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre psychologischen Spannungsromane in bester englischer Krimitradition (u.a. »Das Haus der Schwestern«, »Die Rosenzüchterin«, »Am Ende des Schweigens«) stehen regelmäßig über viele Monate an den Spitzen der Bestsellerlisten. Die zumeist mehrteiligen TV-Verfilmungen ihrer Bücher werden mit riesigem Erfolg im ZDF ausgestrahlt. Charlotte Link, seit vielen Jahren engagierte Tierschützerin, lebt mit ihrer Familie und ihren Hunden in der Nähe von Frankfurt/Main.

Sonntag, 6. August 2006

Rachel Cunningham sah den Mann, als sie von der Hauptstraße in die kleine Sackgasse abbog, an deren Ende sich die Kirche und unweit davon das Gemeindehaus befanden. Er trug eine Zeitung unter dem Arm, hielt sich im Schatten eines Baumes und schaute sich ein wenig teilnahmslos in der Gegend um. Hätte er nicht am vergangenen Sonntag an genau derselben Stelle gestanden, er wäre Rachel wohl kaum aufgefallen. So aber dachte sie: Komisch. Schon wieder der!

Aus der Kirche konnte sie das Dröhnen der Orgel und den Gesang der Gemeinde hören. Gut, dort war die Messe noch in vollem Gang. Ihr blieb also noch Zeit, bis der Kindergottesdienst anfing. Donald, ein netter junger Theologiestudent, war damit betraut. Rachel schwärmte ein bisschen für Don, wie die Kinder ihn nannten, deshalb war sie gern etwas zu früh dran, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Don hielt seine Gottesdienste im Gemeindehaus ab. Wenn man ganz vorne saß, kam man öfter dran, hatte Rachel herausgefunden, und man durfte mehr Aufgaben übernehmen: die Tafel sauberwischen zum Beispiel, oder helfen, den Diaprojektor zu bedienen. Angesichts ihrer Verliebtheit war Rachel ziemlich begierig auf derartige Bevorzugungen. Ihre Freundin Julia behauptete allerdings, mit ihren acht Jahren sei Rachel viel zu jung für einen erwachsenen Mann und wisse noch gar nichts von der wahren Liebe.

Als ob, dachte Rachel, Julia dies beurteilen könnte!

Rachel ging jeden Sonntag in den Kindergottesdienst, außer wenn ihre Eltern etwas gemeinsam mit den Kindern geplant hatten. Nächsten Sonntag zum Beispiel, da hatte Mums Schwester Geburtstag, und sie würden schon früh am Morgen zu ihr nach Downham Market fahren. Rachel seufzte. Kein Don. Ein öder, langweiliger Tag mit vielen Verwandten, die sich ständig über Dinge unterhielten, die sie nicht interessierten. Und danach würden sie gleich in die Ferien aufbrechen. Für fast zwei Wochen. In irgendein blödes Ferienhäuschen auf der Insel Jersey.

»Hallo!«, sagte der fremde Mann, als sie an ihm vorüberging. »Na, was hat dir denn die Laune verhagelt?«

Rachel zuckte zusammen. Sie hätte nicht gedacht, dass sich die missmutigen Gedanken offenbar so deutlich auf ihrem Gesicht abzeichneten.

»Ach, nichts«, sagte sie und merkte, dass sie ein bisschen rot wurde.

Der Mann lächelte. Er sah nett aus. »Schon gut. Fremden soll man sich ja nicht gleich anvertrauen. Sag mal, gehst du in die Kirche? Da bist du nämlich ein wenig spät dran.«

»Ich gehe in den Kindergottesdienst«, sagte Rachel, »und der fängt erst an, wenn die Kirche aus ist.«

»Hm, ja. Verstehe. Den veranstaltet doch … na, wie heißt er …?«

»Donald.«

»Donald. Richtig. Alter Bekannter von mir. Wir hatten ein paar Mal miteinander zu tun … Ich bin Pfarrer, weißt du. In London.«

Rachel überlegte, ob es in Ordnung war, dass sie hier stand und mit einem wildfremden Mann redete. Ihre Eltern sagten immer, sie solle sich von Fremden nicht ansprechen lassen und gleich weitergehen, wenn es jemand versuchte. Andererseits wirkte dieser Mann so nett, und die Situation schien völlig ungefährlich. Der helle, sonnige Tag. Die singenden Stimmen in der Kirche. Vorne auf der Straße promenierten Spaziergänger vorüber. Was sollte hier schon passieren?

»Weißt du«, sagte der Mann, »offen gestanden habe ich gehofft, jemanden aus dem Kindergottesdienst zu treffen. Und zwar jemanden, der mir helfen kann. Du siehst mir sehr aufgeweckt aus. Meinst du, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst?«

Und ob Rachel das konnte. Julia hatte ihr schon viele Geheimnisse anvertraut, und sie hatte sich noch nie verplappert.

»Klar kann ich das«, erwiderte sie.

»Es ist nämlich so, dass ich meinen alten Freund Donald gern überraschen würde«, sagte der Mann. »Er hat keine Ahnung, dass ich wieder in der Gegend bin. Ich war lange in Indien. Kennst du Indien?«

Rachel wusste, dass das ein Land in weiter Ferne war und dass die Menschen, die von dort kamen, eine dunklere Hautfarbe hatten als die Engländer. In ihre Schulklasse gingen zwei indische Mädchen.

»Ich war da noch nicht«, sagte sie.

»Aber es würde dich doch interessieren, Bilder von dort zu sehen, oder? Von den Kindern in ihren Dörfern. Wie sie leben und spielen, und wo sie zur Schule gehen. Na, wäre das nicht spannend?«

»Doch. Ja.«

»Siehst du. Und ich habe ganz viele Dias von Indien. Die würde ich gern in eurem Kindergottesdienst zeigen. Aber ich brauche jemanden, der mir dabei assistiert.«

Das Wort kannte Rachel nicht. »Was heißt das?«

»Nun, jemanden, der mir hilft, die Kästen mit den Dias hineinzutragen. Die Leinwand aufzuhängen. Glaubst du, dass du das könntest?«

Das hörte sich genau nach einer Aufgabe an, wie Rachel sie liebte. Sie stellte sich vor, wie Don staunen würde, wenn sie mit seinem alten Freund ankam und dann mit ihm Dias von jenem fernen Land zeigte. Julia würde platzen vor Neid!

»Das könnte ich! Auf jeden Fall! Wo sind denn die Dias?«

»Halt«, bremste der Mann. »Die habe ich noch nicht dabei. Ich wusste ja nicht, dass ich hier eine so begabte, hilfsbereite Person wie dich treffen würde. Ich dachte an den nächsten Sonntag?«

Rachel wurde schwach vor Schreck. Ausgerechnet der nächste Sonntag! Den sie bei ihrer Tante in Downham Market verbringen würde … Und anschließend die Ferien auf Jersey …

»Oh, das ist ja furchtbar! Da bin ich nicht hier! Meine Eltern …«

»Dann muss ich doch versuchen, jemand anderen zu finden«, meinte der Mann.

Das war eine schier unerträgliche Vorstellung.

»Bitte«, flehte Rachel, »können Sie nicht noch …«, sie rechnete hastig nach, »… noch drei Wochen warten? Wir fahren nämlich in die Ferien. Aber wenn wir zurück sind, würde ich auf jeden Fall mitmachen! Ganz sicher!«

»Hm«, überlegte der Mann. »Das dauert aber noch ganz schön lange«, meinte er dann.

»Bitte«, flehte Rachel wieder.

»Glaubst du wirklich, du kannst das Geheimnis so lange für dich behalten?«

»Ganz bestimmt. Ich sage niemandem etwas! Ehrenwort!« »Du dürftest Donald nichts erzählen, denn den will ich ja überraschen. Und deiner Mum und deinem Dad auch nichts. Meinst du, das geht?«

»Ich sage meiner Mum und meinem Dad sowieso nichts«, behauptete Rachel, »die interessieren sich auch gar nicht für mich.«

Das stimmte nicht ganz, das wusste sie. Aber seit drei Jahren, seitdem Sue auf der Welt war, die kleine Schwester, die Rachel nie gewollt hatte, war alles anders geworden. Früher war sie der Mittelpunkt der Welt für Mum und Dad gewesen. Jetzt drehte sich alles um den Quälgeist, der ständig beaufsichtigt werden musste.

»Und deiner besten Freundin?«, vergewisserte sich der Mann. »Der sagst du auch nichts?«

»Nein. Ich schwöre es!«

»Gut. Gut, ich glaube dir. Pass auf, wir treffen uns dann am Sonntag in drei Wochen unweit meiner Wohnung. Wir fahren zu mir, und du hilfst mir, die Sachen ins Auto zu laden. Du wohnst in King’s Lynn?«

»Ja. Hier in Gaywood.«

»Okay. Dann kennst du sicher den Chapman’s Close?« Den kannte sie. Ein Neubaugebiet mit noch nicht fertig gestellten Mehrfamilienhäusern. Der Chapman’s Close endete in einem Feldweg. Eine ziemlich einsame Gegend. Rachel und Julia fuhren dort manchmal mit ihren Fahrrädern herum.

»Ich weiß, wo das ist«, sagte sie.

»Sonntag in drei Wochen? Um Viertel nach elf?«

»Ja. Ich bin ganz bestimmt da!«

»Allein?«

»Natürlich. Wirklich, Sie können sich auf mich verlassen.«

»Ich weiß«, sagte er und lächelte wieder sein sympathisches Lächeln, »du bist ein großes, vernünftiges Mädchen.«

Sie verabschiedete sich von ihm und ging dann weiter in Richtung Gemeindehaus. Mit stolzgeschwellter Brust.

Ein großes, vernünftiges Mädchen.

Noch drei lange Wochen. Sie konnte es kaum abwarten.

Montag, 7. August

Am Montag, den 7. August, verschwand Liz Albys einziges Kind.

Es war ein wolkenloser Sommertag, so heiß, dass man hätte meinen können, man sei in Italien oder Spanien, aber keinesfalls in England. Obwohl sich Liz schon immer über die abfälligen Bemerkungen, das englische Wetter betreffend, geärgert hatte. So schlecht war es nämlich gar nicht, die Leute klebten einfach nur an ihren Klischeevorstellungen. Zumindest war es eine Frage der Region. Der Westen, der die Wolken abbekam, die Tausende von Kilometern über den Atlantik herangezogen waren, war zweifellos recht feucht, und auch oben in Yorkshire und Northumberland regnete es oft. Aber unten in Kent klagten die Bauern in vielen Sommern über Dürre und Trockenheit, und auch in Liz’ Heimat, in East Anglia, konnte man im Juli und August ganz schön ins Schwitzen geraten. Liz mochte Norfolk, wenn es ihr auch nicht immer leicht fiel, ihr Leben überhaupt zu mögen. Schon gar nicht, seitdem Sarah vor viereinhalb Jahren zur Welt gekommen war.

Es war tragisch, mit achtzehn schwanger zu werden, und zwar aus purer Dummheit, weil man einem Typen vertraut hatte, der verkündete, er »werde schon aufpassen«. Mike Rapling hatte offensichtlich keine Ahnung vom Aufpassen gehabt, denn schon Liz’ erste sexuelle Begegnung mit ihm hatte sich als Volltreffer erwiesen. Später hatte Mike noch herumgeschimpft und behauptet, er sei hereingelegt worden, Liz habe ihn in eine Ehe nötigen wollen, aber er werde den Teufel tun, sich in seinem jugendlichen Alter bereits in Ketten legen zu lassen.

Liz hatte Ströme von Tränen vergossen. »Und was ist mit meinem jugendlichen Alter? Und meinen Ketten? Ich habe jetzt das Kind am Hals, und mein Leben ist zerstört!«

Erwartungsgemäß hatte Mike dies nicht besonders gekümmert. Er weigerte sich rundweg, Liz zu heiraten, und verlangte sogar einen Vaterschaftstest, als das kleine Mädchen geboren war und die Frage der Unterhaltszahlungen drängend wurde. Zumindest an seiner Eigenschaft als Erzeuger konnte es danach keinen Zweifel mehr geben. Er zahlte widerwillig, wenn auch halbwegs regelmäßig, hatte aber nach zwei oder drei kurzen Besuchen jedes Interesse an seiner Tochter verloren.

Es war keineswegs so, dass Liz ein Interesse an Sarah gehabt hätte, aber ihr blieb nichts übrig, als sich irgendwie um das Kind zu kümmern. Sie hatte gehofft, ihre Mutter, bei der sie noch immer lebte, würde ihr helfen, aber Betsy Alby war so geschockt von der Tatsache, dass in Zukunft ein Baby in der winzigen Sozialwohnung im trostlosesten Viertel von King’s Lynn herumschreien würde, dass sie ihrer Tochter unmissverständlich klarmachte, sie werde sich dieses Problems keinesfalls annehmen.

»Es ist dein Kind! Und es war deine idiotische Geilheit, die dich in diese Lage gebracht hat! Glaub nicht, dass irgendjemand zur Stelle ist, um dir diese Scheiße abzunehmen. Ich schon gar nicht! Du kannst verdammt froh sein, dass ich euch nicht alle beide vor die Tür setze!«

Sie hatte geschimpft und geflucht und auch später, als die Kleine da war, nicht die geringsten Anzeichen großmütterlicher Gefühle gezeigt. Eisern blieb sie bei ihrer Drohung, sie werde sich »dieses Balg nicht ein einziges Mal aufs Auge drücken lassen!«. Zwar saß sie den ganzen Tag in der Wohnung vor dem Fernseher, aß Kartoffelchips und begann in den späten - und zunehmend auch in den früheren - Nachmittagsstunden mit ihrem immensen Konsum von billigem Schnaps, aber selbst wenn Liz einkaufen ging, durfte sie ihre Tochter nicht zurücklassen, sondern musste mitsamt sperrigem Kinderwagen und schreiendem Baby in den Supermarkt trotten. Es konnte für Liz keinen Zweifel geben: Dieses Ergebnis einer leichtsinnigen verliebten Aprilnacht badete sie vollkommen allein aus.

Manchmal war sie nahe daran zu verzweifeln. Dann wieder riss sie sich zusammen und schwor sich, sie würde sich nicht ihr Leben zerstören lassen. Sie war jung und attraktiv. Irgendwo musste es doch einen Mann geben, der sich trotz der Last, die sie mit sich herumtrug, ein gemeinsames Leben mit ihr vorstellen konnte.

Denn so viel stand fest: Ewig wollte sie nicht in dem düsteren Loch bei ihrer Mutter sitzen, wo selbst an strahlenden Sommertagen schon frühmorgens alle Rolläden heruntergelassen waren, damit man das Fernsehbild besser erkennen konnte und keine Hitze hereindrang, die Betsy, die ständig schwitzte, fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Liz wollte eine hübsche Wohnung, und am meisten wünschte sie sich einen kleinen Balkon davor, auf dem sie Blumen pflanzen konnte. Sie hoffte auf einen netten Mann, der ihr manchmal Kleinigkeiten mitbrachte, hübsche Wäsche oder ein Parfüm, und der sich als Sarahs Vater fühlen würde. Er sollte genügend Geld verdienen, so dass sie nicht mehr im Drogeriemarkt für einen kläglichen Lohn an der Kasse würde sitzen müssen. An den Wochenenden konnten sie zu dritt Ausflüge unternehmen, Picknicks und Fahrradtouren machen. Wie oft sah sie fröhliche Familien, die zu einer gemeinsamen Unternehmung aufbrachen! Während sie selbst immer nur einsam mit dem quengelnden kleinen Ding herumzog, stets auf der Flucht vor dem plärrenden Fernseher zu Hause und vor dem Anblick ihrer knapp vierzigjährigen Mutter, die bereits wie sechzig aussah und für sie das schrecklichste Beispiel eines verpfuschten Lebens darstellte.

Dieser Augusttag versprach schon am frühen Morgen, besonders herrlich zu werden. Der Kindergarten, in den Sarah bislang gegangen war, machte Ferien, und zwangsläufig hatte auch Liz Urlaub nehmen müssen. Sie nahm sich vor, diesen Tag am Strand von Hunstanton zu verbringen, sich zu sonnen, zu baden und ein wenig ihre ausgesprochen hübsche Figur zur Schau zu stellen, in der Hoffnung, jemand wäre so fasziniert davon, dass er das viereinhalbjährige, missmutige Geschöpf an ihrer Seite nicht mehr als echten Hinderungsgrund für eine Beziehung betrachtete. Zwar unternahm sie einen schwachen Versuch, doch einmal an die Hilfsbereitschaft ihrer Mutter zu appellieren und Sarah für diesen Tag bei ihr zu lassen, aber Betsy Alby sagte emotionslos, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden und den automatischen Griff in die Chipstüte zu unterbrechen: »Nein.«

Liz und Sarah fuhren mit dem Bus. Er schaukelte durch jedes Dorf in der Umgebung von King’s Lynn, und es dauerte eine gute Stunde, bis sie in Hunstanton ankamen, aber Liz war so erwartungsvoll und gut gelaunt, dass ihr das nichts ausmachte. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, meinte sie, das Meer stärker riechen zu können, obwohl das sicher Einbildung war, denn es roch um sie herum nur nach dem Diesel, mit dem der Bus betrieben wurde. Aber sie liebte das Meer so sehr, dass ihre Nase es wahrnahm, selbst wenn das eigentlich noch nicht möglich war. Und als es dann plötzlich vor ihren Augen auftauchte, so weit und glitzernd in der Sonne, fühlte sie eine jähe, tiefe Freude, und für einen Moment waren ihr nur ihre Jugend bewusst und die Tatsache, dass das Leben vor ihr lag, und sie vergaß die quengelnde Last an ihrer Seite.

Sarah brachte sich jedoch recht rasch in Erinnerung. Der Bus fuhr auf den großen Parkplatz von New Hunstanton, dem Strandbad mit all seinen Imbissbuden, Andenkenläden, Karussells und Eisverkäufern, und schon begann Sarah beim Anblick der hölzernen Pferdchen zu kreischen, auf denen man sich für den Preis von einem Pfund ein paar Runden lang im Kreis drehen konnte.

»Nein«, sagte Liz, die keine Lust hatte, ihr spärliches Geld für derartigen Blödsinn zum Fenster hinauszuwerfen, »vergiss es! Wenn ich dir eine Runde erlaube, willst du noch eine und dann noch eine, und am Ende heulst du trotzdem. Wir suchen uns jetzt einen schönen Platz, bevor es zu voll wird.«

Es war Ferienzeit, nicht nur in England, sondern praktisch überall in Europa, und schon strömten sowohl Einheimische als auch Touristen in Scharen zum Strand. Liz wollte möglichst rasch all ihre Utensilien weiträumig ausbreiten und sich nicht plötzlich auf engstem Raum, zwischen zwei Großfamilien eingequetscht, wiederfinden. Doch Sarah stemmte beide Füße in den Sand. »Mama … ich will … Karussell«, heulte sie.

Liz trug in der einen Hand ihre Badetasche, den Korb mit einer Mineralwasserflasche und ein paar belegten Broten darin und die kleine Schaufel, mit der Sarah buddeln und graben sollte, und mit der anderen versuchte sie, ihre sich heftig sträubende Tochter vorwärtszuziehen.

»Komm, wir bauen eine tolle Burg!«, versuchte sie sie zu locken.

»Karussell!«, schrie Sarah.

Liz hätte ihr gern eine kräftige Ohrfeige gegeben, aber es waren zu viele Menschen um sie, und heutzutage durfte sich eine nervenzerrüttete Mutter gegen ihr Kind ja nicht mehr zur Wehr setzen. »Nachher vielleicht«, sagte sie. »Komm, Sarah, sei lieb!«

Sarah dachte nicht daran, lieb zu sein. Sie schrie und tobte und ließ sich nur millimeterweise und unter heftigster Gegenwehr vorwärtsziehen. Liz war im Nu schweißgebadet, ihre gute Laune war verflogen. Dieser verfluchte Mike hatte ihr Leben tatsächlich zerstört. Klar, dass sie keinen Kerl mehr fand. Wer sie so erlebte wie jetzt, machte natürlich einen riesengroßen Bogen um sie, und das konnte sie niemandem verdenken. Die Badetasche rutschte ihr aus der Hand, ein freundlicher Herr hob sie ihr auf, und sie hatte dabei den Eindruck, dass er sie mitleidig ansah. Als Nächstes fiel die Sandschaufel zu Boden, und diesmal war es eine ältere Dame, die sie ihr reichte. Wieder einmal stellte sie fest, dass andere Leute viel nettere Kinder hatten; jedenfalls konnte sie nirgendwo eine Mutter entdecken, die so kämpfen musste wie sie. Ihr fiel ein, wie sie damals über Abtreibung nachgedacht hatte. Sie war nicht religiös, hatte aber dennoch eine undefinierbare Furcht vor einer Art Rache des Schicksals gehabt, wenn sie das Kind in ihrem Bauch töten würde. Heute, während sie sich, das schreiende kleine Ungeheuer mit sich zerrend, schwitzend den Strand entlangquälte, dachte sie plötzlich inbrünstig: Hätte ich es doch getan! Hätte ich doch bloß den Mut gehabt! Ganz gleich, was an Bösem auf mich zurückgefallen wäre, es hätte nicht schlimmer sein können als das hier!

Irgendwann hatten sie eine Stelle erreicht, die Liz geeignet erschien, den Tag dort zu verbringen. Sie breitete ihr Handtuch und das von Sarah aus und machte sich daran, eine Sandburg zu bauen - damit Sarah endlich Ruhe gäbe. Tatsächlich hörte die Kleine auf zu schreien und beteiligte sich eifrig beim Bauen. Liz atmete auf. Vielleicht vergaß Sarah ja die hölzernen Pferde. Vielleicht wurde es doch noch ein harmonischer Tag.

Sie zog ihren neuen Bikini an und wusste, dass sie großartig aussah. Er war im Preis herabgesetzt gewesen, dennoch eigentlich zu teuer für ihr schmales Gehalt, aber sie hatte nicht widerstehen können. Ihre Mutter durfte ihn natürlich nie entdecken, sonst würde sie losschreien, Liz könnte von nun an einen höheren Betrag zu Hause beisteuern, wenn sie offenbar in der Lage war, ihr Geld für Luxusartikel zu verschwenden. Als ob sie ewig in dem schäbigen Einteiler, der mittlerweile vier Jahre alt war, herumlaufen könnte! Wenn sie einen Mann finden wollte, der sie aus all dem Elend herausholte, musste sie zuvor etwas investieren. Aber derlei Dinge mit Mum besprechen zu wollen, war völlig sinnlos.

Sarah baute noch immer mit Hingabe an ihrer Burg. Liz streckte sich auf ihrem Handtuch aus und schloss die Augen.

 

Sie hatte wohl eine ganze Weile geschlafen, denn als sie sich aufsetzte und um sich blickte, merkte sie, dass die Sonne schon sehr hoch stand und es auf Mittag zugehen musste. Der Strand war noch viel bevölkerter als am Morgen; ringsum wimmelte es von Menschen. Viele lagen einfach nur in der Sonne, andere spielten Federball oder Boccia oder liefen gerade zum Wasser. Kinder schrien und lachten, das Meer plätscherte leise. In der Ferne konnte man das undeutliche Brummen eines Flugzeuges hören. Es war ein vollkommener Tag.

Liz’ Gesicht brannte; sie hatte zu lange in der Sonne gebraten und sich zuvor nicht einmal mit einem Schutzmittel eingerieben. Zum Glück vertrug ihre Haut eine Menge. Sie wandte sich um und sah, dass Sarah ebenfalls eingeschlafen war. Offenbar hatten ihr Geschrei und das Bauen der Burg sie ermüdet, denn sie lag zusammengerollt auf ihrem Badetuch, atmete tief und gleichmäßig, und der Mund stand ein wenig offen.

Gott sei Dank, dachte Liz. Schlafend fand sie ihre Tochter stets am liebenswertesten.

Sie merkte, dass sie Hunger bekommen hatte und dass sie keine Lust auf ihre eigenen Brote mit der faden Margarine und dem Käse, der immer nach Seife schmeckte, verspürte. Gleich bei der Bushaltestelle gab es einen Imbissstand, an dem man besonders köstliche Baguettebrötchen, die dick mit Tomaten und Mozzarella belegt waren, kaufen konnte. Liz liebte diese Brötchen und Sarah ebenfalls. Dazu eine schöne eiskalte Cola anstelle des warmen Mineralwassers in ihrem Korb … Liz stand auf und kramte ihren Geldbeutel hervor. Kurz betrachtete sie ihr schlafendes Kind. Wenn sie Sarah jetzt aufweckte und mitnahm, würde diese wieder das Karussell mit den Pferden entdecken und nur unter Tränen und Geschrei zur Rückkehr an den Strandplatz zu nötigen sein.

Wenn ich mich beeile, dachte Liz, dann bin ich gleich wieder zurück, und sie merkt überhaupt nichts. So tief, wie sie schläft …

Es waren so viele Menschen ringsum; was sollte passieren? Selbst wenn Sarah aufwachte und zum Wasser ging, konnte sie kaum unter den Augen so vieler Leute ertrinken.

Ich bin ja in spätestens zehn Minuten zurück, dachte Liz und lief los.

Die Strecke war länger, als sie gedacht hatte, offenbar waren sie und Sarah am Morgen doch ein ganzes Stück den Strand entlanggelaufen. Aber es war schön, sich zu bewegen, und sie registrierte genau, dass ihr viele Männerblicke folgten. Sie hatte eben eine tolle Figur, trotz der Geburt des Kindes, und der Bikini war einfach perfekt für sie, das hatte sie schon im Geschäft gleich gemerkt. Niemand, der sie so sah, konnte ahnen, dass es ein schreiendes Anhängsel in ihrem Leben gab. Sie war einfach eine junge Frau, dreiundzwanzig Jahre alt, attraktiv und begehrenswert. Sie versuchte, optimistisch und fröhlich dreinzublicken. Seit sie wegen Sarah so viel weinte, hatte sie ständig Angst, Tränensäcke und hängende Mundwinkel zu bekommen. Sie musste unbedingt aufpassen, dass man ihr nicht ansah, wie unglücklich sie oft war.

An dem Imbissstand hatte sie Pech: Eine Handballmannschaft drängelte sich dort, und die meisten der jungen Männer waren sich noch nicht im klaren, was sie eigentlich bestellen wollten, und überlegten lautstark hin und her. Ein paar von ihnen flirteten heftig mit Liz, worauf diese voller Freude und mit der Schlagfertigkeit, für die sie bekannt war, einging. Wie herrlich war es, zwischen attraktiven, sonnengebräunten Männern zu stehen und zu spüren, welche Anziehungskraft man auf sie ausübte. Sie überlegte gerade fieberhaft, wie sie das Problem Sarah lösen sollte, falls sich einer der Jungs mit ihr verabreden wollte, da beendete der Trainer der Mannschaft das Geturtel und scheuchte seine Truppe weiter. Liz stand innerhalb von Sekunden allein vor der Imbissbude und konnte endlich ihre Baguettes und ihre Cola kaufen.

Als sie sich auf den Rückweg machte, stellte sie fest, dass fünfundzwanzig Minuten seit ihrem Aufbruch vergangen waren. Mist. Bis sie zurückkehrte, würde es mehr als eine halbe Stunde sein. So lange hatte sie keinesfalls fort sein wollen. Sie betete, dass Sarah nicht aufgewacht war und heulend zwischen den fremden Menschen herumirrte. Sie konnte sich die vorwurfsvollen Blicke der anderen vorstellen. Natürlich, eine gute Mutter tat so etwas nicht, ließ ihr Kind nicht unbeaufsichtigt zurück, um sich selbst irgendwelche Wünsche zu erfüllen. Eine gute Mutter hatte überhaupt keine Wünsche mehr. Sie lebte ausschließlich für ihr Kind und dessen Wohlergehen.

Scheiße, dachte Liz, die haben ja alle überhaupt keine Ahnung!

Jetzt schlenderte sie nicht mehr unter bewundernden Männerblicken dahin, jetzt rannte sie. Die Cola schwappte in der Flasche, die Brötchen hielt sie fest an sich gedrückt. Sie keuchte und bekam Seitenstechen. Es war anstrengend, im Sand zu laufen. Wieder und wieder fragte sie sich, wie sie sich in der Länge des Wegs so hatte verschätzen können!

Da war ihr Badetuch. Ihre Tasche. Die Schaufel. Die Burg, die Sarah gebaut hatte. Sarahs Badetuch, das hellblaue mit den gelben Schmetterlingen darauf.

Aber keine Sarah.

Liz blieb schwer atmend stehen, krümmte sich für einen Moment unter ihrem Seitenstechen zusammen, richtete sich aber sofort wieder auf und sah sich hektisch um. Hier hatte sie doch gelegen, fest schlafend, eben noch.

Nicht eben. Vor etwa vierzig Minuten.

Vierzig Minuten!

Natürlich konnte sie nicht weit sein. Sie war aufgewacht, hatte Angst bekommen, weil Mama nicht da war, und lief jetzt irgendwo im näheren Umkreis umher. Wenn es nur nicht so voll wäre. Es wimmelte von Menschen, es schienen mit jeder Minute mehr zu werden. Wie sollte sie ein so kleines Kind zwischen den vielen Beinen entdecken?

Sie legte die Brötchen und die Flasche auf ihr Badetuch, den Geldbeutel behielt sie in der Hand. Sie hatte nicht den geringsten Hunger mehr, im Gegenteil, ihr war übel, und sie konnte sich nicht vorstellen, einen einzigen Bissen herunterzubringen.

Wo, verdammt, war die Kleine?

In ihrer Not wandte sie sich an eine Frau, die gleich neben ihr lag, ziemlich dick war und vier Kinder hatte, die um sie herum krakeelten.

»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? So groß etwa«, sie deutete mit der Hand Sarahs Größe an, »dunkle Haare, dunkle Augen … Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt …«

Die Dicke starrte sie an. »Das Kind, das hier geschlafen hat?«

»Ja. Ja, genau. Sie schlief tief und fest, und ich … ich habe nur ganz schnell etwas zu essen besorgt, und jetzt komme ich wieder, und …«

Es war offensichtlich, dass die Dicke ihr Verhalten missbilligte. »Sie haben die Kleine allein gelassen und sind bis nach vorn zu den Buden gelaufen?«

»Ich war ja sofort wieder da«, log Liz. Vierzig Minuten!, hämmerte es in ihrem Kopf.

»Zuletzt habe ich sie gesehen, wie sie da schlief. Dann habe ich nicht mehr auf sie geachtet, weil meinem Denis schlecht wurde. Zu viel Sonne.«

Denis kauerte im Sand und sah in der Tat bleich und jämmerlich aus. Aber er war wenigstens da.

»Sie kann ja nicht weit sein«, sagte Liz, um sich selber Mut zuzusprechen.

Die Dicke wandte sich an eine Bekannte, die ein Handtuch weiter im Sand saß. »Hast du die kleine Dunkelhaarige gesehen, die hier schlief? Die Mutter war vorn bei den Buden, und nun ist das Kind verschwunden!«

Natürlich musste auch die Bekannte ihrer Empörung über Liz’ Fehlverhalten Ausdruck verleihen. »Bis da vorn? Also, so lange würde ich mein Kind nicht allein lassen!«

Blöde Kuh, dachte Liz inbrünstig.

Tatsächlich hatte einfach niemand auf Sarah geachtet. Die Dicke nicht, ihre Bekannte nicht, und auch sonst niemand von den Leuten ringsum, die Liz in steigender Panik und Verzweiflung fragte. Sie zog immer größere Kreise, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie auf jemanden stieß, der ihr etwas über den Verbleib der Kleinen sagen konnte. Sie lief ans Wasser hinunter, aber auch dort fand sich keine Spur von Sarah.

Sie konnte nicht ertrunken sein. Vor den Augen so vieler Menschen ertrank kein Kind.

Oder doch?

Noch einmal keimte Hoffnung in ihr, als ihr der Gedanke kam, Sarah könnte sich auf eigene Faust auf den Weg zu dem Karussell mit den Pferden gemacht haben. Schließlich war sie ganz verrückt danach gewesen. Also lief sie erneut den Weg bis zur Bushaltestelle und sah tatsächlich etliche Kinder am Karussell, aber Sarah war nicht darunter. Sie fragte den Besitzer. »Sie fällt auf. Sie hat lange schwarze Haare, sehr dunkle Augen. Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt!«

Der Besitzer des Karussells dachte nach. »Nein«, sagte er dann, »nein, ein solches Kind war hier heute nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

Sie lief zurück. Unterwegs begann sie zu weinen. Sie war in einen Albtraum geraten. Sie hatte völlig verantwortungslos gehandelt, und nun wurde sie auf bitterste Weise dafür bestraft. Bestraft für alles: für ihre Gedanken an Abtreibung, für ihre zornigen Tränen, als man ihr Sarah nach der Geburt in den Arm gelegt hatte, für die vielen Male, da sie gewünscht hatte, es möge dieses Kind nicht geben, für all ihr Hadern und Fluchen. Für ihren Mangel an mütterlichen Gefühlen.

Sarah war nicht am Strandplatz, als Liz erneut dort ankam. Der Anblick ihres kleinen Badetuchs tat Liz plötzlich so weh, dass die Tränen, die sie gerade mühsam zurückgedrängt hatte, erneut hervorschossen. Neben dem Tuch lag die Papiertüte mit den unseligen Baguettes im Sand, und die Colaflasche. Wie unwichtig diese Dinge waren! Und doch hatte Liz über eine Stunde zuvor einen solchen Heißhunger darauf verspürt, dass sie sich sogar um die Sicherheit ihres Kindes nicht mehr gekümmert hatte.

Die dicke Frau, die noch immer die Stellung hielt, musterte sie nun mitleidig. »Keine Spur?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Liz weinend, »keine Spur.«

»Warum haben Sie mich denn nur nicht gleich angesprochen? Ich hätte doch aufgepasst, während Sie das Essen holten! «

Ja, warum hatte sie das nicht getan? Liz konnte sich selbst nicht verstehen. Was wäre einfacher gewesen, als eine andere Mutter zu bitten, ein Auge auf das schlafende Kind zu halten?

»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »ich weiß nicht …«

»Sie müssen die Polizei verständigen«, mischte sich die Bekannte der Dicken ein. Sie wirkte durchaus betroffen, aber es war auch spürbar, dass sie diesen Strandtag als unerwartet spannend empfand. »Und die Badeaufsicht. Vielleicht …« Sie wagte offenbar nicht, den Satz auszusprechen.

Liz blitzte sie böse an. »Wie soll denn ein Kind hier ertrinken? Es sind mindestens hundert Menschen im Wasser! Ich meine, ein schreiendes, strampelndes Kind würde doch irgendjemandem auffallen!«

Die Dicke legte ihr die Hand auf den Arm. Ihr Mitleid schien sehr aufrichtig. »Trotzdem. Sie gehen jetzt zur Badeaufsicht. Dort wird man wissen, was als Nächstes zu tun ist. Vielleicht kann man Ihre Tochter auch ausrufen. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ein Kind und seine Eltern sich hier in diesem Gewühl verlieren. Lassen Sie nicht den Kopf hängen!«

Die freundlichen Worte der anderen ließen Liz’ Selbstbeherrschung endgültig zusammenbrechen. Sie schluchzte nun haltlos, ließ sich in den Sand fallen, krümmte sich nach vorn und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Für den Moment hatte sie jegliche Energie verlassen.

Die dicke Frau seufzte, beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Kommen Sie. Ich begleite Sie. Elli kann auf meine Kinder aufpassen. Sie sind ja völlig fertig. Jetzt geben Sie doch nicht alle Hoffnung auf!«

Willenlos ließ sich Liz mitziehen.

Sie hatte in diesem Moment das nicht erklärbare Gefühl, dass sie Sarah nicht wiedersehen würde.

Mittwoch, 16. August

Als er ihr sagte, dass sie am nächsten Tag mit ablaufendem Wasser ablegen und weitersegeln würden, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Die Hebriden waren nicht der Ort, an dem sie noch wochenlang hätte verweilen wollen, das Klima machte ihr zu schaffen, und ihr fehlten die Farben des Sommers. Selbst der August war hier auf der Isle of Skye ziemlich kühl und windig, es regnete häufig, und dann verschmolzen Meer und Himmel in einem bleiernen Grau, und die Gischt, die bei Sturm an der Hafenmauer von Portree emporschwappte und in der Luft zersprühte, hinterließ einen kalten Hauch auf den Lippen. Irgendwo war es Sommer, gab es einen satten, behäbigen August mit reifem Obst, warmen Nächten, Sternschnuppen und späten Rosen. Sie musste immer an das Gefühl von warmem Gras unter nackten Füßen denken. Manchmal trieb ihr die Sehnsucht danach die Tränen in die Augen.

Weitersegeln hieß, irgendwann in wärmere Gefilde zu kommen. Sie wollten hinunter zu den Kanaren, dort Proviant fassen und anschließend die Überquerung des Atlantiks in Angriff nehmen. Nathan plante, den Winter in der Karibik zu verbringen, und dass er nun zum Aufbruch drängte, hing damit zusammen, dass er dort vor Beginn der Hurrikan-Saison eintreffen wollte. Sie hingegen hatte Angst, Europa zu verlassen, schauderte vor der Aussicht, tage- und wochenlang auf dem Atlantik herumzutreiben. Die Karibik erschien ihr als fremde, ferne Welt, die ihr eine undefinierbare Furcht einflößte. Sie hätte gern auf den Kanalinseln überwintert, auf Jersey oder Guernsey, aber Nathan hatte erklärt, die Winter dort seien zwar mild, aber auch sehr nass. Ein Schiff war nicht der komfortabelste Ort bei tagelangem Regen und bei undurchdringlichem Nebel, der vom Wasser aufstieg und die Sicht so verhüllte, dass man vom einen Ende des Schiffes nicht bis zum anderen blicken konnte.

Sie hatten eine knappe Woche auf Skye verbracht, und sie hatte gerade begonnen, sich trotz des schlechten Wetters ein wenig an die Insel zu gewöhnen. Das war es, was sie traurig machte beim Gedanken an die Abreise. Was sie betraf, krankte dieses ganze Projekt der Weltumsegelung an ihrem Bedürfnis nach einem sicheren Zuhause, einem unverrückbaren Lebens-mittelpunkt. Sie sehnte sich danach, täglich in demselben Supermarkt einzukaufen, vertraute Spazierwege zu haben, geselligen Umgang mit immer denselben Freunden und Bekannten zu pflegen. Sie wollte morgens ihre Brötchen bei einem Bäcker holen, der sie fragte, ob ihre Erkältung besser geworden sei, und sie wollte zu einem Friseur gehen, zu dem sie nur sagen musste: »Wie immer, bitte.« Das Gleichmaß der Dinge war ihr wichtig. Seitdem sie es verloren hatte, war ihr bewusst geworden, wie sehr.

Da sie nicht den ganzen Tag auf der in der Bucht von Portree ankernden Dandelion verbringen konnte, hatte sie in den sechs Tagen ein wenig gejobbt. Eigentlich hatten sie und Nathan vereinbart, dass jeder von ihnen versuchen würde, in den jeweiligen Häfen eine Arbeit zu finden, denn in ihrer Reisekasse herrschte chronische Ebbe. Alles, was sie besaßen, hatte Nathan in den Kauf des Schiffes gesteckt. Aber aus irgendeinem Grund schien Nathan von der Dringlichkeit des Geldverdienens nicht überzeugt zu sein.

»Skye bedeutet eine ungeheure Inspiration für mich«, hatte er erklärt, »die muss ich nutzen!«

Das Wetter, so hatte er behauptet, sei genau das, was er suchte. Vier bis fünf Windstärken aus Nordwest, Wolken, die über die Berge der Insel jagten. Regen, der auf das Ölzeug prasselte, das er trug. Jeden Tag hatte er sie mit dem Beiboot an Land gerudert, war dann selbst wieder zum Schiff zurückgekehrt, hatte die Insel halb umrundet und sich in seine Lieblingsbucht bei Loch Harport verzogen. Was er dort über Stunden tat, wusste sie nicht. Einmal, als es nicht regnete, war er in den Black Cuillins herumgeklettert, wie er erzählte. Ansonsten gab er, wie üblich, nichts von sich preis.

Und manchmal, wenn sie am späten Nachmittag mit dem Bus nach Portree zurückkehrte, fragte sie sich, ob sie ihn vorfinden würde. Oder ob er einfach davongesegelt war, für immer, ohne sie. Sie wusste nie genau, ob sie diese Vorstellung erschreckte oder ob irgendetwas in ihr fast wünschte, es möge passieren.

Sie hatte einen Job im Ferienhaus einer englischen Familie gefunden, in Dunvegan, ein ganzes Stück von der Inselhauptstadt Portree entfernt, aber mit dem Bus recht gut zu erreichen. Die Familie hatte einen Zettel im Gemischtwarenladen am Hafen ausgehängt, auf dem sie für die Dauer ihres Ferienaufenthalts eine Hilfe für Haus und Garten suchte, da ihre gewohnte Zugehfrau erkrankt war. Sie hatte sich sofort gemeldet. Nathan war dagegen gewesen, denn er meinte, der Job einer Putzfrau sei nun wirklich unter ihrem Niveau, aber da ihm auch nichts besseres einfiel, wie sie zu Geld kommen sollten, hatte er schließlich zugestimmt.

Das Haus, etwas außerhalb von Dunvegan mit einem herrlichen Blick über die Bucht gelegen, war geräumig und gemütlich, und sie hatte sich dort recht wohlgefühlt. Nette Menschen, mit denen man plaudern konnte, leichte Arbeit, auch im Garten, der sehr groß war und ihr gut gefiel. Das Wetter war wirklich schlecht gewesen - es regnete in diesem Sommer hier oben ganz besonders viel, wie die Einheimischen betonten -, und sie hatte die ganze Zeit über nicht recht verstehen können, weshalb man seine Ferien in diesem Teil der Erde verbrachte, aber sie hatte sofort gemerkt, dass es für sie einen Unterschied machte, festen Boden unter den Füßen zu haben, einen Garten, der von einer Mauer begrenzt wurde, einen Kamin, eine Ordnung in allen Dingen. Sie ging gern in das Haus, staubte die Fensterbretter ab, schrubbte die Steinfliesen in der Küche, bis sie glänzten, stellte frische Blumen in eine Vase auf den großen Holztisch im Wohnzimmer. In einer Regenpause pflanzte sie Efeu an der Südseite des Hauses und mähte im hinteren Teil des Gartens den Rasen. Es ging ihr besser als in all der Zeit zuvor.

Bis zum Spätnachmittag, wenn sie zurückkehrte auf das Schiff. Es war das Schiff. Es waren nicht die Hebriden, nicht die Kanalinseln. Es würde auch nicht besser werden in der Südsee an weißen Sandstränden unter Palmen. Sie war nicht für das Nomadenleben geboren. Sie hasste Häfen. Sie hasste schwankende Bohlen unter den Füßen. Sie hasste die ewige Feuchtigkeit. Die Enge. Sie hasste es, kein Zuhause zu haben.

Morgen würden sie auslaufen.