Edi Graf
Bombenspiel
Linda Roloffs fünfter Fall
Ein Großteil der Handlung und
die meisten Namen sind frei erfunden
Besuchen Sie uns im Internet:
© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Sven Lang, Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: aboutpixel.de / Afrika © Markus Möller
ISBN 978-3-8392-3442-6
Der Leopard leckt alle seine Flecken –
schwarze wie weiße.
Weisheit der Ndebele
Ich gebe es zu: ich verstehe nichts von Fußball. Die Anfrage meines Verlags, ob ich einen Afrikakrimi, der die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika zum Thema hat, schreiben könne, war daher eine große Herausforderung für mich. Doch als Journalist bin ich es gewohnt, zu recherchieren.
Dabei stieß ich auf den geplanten Skywalk in Durban, ein Bauwerk, das mich wegen seines Symbolcharakters sofort faszinierte. Das Ypsilon, aus der südafrikanischen Flagge übernommen, als Symbol für die Einheit des neuen Südafrika. Meine Idee stand fest: in meiner fiktiven Geschichte sollte der Skywalk zum Ziel eines Anschlags werden.
Ich war beim Recherchieren auf eine Meldung vom Mai 2004 gestoßen, wonach die südafrikanische Polizei fünf Tage vor der Parlamentswahl einen mutmaßlichen Terroranschlag verhindert hatte. Zeitgleich stieß ich in einer Abhandlung über die Apartheid auf einen gewissen ›Dr. Death‹ und ein Biowaffenprogramm namens ›Projekt Coast‹ das unter anderem auch ethnische Kampfstoffe gegen die schwarze Bevölkerung zum Inhalt hatte.
Aus diesen Hintergründen entwickelte sich schließlich meine fiktive Geschichte. Das Netzwerk ›Sub Africa‹ ist hierbei frei erfunden und die ›Republik Nasana‹ wird man im Atlas vergeblich suchen.
›Die Welt in einem Land‹, mit diesem Slogan wirbt Südafrika, und bunt, offen, freundlich und sicher habe ich dieses Land auf meinen Reisen kennengelernt. Von der Kriminalität, deren Statistik erschreckend ist, habe ich nichts zu spüren bekommen.
Die Fußballweltmeisterschaft 2010 ist ein Meilenstein für Südafrika und den ganzen Kontinent und ich bin davon überzeugt, dass Südafrika seinen Gästen grandiose und unvergessliche Spiele voll Herzlichkeit und afrikanischer Lebensfreude bieten wird.
Mögen sie ungetrübt und friedlich verlaufen.
November 2009 Edi Graf
Das Moses-Mabhida-Stadion in Durban war ausverkauft. Das markante Dröhnen der Vuvuzelas, symbolträchtige Lärminstrumente aus buntem Plastik, kündete von der Fußballbegeisterung der Südafrikaner. Die deutsche Nationalelf lag mit 1:0 in Führung, zehn Minuten vor Ende der ersten Halbzeit.
uThembani Mthetwa suchte in den VIP-Lounges nach dem weißen Mann. Der Zulu wusste, dass er jetzt alles auf eine Karte setzen musste. In einem der luxuriös ausgestatteten Räume entdeckte er ihn. Im dunklen Nadelstreifenanzug schritt er, das Martiniglas in der einen, das Handy in der anderen Hand durch die Lounge, aufrecht die Haltung, dazu ein in das Gesicht gemeißeltes kühles Lächeln und ein nervös wirkender Blick, der immer wieder zu der goldenen Rolex huschte. Für das Geschehen auf dem Spielfeld schien er sich nicht allzu sehr zu interessieren.
Das Gesicht des Mannes war glatt rasiert und wirkte dennoch ungepflegt. Schwammige Tränensäcke hingen, durch die Designersonnenbrille nur teilweise kaschiert, unter den Augen, faltige Hautlappen prägten die Wangen, und einige fleischige Auswüchse an Nase und Kinn gaben seinem Gesicht das Aussehen eines Warzenschweins.
Der Unparteiische hatte soeben Freistoß für die Deutschen gegeben. Der Weiße, dem sich Mthetwa jetzt bis auf wenige Schritte genähert hatte, blickte auf sein Handy und musterte erneut die Anzeige seiner Armbanduhr. Noch zwei Minuten bis zur Detonation.
Mthetwas Blick blieb am Skywalk hängen, jenem bumerangförmigen Bogen, der das Spielfeld des Stadions in Durban um mehr als 100 Meter überragte. An den neuralgischen Stellen, wo die Statik der frei tragenden Konstruktion am labilsten war, lagerten die Sprengsätze. Und in zwei kleinen Hohlräumen auf der Aussichtsplattform des Skywalk hatten sie die Phiolen mit den Viren versteckt. Innerhalb von wenigen Sekunden würden sich 70.000 Menschen infizieren und all diejenigen, auf die das aggressive Virus abgerichtet war, in den nächsten zehn Tagen sterben.
Die Hand des Weißen umklammerte nervös das Handy.
Ballbesitz der Deutschen. Pass von Schweinsteiger.
Noch eine Minute.
Podolski hatte freies Schussfeld und zog durch. Tor! 2:0 für Deutschland!
Noch 30 Sekunden.
Dann würde das Chaos herrschen.
Die Bombe tickte, der Finger des Weißen fuhr über die Handytaste, die Anzeige auf seiner Rolex marschierte im Sekundenschritt dem alles entscheidenden Augenblick entgegen.
Die Bögen des Skywalk, Symbol für das neue Südafrika, würden in sich zusammenkrachen wie ein Kartenhaus.
Deutschland war erneut im Ballbesitz, als der Zeitpunkt kam, die Zündung auszulösen. Der weiße Daumen drückte auf die Taste.
Der Tod war im Sekundenbruchteil eingetreten.
Linda Roloff sah das Loch in seiner Stirn, trotzdem kniete sie neben dem Mann nieder und tastete nach dem Puls an seinem Hals. Sie spürte keinen Atem, als sie ihr Gesicht über seine Nase und seinen Mund schob. Er lag auf dem Rücken, so wie ihn der Schuss niedergestreckt hatte, sie kauerte neben ihm.
Über ihnen ragte die geschwungene Geometrie der Mercedes-Benz-Arena wie eine künstliche Felswand senkrecht in den schwarzen Nachthimmel. Nur die großen weißen Leuchtbuchstaben auf halber Höhe der futuristischen Front sorgten hier am Tor 3 für ein diffuses Licht, ringsum herrschte Dunkelheit. In einem der Büros des benachbarten Business Centers brannte eine Schreibtischlampe, doch es schien niemand mehr in dem Raum zu arbeiten. Der Grillpoint, dessen überragendes Dach zusätzlich Licht abschottete, hatte geschlossen und die Stelle, wo sie die Leiche gefunden hatte, war in den Schatten der düster und bedrohlich wirkenden Platanen getaucht. Weder die gelben Lampen der leer gefegten Mercedesstraße noch das grelle Leuchten der Neonröhren im Parkhaus auf der anderen Straßenseite reichten bis hierher.
Das Lüftungsgeräusch, das aus dem Bereich des Tors 2 zu ihr herüberdrang, mischte sich mit dem Knistern des Asphalts unter ihren Schuhen, als sie sich vorsichtig bewegte. Sie suchte nach ihrem Handy, das ihr heruntergefallen war, weil sie sich nach dem Schuss zu Boden geworfen hatte.
Ihre Hand ertastete dankbar die kleine Taschenlampe, die ihr Alan an den Schlüsselbund gehängt hatte. Der Lichtschein, den sie abgab, reichte zwar nicht weit, war aber so grell, dass sie alle Unebenheiten in ihrer näheren Umgebung erkennen konnte. Nach einer halben Minute hatte sie das Handy gefunden. Sie drückte auf ›Kontakte‹, die Nummer ihrer Kollegin Babs kam als zweiter Eintrag. Babs hatte Bereitschaft und würde die Meldung über einen Mord in der Landeshauptstadt sofort absetzen können. Wieder einmal wäre das Radio das schnellste Medium, wie es ihr Redaktionsleiter immer wieder einforderte.
Doch Linda Roloff wählte stattdessen die Notrufnummer und gab der Dienstleitstelle alle nötigen Angaben durch. Ein Toter, erschossen vor dem Tor 3 der Mercedes-Benz-Arena. Dann erst informierte sie Babs Wagner.
Als sie das Gespräch beendet hatte, rief sie noch einmal die SMS auf, die sie von dem Erschossenen vor einem halben Tag erhalten hatte und derentwegen sie an diesem Donnerstag im Mai nachts allein nach Bad Cannstatt gefahren war. Den Treffpunkt hatte der Mann selbst vorgeschlagen, als sie am Mittag miteinander telefoniert hatten. Alles Weitere direkt. Mercedes-Benz-Arena um Mitternacht. Das waren die letzten Worte gewesen, die sie von ihm gehört hatte. Als Journalistin hatte sie die Angewohnheit, sich Dinge, die ihr wichtig schienen, sofort zu notieren. Und so hatte sie auch diesen Wortlaut auf ein Blatt in ihrem Kalenderblock geschrieben: Mercedes-Benz-Arena um Mitternacht.
Sie sah zu dem Toten, der mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden lag. Das Einschussloch in seiner Stirn glänzte schwarz. Der Mörder musste ein genialer Schütze gewesen sein. Oder aus kurzer Distanz abgedrückt haben. Die Augen starrten ausdruckslos zum Himmel. Was hatte der Tote ihr Wichtiges mitteilen wollen? Welches Geheimnis hatte er mitgenommen?
Jetzt lag er hier vor ihr. Tot. Erschossen von einem Unbekannten.
Werden sie dir das glauben?, durchfuhr es Linda plötzlich. Würde nicht der Verdacht naheliegen, dass sie es war, die ihn erschossen hatte? Sie waren schließlich befreundet gewesen. Vor Jahren. Zwei Jahre lang. Immerhin.
Warum hatten sie sich hier getroffen? Was wollte er von ihr? Mercedes-Benz-Arena um Mitternacht. Oder sie von ihm? Wo war die Tatwaffe? Fragen, die man ihr stellen würde. Gab es Zeugen für ihre Version der Geschichte? Nein. Dann konnte ebenso gut sie die Schützin gewesen sein. Und was war mit der SMS? Diese Botschaft, derentwegen sie überhaupt auf dieses geheimnisvolle Treffen eingegangen war. Klangen die wenigen Zeilen nicht wie die Einladung zu einem Date, ein Abschied für immer? Man konnte daraus – wenn man wollte – eine bevorstehende Trennung herauslesen. Und somit ein Motiv für einen Mord. Sie nestelte an ihrer Umhängetasche, fand das kleine Notizheft und einen Kugelschreiber. Sie kritzelte die Botschaft auf einen Zettel und löschte die SMS.
Was musste sie noch tun? Wie viel Zeit blieb ihr, bis die Polizei eintraf?
Die Handybotschaft beschäftigte sie. Er hatte sie ihr geschickt, aber warum? – Er hatte sie ihr geschickt! Der Gedanke durchfuhr sie – sein Handy! Wenn er die Botschaft nicht gelöscht hatte, würde die Polizei sie auf seinem Handy finden. Dort war sie ebenso missverständlich zu lesen.
Linda überwand ihre Scheu und durchsuchte die Kleidung des Toten. In der rechten Hosentasche fand sie sein Handy. Es blinkte und zeigte eine ungelesene Mitteilung an. Sie drückte auf die grüne Taste und las. Die SMS kam von einer Nummer, mit deren Ländercode 0027 sie zunächst nichts anfangen konnte, obwohl er ihr bekannt vorkam. Ein Name erschien nicht. Und was sie las, bestand aus vier Worten, mit denen sie nichts anfangen konnte: Hoffnung = Sub Africa. Oel.
Was steckte hinter dieser Nachricht? Wer hatte das abgesendet?
Sie folgte ihrer Intuition, notierte sich auch diese Zeilen auf der Rückseite des Zettels, hackte eine Botschaft als Antwort in das Handy des Toten, verschickte sie und löschte anschließend beides.
Von irgendwo her glaubte sie den Klang eines Martinshorns zu vernehmen. Jetzt musste das Handy verschwinden. Sie sah sich nach einem Versteck um. Der Müllbehälter, der neben dem Grillpoint stand. Sie würde das Gerät dort morgen abholen. Vielleicht fand sie dann Hinweise auf das, was der Tote ihr zu sagen gehabt hatte? Und eine Antwort des Unbekannten? Falls die Müllabfuhr nicht schneller war. Gab es denn kein besseres Versteck? Das Martinshorn dröhnte in ihren Ohren. Es schien sich auf der Mercedesstraße aus Richtung Porsche-Arena und Wilhelma zu nähern.
Die Wilhelma … ihre Gedanken wanderten zurück. Das Blaulicht vor dem Tigergehege. Wie lange war das her?
Der Krankenwagen war langsam und ohne Martinshorn durch die Menschenmenge in Richtung Elefantenanlage gefahren. Vielleicht war ja nur jemand ohnmächtig geworden, hatte sie noch gedacht und im selben Moment die Absperrgitter, das rotweiße Band und die zahlreichen Polizeibeamten erkannt, die sich bemüht hatten, das Publikum auf Distanz zu halten. Sie hatte in ihre Handtasche gegriffen und den Journalistenausweis herausgezogen.
Das großräumig gestaltete und nur durch eine Mauer und einen Wassergraben von den Zuschauern getrennte Freigehege der Sumatratiger, Kernstück der Raubtieranlage, war ringsum abgesperrt worden, ein Mann mit der olivgrünen Latzhose der Wilhelmamitarbeiter, zwei Polizisten und offensichtlich Beamte der Spurensicherung hatten sich dort aufgehalten.
Dann hatte sie den Pressesprecher der Wilhelma entdeckt und war ihm ins Innere der Absperrung gefolgt. Ihr Blick war über das halbinselartige Gelände des Tigerdomizils geglitten, das im Hintergrund von den Fassaden des Raubtierhauses und nach vorne von einem breiten Wassergraben eingerahmt wurde, und schließlich bei einem grauhaarigen Mittfünfziger hängen geblieben, der sich Gummihandschuhe übergestreift hatte und einen Gegenstand am Boden zu untersuchen schien. Erst auf den zweiten Blick hatte sie den Toten entdeckt. Dort, wo von der Insel große Steinbrocken eine Art ausgetrockneten Wasserlauf formten, hatten, im tarnenden Dickicht des Pflanzenwuchses fast nicht zu erkennen, zwei Beine unter den Bambusstauden ins Freie geragt.
»Man hat die Leiche erst vor einer Stunde entdeckt«, hatte der Pressesprecher erklärt, »als die Pfleger die Tiger rauslassen wollten. Die Tiger oder auch irgendwelche anderen Tiere haben damit nicht das Geringste zu tun. Fest steht, dass keine Tiger in der Außenanlage waren, seit der unbekannte Tote wie auch immer in das Gehege gelangte.«
»Aber wie ist er dann ums Leben gekommen?«, hatte sie gefragt.
»Der Mann ist erschossen worden.«
Das Martinshorn riss sie aus ihren Gedanken. Sie ging zur Straße.
Die Spur hatte damals nach Afrika geführt, auf die Simba King Lodge.
Das Blaulicht reflektierte in den Scheiben der wenigen geparkten Autos.
Simba King. Dort hatte sie Alan Scott wiedergetroffen.
Das Blaulicht kam näher. Tauchte unter den weißen Leuchtbuchstaben auf. Die Brücke zur Schleyerhalle.
Jetzt war er weiter von ihr entfernt denn je.
100 Meter noch. Dann waren sie da.
Die Hochzeit war geplatzt.
Sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Autotüren, die zuschlugen. Schritte auf dem Asphalt. Blendende Lampen. Zwei Polizisten.
»Haben Sie den Notruf abgesetzt? Ihr Name?«
»Linda Roloff. Journalistin.«
»Und was ist passiert?«
Sie berichtete in knappen Sätzen. Von einem kurzen Anruf des Toten, der sie um das Treffen gebeten hatte, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Von dem Schuss, der die nächtliche Stille zerrissen hatte, gerade als sie auf die Arena zugegangen war. Davon, wie sie sich auf den Boden geworfen hatte, um kein sichtbares Ziel für einen weiteren Schuss zu bieten. Von dem Geräusch rennender Schritte Richtung Fritz-Walter-Weg; von dem anfahrenden Auto, das sich in Richtung Mercedes-Benz-Museum entfernt hatte. Und sie spürte, dass die Polizisten ihr kein Wort glaubten.
Sie atmete auf, als Minuten später die Kriminalpolizei eintraf. Den Hauptkommissar kannte sie. Kam vom Bodensee. Ein junger, ehrgeiziger Ermittler, verheiratet. Hatte vor zwei Jahren bei der Sonderkommission gearbeitet, als sie den Leopardenmörder gejagt hatten. War danach befördert worden. Kripo Stuttgart, Bienzles Revier. Er würde ihr glauben.
Die Kriminaltechniker sicherten den Tatort. Sie würden Spuren finden, die zu dem Schützen führten. Spuren, die ihre Unschuld bewiesen. Eine Frau, wahrscheinlich Ärztin, kniete bei der Leiche.
Der Hauptkommissar wollte alles noch einmal hören. Also berichtete sie erneut und blickte scheu zu dem Müllbehälter, in dem plötzlich das Handy des Ermordeten klingelte. Die Quintessenz der Botschaft, die ihr der Ermordete geschickt hatte, schoss ihr durch den Kopf, während ein Kriminaltechniker das Handy in der Mülltonne suchte: Der Weg in den Himmel birgt den Tod.
Kjlhsdkljbnf.,abn öslknhökACSS
Karin Fleischer verharrte vor dem Fernseher, obwohl sie sich für Fußball eigentlich nicht interessierte. Die ARD übertrug die Auslosung der Qualifikationsgruppen für die erste Fußballweltmeisterschaft auf dem afrikanischen Kontinent um 16 Uhr live.
Ihr Freund Henning hatte in derselben Maschine nach Südafrika gesessen, mit der auch Bundestrainer Joachim Löw, Assistenztrainer Hans-Dieter Flick und Teammanager Oliver Bierhoff geflogen waren.
An jenem Wochenende waren mehr als 3.000 Sportfunktionäre und Journalisten zu Gast in der südafrikanischen Metropole, die von den Zulu eThekwini genannt wurde, ›der Ort, an dem Erde und Ozean sich berühren‹. Die Stadt war berühmt für ihre endlosen Strände und das bunte Völkergemisch, ein multikultureller Schmelztiegel all der Kulturen, die von der Geschichte Südafrikas hier zusammengeführt worden waren.
Die wallenden Saris der Inder begegneten am Strand schillernden Zulugewändern und den Trachten der Xhosa; die Nadelstreifenanzüge der Banker, deren schwarze Schuhe von einem mehlfeinen Hauch Pazifiksand eingestaubt waren, trafen auf kurze Hosen und moderne Bademoden der einheimischen Weißen. Eis essende Touristen aus aller Welt saßen in den Cafés neben Einheimischen. Nirgendwo sonst in Südafrika hatte man das Gefühl, dem Slogan ›Die Welt in einem Land‹ näher zu sein.
Mehr als 1.000 zusätzliche Soldaten und Polizisten patrouillierten auf den Straßen und an den Stränden Durbans, diverse Armee- und Polizeihelikopter wurden aufgeboten, um für die Sicherheit der Gäste zu sorgen.
Karin Fleischer machte sich Sorgen. Zu Recht, wie sie Henning gegenüber schon Wochen vor seiner Abreise behauptet hatte, denn sie hatte im Internet die Kriminalitätsstatistiken Südafrikas studiert. Allein für das Vorjahr hatte die Polizei in dem Land über 19.000 Morde registriert – mehr als 52 Morde pro Tag! Die Zahl der schweren Raubüberfälle hatte bei 126.500 gelegen und die angezeigten Vergewaltigungen hatten mit mehr als 50.000 pro Jahr zu Buche geschlagen. An die Dunkelziffer mochte sie gar nicht denken.
Doch Henning war durch nichts davon abzubringen gewesen, den Job in Durban anzutreten. Er hatte es als eine einmalige Chance angesehen, als Bauingenieur bei diesem von einem bedeutenden Hamburger Architekturbüro geplanten Stadionbau in verantwortlicher Position dabei zu sein und wollte die Gelegenheit nutzen, Natur und Landschaft Südafrikas kennenzulernen. Er hatte Karin jedoch versprochen, sie alle zwei bis drei Monate in Deutschland zu besuchen.
Einen Tag nach der Qualifikationsauslosung saß sie wieder in ihrer Wohnung im Stadtzentrum von Stuttgart, diesmal vor dem Bildschirm ihres PCs, und studierte im Internet die Negativmeldungen aus Südafrika: Ein österreichischer Ex-Fußball-Profi war laut Angaben der südafrikanischen Polizei unmittelbar vor der WM-Auslosung auf einem Golfplatz in Durban/Südafrika durch einen Schuss in die Brust getötet worden.
Und weiter hieß es:
Vonseiten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) wurde in der ARD betont, dass Südafrika als Gastgeber weiter großes Vertrauen genieße, auch wenn es im Moment schwer falle. Einer der FIFA-Funktionäre wurde mit den Worten zitiert, man könne das Verbrechen nicht in Beziehung zu den Vorbereitungen auf die erste Fußball-WM in Afrika setzen.
Karin schüttelte den Kopf. Hatte sie Henning nicht gewarnt? Als ob sie es geahnt hätte. Ihre Finger huschten unbeirrt über die Tastatur ihres PCs und sie öffnete eine weitere Seite, die sich mit Kriminalität am Rande der WM beschäftigte: Demnach waren Teammanager Oliver Bierhoff und Georg Behlau, Leiter des Büros der Nationalmannschaft beim DFB, in Durban Dieben zum Opfer gefallen. Im Hotel waren ihnen während des Frühstücks, so las sie, die Aktentaschen entwendet worden, in der sich neben persönlichen Dingen auch Unterlagen für die Auslosung der WM-Qualifikationsgruppen befunden hatten.
Trotz dieser Negativmeldungen musste sie schmunzeln, als sie eine Randnotiz über den ›Kaiser‹ las. Franz Beckenbauer hatte auf die Warnung vor erhöhter Kriminalität in Südafrika gelassener als viele andere im DFB-Team reagiert und sich nach Abschluss der WM-Qualifikationsauslosung zu einem demonstrativen Spaziergang entlang der Uferpromenade Durbans entschlossen.
Karin tröstete das wenig. Die junge Frau hatte Angst. Sie ahnte nicht, dass sie ihren Freund über zwei Jahre lang nicht mehr sehen würde.
L,k-j dskhlök hjs ,lkjnh mölk.mn ezco h m.,klj
Die drei Männer, die sich nach Einbruch der Dämmerung noch auf der Stadionbaustelle aufhielten, kamen aus vier verschiedenen Richtungen zum Treffpunkt, einem der zahlreichen Container, die momentan dort aufgestellt waren, wo sich in knapp zweieinhalb Jahren die weltbesten Fußballmannschaften den Ball abjagen sollten, nämlich auf dem künftigen Spielfeld des Moses-Mabhida-Stadions in Durban.
»Findest du es nicht etwas leichtsinnig, dass wir uns hier treffen?«, fragte Paul Dhlomo und begrüßte den Sicherheitsingenieur mit dem afrikanischen Dreiergriff, bei dem der Händedruck dreimal in unterschiedlicher Position wiederholt wird. »Woher wissen wir, dass nicht plötzlich einer von der Wachmannschaft hier auftaucht?«
Der junge Maschinenbauingenieur, der noch einmal die acht großen Kräne inspiziert hatte, war als Erster vor dem Container mit der Nummer 43 aufgetaucht und hatte fast zehn Minuten allein gewartet. Paul Dhlomo war kein Xhosa, wie sein Name Glauben machte, sondern Shona und stammte aus Zimbabwe. Aber das wusste auf dieser Baustelle niemand. In den Slums von Harare war er im Elend aufgewachsen, umgeben von Gewalt und Brutalität. Die Männer, die seine Mutter besuchten und sie danach wie ein Stück Dreck auf dem beschmutzten, abgewetzten Fell, das als Bettlaken diente, liegen ließen, hasste er, und er bestahl sie, wo er nur konnte.
Was er in ihren Taschen fand, verschwand auf unerklärliche Weise, und wenn sie zurückkamen, weil sie den Verlust bemerkt hatten, beobachtete er aus seinem Versteck heraus, wie sie seine Mutter schlugen und er hasste die Typen noch mehr.
Seine Mutter starb, als er 15 war, seinen Vater hatte er nicht gekannt. Von da an sorgte er allein für sich und seine beiden kleineren Geschwister. Nur der Stärkere bekam etwas zu essen, nur der Schnellere fing die Ratte, für deren Fell und Knochen ihnen der alte Wahrsager, der mit den Toten reden und Kranke heilen konnte, eine Handvoll Maismehl oder Hirse überließ.
Als er 17 Jahre alt geworden war, starb sein kleiner Bruder und der Shona verkaufte seine jüngere Schwester an einen Offizier in der Armee Mugabes, er lebte fortan von Diebstählen, beteiligte sich an Überfällen auf Ausländer und zog mit einer Bande Jugendlicher brandschatzend und gewaltverherrlichend durch die Stadt.
Mit 18 hatte er den ersten Mann erstochen und sich über einen Freund den Weg in die berüchtigte ›Fünfte Brigade‹ erkauft. Seine nordkoreanischen Ausbilder hatten ihm das professionelle Foltern und Töten beigebracht, einer der Offiziere, dem er dafür nachts zu Diensten war, Lesen und Schreiben. An den Massakern des Ndebele-Stammes beteiligte er sich mit großem Vergnügen. Doch Morden und Vergewaltigen waren ihm nicht genug. Der Shona strebte nach Höherem. Sein Hunger nach Wissen ließ ihm keine Ruhe, er wollte eine Ausbildung, ein Studium, die Unabhängigkeit.
Als ihm klar wurde, dass er in seinem Heimatland noch durchschnittlich 13 weitere Jahren zu leben gehabt hätte, desertierte er und setzte sich über Botswana nach Südafrika ab. Als blinder Passagier im Gepäckraum der Cherokee eines Schweizer Safariunternehmers war er von Victoria Falls zunächst nach Maun geflogen und hatte sich dort durch einige Raubüberfälle auf Touristen mit genügend Geld versorgt, um sich dann bis nach Südafrika durchzuschlagen. Nach elf Monaten traf der Shona in Pretoria ein, hatte zwei weitere Menschen getötet, ein halbes Dutzend Frauen vergewaltigt, und sich somit bewiesen, dass er auch ohne fremde Hilfe durchkam. Der ›Speer der Nation‹ bot ihm eine politische Heimat, und die Art zu kämpfen, die er bei der ›Fünften Brigade‹ gelernt hatte, machte ihn rasch zu einem gefürchteten Aktivisten der Untergrundbewegung.
Er erwarb sich die Achtung der Anführer, indem er wie ein Schweißhund Verräter in den eigenen Reihen aufspürte, sie paarweise zusammenschnüren ließ, ihnen alte Autoreifen über Genick und Schulter stülpte, Benzin darüber goss und sie in Brand steckte. Das Necklancing war die gängige Bestrafung für Verräter und Spione in den Reihen des ›Speers der Nation‹, ein qualvoller Tod, bei dem sich das schmelzende Gummi in die verbrannte Haut der Todeskandidaten fraß und ihnen unerträgliche Schmerzen zufügte.
Bald waren die Vergeltungszüge des Shona gefürchtet, Freunde und Feinde nannten ihn Yongama, den, der alles kontrolliert, und wo er auftauchte, gab es kein Erbarmen. Wo er zuschlug, hinterließ er ein Schlachtfeld, er kannte weder Gnade für Frauen und Kinder, noch Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß. Viele der Verräter, die er exekutierte, hatten sich nur Kleinigkeiten zuschulden kommen lassen, Befehle missverstanden oder ein Zeitlimit nicht beachtet. Er kannte für jedes Vergehen nur eine Strafe, den Tod, und er verhängte sie ohne Erbarmen.
Bei einer der letzten Straßenschlachten zwischen Gegnern des African National Congress und Mitgliedern des ›Speers der Nation‹ in Pretoria erschlug er einen jungen Xhosa mit einem Betonbrocken, durchsuchte seine Taschen und fand Papiere, die ihn als Maschinenbaustudenten aus London auswiesen. Er legte seinen Shonanamen ab, nannte sich Paul Dhlomo, und nahm die Identität des Xhosa an. Mit dem Geld, das er auf die Seite gebracht hatte, leistete er sich einen Flug nach Großbritannien und studierte Maschinenbau in der britischen Hauptstadt.
Dort ging er in den Untergrund und traf den Mann, der jetzt sein Boss war. Seine Beteiligung an den U-Bahn-Anschlägen konnte nie nachgewiesen werden, doch hatte er seit dieser Zeit Kontakte zur Terrorszene und wurde nach seiner Rückkehr nach Südafrika als Gegner der versöhnenden Politik Mandelas ins Netzwerk ›Sub Africa‹, wie sich die gegen die Weißen gerichtete Untergrundbewegung nun nannte, eingeschleust.
Seine Kenntnisse, was modernste Baumaschinen anbetraf, die er sich als studierter Maschinenbauingenieur angeeignet hatte, und die Kontakte, die ihm das Netzwerk über korrupte Beamte und Politiker knüpfte, ebneten ihm den Weg zu den Großbaustellen der südafrikanischen Metropolen, wo man sich unter großem Zeitdruck auf die Fußballweltmeisterschaft vorbereitete, und ihn als Experten für Hochbaumaschinen einstellte. Durch seinen guten Draht zum stellvertretenden Construction Inspector des Stadionbaus in Durban, einem weißen Südafrikaner namens Gys de Kock, übertrug man ihm die Aufsicht über den dortigen Baumaschinenpark.
Dhlomo war von Anfang an klar gewesen, dass er nur in diese Position geschleust worden war, um dem Netzwerk bei geplanten Anschlägen auf die WM nützlich zu sein. Er hatte seine Aufgabe gefunden, und das Ziel des Attentats entsprach genau seinen Vorstellungen. Doch er sprach nicht darüber, nicht mit den anderen Verschwörern, denen er nur zum Teil traute, und auch nicht mit dem Boss, den alle nur spöttisch Kalkoen – Truthahn – nannten. Paul Dhlomo zählte selbst im erlauchten Kreis der Aktivisten von ›Sub Africa‹ zu den wenigen Vertrauten, die Kalkoens Schlüsselrolle bei dem Vorhaben kannten. Mit zweien von ihnen traf er sich jetzt in dem Container auf der Großbaustelle.
»Die Wachleute habe ich im Griff und die Ingenieure sind alle über Ostern nach Hause gefahren«, entgegnete der Sicherheitsingenieur uThembani Mthetwa. Als einer der Securitybeauftragten des Organisationskomitees der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 hatte er unkontrolliert Zugang zu allen Stadien und Baustellen, befehligte die Wachmannschaften und sein Büro gab die Sicherheitsausweise für die am Bau beteiligten Männer aus.
Mthetwa hatte lange gearbeitet und sich politisch auf die richtige Seite geschlagen, um so weit zu kommen. Jetzt war er kurz vor dem Ziel. Er hatte im Vorfeld des geheimen Treffens die Alarmanlagen kontrolliert und in den letzten zwei Stunden sämtliche Monitore des Sicherheitssystems im Auge behalten. Vom exponierten Standpunkt der Schaltzentrale aus, auf der Tribünenseite, wo sich nach Ende der Bauarbeiten die VIP-Lounges befinden würden, hatte er einen Überblick über die ganze, auch während der arbeitsfreien Tage von hellem Flutlicht beleuchtete Baustelle. Außer den beiden Männern, mit denen er verabredet war, hatte er von dort aus keine Personen gesehen, ehe er sich zum Container 43 aufgemacht hatte.
Es war eine Kleinigkeit für ihn gewesen, die entsprechenden Szenen auf den Videomitschnitten zu löschen und durch neutrale Bilder zu ersetzen. Niemand würde später nachweisen können, dass sie sich heute hier getroffen hatten und dem Chef der Wachleute, die zu unregelmäßigen Zeiten das Gelände inspizierten, hatte er schon vor einigen Tagen von einer Konferenz der Bauleitung erzählt, während der man auf die Rundgänge verzichten würde. Als Weisungsbefugter für die Wachmannschaft hatte er einen etwas schärferen Ton angeschlagen, der keinen Widerspruch zuließ und der Chief Inspector hatte verstanden.
»Unser deutscher Supermann hat sich für zwei Tage nach Kapstadt abgesetzt, wie ich herausgefunden habe«, bemerkte Mthetwa. Er spuckte diese Worte förmlich aus und sein Gesicht verzerrte sich zur ausdruckslosen, steinernen Fratze. Doch wer den jähzornigen Zulu kannte, wusste, dass er dahinter den Hass verbarg, den er allen Andersfarbigen entgegenbrachte. Mthetwa war ein Einzelgänger, der keine Freunde kannte. Wer eine andere Hautfarbe hatte, war automatisch sein Feind. Es ging ihm gegen den Strich, dass sich in das Netzwerk ›Sub Africa‹ inzwischen Inder, Araber und sogar Weiße eingeschlichen hatten. Mehr als einmal hatte es deswegen Auseinandersetzungen mit Paul Dhlomo gegeben.
Jetzt tippte uThembani Mthetwa den sechsstelligen Code an der Tür des Containers ein. Die Automatik surrte, die Metalltür öffnete sich und die beiden Männer traten ein. Eine Taschenlampe flackerte auf und der Sicherheitsingenieur ließ die Jalousien vollständig herunter, um neugierige Blicke von außen auszuschließen. Dann schaltete er die Schreibtischbeleuchtung ein und startete den PC des deutschen Ingenieurs.
»Wir brauchen seine Daten, darum müssen wir uns hier treffen«, erklärte er Dhlomo weiter.
»Wo bleibt der Inder?«, fragte der zurück.
»Ich habe ihn schon auf dem Monitor gesehen«, beruhigte ihn Mthetwa, »er war noch in seinem Container.«
Die beiden Männer stellten sich so, dass sie gute Sicht auf den Flachbildschirm in der Mitte des Raumes hatten. Soeben erwachte er zum Leben, das Logo des Hamburger Architektenbüros erschien. Ein rhythmisches Klopfen an der Tür ließ ihre Köpfe herumfahren.
»Das ist er, lass ihn herein!«, beschied Mthetwa und Dhlomo öffnete die Tür.
Raghunandan Rajah trug einen Turban und einen weißen Kaftan, der bis auf den Boden reichte. Er musterte Paul, nickte Mthetwa zu, der ihn ignorierte, und übernahm unaufgefordert dessen Platz an der Tastatur des Computers. Rajah kam aus Durban und arbeitete als einer der Software-Administratoren auf der Großbaustelle. Er sorgte unter anderem dafür, dass die Welt draußen über Webcams erfuhr, wie es um den Bau der Stadien in Südafrika bestellt war.
»Sehen wir uns zunächst den heutigen Stand des Baus an«, kommentierte Raghunandan, der von allen nur Raghu genannt wurde, das erste Bild, ein reales Foto der Baustelle, wie sie gerade aussah. »Wir sind gut im Zeitplan und so, wie es aussieht«, er blickte zu Paul Dhlomo, »wird es auch zu keinen Verzögerungen kommen.«
Der Maschinenbauingenieur nickte. Die Bauarbeiten waren den Planungen sogar um einige Wochen voraus, das Material wurde pünktlich geliefert, und es war weder mit weiteren Streiks noch anderen verzögernden Maßnahmen zu rechnen.
»Wir waren bis jetzt in der Phase Five für unseren Plan. Nun zur Zukunft«, sagte Raghu und das Bild veränderte sich zu einer animierten Zeichnung. »So sollte es hier in einem Jahr aussehen. Ihr seht, warum wir uns Durban als Ziel ausgesucht haben: wegen der ausgeklügelten Dachkonstruktion des Stadions. Die Tribünen werden von einer zackenförmigen Dachmembran überspannt, die wiederum mit Stahlseilen an diesem gigantischen Stahlbogen aufgehängt ist. Die ganze Konstruktion lagert auf einem Druckring, der das gesamte Stadion umfasst.« Das Bild drehte sich dreidimensional und gab den Stadionanblick aus der Vogelperspektive frei. »Dieser Stahlbogen, auch Skywalk genannt, weil er begehbar sein wird, überragt das Stadion mit einer Spannweite von 340 Metern von Norden nach Süden. Die Brückenbögen werden über 550 Treppenstufen und eine Seilbahn für die Öffentlichkeit zugänglich sein.«
Aus der Luft betrachtet hatte das Gebilde, das in Längsrichtung über das Spielfeld verlief, eine geometrische Form aus der südafrikanischen Flagge übernommen: ein Ypsilon, das durch seine Zusammenführung der Linien als Symbol für die Vereinigung des schwarzen und weißen Südafrika zu einer Nation galt.
»Der Skywalk besteht aus drei Teilen, einem einteiligen und einem zweiteiligen Arm, die sich in einer Höhe von 100 Metern genau über dem Anstoßpunkt des Fußballfelds treffen. Dort, auf dem Bogenscheitel, wird es eine Aussichtsplattform geben und genau an diesem Punkt werden wir die Phiolen unterbringen. Ich habe ein paar Details in den Plänen manipuliert, damit die Kontrolleure später keinen Verdacht schöpfen. Somit werden die Veränderungen, die wir vornehmen müssen, um die Einlagerung der Phiolen zu tarnen, Bestandteil der offiziellen Pläne sein«, erläuterte Raghu.
»Raffiniert«, meinte Paul Dhlomo.
Der Inder grinste.
»Welchen Zeitplan haben wir?«, wollte Mthetwa wissen.
»Wenn das Stadion wie geplant im Herbst 2009 fertiggestellt sein soll, muss der Skywalk bis Mitte Januar, also in zehn Monaten, aufgerichtet sein. Die ersten Elemente des Stahlbogens sind schon diesen Monat per Schiff aus Hamburg eingetroffen. Insgesamt sind es über 1.000 Tonnen Stahl. Das ist gegenwärtig unsere Phase Four.«
»Wo genau sollen die Sprengköpfe angebracht werden?«
Diese Frage hatte Mthetwa an Paul Dhlomo gerichtet, doch der Inder antwortete an dessen Stelle: »Die Bomben platzieren wir nach Meinung unseres Baustatikers dort, wo der Stahlbogen an dem Druckring aufliegt. Das wird in den jeweils unteren vierten Elementen des Bogens sein. Hier wird die Explosion wegen der Durchleitung der Druckkräfte aus dem Ring die größte Wirkung erzielen. Auch hierfür habe ich Änderungen in die ursprünglichen Pläne eingearbeitet.«
»Wo ist dieser Baustatiker, auf den wir uns so blind verlassen? Warum ist er nicht hier?«, fragte Mthetwa misstrauisch.
»Er arbeitet noch in Dubai«, beruhigte ihn Dhlomo, »das hat sich leider etwas verzögert. Dort entsteht das höchste Gebäude der Welt. Und glaub mir, der Mann kennt sich mit Statik aus wie kein zweiter. Sobald er in den Emiraten abkömmlich ist, reist er hierher. Er hat die Daten der beiden Bogenabschnitte aktuell bearbeitet und die komplette Konstruktion statisch berechnet.«
»Ist er Afrikaner?«
»Nein.«
»Ein Weißer?« Mthetwas Worte klangen verächtlich. Hass schwang in jeder Silbe mit.
»Nein. Er ist ein Arab. Aber jetzt zurück zu unserem Plan«, fuhr Dhlomo fort, der wenig Lust hatte, sich auf eine Diskussion mit Mthetwa einzulassen. »Wichtig ist dabei, dass wir es schaffen, die Sprengköpfe so in den entsprechenden Bauelementen unterzubringen, dass sie später von den Sprengstoffhunden nicht gefunden werden können. Die Bomben werden daher in Hohlräumen unter den Bodenblechen der jeweiligen Stahlkastenträger versteckt. Die aus Deutschland angelieferten Elemente liegen noch auf dem Schiff, bis ich für das Löschen der Ladung grünes Licht gebe. Da die Elemente bis zu zwölf Meter lang sind und bis zu 110 Tonnen wiegen, müssen wir auch noch auf die Bereitstellung der Transporter mit entsprechender Tragfähigkeit warten. Wir werden daher den Einbau in den nächsten Nächten durchführen, sobald der Arab eingetroffen ist.«
Mthetwa nickte. »Und die Phiolen?«
Dhlomo antwortete: »Wir rechnen damit, dass die Elemente des Bogenscheitels nicht vor Mitte Juli fertiggestellt und vormontiert sind. Aus Sicherheitsgründen werden wir die Phiolen erst wenige Stunden vor dem Spiel auf der Aussichtsplattform verstecken. Ein paar Wochen vorher startet Phase Three im Labor in Nasana. Das übernimmt wie geplant der Boss. Er wird den Stoff direkt diesem deutschen Arzt, einem Dr. Goldbäck, überbringen.«
»Warum macht das nicht einer von uns?«, fauchte Mthetwa verächtlich.
»Das hat der Boss so entschieden.«
Mthetwa unterdrückte seinen Missmut. Der Boss war ein Weißer, und kämpfte trotzdem für ihre Sache.
»Dennoch. Ich würde mir diesen Arzt gerne mal ansehen«, schnauzte der Zulu.
»Dann willst du nach Deutschland fliegen und dir Goldbäck vornehmen? Sprichst du Deutsch?«, warf Dhlomo ein.
Mthetwa verneinte. »Goldbäck kann kein Englisch?«
»Doch. Aber du würdest in Deutschland mehr auffallen als der Boss, der sich in der Landessprache verständigt und dem das Land vertraut ist.«
»Und warum kann er den Stoff nicht selbst aus Nasana hierher bringen? Es reicht doch, wenn Goldbäck hier in Aktion tritt.«
»Das ist zu riskant. Du weißt, wie sie Flüssigkeiten auf den Flügen kontrollieren«, antwortete Dhlomo. »Im medizinischen Gepäck eines Mannschaftsarztes werden die Phiolen durchgehen.«
»Trotzdem passt mir das nicht«, widersprach Mthetwa und unterdrückte nur mit Mühe seinen Zorn. »Warum brauchen wir Weiße für unsere Pläne?«
»Der Boss hat seine Gründe, auf unserer Seite zu stehen.«
»Rache?«
Dhlomo nickte. »Rache und Hass. Und Goldbäck macht es wegen des Geldes«, ergänzte er. »Er ist feige. Wenn der Boss ihm genügend Druck macht, wird er automatisch funktionieren.«
Mthetwa unterdrückte eine Entgegnung. »Wie schalten wir den echten Mannschaftsarzt aus?«, fragte er stattdessen.
»Das wird kurz vor Phase Two entschieden. Aber solange wir noch nicht wissen, welche Mannschaften in Durban spielen, warten wir ab. Raghu wird das manipulieren. Deutschland ist unser Favorit. Die Deutschen werden die Qualifikation schaffen. Sie können sich kein Ausscheiden leisten. Sobald wir den Mannschaftsarzt eliminiert haben, ist Phase Two beendet. Phase One ist dann die Endinstallation der Phiolen im Stadion, 100 Meter über dem Anstoßpunkt. Goldbäck wird sie im Arztkoffer einschleusen und der Boss montiert sie. Phase Zero wird danach kein Mensch mehr aufhalten können.« Paul Dhlomo schwieg und legte den Zeigefinger an den Mund. »Was ist das? – Habt ihr das gehört?« Seine Augen wanderten zu dem Fenster, dessen Jalousien geschlossen waren. Alles blieb still.
Der Mann, dessen Schatten draußen unter dem Fenster verharrte, hatte vergeblich versucht, etwas von der Unterhaltung im Container mitzubekommen.
»Was ist, wenn es irgendwelche – sagen wir mal – menschlichen Schwierigkeiten gibt?«, meldete sich der Inder, der bisher schweigend zugehört und am Computer gearbeitet hatte.
Dhlomo übernahm die Antwort: »Dann schalten wir Bushman ein. ›Sub Africa‹ hat ihn nach Russland in ein Camp geschickt. Wenn er zurückkommt, wird er töten wie ein Krokodil. Heimlich, zuverlässig und ohne Spuren zu hinterlassen.« Dhlomo lachte und Mthetwa stimmte ein. Der Lauscher vor dem Container zog sich leise zurück.