Dirk Heinrichs
Da hab ich nur noch Rot gesehen
Dirk Heinrichs
Da hab ich nur noch Rot gesehen
1. Auflage April 2008
www.editionfredebold.de
fredebold&partner gmbh
schaafenstraße 25, 50676 köln
Copyright © 2008 fredebold&partner gmbh
Originalausgabe: „Da hab ich nur noch Rot gesehen“
Titelabbildung: Mauritius Images
Umschlaggestaltung: Roland Pecher, Köln
Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln
ISBN 978-3-939674-51-1
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Um die Identität der einzelnen Personen zu schützen, haben wir die Namen teilweise geändert.
www.editionfredebold.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Für meine Frau
Inhalt
Warum ich dieses Buch geschrieben habe
Justin, 16: „Das kommt immer so, das Scheißauen“
Cem, 21: „Ich hab nur mit Angst und Wut gelebt“
Stichwort: Die Bedeutung der frühen Kindheit
Die Schulleiter: „Es gibt keine Hemmungen mehr“
Stichwort: Die Verantwortung der Schule
Lale, 20: „Jede Gewalt hat eine andere Geschichte“
Stichwort: Das Dilemma der Migrantenkinder
Hafis, 40: „Jeder Mensch kann diese Welt verändern“
Der Anwalt: „Den Jugendlichen fehlt jede Perspektive“
Fahd, 21: „Mein größter Fehler ist der Hass“
Stichwort: Wie früh muss der Staat handeln?
Kevin, 20: „Mein Vater hat meine Mutter umgebracht“
Caro, 20: „Wenn ich clean gewesen wäre“
Stichwort: Die Drogenproblematik
Die Polizistin: „Starke Menschen brauchen keine Gewalt“
Stichwort: Polizei und Prävention
Feisal, 21: „Ich hab einen Menschen auf dem Gewissen“
Petra, Mitte 20: „Im Strafvollzug herrscht Willkür“
Der Vollzugsbeamte: „Es geht immer nur darum, wer der Stärkere ist“
Stichwort: Strafvollzug und Resozialisierung
Der Wissenschaftler: „Wir sind zur Hoffnung verurteilt“
Mit den Eltern fängt alles an
Schule des Lebens?
Letzte Rettung Strafvollzug?
„Endstation Sehnsucht“
Gewalt ist eine Weltgeißel, die das Gefüge von
Gemeinschaften zerreißt und Leben, Gesundheit und
Glück von uns allen bedroht.
(aus: WHO Weltbericht Gewalt und Gesundheit, 2003)
Jener weit zurückliegende Abend in der Disco war damals ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich war 18 Jahre alt, kein großer Tänzer, kein draufgängerischer Aufreißer und an diesem Abend auch noch schlecht gelaunt. Plötzlich entdeckte ich meine Ex-Freundin im Gedränge auf der Tanzfläche, und nur wenig später fielen mir diese fünf Typen auf, die andere Gäste anpöbelten. Ich hatte sie sofort gefressen. Die sollten mir bloß keinen Anlass geben, sie in die Schranken weisen zu müssen! Innerlich war ich schon zum Kampf bereit, auch wenn ich nach außen hin noch versuchte, ruhig zu bleiben.
Ein Auge auf meine Ex-Freundin, für die ich mich immer noch verantwortlich fühlte, das andere auf die Krakeeler gerichtet, wurde der Abend zusehends unentspannt. Und als sich zwei der Typen „meinem“ Mädchen näherten, klingelten bei mir alle Alarmglocken. Das Adrenalin schoss mir durch die Adern, und es fehlte nur noch ein Funke bis zur Explosion. Bisher hatten sich Aggressionen bei mir immer in Drohgebärden und verbalen Angriffen kanalisiert. Bisher … Denn der Funke zündete, passenderweise in Form einer brennenden Zigarette, die plötzlich vor meinen Füßen landete. Einer der Randalierer hatte die Kippe absichtlich in meine Richtung geschnipst.
Damit war die Einladung ausgesprochen. Ich stand fünf,sechs Stufen unterhalb des Treppenabsatzes, auf dem sich die Typen versammelt hatten und mich hämisch angrinsten. Langsam ging ich die Stufen zu ihnen hoch und wusste nicht wirklich, wie ich reagieren sollte. Oben angekommen, wandte ich mich an den scheinbar Stärksten von ihnen und fragte ihn, was das mit der Zigarette sollte. Ich glaubte immer noch, die Burschen mit meiner Unerschrockenheit beeindrucken zu können. Doch zur Antwort tippte mir ein anderer auf die Schulter, und als ich mich umdrehte, fuhr er mir mit den Fingernägeln übers Gesicht.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass es jemand gewagt hatte, mich zu schlagen oder zu kratzen. Einen Moment lang war ich völlig perplex. Doch die Vorstellung, jemandem mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, entsprach so wenig meinem Naturell, dass ich auch jetzt nicht unmittelbar zum Schlag ausholte, sondern den Angreifer packte und ihn die Treppe hinunterstieß. Ich sprang hinterher, und kurz darauf waren wir auch schon ineinander verkeilt. Bald war klar, dass er keine Chance gegen mich hatte, und so versuchte er auch bloß, sein Gesicht so gut wie möglich vor meinen Fäusten zu schützen. Ich aber spürte nicht einmal mehr, wie mir der Zigarettenschnipser mit seinen Cowboy-Stiefeln auf den Rücken sprang und mir seine Absätze in die Muskeln bohrte. In diesem Augenblick kannte ich nur noch ein Ziel: den Angreifer unschädlich zu machen. Und plötzlich wurde ich trotz all meiner Rage so ruhig, dass ich jeden weiteren Hieb förmlich planen und genau dort platzieren konnte, wo ich ihn haben wollte. Ich hatte buchstäblich Blut geleckt und spielte mit diesem großmäuligen Kerl, bis uns endlich das Personal der Disco trennte.
Ganz ruhig stand ich ihm und seinen Kumpels gegenüber, die wüste Drohungen gegen mich ausstießen. Der Angreifer, der zum Opfer geworden war, hatte diverse Blessuren davongetragen. Für mich waren sie Trophäen: ein Zeichen meiner Macht.
Als man die fünf Männer kurz darauf aus der Discothek verwies, mir aber keinerlei Vorwürfe machte, weil sie schon den ganzen Abend über unangenehm aufgefallen waren, ging ich ihnen noch nach und suchte sie draußen auf der Straße. Ich wollte die Sache endgültig klarmachen. Aber sie waren glücklicherweise verschwunden.
Wenig später kam dann das große Erschrecken, und zwar über mich selbst. Ich hatte mich noch nie zuvor in einem solchen Zustand erlebt und beschloss, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Ich hatte mir meine Reaktion ja nur scheinbar aufzwingen lassen, in Wahrheit aber war ich innerlich schon längst zu dieser Prügelei bereit gewesen. Ich hätte auch jederzeit entscheiden können, anders zu handeln, die fünf Typen einfach zu ignorieren, den Laden zu wechseln und so weiter.
Bei allem Verständnis für Wut, Zorn und Enttäuschung, für Machtlosigkeit und Sehnsucht und vor allem Angst wusste ich jedoch: Es gibt keine Ausrede, die das Verletzen anderer rechtfertigt!
Ich habe an diesem Abend wahrlich keine Heldentat vollbracht, aber ich habe etwas begriffen, was ich seitdem in mein Leben integriert habe: Niemand zwingt mir auf, wie ich zu handeln habe. Es gibt immer eine Alternative zur zerstörerischen Konfrontation. Wie sonst lassen sich die Leere und das schlechte Gewissen erklären, das die meisten Menschen empfinden, wenn sie zugeschlagen haben und es danach bitter bereuen?
Wieso sind wir überhaupt zur Reue fähig und verspüren nicht mitleidlos Freude an Mord und Totschlag?
Übrigens hätte die beschriebene Szene gar nicht erst zur Schlägerei eskalieren müssen, wenn uns die Umstehenden früher getrennt und als Zuschauer dem Ganzen nicht auch noch Vorschub geleistet hätten. Ich selbst bin bei ähnlichen Situationen später oft dazwischengegangen, und es brauchte selten mehr als ein klares Wort, um die Kampfhähne, ohne dass es zu Tätlichkeiten zwischen ihnen kam, wieder auseinanderzubringen. Nie wurde ich danach selbst angegriffen. Die Annahme, dass, wer sich einmischt, oft als Nächster drankommt, ist häufig nur eine Ausrede, um sich die eigene Feigheit schönzureden.
Wenn zwei sich schlagen, begeben sie sich emotional in eine Ausnahmesituation, die ihrem rationalen Denken einen Riegel vorschiebt. Doch dieser Riegel lässt sich relativ leicht durch einen Impuls von außen wieder lösen. Dafür muss sich niemand in Gefahr bringen. Aber jeder sollte sich die Frage stellen, was er für sich erhoffen würde, befände er sich selbst in solch einer brenzligen Situation. Wie kann der Einzelne für sich auf Hilfe hoffen, wenn er selbst nicht bereit ist, Hilfe zu leisten?
Als ich 2000 die Rolle des Kommissars Lenny Winkler in der TVSerie „Die Sitte“ angeboten bekam, nahm ich sie vor allem deshalb an, weil mir an dieser Rolle die Geradlinigkeit des Kommissars im Einsatz für die Opfer so sehr imponierte. Gerne habe ich mich davon auch in meinem Privatleben inspirieren lassen, und ich begann, mir Gedanken über ein Projekt zu machen, bei dem ich mit meinen Mitteln, den Mitteln eines Schauspielers, etwas gegen die zunehmende Brutalität in der Gesellschaft und besonders unter Jugendlichen tun konnte. Ich finde, gerade Menschen, deren Arbeit stark im Licht der Öffentlichkeit steht, müssen sich ihrer Verantwortung besonders bewusst sein. Und so machte ich mich, als „Die Sitte“ 2005 als Serie vom Sender eingestellt wurde, an die Umsetzung meines Konzeptes mit dem Namen „Sprache gegen Gewalt“. Das Konzept beruht im Wesentlichen auf der Erkenntnis, dass Sprachlosigkeit eine der Hauptursachen für die immer weiter um sich greifende Gewalt ist. Meinen Mitstreitern und mir geht es dabei hauptsächlich darum, anderen bei der Kommunikation zu helfen - denn wenn Sprache zu einem rudimentären Geröchel verkommt, wird Sprachlosigkeit meist durch Gewalt ersetzt. Und genau hier wollen wir ansetzen.
Wir wollen helfen, inneren Druck und Spannung durch das Ventil der Sprache abzubauen und den Jugendlichen auf diese Weise Selbstbewusstsein vermitteln, ihr Selbstwertgefühl stärken und dadurch kreative Möglichkeiten zur eigenen Lebensgestaltung eröffnen. In der Praxis geschieht das durch Theater- und Tanzworkshops an sozialen Brennpunkten wie beispielsweise Schulen oder in Jugendgefängnissen mit Filmvorführungen und eigenen Filmprojekten, aber auch durch Fortbildungsseminare und Projekttage zum Thema Gewaltprävention. Die Möglichkeiten sind vielfältig und noch lange nicht ausgeschöpft. Nur verstecken wir uns zu oft hinter der Ausrede, dass Veränderung deshalb nicht möglich ist, weil die anderen sich nicht verändern wollen. Dabei versteckt sich hinter dieser Aussage oft nur die Angst, durch ein Verstehenlernen des bislang Unverstandenen die Aufteilung in Gut und Böse nicht mehr in gewohnter Weise aufrechterhalten zu können.
Woher aber kommt Gewalt? Ist sie ein Teil von uns und betritt daher mit der Geburt eines jeden Menschen von Neuem die Welt? Oder lernen wir Gewalt als eine Möglichkeit menschlichen Handelns kennen, wird sie uns in unserer Gesellschaft förmlich beigebracht? Ist unsere Gesellschaft also gewalttätiger geworden? Und können wir überhaupt etwas gegen dieses Phänomen tun?
In dem vorliegenden Buch kommen Menschen zu Wort, die zu diesen Themen etwas zu sagen haben - sei es, weil sie Gewalt am eigenen Leib erfahren haben, sei es, weil sie sie gegenüber anderen ausgeübt haben und nun wegen Körperverletzung im Gefängnis sitzen, oder aber, weil sie in ihrer täglichen Arbeit immer wieder damit zu tun haben. Täter, Opfer und Sachverständige schildern ihre Erlebnisse zum Thema Gewalt. Die persönliche Sicht der Täter und Opfer ist dabei wichtig, denn nur, wenn wir verstehen lernen, warum Menschen gewalttätig handeln, können wir ihnen helfen und uns gleichzeitig vor Gewaltausübung schützen. Prävention und Opferschutz beginnen eben weit vor der Katastrophe.
„Jede Gewalt hat eine andere Geschichte“, sagt zum Beispiel Lale, eine 19-jährige Frau, die mit den Morddrohungen ihres Vaters gegen sie leben muss. Und im „Weltbericht Gewalt und Gesundheit“ der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2003 heißt es: „Gewalt ist ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen, das sich einer exakten wissenschaftlichen Definition entzieht und dessen Definition eher dem Urteil des Einzelnen überlassen bleibt.“ Gewalt wird meist von denen ausgeübt, die während ihrer Kindheit und ihres Heranwachsens selbst immer wieder Opfer von Gewalt wurden, vor allem, wenn sie der Willkür und der Vernachlässigung ihrer Eltern oder anderer Erziehungsberechtigten ausgeliefert waren. Gewalt wird dabei nicht nur begrenzt als Ausübung von körperlichem Zwang und Verletzungen verstanden, sondern erstreckt sich auch auf die gesamte Klaviatur psychischer Grausamkeiten und sozialer Ungerechtigkeiten, wie Mobbing und Armut.
Wer auf den folgenden Seiten daher einfache Antworten erwartet, wird enttäuscht werden. Wer aber verstehen möchte, warum und wie sich Gewaltbereitschaft in Menschen über lange Zeiträume hinweg aufbaut, sich dann urplötzlich entlädt und schließlich irgendwann zur Gewohnheit wird, der wird eine ganze Fülle von Erklärungen finden. Vieles lässt sich nur schwer verstehen oder nachvollziehen, aber man kommt dem Kern des Problems näher, wenn man bereit ist, sich den Tätern als – möglichst vorurteilsfreier – Mensch zu öffnen. Gewalt erzeugt Gewalt. Sie macht sprachlos – und ist zugleich Ausdruck der Sprachlosen und ihrer Sprachlosigkeit. Dieser Aspekt wurde auch in all meinen Gesprächen mit den Tätern überdeutlich. Gerade das Nicht-beschreiben-Können der eigenen Gewalttätigkeit war die schwierigste Hürde, die ich nehmen musste, wenn ich mich dem Thema Gewalt in meinen Interviews nähern wollte. Ich zeige dieses Dilemma im Buch allerdings nur an einem einzigen Fall gleich zu Beginn des Buches auf: Justin, ein 16-jähriges Gangmitglied, steht exemplarisch für viele Jugendliche einer Generation, die von Sprachlosigkeit geprägt ist. Alle anderen Gewalttäter traf ich in Gefängnissen, wo sie zum Teil seit Jahren einsitzen und nach einer Erklärung dafür suchen, was mit ihnen und ihrem Leben schiefgelaufen ist. Inwiefern sie mit ihren Schilderungen jeweils bei der Wahrheit geblieben sind, kann ich nur vermuten. Ich habe mir jedoch erlaubt, ihre oftmals schlechten Sprachkenntnisse in lesbare, flüssige Sprache zu transformieren, ohne dabei allerdings die Inhalte ihrer Aussagen zu verändern. Eine weitere Schwierigkeit bei meinem Unterfangen war, dass die meisten meiner Gesprächspartner anonym bleiben wollten - in der Regel, weil sie Angst hatten, die Namensnennung würde ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung erschweren, aber auch, weil sie Ressentiments vonseiten ihrer Familien oder der Firmen, in denen sie arbeiten, befürchten mussten. Dadurch war ich andererseits aber auch dazu gezwungen, so manche Frage, die sich mir im Interview aufgedrängt hat, nicht zu stellen und bei manchen Antworten auch nicht weiter nachzuhaken, weil jede weitere Aussage womöglich eine Spur zur wahren Identität meiner Gesprächspartner gelegt hätte.
Das Thema „Gewalt“ ist nicht so einfach zu begreifen und zu behandeln, wie es manche Politiker gerne möchten. In diesem Buch geht es vor allem darum, welche Ursachen die wachsende Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit hat und wie man diesem Phänomen begegnen kann. Die einzelnen Interviews bieten dabei naturgemäß keine einfachen, geradlinigen Lösungen an, was sich auch im Aufbau dieses Buches widerspiegelt. Mein Anliegen war es außerdem vornehmlich, wie bei einem Mosaik oder einem Puzzle verschiedene Facetten des Themas von verschiedenen Seiten her zu beleuchten. Aus diesem Grund habe ich auch nicht nur Gespräche mit Tätern, sondern auch mit Opfern und Fachleuten geführt. Ausführlichere Zwischentexte an verschiedenen Stellen des Buches vertiefen und erläutern die in den Interviews angesprochenen Themen zudem so, dass am Ende ein möglichst klares Bild entsteht. In den Schlusskapiteln werden die Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst, Schlussfolgerungen gezogen und letztlich auch Forderungen an die Politik, aber auch an uns alle gestellt.
Denn so nahe die Verurteilung von Gewalt liegt: Unsere persönliche Betroffenheit, unser Entsetzen über eine Tat darf uns nicht den Blick auf ihre Ursachen und die möglichen Lösungsansätze verstellen. Dass so viele Menschen heute das Gefühl haben, in einer gewalttätigen Zeit zu leben, entspringt auch der Annahme, an diesem Umstand nichts ändern zu können. Doch diese Einstellung führt dazu, einfach hinzunehmen, statt hinzusehen. Wir alle können jedoch mit einem Minimum an sozialer Aufmerksamkeit und mit Zivilcourage ein Maximum an lebenswertem Miteinander erreichen.
Und noch eines darf man nicht vergessen: Die sichtbare Gewalt, von der in diesem Buch so viel die Rede ist, hat auch etwas mit den verschlossenen Türen und den zugezogenen Vorhängen der unmittelbaren Nachbarschaft zu tun. Hätten wir doch alle nur früh genug hingesehen …
Dirk Heinrichs
Ich kenne Justin seit beinahe einem Jahr, weil ich an der Schule, die er besucht, mehrere Schulklassen betreue. Er ist 16 Jahre alt, von muskulöser Statur und passt „idealtypisch“ in das Schema eines zukünftigen Knastanwärters: pubertierender Junge, Förderschüler mit Hang zur Schulverweigerung, aus einfachen Verhältnissen stammend. Vor unserem Gespräch war Justin wegen seines aggressiven Verhaltens gerade erst wieder einmal Thema einer Schulkonferenz. Außerdem schwänzt er regelmäßig die Schule. Es ist daher fraglich, ob er in einem halben Jahr seinen Abschluss machen kann.
Eigentlich ist er ein herzensguter Junge, der am liebsten nicht erwachsen werden möchte. Die Zukunft macht ihm Angst, weil er weiß, wie schwer es für ihn werden wird, einen Beruf zu erlernen und seine Träume von einer eigenen Familie und einem Haus zu verwirklichen. Und so flüchtet er sich, anstatt sich anzustrengen und die Schule erfolgreich zu absolvieren, vor jeder Verantwortung in seine Tagträume, immer in der Hoffnung, jemand möge ihn retten. Aber selbst dieser Retter würde Gefahr laufen, von Justin abgewiesen zu werden, weil er es wahrscheinlich nicht für möglich hält, dass sich ein Mensch wahrhaftig für ihn interessiert und um ihn kümmert. Und so schaffen es weder seine Eltern noch seine engagierten Lehrer, Justin eine Richtung zu geben. Auf Druck reagiert er mit Flucht, auf Zuneigung mit Misstrauen. Dennoch ist Justin es wert, dass man so lange um ihn kämpft, bis er selber zu kämpfen beginnt.
Einmal habe ich ihn ins Gefängnis mitgenommen, um ihm zu zeigen, dass Knast alles andere als „cool“ ist. Bis dahin hielt er den Knast nämlich für eine „coole Sache“. Am Ende seines Besuchs sagte er jedoch zu mir, dass er da nie wieder hin will.
Justin hatte mir in unseren Vorgesprächen immer von seiner Gang vorgeschwärmt. Und so hatte ich mich auch mit ihm und seiner Gang zum Interviewtermin verabredet. Doch als es so weit war, erschienen lediglich Justin und einer seiner Freunde, der sich obendrein weigerte, auch nur eine Frage zu beantworten. „Ich weiß nicht“, war seine Antwort auf meine Frage, warum er nicht interviewt werden will.
Die Sprachlosigkeit und die Unzuverlässigkeit, die sich hier manifestieren, sind zwei der grundlegenden Probleme, sobald man mit gewalttätigen Jugendlichen konfrontiert wird und mit ihnen gemeinsam etwas auf den Weg bringen will. Sie halten Absprachen einfach nicht ein, sind antriebslos und zeigen selten einen auf irgendetwas gerichteten Ehrgeiz. Das geschieht keineswegs aus böswilliger Absicht heraus, sondern ist ein Zeichen ihrer erworbenen Hoffnungslosigkeit. Sie sind schlichtweg nicht in der Lage, eine Idee oder einen Gedanken länger zu verfolgen, weil sie einfach nicht daran glauben, dass es wirklich etwas geben könnte, was ihnen aus ihrer freudlosen Situation heraushilft. Und so rotten sie sich lieber in Gangs zusammen, um mit ihren Zukunftsängsten wenigstens nicht ganz allein zu sein.
Ich verschweige Justins wahren Namen, weil ich ihn weder als Mensch noch als Persönlichkeit vorführen möchte – obwohl ich ihn durchaus als Paradebeispiel für die Generation der Sprachlosen betrachte. Das Interview führen wir im elterlichen Wohnzimmer, während sein Freund neugierig, aber misstrauisch auf der Couch neben Justin Platz genommen hat. Das folgende Gespräch ist von mir absichtlich kaum überarbeitet worden, sondern spiegelt weitgehend den wortwörtlichen Verlauf wider. Wie auch in den folgenden Gesprächen habe ich lediglich Anmerkungen, die Justins Aussagen und Reaktionen besser erklären und verdeutlichen, hinzugefügt und in Klammern gesetzt. Eine Methode, die ich auch bei den nachfolgenden Interviews beibehalten habe.
DH: Warum sind die anderen Jungs aus deiner Gang … (er schaut mich mit großen Augen an, und so frage ich vorsichtshalber noch mal nach) Ihr bezeichnet euch doch als Gang, oder nicht?
Justin (lacht und blickt zu seinem Freund, der sich neben ihn auf die Couch gesetzt hat): Haha, „Gang“ …
DH: Oder ist das eher eine Clique und ihr bloß Freunde, die zufällig miteinander abhängen?
Justin: Ja, ’ne Clique kann man sagen.
DH: Ihr würdet euch also nicht als Gang bezeichnen?
Justin: Doch, bisschen schon, ja.
DH: Ein bisschen schon … Kannst du mir vielleicht den Unterschied erklären?
Justin: Wir sind fast nie alle so zusammen. Immer einzeln da. Dann da, und so … Mal sind es wenige, mal viele. Kommt ganz darauf an.
DH: Habt ihr feste Treffpunkte?
Justin: Nee, nee, wir sehen uns einfach so.
DH: Ihr lebt also alle im gleichen Viertel und begegnet euch auch nur hier. Richtig?
Justin: Ja.
DH: Aber ihr verabredet euch nicht zu bestimmten Tageszeiten.
Justin: Nö.
DH: Aber ihr stellt immer wieder zusammen Sachen an und habt deshalb auch oft mit der Polizei zu tun?
Justin: Ja.
DH: Findet ihr das „cool“, wenn ihr Besuch von der Polizei bekommt?
Justin: Das ist nicht cool. Das ist nicht gut.
DH: Denkt ihr, bevor ihr kriminelle Sachen macht, an die möglichen Konsequenzen?
Justin: Ja, da denken wir schon dran, aber wir machen das einfach. Keine Ahnung, warum.
DH: Gibt es euch einen Kick, diese Verbrechen zu begehen?
Justin: Ja, genau so.
DH: Das Verbotene zu tun, gibt euch den Kick.
Justin: Ja.
DH: Du bist ein sehr kräftiger Typ. Prügelt ihr euch oft?
Justin: Nicht oft, aber kommt manchmal vor. (Er grinst vielsagend.)
DH: Prügelt ihr euch dann mit anderen Gangs?
Justin: Das selten. Das selten so.
DH: Ist dabei auch Alkohol mit im Spiel, wenn ihr euch prügelt?
Justin: Nee, nee.
DH: Trinkst du noch keinen Alkohol?
Justin: Manchmal.
DH: Hast du das Gefühl, in einer gewalttätigen Zeit zu leben?
Justin: Ja.
DH: Woran machst du das fest?
Justin: Früher war das nicht so schlimm, ich weiß das.
DH: Bedeutet das denn für dich, dass du dich eigentlich nur mit Gewalt gegen Gewalt wehrst?
Justin: So in der Art. Kann man so sagen.
DH: Haben die Jungs aus deiner Gang ihren Schulabschluss gemacht?
Justin: Ja. Die meisten gehen arbeiten.
DH: Wirst du auch deinen Schulabschluss machen?
Justin: Keine Ahnung. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob der mir gibt Abschluss.
DH: Glaubst du, dass du es in der Hand hast, deinen Abschluss zu machen?
Justin (lacht): Ich glaub nicht. Ich weiß nicht.
DH: Ist dir der Abschluss überhaupt wichtig?
Justin: Ja, ja, ist mir wichtig.
DH: Warum?
Justin: Für später arbeiten zu gehen.
DH: Was willst du werden?
Justin: Maler, Lackierer.
DH: Hast du etwa vor, deinen Schulabschluss im Knast zu machen?
Justin: Nö.
DH: Und die Ausbildung zum Maler und Lackierer möchtest du doch sicher auch nicht im Knast machen?
Justin: Nö.
DH: Und wieso gleitest du dann immer mehr in ein Verhalten ab, das dich dem Knast näher bringt?
Justin: Ich weiß nicht. (Er grinst dabei.)
DH: Du weißt doch, wie es im Knast zugeht?
Justin (leise): Ich weiß.
DH: Hast du davor keine Angst?
Justin: Keine Ahnung.
DH: Weckt das keinen Ehrgeiz in dir, nicht in den Knast zu kommen?
Justin: So denke ich schon, ich will nicht da rein, aber … Das kommt immer so, das Scheißebauen. Ich will die ja selbst nicht machen, aber das kommt immer.
DH: Und du kannst nicht dagegen an?
Justin (schweigt)
DH: Du gehst einfach mit, wenn ihr etwas anstellt?
Justin: Ja.
DH: Das sagen die meisten, dass sie einfach nur mit dabei waren, aber von sich aus gar nicht auf die dummen Ideen gekommen sind.
Justin: Ja. (Sein Computer gibt ein paar Töne von sich.)
DH: Bist du gerade in einem Internet-Chat-Room?
Justin: Ja, das ist so Chat. Da kannst du mit Weiber schreiben und Freunde. Das macht Spaß.
DH: Lernst du über den Chat-Room viele neue Leute kennen?
Justin: Ja.
DH: Gibt es von dir auch Fotos im Internet?
Justin: Ja.
DH: Aber die Fotos haben dir Ärger eingebracht? (Justin hat auf den angesprochenen Fotos mit Waffen posiert.)
Justin: Ja. Ich hatte Fotos mit Waffen. Die Polizei hat das gesehen … Habe ich Ärger gekriegt.
DH: Was hat die Polizei unternommen?
Justin: Die haben hier einen Durchsuchungsbefehl gemacht.
DH: Die haben die Wohnung deiner Eltern durchsucht?
Justin: Ja.
DH: Die Polizei stand also plötzlich vor eurer Haustür?
Justin: Ja.
DH: Was ist das für ein Gefühl, wenn die Polizei ohne Vorwarnung vor der Türe steht?
Justin: Nicht gut. Ich war am Schlafen.
DH: Und die Polizei kam am frühen Morgen zu euch?
Justin: Ja, sieben Uhr.
DH: Du kannst froh sein, dass das kein SEK (Sondereinsatzkommando der Polizei) vor deiner Tür war. Du hast schließlich mit Waffen auf den Fotos posiert.
Justin: Ja ich weiß. Das waren aber keine echten Waffen auf den Fotos. Soft-Air-Waffen (Druckluftpistolen) waren das.
DH: Was bedeutet es dir, mit Waffen auf einem Foto zu posieren und es danach auch noch ins Internet zu stellen?
Justin: Das sieht geil aus.
DH: Was heißt das? Findest du das männlich?
Justin: Nicht männlich. Das sieht gut aus. Ich weiß nicht, warum.
DH: Machen das auch Mädchen?
Justin: Die machen das zwar nicht, aber was soll ich machen, die Fotos sind gut.
DH: Und wie finden die Mädchen solche Fotos?
Justin: Scheiße … Denken dann: „Voll der Asi!“, so.
DH: Welche Konsequenzen hatte die Hausdurchsuchung?
Justin: Ich musste zur Polizei gehen.
DH: Du bist verhört worden?
Justin: Ja.
DH: Was war das für ein Gefühl?
Justin: War nicht schlimm. Die haben nur gesagt, das kann vor Gericht kommen . Dies und das.
DH: Aber es ist noch offen, ob du tatsächlich vor Gericht erscheinen musst?
Justin: Ja.
DH: Hat man dir gesagt, welche Strafe du bekommen könntest?
Justin: Ja, die haben mir gesagt, auf jeden Fall gibt das Sozialstunden (die Auflage, eine bestimmte Anzahl von Arbeitsstunden in einer sozialen Einrichtung zu arbeiten). Angeblich habe ich ein Mädchen bedroht.
DH: Hast du nicht?
Justin: Nein, hab ich nicht. Wir haben uns gegenseitig so am Telefon so beleidigt, so, und danach hat die angeblich gesagt, ich komme mit Waffen, so bei der nach Hause, deshalb haben die Bullen, also die Polizei, Verdacht.
DH: Das Mädchen hat dich also angezeigt?
Justin: Ja.
DH: Das war aber nicht das erste Mal, dass du mit der Polizei zu tun hattest?
Justin: Ich weiß.
DH: Hat dir die Hausdurchsuchung Anerkennung in deiner Gang gebracht?
Justin: Nein, nicht so. Da haben gesagt … Die haben eigentlich nichts gesagt. Keine Ahnung.
DH: Die haben nichts gesagt?
Justin: Selber schuld. So. Ja, so in der Art. So.
DH: Wie wichtig sind Männlichkeit und Kraft für dich? Justin: Eigentlich nicht wichtig. Mir ist das schon wichtig, falls einer kommt, dass ich mich wehren kann.
DH: Ihr habt euer Viertel – für jeden sichtbar – mit euren Tags (kryptische Graffiti, die als Zeichen für eine bestimmte Gang stehen) markiert.
Justin: Ich weiß. Wir sind ja hier groß rausgekommen. Deswegen wissen die, welche Leute hier rumlaufen.
DH: Du machst dir also einen Namen bei anderen Jugendlichen, wenn du Mitglied einer bestimmten Gang bist?
Justin: Ja, genau so.
DH: Ist dir das wichtig?
Justin: Ja.
DH: Denkst du bei allem, was du so anstellst, auch manchmal daran, dass deine Eltern darunter leiden könnten?
Justin: Ich weiß. Ich versuche aufzuhören, aber es geht einfach nicht.
DH: Bist du nach krummen Dingern süchtig?
Justin: Nicht süchtig. Aber es macht mir so Bock, das Leben. Ich weiß nicht.
DH: Du bist jetzt 16 Jahre alt. Glaubst du wirklich, dass du immer so weitermachen kannst?
Justin: Nee, ich weiß. Aber ich mach ja auch nicht mehr so viel Scheiße wie früher.
DH: Wie könnte man dir helfen, damit du nicht noch tiefer abrutschst?
Justin: Ich bin ja nur so, wenn mich einer beleidigt. Dann raste ich zu schnell aus, so. Da hat die Polizei gesagt, ich muss ein Antiaggressionstraining machen, wenn ich will. Ich weiß noch nicht, ob ich das mache. Aber ich weiß ganz genau, wie die bei so einem Training drauf sind. Die beleidigen dich richtig, und ich weiß, wie ich dann drauf bin.
DH: Wie bewertest du den Angriff der beiden Schläger in der Münchner U-Bahn gegen einen Rentner?
Justin: Das sind feige Leute gegen alte Leute.
DH: So etwas würdest du nie tun?
Justin: Nee.
DH: Nach welchen Kriterien suchst du dir deine Gegner aus?
Justin: Ich suche einen in meinem Alter, der sich wehren kann. So.
DH: Was machst du, wenn du Zeuge wirst, wie ein anderer zusammengeschlagen wird?
Justin: Ich weiß nicht.
DH: Was würdest du machen? Weggucken? Weitergehen?
Justin: Wenn ich den kennen würde, würde ich auf jeden Fall was machen. Wenn ich den nicht kennen würde … Ich weiß es nicht, ob ich überhaupt hingeguckt hätte. Vielleicht wäre ich weitergegangen, weil es mich nicht interessiert hätte. Keine Ahnung. (Er muss unweigerlich lachen.)
DH: Woher kommt die Gewalt?
Justin: Jeder will der Beste sein.
DH: Was müssten wir tun, damit die Gewalt wieder weniger wird?
Justin: Ich weiß nicht.
DH: Stört dich die Gewalt um dich herum denn gar nicht?
Justin: Doch, aber was soll man machen. Wenn ich hier (gemeint ist seine Gegend) bin, muss ich da durch.
DH: Glaubst du, dass Gespräche über Gewalt helfen können, die Gewalt zu reduzieren?
Justin: Bei manchen schon.
DH: Und was könnte dir helfen, aus deiner Situation herauszukommen?
Justin: Das fragt mich jeder … Ich weiß nicht.
DH: Du lebst einfach in den Tag hinein und guckst mal, was passiert. Machst du dir keine Gedanken über das Morgen?
Justin (lachend): Morgen lebe ich wieder einfach in den Tag rein, mal gucken, was passiert.
DH: Du weißt, dass die meisten Gefangenen im Knast keinen Schulabschluss haben?
Justin: Ja, ich weiß.
DH: Womit hängt das für dich zusammen?
Justin (lachend): Mit der Straße. Die Straße hat sie runtergezogen.
DH: Nimmst du Drogen?
Justin: Nee. Ich hasse das, so breit zu sein. Dann kommt man gar nicht mehr klar mit seinem Leben.
DH: Kennst du viele, die Drogen nehmen?
Justin: Ein paar Leute. Die kiffen.
DH: Ist Kiffen fast schon normal heute?
Justin: Ja. Aber das macht so schlapp. Deswegen hasse ich das.
DH: Verstehst du, dass deine Eltern sich Sorgen um dich machen?
Justin: Ja.
DH: Warum bist du anders als deine anderen Geschwister?
Justin: Bin in den falschen Freundeskreis geraten. (Er lacht.)
DH: Also wäre es gut, wenn deine Freunde wegziehen würden?
Justin (protestiert): Nein, nicht wegziehen!
DH: Deine Freunde sind dir sehr wichtig.
Justin (sanft): Ja. Sehr wichtig. Ich komm nicht auf neue Leute klar. Ich will keine neuen Leute kennen lernen.
DH: Können wir es schaffen, der Gewalt Herr zu werden?
Justin: Man kann es versuchen.
Cem ist 21 Jahre alt und schon seit 25 Monaten in Haft. Insgesamt wurde er wegen Zuhälterei und vierfacher gefährlicher Körperverletzung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Ich habe den in Deutschland geborenen Türken im Gefängnis kennen gelernt, er besucht dort seit Monaten regelmäßig meine „Sprache gegen Gewalt“-Gruppe. Was ich an Cem bewundere, ist sein Wille, wirklich mit seinem alten Leben abzuschließen. Er ist zur treibenden Kraft in unserer Gruppe geworden und brilliert trotz seines starken Akzentes mit exzellenten Texten für unser Theaterstück. Auch sprudelt er vor lauter Inszenierungsideen nur so über, und ich frage mich manchmal, warum dieser Junge die achte Klasse in der Hauptschule einfach so abgebrochen hat, um sich danach auf der Straße, im wahrsten Sinne des Wortes, durchzuschlagen. Er hat den Wunsch geäußert, nach seiner Entlassung seinen Schulabschluss nachzuholen. Und weil ich an ihn glaube, habe ich mich dafür eingesetzt, dass er diese Chance auch erhalten wird. Um diese Chance zu wahren, wird seine wahre Identität in diesem Gespräch anonymisiert. Cems Geschichte zeigt fast exemplarisch die Folgen der so genannten „Schwarzen Pädagogik“, die bei der Kindererziehung vor allem auf Härte und Einschüchterung setzt. Wie in vielen anderen Fällen, die in diesem Buch noch geschildert werden, stehen auch am Anfang seiner kriminellen Karriere traumatische Gewalterlebnisse in der Kindheit.
DH: Wenn du an deine Kindheit zurückdenkst, was ist dir da besonders in Erinnerung geblieben?
Cem: Als mein Vater und meine Mutter mich das erste Mal zum Fußball begleitet haben. Da hab ich ein Tor geschossen, und meine Eltern haben sich so gefreut. Das bleibt für immer in meinem Kopf. Da war ich zehn oder elf. Und meine Eltern waren noch zusammen. Das war einfach schön … Wir sind dann Eis essen gegangen, wie eine Familie.
DH: Wann hast du angefangen, deine Probleme mit den Fäusten zu lösen?
Cem: Ich war nicht gut in der Schule. Ich war faul und ich hab mich gestritten, wie jeder andere auch. Schubsen und so … Mit 15 bin ich mit meinem Vater in die Türkei gefahren. Wir haben mit meiner Oma eine Koranschule besucht, und ich hab gesehen, dass mein Vater voller Stolz auf die Schüler dort war, richtig stolz. Ich wusste aber, dass mein Vater auf mich nicht stolz war. Der hat mich nie so stolz angeguckt oder mir das Gefühl gegeben, dass er stolz auf mich ist. Und da hab ich mir gedacht, wenn ich auch Koranschüler werde, dann ist mein Vater auch stolz auf mich! „Mein Sohn, willst du echt hierbleiben?!“, hat er gefragt. Und ich hab gesagt: „Ja, Papa, ich bleibe hier und lerne.“ Und da war er so froh darüber und hat mich umarmt. Ich dachte mir: „Korrekt!“ Mein Vater hat dann mit dem Hodscha – das ist der Koranlehrer, der auch das Freitagsgebet hält – geredet, und sie haben sich geeinigt, dass ich ein Jahr dableibe und den ganzen Koran auswendig lerne. „Hafis“ nennt man das, wenn jemand den Koran auswendig kann. Man hat mir versprochen, dass ich am Wochenende immer zu meiner Oma gehen kann. Also bin ich dageblieben. Am ersten Wochenende hat mir der Hodscha aber verboten, zu meiner Oma zu gehen, und drei, vier Tage später ging es los. Der Hodscha kam zu mir und sagte: „Du lernst diese zwei Seiten auswendig.“ Ich hab’s versucht und hab’s nicht geschafft. Und so hab ich das erste Mal das Falaka (ein Folterinstrument) kennen gelernt. Jeder Türke kennt das. Das sind zwei Stöcke, die mit zwei Seilen verbunden sind. Damit werden die Füße festgebunden, damit man mit einem anderen Stock auf die Fußsohlen schlagen kann … Das war krass! Natürlich hab ich geheult und bin dann in mein Bett. Von da an gab es keinen Tag ohne Schläge. Und weil ich aus Deutschland kam, hatte ich auch keine Freunde unter den anderen Schülern. Am ersten Tag wurden mir meine Adidas-Turnschuhe geklaut, weil alle nur in solchen Plastiklatschen rumlaufen. Die kosten einen Euro oder so. Dann haben sie mich „Almanci“ (abschätziger Ausdruck für Türken, die in Deutschland leben) genannt, also Bastard, und beschimpft, weil ich Deutscher bin und kein richtiger Türke. Ich blieb ein Einzelgänger, aber eine Zeit lang ging es auch irgendwie gut … Eines Tages musste ich Holz für den Ofen holen und hatte mich dabei schmutzig gemacht. Also ging ich duschen. Plötzlich kam der Hodscha rein und schimpfte: „Du duschst zu lange!“ Er hatte eine Lederpeitsche dabei, an der so eine Art Hand festgemacht war. Und dann hat der mich geschlagen . (Die Erinnerung überwältigt ihn, seine Stimme versagt, und Cem unterbricht das Interview kurz.)
Auch die anderen Mitschüler haben mich immer wieder geschlagen. Bis einmal der Moscheelehrer weg war. Der Stärkste der Gruppe hat dann den Hodscha gespielt und mich mit dessen Peitsche geschlagen … Auf einmal hab ich nichts mehr gesehen … Nur noch alles dunkel … Und dann bin ich auf den drauf, hab ihn geschlagen. Er haute ab und flüchtete auf den Gebetswaschtisch, aber ich zog ihm die Beine weg und hab auf ihn eingeschlagen ohne aufzuhören. Er ist fast gestorben, und ich hab nur drauf und drauf … Alles war voller Blut, meine Handknöchel waren wund, und er sagte nichts mehr. Da hab ich aufgehört …
Seit dem Tag habe ich nicht mehr geheult, wenn man mich geschlagen hat, mit Stöcken, mit Eisen. Mehrere Hodschas sind auf mich draufgegangen. „Du deutscher Bastard“, schrien die, „denkst, du kannst hier machen, was du willst …“ Die haben mich richtig kaputt geschlagen. Aber ich schwöre: keine Träne, ich hab nicht geheult! Nach dem Tag konnte ich nicht mehr heulen, so eine Wut hatte ich in mir. Ich bin dann zwei-, dreimal zu meiner Oma abgehauen. „Oma, ich bring mich um! Wofür soll ich noch leben? Bin ich auf der Welt, nur um Schläge zu kassieren?!“ Meine Oma wollte das nicht glauben, und dann hab ich ihr meinen Rücken gezeigt. Überall blaue Flecken, aber richtig. Dann hat mich mein Onkel in die Schule begleitet und mit dem Hodscha gegen meinen Willen verabredet, dass ich noch ein paar Wochen dableiben müsste, und verschwand dann wieder … Und der Hodscha kam zu mir und sagte: „Du willst gehen?“ Und ich antwortete: „Ja, ich will gehen, ich will nicht mehr hierbleiben.“ – „Du bist ein Glaubensloser. Du kommst aus Deutschland, und da habt ihr sowieso keinen Glauben.“ Danach musste ich bei Eiseskälte auf das Minarett steigen und das Gebet lesen. Die anderen durften das vom Warmen aus mit dem Mikrofon machen. Aber ich hielt durch, hab mich konzentriert, bis mir wärmer wurde. Der Hodscha hat nur einen Grund gesucht, um mich richtig kaputt zu schlagen. Seine Augen waren voller Hass, aber ich war auch voller Hass … Vielleicht war mein Hass sogar doppelt so groß wie seiner. Jedenfalls machte ich einen Fehler, und er zerschlug mir mit einem Heizungsrohr die linke Schulter. Die konnte ich dann nicht mehr bewegen. Am Morgen danach hab ich dann geplant, abzuhauen. Aber bevor ich weg bin, hab ich sein Büro kurz und klein geschlagen und bin dann durch den Wald geflüchtet. Bin gelaufen und gelaufen, und meine Schulter tat so weh. Ich bin dann zu meiner Oma und hab ihr gesagt, dass es vorbei ist. Dann hab ich die Waffe von meinem Onkel genommen: „Ich knall mich ab. Ich sterbe da. Ich will zurück nach Deutschland.“ Ich wusste, wenn die mich kriegen, schlagen die mich tot. Und so hat mir meine Oma geholfen …
Als ich dann wieder nach Deutschland kam, war plötzlich alles noch schlimmer. Totalschaden. Ich dachte schon, ich wäre besser in der Türkei geblieben. Mein Vater war total enttäuscht von mir, und ich hab mich wieder so gefühlt, als ob ich eh nichts auf die Reihe kriege. Damals ging das alles los: Egal, wer mich schief angeguckt hat, ich hab draufgeschlagen …
DH: Wie hat dich dein Vater vor deiner Zeit in der Koranschule erzogen?
Cem: Streng! Und ich meine streng … Ich hab noch Narben von ihm, auch hier im Gesicht. Aber es war immer so. Ich hab viel Scheiße gebaut. Wenn ich zum Beispiel nicht zur Schule gegangen bin, gab’s Schläge. Ich bin nichts anderes gewöhnt, ich bin mit Schlägen aufgewachsen. Aber dann hab ich halt geheult. Richtige Schläge, die hab ich erst in der Koranschule bekommen. Bevor ich in den Knast kam, hatte ich Albträume, bin nachts aufgewacht. Ich konnte das nicht verarbeiten. Auch jetzt, immer wenn ich daran denke, dann kommt das alles wieder hoch. Ich kann das nicht vergessen, aber ich kann jetzt damit umgehen.
Als ich aus der Türkei wiederkam, schickte mich mein Vater jedes Wochenende in die Moschee. Ich hatte schon bemerkt, dass mit meinen Eltern etwas nicht stimmte. Die Augen meiner Mutter waren anders. Und auf einmal holte nicht sie mich von der Moschee ab, sondern ihre Freundin. Meine Mutter fand ich zusammengeschlagen zu Hause im Bett vor. Mein Vater war das gewesen, und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich bin aus der Wohnung und zur Freundin meiner Mutter gelaufen, aber die hat mich nicht reingelassen, denn die wusste, was passieren würde. Die hatte was mit meinem Vater … Und dann hat sich meine Mutter vor uns ein Messer in den Bauch gerammt.
DH: Du warst dabei?!?
Cem: Ja, das war das Schlimmste, was mir in meinem Leben passiert ist … Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Ich hatte so einen Hass auf meinen Vater, das war nicht mehr normal. Aber ich konnte meinem Vater nie was sagen, nie … Nie! Egal, was er gemacht hat. Ich konnte meinen Mund nicht aufmachen. Ich weiß nicht, wieso. Heute kann ich ihm ein bisschen sagen, was ich denke. Früher hätte ich direkt eine reinbekommen.
DH: Deine Mutter hatte versucht, sich umzubringen, und dein Vater war mit einer anderen Frau zusammen. Warst du jetzt das Familienoberhaupt?
Cem: Ja, ja. Ich bin immer dazwischen, wenn meine Eltern sich geschlagen haben, und hab es dann abgekriegt. Aber auch ihren Frust haben sie auf mich abgeladen. Das war zu viel für mich. Ich war zu jung.
DH: Du warst 16?
Cem: Ja, 16. Das Problem war, dass ich keinen Ausweg mehr gesehen habe und keiner mir seine Hand gegeben hat. Ich bin wie ein Amokläufer durch die Straßen, wie ein Wrack. Ich hab mich mit Älteren geschlagen. Ich wollte, dass die mich schlagen, und hab mich extra ins Gesicht schlagen lassen, damit ich noch wütender wurde. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Da war keiner, mit dem ich reden konnte.
DH: Auch keine Freunde?
Cem: Doch, da gab es einen Freund, aber … Einmal – meine Eltern hatten wieder Streit, und ich haute ab – traf ich ihn, und er wollte mich trösten und legte mir den Arm um die Schulter. Da hab ich ihm ’ne Kopfnuss gegeben: „Geh weg, ich will mit keinem reden!“ Ich hab mich dann immer alleine unter eine Brücke gesetzt und geheult, meine Wut rausgeheult.
DH: Du hast immer nur dann geweint, wenn du allein warst?
Cem: Nur für mich, niemals vor anderen. Seit dem Tag in der Koranschule habe ich erst wieder hier im Knast meine Emotionen zeigen können. Aber vorher, vor anderen Leuten, da war ich eiskalt. Gott sei Dank ist nie mehr passiert, als dass ich Menschen schwer verletzt habe … Ein falsches Wort hat gereicht, und es machte „klick“ in meinem Kopf. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, nichts hat mir geholfen. Keine Gerichtsverhandlung, kein Antiaggressionstraining. Obwohl ich nie einen Tag gefehlt habe. Der Trainer sagte mir, dass ich eine Person brauche, die viel mit mir redet. Aber diese Person gab es nicht. Und auf einmal gab es diese Person. Ich lernte ein Mädchen kennen. Gül (Name geändert). Da war … Wie soll ich sagen … Ich hab mit der über meine Probleme geredet. Das war unnormal.
DH: Wie hast du Gül kennen gelernt?
Cem: Über einen Kollegen. Ich kann nicht sagen, dass ich sehr verliebt war. Aber die hatte so was an sich … Ich konnte mit der über alles reden. Die hat mir zugehört. Ich weiß auch nicht … Wir haben von morgens bis abends telefoniert, haben uns getroffen, sind spazieren gegangen und haben so geredet. Das war … Wie soll ich sagen …? Ich hatte auf einmal keine Sorgen mehr und wollte einfach mein Leben nur noch in den Griff bekommen! Dann ist was passiert … Ich hab sie verlassen und ging wieder in diesen Sumpf rein. Sie hatte was mit einem anderen und hat mir nicht die Wahrheit gesagt.
DH: Man hat dich unter anderem wegen Zuhälterei verurteilt. Wann hast du damit angefangen?
Cem: Das war vor Gül und auch nur eine kurze Zeit. Anderthalb Wochen nur. Das ging alles so schnell, mein Abrutschen, der Knast. Wegen Gül habe ich mit der Zuhälterei aufgehört. Da war ich 19. Meine Kollegen sagten: „Was machst du, Junge, da ist doch viel Geld dabei!“ Ich wollte aber nicht mehr und bin zu Claudia (Name geändert; Cems Freundin vor Gül, die er auf den Strich geschickt hat) gegangen und hab ihr gesagt: „Ich mach nicht mehr mit.“ Als ich ging, kam mir ihre Freundin hinterher: „Wenn du nicht zurückkommst, wirst du sehen, was du davon hast!“
DH: Wie ist es dazu gekommen, dass du der Zuhälter von Claudia wurdest?
Cem: Ich war sehr bekannt in meinen Kreisen. Claudia kannte mich auch, ich aber sie nicht. Jedenfalls hat sie sich auf einer Hauptschulparty ziemlich betrunken, und ein paar Jungs haben das ausgenutzt und sie schlecht behandelt. Sie landete dann mit ’ner Alkoholvergiftung im Krankenhaus … Und das hat sie mir erzählt, als ich sie über meinen Bruder kennen lernte. „Kannst du mir helfen?“, fragte sie mich, und ich rief einen der Typen an, die das gemacht haben sollten, und bestellte den … Ich gab ihm ’ne Backpfeife und sagte ihm, dass er Claudia in Ruhe lassen soll. Claudia sagte ich dann, dass sie von diesen Typen nichts mehr zu befürchten hat. Sie fand das toll und wollte mich unbedingt näher kennen lernen. „Hast du eine Freundin?“, fragte sie. Ich war zwar ein ziemliches Arschloch, ein richtiges Schlitzohr, aber da war kein Gedanke an Zuhälterei. Für mich gab es nur Kloppe, Schlägerei, Leute auseinandernehmen … Das konnte ich sehr gut. Aber die Zuhälterszene, da hatte ich keine Erfahrung. Da kam ein Kollege zu mir und erzählte, dass Claudia schon mal kurz davor war, anzuschaffen „Da können wir ’ne Menge Geld machen“, sagte er, und ich willigte ein. „Ich kann es ihr aber nicht sagen“, sagte ich. Und da übernahm er das. Als ich abends zu Claudia kam, sagte sie: „Wir haben darüber geredet, Geld zu machen …“ – „Willst du das wirklich machen?“, fragte ich. „Ja“, sagte sie, aber sie wusste nicht, worauf sie sich da einließ. Der Typ hat ihr wohl einige Lügengeschichten erzählt, um sie zu überzeugen. Jedenfalls hat sie es dann einmal gemacht, und ich merkte sofort, dass sie das nicht mehr wollte.