Kurt Palm
Bad Fucking
Mit freundlicher Unterstützung des Landes Oberösterreich
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www.residenzverlag.at
5. Auflage
© 2010 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Covergestaltung: Michaela Mandel
ISBN ePub:
978-3-7017-4212-7
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1534-3
Für Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah
Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten;
Es schlafen die Menschen in ihren Betten,
Träumen sich manches, was sie nicht haben,
Tun sich im Guten und Argen erlaben;
Und morgen früh ist alles zerflossen.
Je nun, sie haben ihr Teil genossen
Und hoffen, was sie noch übrig ließen,
Doch wieder zu finden auf ihren Kissen.
Wilhelm Müller (1794–1827)
Es ist alles sehr kompliziert.
Fred Sinowatz (1929–2008)
Im Wald herrschte absolute Stille. Selbst den Amseln, Drosseln, Finken und Staren war bei dieser Hitze das Zwitschern vergangen. Nur von ferne hörte man das Rauschen des Wasserfalls, aber das nahm Bartl schon längst nicht mehr wahr. Das einzige Geräusch, das in seine Ohren drang, war das Zirpen von Grillen. Zumindest bildete er sich das ein.
In Bartls Kopf explodierte das Blut und der Wald begann sich zu drehen. Stöhnend setzte sich der Alte auf einen Baumstumpf und öffnete schwerfällig einige Knöpfe seiner fadenscheinigen roten Jacke. Unter den Achseln hatten sich bereits tellergroße Schweißflecken gebildet. Auf der linken Seite der Jacke, direkt über dem Herzen, konnte man den Schriftzug BARTL lesen. Der Name war mit goldener Seide eingestickt, die längst verblasst war.
Obwohl sich in Bartls Plastiktasche nur ein Laib Brot, ein Topf mit gekochten Erdäpfeln und vier Landjäger befanden, war das bereits die dritte Rast, die der alte Mann einlegen musste. Er starrte auf den Boden und beobachtete ein paar Ameisen, die sich mit einem toten Käfer abmühten. Geistesabwesend schob er mit dem Fuß etwas Erde über den Käfer, aber es dauerte nicht lange, und schon tauchten die Ameisen erneut mit ihrer Beute auf.
Bartl dachte über sein Leben nach, als er eine Stimme hörte, die ihm etwas zuflüsterte:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Der alte Mann hielt den Atem an und drehte sich um, sah aber niemanden. Das Gedicht kannte er, wusste aber nicht, woher. Er versuchte sich zu erinnern. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die alte Sonnleitner, die auf einem Bein hinkte, hatte es ihnen in der Volksschule eingetrichtert.
»Bartholomäus, Scheitel knien! Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.«
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
›Was hätte ich denn tun sollen?‹, fragte sich Bartl, während er den Ameisen bei ihrer Arbeit zusah. ›Hätte ich weggehen sollen? Aber wohin denn? Wohin?‹
Zwei dicke Fleischfliegen, die sich brummend den Schweißflecken auf seiner Jacke näherten, holten Bartl in die Gegenwart zurück. Er verscheuchte die Fliegen mit einer müden Handbewegung, nahm die Plastiktasche und ging langsam weiter.
Von der Ferne sah das kleine, zerbrechliche Männlein mit seinen weißen Haaren und seiner roten Jacke aus wie ein einsamer Zwerg, der sich im Wald verirrt hatte. Jetzt fehlte nur noch die böse Hexe. Oder das Schneewittchen.
Während sich Bartl in der flimmernden Hitze durch den windstillen Wald bewegte, herrschte in der Lobby des Hotels Zum Hohen Hirn ein heilloses Durcheinander. Eine Gruppe junger Mädchen war gerade angekommen und hatte den gesamten Eingangsbereich in Beschlag genommen.
Einige lungerten lässig in den bequemen Fauteuils und fächelten sich gegenseitig Luft zu, andere kontrollierten die Displays ihrer Handys und drückten wie wild alle möglichen Tasten, weil es offenbar ein Problem mit dem Netz gab. Wieder andere nestelten an ihren T-Shirts und Röckchen herum und unterhielten sich über das »extrem geile« Tattoo, das sich Nadja auf ihre Hinterbacken hatte stechen lassen. Der Rest stand an der Rezeption und belagerte Philipp Hintersteiner mit Sonderwünschen wegen der Zimmereinteilung. Die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren.
»Nein, ich möchte lieber mit der Katja in einem Zimmer schlafen«, sagte Babsi, als ihr Philipp den Schlüssel zum Zimmer gab, das bereits Nina für sich reserviert hatte.
»Ich habe Höhenangst und brauche ein Zimmer ganz unten in Ihrer Nähe«, flüsterte Liesi dem schwitzenden Philipp Hintersteiner zu und lachte über ihre spaßige Bemerkung.
»Ein Zimmer ohne Balkon nehme ich nicht«, schrie Candy, die ihre Kopfhörer nur zum Schlafen abnahm. Aber auch das nicht immer.
»Habe ich in diesem Zimmer auch sicher einen Empfang für mein Handy?«, fragte Sonja, die einen skeptischen Blick auf ihr neues, buntes Telefon warf. Weshalb zeigte das Display keinen Empfang an?
In der Lobby verstreut lagen dutzende Rucksäcke, Koffer und bunte Pompons, jene Quasten aus Kunststoff, Metallfolie und Wolle, die Cheerleader während ihrer Auftritte bei Footballspielen kunstvoll durch die Luft wirbeln.
Mitten in diesem Durcheinander stand Sandra Redmont und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Sandra war von der Austrian Cheerleader Association engagiert worden, um die Vienna Honeybees eine Woche lang auf einen internationalen Wettbewerb in Oslo vorzubereiten. Sandra stammte aus Winesburg, Ohio, und war seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr im Cheerleadergeschäft tätig. Im Vergleich zu den kichernden und gicksenden Teenagern wirkte Sandra mit ihren siebenundzwanzig Jahren geradezu alt. Sandra klatschte in die Hände und bat die Girls, sich an die Zimmereinteilung zu halten, die sie im Bus gemacht hatten.
Sofort brach ein Proteststurm los: »Aber ich habe schon im Bus gesagt, dass ich mit der Fanny und der Petzi in einem Zimmer schlafen will«, sagte Hannah. »Wenn jetzt aber die Sofie mit der Fanny und der Jasmin –.«
»Please, please«, flehte Sandra und faltete die Hände. »Es gibt neun Doppelzimmer und ein Dreibettzimmer für euch, ihr seid ausgewachsene Menschen –.«
»Das heißt erwachsene Menschen«, unterbrach sie Katja lachend.
»O. K., also erwachsene Menschen. So what? Neun von euch suchen sich eine Zimmerpartnerin und die Sache ist erledigt. Das Dreibettzimmer nehmen Fanny, Jasmin und Candy. Was ist daran so kompliziert?« Langsam kehrte Ruhe ein. »Hört einmal zu, jetzt ist es kurz nach drei. Wir tragen die Sachen auf die Zimmer, und in einer halben Stunde treffen wir uns hier in der Lobby. Dann sehen wir uns unseren Trainingsplatz an und sprechen über das Programm für morgen. Ist das o. k.?«
Die meisten Mädchen hatten Sandra gar nicht zugehört, weil sie immer noch mit ihren Handys beschäftigt waren.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, rief Klara aufgeregt, »wir haben hier keinen Empfang. Auch die Handys von der Petzi und der Maike funktionieren nicht.«
Wie auf ein Kommando hin fummelten plötzlich alle einundzwanzig Mädchen an ihren Handys herum, und tatsächlich: Kein einziges Telefon funktionierte. In einigen Gesichtern machte sich schiere Verzweiflung breit, andere verfielen in ungläubiges Staunen.
Philipp Hintersteiner hätte sich am liebsten aus dem Staub gemacht, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, die Mädchen mit irgendwelchen Ausreden hinzuhalten. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und räusperte sich. »Darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten?«, sagte er in einem Ton, der nichts Gutes ahnen ließ. »Ihr habt ja bereits bemerkt, dass es hier ein Problem mit den Handys gibt. Leider liegt unser Ort mitten in einem Funkloch, was bedeutet, dass –.«
Sofort brach in der Lobby ein Tumult los.
»Was heißt das?«, fragte Sonja entgeistert und blickte abwechselnd auf ihr Handy und auf den Überbringer der Horrornachricht.
»Naja«, antwortete Philipp Hintersteiner ausweichend, »das heißt, dass es hier im Ort eigentlich, also wie soll ich sagen, außer an einer bestimten Stelle auf dem Berg, genaugenommen, also leider keinen Empfang für Handys oder Internet gibt.«
Nach einer kurzen Schrecksekunde schrien alle durcheinander und fuchtelten mit ihren Handys herum.
»Das ist eine Katastrophe, ohne Facebook überleb ich das nicht!«, rief Hannah und zog nervös an ihrem Nasenring.
Man hörte Worte wie »Scheiße«, »Twitter«, »You Tube«, »My Space« oder »Leck Arsch«. Und Dodo, ein Krocha-Girl mit Glitzerkappe, sagte niedergeschlagen: »Bam, Oida, jetzt bin ich gefickt! Und das ausgerechnet in Bad Fucking.«
Nach etwa einer halben Stunde hatte Bartl jene Stelle im Wald erreicht, wo er vom Weg abbiegen musste, um zu Vitus Schallmosers Behausung zu gelangen. Hier wurde das Gestrüpp dichter, und er blieb mit der Plastiktasche immer wieder an spitzen Ästen oder Dornenzweigen hängen. Bartl fluchte und hoffte auf ein baldiges Ende der Hitze, die jeden Schritt zur Qual machte.
Als Bartl endlich die Lichtung erreicht hatte, blieb er schwer atmend stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie immer wartete er darauf, von Lumpi begrüßt zu werden. Die halbe Knacker für den Hund lag griffbereit in der Plastiktasche. Aber von Lumpi war weit und breit nichts zu sehen.
»Lumpi!«, rief Bartl, aber der Ruf war so leise, dass ihn der Hund selbst dann nicht gehört hätte, wenn er direkt neben ihm gestanden wäre.
Schallmosers Wohnhöhle lag am Rande einer kleinen Lichtung, die von einem dichten Mischwald umgeben war. Die Höhle befand sich in einem Felsvorsprung und verengte sich nach vorne hin zu einer Öffnung, die etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit war. In diese Öffnung hatte Schallmoser eine behelfsmäßige Holztür eingebaut. Oberhalb der Tür ragte ein Rauchfangrohr ins Freie.
Bartl sah sich um und hatte plötzlich den Eindruck, dass sich die Bäume im Wasser spiegeln. Aber hier gab es gar kein Wasser. Es war bloß die flimmernde Luft, die sich in leichten Wellen bewegte und dadurch die Sinnestäuschung hervorrief.
Bartl rieb sich die Augen und blickte zur Tür. Stille. Er rief noch einmal nach Lumpi, aber dieses Mal klang der Ruf eher wie: »Lumpi, es wird dir doch wohl nichts passiert sein?«
Bartl war verwirrt. Er wusste zwar, dass Schallmoser vormittags immer unterwegs war, um von einer Quelle Wasser zu holen und Pilze, Beeren oder Kräuter zu sammeln, aber dass er am Montag Nachmittag einmal nicht auf ihn gewartet hätte, war in all den Jahren nie vorgekommen.
Bartl näherte sich mit einem mulmigen Gefühl der Höhle und warf einen Blick durch die halb geöffnete Tür. Im Inneren war es stockdunkel. Er schob die Tür zur Seite und betrat Schallmosers Behausung. Er sah zunächst nichts, aber bald hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Vom Boden her stieg ein unangenehmer, süßlicher Duft auf.
Bartl machte einen Schritt zur Seite, damit das Licht in die Höhle fallen konnte. Die Sonnenstrahlen fielen direkt auf Vitus Schallmoser, der bäuchlings auf dem verdreckten Lehmboden lag. Um seinen Kopf kreisten fette Schmeißfliegen.
Vor lauter Schreck ließ Bartl die Plastiktasche fallen, aus der einige Kartoffeln herausrollten und in der Blutlache neben Schallmosers Kopf liegen blieben. Der alte Hoteldiener kniete sich nieder und drehte Schallmoser auf den Rücken. Schallmosers verfilzte Haare und sein langer, verwahrloster Bart waren mit Blut verklebt. Seine Augen starrten ins Leere. Bartl sprang auf und lief ins Freie.
Die Sonne blendete ihn, und er schirmte mit seinen zitternden Händen die Augen ab. Er beugte sich vor und würgte. Er wollte ausspucken, aber sein Mund war so trocken, dass außer einem Krächzen nichts herauskam. Sein Herz raste und schlug hart wie ein Stein gegen seine Rippen. Plötzlich hörte er ein Röcheln. Das Geräusch kam aber nicht aus der Höhle. Bartl näherte sich vorsichtig der Hundehütte und entdeckte hinter ihr den blutüberströmten Lumpi, der im Gras lag und am ganzen Körper zitterte. Das Fell des Hundes sah aus, als wäre es von blutsaugenden Motten zerfressen worden.
»Ich kann auch nichts dafür, dass die Post noch immer keinen Handymasten am Hohen Hirn aufgestellt hat. Es gibt da irgendein rechtliches Problem, das noch geklärt werden muss. Unser Hotel hat ja auch das größte Interesse daran, dass in Bad Fucking endlich Internet und Handys problemlos funktionieren.«
Während Philipp Hintersteiner beschwörend die Hände hob, um die Mädchen zu beruhigen, wurden diese immer hysterischer.
»Ich bin gefickt!«, rief Dodo zum zehnten Mal und fuchtelte mit ihrem Handy vor Philipps Gesicht herum. »Ich bin gefickt, wenn diese Scheiß-Gurke nicht bald funktioniert.«
Philipp blickte hilfesuchend zu Sandra Redmont, die aber auch nur bedauernd mit den Schultern zuckte.
»Moment, Moment, bitte hört mir doch einmal zu.« Philipp atmete tief durch und spürte, wie die Pickel in seinem Gesicht immer röter wurden. »Ich habe euch ja bereits gesagt, dass es auf jedem Zimmer einen Festnetzapparat gibt. Diese Telefone funktionieren natürlich, allerdings muss ich euch darauf hinweisen, dass das Telefonieren von den Zimmern aus nicht billig ist. Das liegt aber auch nicht an uns, sondern an der Post.«
»Scheiß Post«, kommentierte Nadja, deren Hose im Tumult ziemlich weit hinuntergerutscht war, wodurch der Blick auf ein imposantes Tattoo frei wurde, das mehrere Schlangen zeigte, von denen eine zwischen den Arschbacken des jungen Mädchens verschwand.
»Aus diesem Grund«, fuhr Philipp fort, »haben wir den täglichen Verbrauch auf zehn Euro pro Apparat limitiert. Wir möchten damit verhindern, dass es bei eurer Abreise zu bösen Überraschungen kommt.«
Die Mädchen sahen einander hilfesuchend an. Sofie, die sich mit ihrer Fernsehzeitschrift Luft zufächelte, drängte nach vorne und fragte Philipp, wie es mit den Fernsehprogrammen aussähe. »Das Finale der Casting-Show auf RTL muss ich sehen, sonst sterbe ich«, sagte sie seufzend.
Philipp war froh, endlich einmal eine gute Nachricht verbreiten zu können. »Mit dem Fernsehen gibt es keine Probleme, wir haben hier sechsunddreißig Programme, die natürlich alle gratis sind. Nur für bestimmte Filme wäre zu zahlen.«
»Porno-Scheiß oder wie?«, fragte Dodo provokant, woraufhin einige der Mädchen kicherten.
Immer, wenn er verlegen wurde, leuchteten Philipps Pickel wie winzige rote Lämpchen auf. Er versuchte, sich zu konzentrieren, um keinen Fehler zu machen. Schließlich wollte er seinem Vater ein für alle Mal beweisen, dass er sehr wohl in der Lage war, den Job an der Rezeption ordentlich zu erledigen. Sein Vater hatte sich immer einen aktiven, tatenhungrigen Sohn gewünscht, der ihn in seinen Geschäftsangelegenheiten unterstützte. Stattdessen hatte er einen Sohn, der sich durch Unentschlossenheit und einen Hang zur Tagträumerei auszeichnete und ihn regelmäßig zur Weißglut trieb.
Zum Glück für Philipp schaltete sich Sandra Redmont in die Debatte ein. »Entschuldigung, Sie haben vorhin gesagt, dass es an einer bestimmten Stelle auf diesem Berg die Möglichkeit gibt, Internet zu empfangen.«
»Ja«, antwortete Philipp erleichtert, »das wollte ich ja schon die ganze Zeit erklären. Also, auf dem Hohen Hirn gibt es ein Plateau, auf dem das Internet funktioniert und wo man auch mit dem Handy telefonieren kann.«
Unter den Mädchen machte sich Erleichterung breit. »Naja, dann passt eh alles«, sagte Sonja zufrieden und streichelte ihr neues Blackberry. Die ganze Aufregung war also umsonst gewesen.
»Moment, so einfach ist das leider nicht«, bremste Philipp die sich ausbreitende Euphorie. »Das Problem ist, dass das eine ziemlich exponierte Stelle ist und man, um dorthin zu gelangen, sogar ein bisschen klettern muss. Aber wenn man den Felsvorsprung erreicht hat, sollten Handys und Internet funktionieren.«
Die Enttäuschung war den Mädchen ins Gesicht geschrieben. »Was, ich soll auf einen Berg kraxeln, damit ich mein Handy benutzen kann? Das ist doch völlig absurd!«, meinte Sofie empört.
»Scheiß Berg!«, pflichtete ihr Nadja bei, die sich in der Zwischenzeit ihre Hose wieder hinaufgezogen hatte.
»Was soll ich machen?«, sagte Philipp Hintersteiner bedauernd. »Das ist die einzige Internet-Plattform, die ich euch anbieten kann.«
»Und wie findet man diese Stelle?«, wollte Katja wissen.
»Das ist ganz einfach. Wenn ihr die Straße hinuntergeht Richtung Wasserfall und dann nach Westen schaut, dann seht ihr das Hohe Hirn, das ist unser Hausberg, dessen Gipfel die Form eines Gehirns hat. Naja, man braucht ein bisschen Phantasie, aber der Berg ist nicht zu übersehen. Zuerst führt ein Weg durch den Wald, und am Ende des Waldes geht es hinauf zum Plateau. Links geht’s zum Höllensee und rechts zum Hohen Hirn. Dort gibt es außerdem einen Richtungspfeil, auf dem Zur Internet-Plattform steht. Ich würde euch allerdings empfehlen, nie alleine dort hinaufzugehen und immer euer Handy mitzunehmen.«
»Will uns der verarschen?«, fragte Fanny ihre Freundin Petzi, die mit offenem Mund durch die Glasfront der Hotellobby starrte und entgeistert sagte: »Bitte, schaut euch das einmal an.«
Wie auf ein Kommando hin bewegten sich alle Mädchen zur Tür, wo sich ihnen ein merkwürdiges Bild bot.
Mitten auf der Straße ging Bartl, der den verletzten Lumpi wie ein Kind in seinen Händen hielt, ohne nach links oder rechts zu schauen. Die Mädchen drängten ins Freie, um sich das Schauspiel aus der Nähe anzusehen, wurden von der Hitze aber jäh in ihrer Vorwärtsbewegung gestoppt.
Bartl bekam von all dem nichts mit und steuerte wie in Trance auf die Ordination des Zahnarztes Dr. Jakob Ulrich zu.
Wie jeden Montag um 16 Uhr lag Jagoda Dragičević auch am 12. Juli in der Ordination von Dr. Ulrich auf dem Behandlungsstuhl und wartete. Nachdem sich Dr. Ulrich die Hände gewaschen hatte – Sauberkeit und Hygiene waren oberstes Gebot in seiner Praxis –, schob der Zahnarzt Jagodas grauen Arbeitsmantel hoch, streichelte routinemäßig die Innenseite ihrer Oberschenkel und zog ihr die Unterhose aus. Jagoda winkelte die Beine leicht an, damit der Arzt bequemer an ihrem stark behaarten Futteral herumfummeln konnte. Dr. Ulrich hatte Jagoda strengstens verboten, sich unten zu rasieren. Seine Frau Jasmin gehörte zu den Anhängerinnen des Schamhaar-rasierkults, was Dr. Ulrich eher infantil fand. Aber das konnte er seiner Frau nicht sagen, weil so intim waren sie dann auch wieder nicht. Ehe hin oder her.
Wie jeden Montag um zirka 16 Uhr 02 stöhnte Jagoda ein paar Mal kurz auf, bevor sie den Reißverschluss von Dr. Ulrichs frisch gewaschener und gebügelter Arzthose öffnete. Aber anders als sonst unterbrach der Zahnarzt dieses Mal den eingespielten Handlungsablauf und holte einen Fotoapparat aus seiner braunen Rindsledertasche. Die Tasche war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau gewesen und hatte knapp vierhundert Euro gekostet. Dr. Ulrich hielt das für durchaus angemessen, denn schließlich kam Jasmin – im Gegensatz zu ihm – aus einem reichen Elternhaus. Was nicht ganz stimmte, denn auch er hätte aus einem reichen Elternhaus stammen können, wenn sein Vater, der fast vierzig Jahre lang Zahnarzt in Bad Fucking gewesen war, nicht sein ganzes Geld verspielt hätte. Irgendwann hatte der alte Dr. Ulrich begonnen, mit den Bauern der Umgebung um Geld zu spielen. Und zwar ausgerechnet Bauernschnapsen. Dass der Zahnarzt dabei nur verlieren konnte, war klar, denn schließlich hieß das Spiel auch Bauernschnapsen und nicht Zahnarztschnapsen. Eines Tages hatte sein Vater jedenfalls seinen letzten Trumpf ausgespielt und konnte froh sein, nicht auch noch die Praxis verloren zu haben. Vor fünf Jahren hatte Dr. Ulrich jun. dann die Ordination übernommen, was keine besonders gute Idee war. Dass die Bad Fuckinger nicht viel Wert auf Mundhygiene legten, hätte Dr. Jakob Ulrich nämlich wissen müssen.
Der Zahnarzt wischte sich vorsichtig den Schweiß von seinem schicken Oberlippenbärtchen und spürte, wie sich vorne seine Hose spannte. »Jagoda, ich möchte heute gerne ein Foto machen. Ich zahle dafür auch mehr.« Er deutete mit einer großzügigen Geste auf die Bohrerablage.
Jagoda sah die beiden Scheine und überlegte nicht lange. Mit leicht serbischem Akzent sagte sie: »In Ordnung. Aber nur ein Foto. Und nur unten und auf keinen Fall mein Gesicht.«
Dr. Ulrich war zwar ein bisschen enttäuscht, weil er eigentlich vier Fotos machen wollte, aber ein Foto war besser als gar keines.
»Gut, sehr gut«, antwortete er und kniete sich vor Jagoda nieder, wobei er darauf achtete, seine Hose nicht zu beschmutzen. Er sah durch den Sucher seiner Pocketkamera und ging so nahe wie möglich an das begehrte Objekt heran. Als er den richtigen Ausschnitt gefunden hatte, drückte er den Auslöser und merkte, dass seine Hand leicht zitterte.
Er verstaute die Kamera wieder in seiner Tasche und stellte sich neben den Behandlungsstuhl. Jagoda öffnete den Reißverschluss seiner Hose und griff nach seinem Dingsbums, das fast von selbst heraussprang. Sie massierte Dr. Ulrichs Strahlemann und hielt ihn dabei so, dass sich der Herr Doktor bequem in die von ihr zuvor gesäuberte Spucktasse ergießen konnte. Dieser Teil der Prozedur dauerte üblicherweise knapp zwei Minuten. Gerade, als Dr. Ulrich seinen Saft mit einem wohligen Grunzen in die blank polierte Tasse spritzte, läutete es an der Haustür. Vor lauter Schreck machte der Zahnarzt einen Schritt zurück und besudelte dabei nicht nur Jagodas Arbeitsmantel, sondern auch seine schöne weiße Hose. Während er hastig sein noch tropfendes Rohr verstaute, bildete sich neben dem Hosenschlitz ein großer Fleck, der so aussah, als hätte sich der Herr Doktor angepinkelt. Jagoda stand rasch auf und entfernte mit einem Taschentuch den Spermiengatsch von ihrem Arbeitsmantel. Dann zog sie sich ihre Unterhose an, nahm die zweihundert Euro von der Bohrerablage und steckte sie in die Manteltasche.
»Jagoda, bitte schauen Sie, wer das sein könnte.« Dr. Ulrich sah sich nervös um und entdeckte die zähe Flüssigkeit in der Spucktasse. »Aber waschen Sie bitte vorher noch die Tasse aus.«
Dr. Ulrich legte Wert auf korrekte Umgangsformen und war daher auch mit seiner Putzfrau Jagoda Dragičević per Sie.
Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber diese Passage kann ich in dieser Form nicht akzeptieren. Das eben Geschilderte klingt ja gerade so, als ob ich eine Hure wäre. Eine ausländische noch dazu. Aber ich bin keine Hure. Mein Name ist Jagoda Dragičević. Jagoda heißt auf Serbisch Erdbeere. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und wurde in Belgrad geboren. Vor fünfzehn Jahren kam ich mit meiner Mutter nach Bad Fucking, wo ich seither denselben Beruf ausübe wie sie: Putzfrau. Als es mit dem Fremdenverkehr bergab ging und meine Mutter ihren Job verlor, kehrte sie nach Belgrad zurück. Im Krieg, den die NATO gegen unser Land führte, wurde das Haus meiner Eltern zerstört. Mein Vater ist im Krieg gestorben, und meine Mutter lebt jetzt bei Verwandten auf dem Land. Ich habe das große Glück, dass ich immer noch im Hotel ›Zum Hohen Hirn‹ als Putzfrau arbeiten kann. Außerdem putze ich einmal pro Woche die Ordination des Zahnarztes Doktor Jakob Ulrich. Und zwar jeden Montag von 16 bis 19 Uhr.
Für mich steht seit langem fest, dass ich aus diesem Land weg will. Ich halte die stickige Atmosphäre hier nicht mehr aus und ich habe es satt, mein Leben als Sklavin zu vergeuden. Mein großes Ziel ist es, nach Belgrad zurückzukehren und dort ein kleines Café zu eröffnen. Ich möchte endlich wieder meine Sprache sprechen und meine Stadt riechen. Mir fehlen noch viertausend Euro zur Erfüllung meines Traums. Dafür bin ich sogar bereit, mich einmal pro Woche vom Zahnarzt Doktor Ulrich ausgreifen zu lassen. Aber ich bin keine Hure. Ich bin Jagoda, die Erdbeere aus Belgrad.
Während Jagoda die Spucktasse reinigte, ging Dr. Ulrich zum Fenster und kippte die Lamellen der Jalousie. Vom ersten Stock aus konnte er aber nicht sehen, wer vor der Haustür stand. Nachdem die Ordination seit zwei Stunden geschlossen war, würde um diese Zeit kein Patient mehr läuten. Und dass seine Frau, die als mobile Physiotherapeutin arbeitete, hierher kam, war auch unwahrscheinlich.
Da Jagoda immer noch mit der Reinigung der Spucktasse beschäftigt war, ging Dr. Ulrich höchstpersönlich ins Vorzimmer und schaltete den Monitor neben der Gegensprechanlage ein. Auf dem Bildschirm war, von der Kamera leicht verzerrt, ein alter Mann zu sehen, der einen Hund in seinen Armen hielt. Der Zahnarzt ging näher an den Monitor heran. »Das gibt’s ja nicht«, sagte er erstaunt, »das ist ja der Bartl. Was will denn der von mir?«
Jagoda blieb im Türrahmen des Behandlungsraums stehen. »Soll ich weiterputzen oder gehen?«
»Nein, wir warten, bis er weg ist.«
Aber Bartl ging nicht weg, sondern läutete ein zweites Mal. Als niemand öffnete, stammelte er in die Gegensprechanlage: »Sie müssen Lumpi helfen, er ist schwer verletzt. Und Vitus Schallmoser ist tot.«
Die letzte Nachricht traf Dr. Ulrich wie ein Blitz. Er wurde blass und wandte sich hilfesuchend an Jagoda. »Was hat er gesagt? Der Schallmoser ist tot?«
Jagoda zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, aber ich glaube, es ist besser, Sie lassen ihn herein.«
Der Zahnarzt drückte den Türöffner, und Bartl verschwand vom Bildschirm.
Wenige Augenblicke später stand der alte Hoteldiener schwer atmend im Vorzimmer der Ordination. Seine Jacke und seine Hände waren blutverschmiert. Er roch nach Schweiß und Blut. Dr. Ulrich starrte abwechselnd auf Bartl und den Hund.
»Was hast du da eben gesagt? Der Schallmoser ist tot? Woher weißt du das? Und was ist mit dem Hund passiert?«
Während Dr. Ulrich seine Fragen stellte, wollte Bartl den Behandlungsraum betreten, aber der Zahnarzt stellte sich ihm in den Weg. »Bartl, um Gottes willen, du kannst da nicht hineingehen, der Hund versaut mir ja meine frisch geputzte Ordination.«
Bartl schob den Zahnarzt zur Seite und steuerte auf den Behandlungsraum zu, wo er den schwer verletzten Hund vorsichtig auf einen kleinen Tisch legte. Dass er dabei etliche Hochglanzzeitschriften verdreckte, war dem alten Mann egal.
Dr. Ulrich warf einen entsetzten Blick auf den winselnden Hund. »Bartl, bring den Hund sofort raus. Ich bin ja kein Tierarzt. Außerdem möchte ich endlich wissen, was mit dem Schallmoser passiert ist.«
Bartls ganze Aufmerksamkeit galt aber dem Hund, den er mechanisch streichelte. »Wird schon werden, Lumpi, wird schon werden.«
Dr. Ulrich rüttelte Bartl an der Schulter, wischte sich aber sofort die Hand an der Hose ab, was ein paar unschöne Spuren hinterließ. »Bartl, noch einmal: Wo ist der Schallmoser jetzt? Und hast du schon die Gendarmerie verständigt?«
Bartl unterbrach kurz seine Tätigkeit und sah den Zahnarzt an. »In der Höhle habe ich ihn gefunden. Auf dem Boden. Aber Sie müssen Lumpi helfen, sonst stirbt er auch noch.«
»Bist du sicher, dass der Schallmoser tot ist?«
»Ja, ich glaube schon«, antwortete Bartl zerstreut. »Er hat sich nicht mehr gerührt, wie ich ihn umgedreht habe.«
Jagoda hatte in der Zwischenzeit ein Handtuch geholt und es zum Schrecken des Zahnarztes auf dem Tisch ausgebreitet. »Legen Sie den Hund da hinauf«, sagte sie zu Bartl, der Lumpi vorsichtig auf das Handtuch hob. Der Hund strampelte mit seinen kurzen Beinen und röchelte, als hätte seine letzte Stunde geschlagen.
Dr. Ulrich schüttelte angewidert den Kopf und ging in sein Büro. Durch die halb geöffnete Tür sah Jagoda, wie er den kleinen Wandtresor, der hinter einem Gemälde versteckt war, öffnete. Der Maler nannte das Werk Jasmin, auf einem Elefanten reitend, obwohl auf dem Bild weder Jasmin noch ein Elefant zu erkennen waren. Typische Ordinationskunst eben. Dr. Ulrich hatte für den Ölschinken zweitausend Euro (ohne Rechnung!) bezahlt, um die es ihm heute noch leid tat. Aber Jasmin hatte sich zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag ein Bild von einem modernen Maler gewünscht. Bereits einen Monat später hatte sie das Gemälde ihrem Mann mit der Bemerkung zurückgegeben, dass es besser in seine Ordination als in ihr Wohnzimmer passen würde.
Der Arzt nahm einen Zettel aus dem Tresor, ging zum Schreibtisch und wählte eine Nummer. Er legte aber gleich wieder auf und steckte den Zettel in seine Brusttasche. Dann schloss er die Tresortür und drückte das Gemälde, das an einer Seite mit Scharnieren an der Mauer befestigt war, gegen die Wand. Er holte seine Rindsledertasche und ging zurück in den Behandlungsraum.
»Frau Dragičević, ich muss herausfinden, was mit dem Schallmoser passiert ist.« Im Weggehen winkte er Jagoda zu sich heran. »Sie müssen schauen, dass Sie den Bartl und den Hund so schnell wie möglich loswerden. Von mir aus verbinden Sie den Hund, aber bitte sorgen Sie dafür, dass die beiden von hier verschwinden.«
Dr. Ulrich verließ die Ordination und schlug die Tür zu.
»Verdammte Scheiße«, hörte Jagoda den Zahnarzt im Stiegenhaus fluchen.
Aloysius Hintersteiner saß mit einem Vertreter der Immobilienentwicklungsgesellschaft Omega im Besprechungszimmer des Gemeindeamts und kam nicht nur wegen der stickigen Luft gehörig ins Schwitzen. Obwohl die umtriebige Sekretärin Ilse Sussalek bereits in der Früh die Vorhänge zugezogen und einen Ventilator auf den Konferenztisch gestellt hatte, war es im Zimmer immer noch unerträglich heiß. Auf Hintersteiners hellblauem Hemd, das sich über seinem dicken Bierbauch gefährlich spannte, hatten sich an mehreren Stellen bereits Schweißflecken gebildet. Während sich der Bürgermeister wie in einer Sauna fühlte, tat sein Gegenüber im dunklen Anzug so, als könnten ihm weder glühende Hitze noch arktische Kälte etwas anhaben.
Der Mann hieß Alexander Bendar, war vierunddreißig Jahre alt und arbeitete als Portfoliomanager für die IEG Omega mit Sitz auf den Jersey Islands. Bendars Arbeitsplatz befand sich in einem Büro neben der Wiener Börse. Er hatte die beschwerliche Reise nach Bad Fucking nur auf sich genommen, weil ihn der Bürgermeister dringend um dieses Gespräch gebeten hatte.
Dem Trend der Zeit folgend, hatte man vor einigen Jahren auch in Bad Fucking beschlossen, einen Teil der Gelder, die man durch den Verkauf diverser Grundstücke und Liegenschaften eingenommen hatte, renommierten Anlageexperten zu überlassen. In ihren schwarzen Limousinen hatten damals Fondsmanager, Derivatehändler und andere clevere Spekulanten eine Gemeinde nach der anderen abgeklappert und den ahnungslosen Lokalpolitikern das Blaue vom Himmel versprochen. Diese fühlten sich natürlich geschmeichelt, weil endlich die große, weite Welt des internationalen Kapitals auch in ihren Kaffs Einzug hielt und sie sich im Kampf um die Gunst der Wählerinnen und Wähler in einem Bereich wichtig machen konnten, von dem sie nicht die geringste Ahnung hatten.
Und siehe da: In den ersten beiden Jahren lief alles wie geschmiert, und die Erfolgsmeldungen von den Offshore-Finanzplätzen rissen nicht mehr ab. Anleihen, Aktien, Immobilien und hochspekulative Risikopapiere entpuppten sich als wahre Geldscheißer, und das Faxgerät im Büro des Bürgermeisters von Bad Fucking spuckte Woche für Woche Zahlenreihen aus, vor denen immer ein fettes Plus stand. Wenn das so weiterging, konnte Bad Fucking wieder in den Tourismus investieren, und am Ende würde es nach einer allzu langen Durststrecke steil bergauf gehen. Gemäß dem Motto Gier frisst Hirn ließ man die Fondsmanager schalten und walten, wie sie wollten, bis man auch in Bad Fucking die bittere Erfahrung machen musste, dass es nicht immer um den gleichnamigen Hollywoodfilm ging, wenn vom Fluch der Karibik die Rede war.
Alexander Bendar legte routinemäßig seine drei Handys vor sich auf den Tisch und warf alle paar Sekunden einen Blick auf deren leuchtende Displays. »Ich verstehe das nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich war vergangene Woche in Mali, wo ich für unseren Konzern zehntausend Hektar landwirtschaftliche Anbauflächen gekauft habe, und selbst dort hat in jedem noch so abgelegenen Dorf mein Handy funktioniert. Nur in Bad Fucking verschließt man sich dem technischen Fortschritt.« Er nahm einen Schluck Mineralwasser und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die er aber nicht anzündete.
»Sie haben in Mali landwirtschaftliche Anbauflächen für Ihre Firma gekauft?«, fragte Hintersteiner erstaunt. »Ich dachte, die IEG Omega investiert in Immobilien.«
Bendar lachte dünn, zog noch einmal an der kalten Zigarette und steckte sie zurück in sein silbernes Etui. »Immobilien in Moldawien, Anbauflächen in Mali, Regenwälder in Brasilien, wir kaufen alles, womit sich – natürlich zum Vorteil unserer Kunden – Geld verdienen lässt.«
»Herr Bendar«, antwortete Hintersteiner gereizt und klopfte mit dem gemeindeeigenen Kugelschreiber auf die Tischplatte, »nur zur Klarstellung: Wir verschließen uns hier keineswegs dem technischen Fortschritt. Ganz im Gegenteil, es gab eine Menge von Projekten, die wir in nächster Zeit verwirklichen wollten, aber dazu hätten wir das Geld gebraucht, das Sie verspekuliert haben.«
Bendar strich sich über seine tadellose Gelfrisur. »Moment, Moment, Herr Bürgermeister, lesen Sie bitte die Verträge, die Sie unterzeichnet haben, und Sie werden sehen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Nach den Verlusten hat unser Board gemeinsam mit Wirtschaftsjuristen noch einmal sämtliche Kontrakte überprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass absolut korrekt gehandelt wurde. Dass die Immobilienblase gerade jetzt platzen würde, konnten wir leider nicht vorhersehen. Und falls es Sie tröstet: In Österreich haben dutzende Gemeinden durch Spekulationen erheblich mehr Geld verloren als Sie in Bad Fucking.«
Hintersteiner stieß der Kaffee sauer auf. Wegen des hohen Blutdrucks hätte er am Nachmittag eigentlich gar keinen Kaffee mehr trinken dürfen, aber da die Essigwurst zu Mittag ein bisschen ranzig geschmeckt hatte, hatte er gehofft, dass der Kaffee die Verdauung fördern würde. Aber stattdessen war ihm schlecht, und zu allem Überfluss hatte sich auch noch ein Furz in seinem Darmgeflecht verirrt, der irgendwo festsaß. Wie gerne hätte er jetzt einfach drauflosgefurzt, aber das ging ja nicht, weil ihm ein hoher Gast von auswärts gegenübersaß.
Der Bürgermeister wischte sich mit einem Taschentuch, in dem die Initialen A. H. eingestickt waren, den Schweiß von der Stirn.
»Schauen Sie, Herr Bendar. Bad Fucking hat eine schwere Zeit hinter sich. Wie Sie wissen, hat uns dieser Bergsturz vor acht Jahren fast zur Gänze von der Außenwelt abgeschnitten. Wer heute in unseren Ort kommt, muss entweder hierbleiben oder umkehren. Wenn Sie so wollen, befinden wir uns in einer Art Sackgasse.«
»Das würde ich auch so sehen«, sagte Bendar und holte erneut eine Zigarette aus seinem Etui, auf dessen Deckel die Initialen A. B. eingraviert waren. Die gesalzenen Erdnüsse und die Gummibärchen, die Frau Sussalek extra für dieses wichtige Treffen gekauft hatte, ignorierte Bendar demonstrativ.
»Für Bad Fucking bedeutete diese Naturkatastrophe praktisch den Ruin. Die meisten Hotels mussten zusperren, und die Leute sind von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden. Das muss man sich einmal vorstellen, was das heißt. Ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich Ihnen sage, dass diese Zeit für uns alle die schlimmste unseres Lebens war. Und dann hieß es plötzlich: Hier ist die große Chance, hier könnt ihr in kürzester Zeit viel Geld verdienen. Natürlich haben wir da nicht nein gesagt.«
Bendar dachte daran, dass er am Abend einem Kunden noch ein windiges Aktienpaket verkaufen musste. Der Insidertipp eines Brokers würde ihm glatte fünftausend bringen und dem Käufer ein paar schlaflose Nächte. Aber die Leute waren selbst schuld und es traf ja keinen Armen.
»Ich verstehe das ja alles, Herr Bürgermeister, aber was schlagen Sie konkret vor? Die Fakten liegen auf dem Tisch.« Bendar deutete auf zwei dünne Mappen, deren Inhalt Hintersteiner kannte. Auf dem einen Deckblatt stand Performance Portfolio Gemeinde Bad Fucking, auf dem anderen Performance Portfolio Aloysius Hintersteiner.
»Es ist hart«, fuhr Bendar fort, »aber ich habe Ihnen immer gesagt, dass es besser gewesen wäre, die Krise auszusitzen und keine Panikverkäufe zu tätigen. O. K., dass Sie aus den Zinsspekulationen mit dieser Delta Invest AG auf den Virgin Islands ausgestiegen sind, war sicher die richtige Entscheidung, aber die langfristigen Anleihen hätten Sie nicht abstoßen sollen.« Bendar zog noch ein paar Mal an der kalten Zigarette und steckte sie dann endgültig zu den anderen neunzehn Zigaretten in sein Etui, das er in der Innentasche seiner Anzugsjacke verstaute.
›Warum bloß bin ich so saublöd gewesen und habe mich auf diesen ganzen Wahnsinn eingelassen‹, dachte Hintersteiner niedergeschlagen. ›Hätte ich das verdammte Geld auf ein Sparbuch gelegt, dann würde der nächste Bürgermeister wieder Hintersteiner heißen, und ich könnte in Ruhe die Feier zu meinem sechzigsten Geburtstag vorbereiten. Die Blasmusik würde aufspielen, der Pamminger würde ein paar Spanferkel braten, für die Erwachsenen gäbe es Freibier und für die Kinder Luftballons. Später am Stammtisch, wenn die Frauen längst zu Hause in ihren abgewetzten Fauteuils vor dem Fernsehapparat säßen und ihre geschwollenen Beine mit Voltaren einschmierten, würden wir ein paar ordinäre Gstanzeln singen – Zwei Nonnen lagen Brust an Brust, Jessas na, und fingerlten nach Herzenslust, Jessas na ... – und vielleicht würde ich mich sogar wieder mit Kilian versöhnen. Alles hätte so schön sein können.‹ Aber die Zahlen vor ihm holten ihn zurück in eine Realität, die alles andere als schön war.
»Aus dieser Aufstellung geht also hervor«, sagte Hintersteiner, der eines der Blätter zur Hand nahm, »dass von den sechs Millionen Euro, die die Gemeinde vor drei Jahren investiert hat, genau noch eine Million übrig ist.«
Bendar hob bedauernd die Schultern. »Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Und der Gemeinderat hat diese Investitionen schließlich auch abgesegnet.«
»Ja, aber Sie wissen genau, dass ich die treibende Kraft hinter dieser ganzen Geschichte war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Gemeinderat diese Investitionen genehmigt hat.«
Dass die Gemeinderäte keine Ahnung hatten, wie diese Hedge-Fonds, Zinsspekulationen und Leerverkäufe funktionierten, stand auf einem anderen Blatt. Kein Mensch in Bad Fucking hatte je mit solchen Dingen zu tun gehabt. Aber plötzlich hieß es von allen Seiten, dass jeder ein Idiot sei, der sein Geld auf ein Sparbuch legte und nicht in hochprofitable Aktien, Anleihen und Fonds investierte. Im Gemeinderat hatte als einziger Julius Wellisch gegen dieses Finanzabenteuer gestimmt, der als Vertreter der Bürgerliste Rettet die Aale befürchtete, dass die Gewinne aus diesen Spekulationen in ein Hotelprojekt am Höllensee investiert werden könnten. Hätte Wellisch geahnt, dass von den sechs Millionen Euro fünf im Karibiksand versinken würden, hätte er selbstverständlich für diese hochspekulativen Geschäfte gestimmt.
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, lag da aber noch eine zweite Mappe. Clever, wie er war, wollte Hintersteiner auch als Privatmann von dieser wundersamen Geldvermehrung profitieren und überwies eine erkleckliche Summe auf die Jersey Islands. Dummerweise hatte er den Versprechungen in den seriös aufgemachten Hochglanzbroschüren geglaubt und sein Geld ebenfalls in Fonds, Aktien, Anleihen, Futures und andere mysteriöse Dinge investiert. Die Geschichte hatte nur einen Haken: Das Geld, das er der IEG Omega zur Verfügung stellte, gehörte nicht ihm, sondern der Providenz-Bank.
Wie und weshalb die Gemeinde Bad Fucking ausgerechnet auf die IEG Omega gekommen war, wusste er gar nicht mehr so genau. Aber eines Tages war eine schwarze Limousine vorgefahren, der einige vornehme Herren entstiegen, die Geschichten erzählten, gegen die die Märchen aus Tausendundeiner Nacht wie profane Erzählungen klangen. Aber im Grunde war es gleichgültig, ob die Finanzdienstleister Oxana, Sirius, Alpha oder Omega hießen, schließlich war allen gemeinsam, dass sie Teil eines verbrecherischen Netzwerks waren, das eigenen Gesetzen folgte. Und wie so oft, wenn es um organisiertes Verbrechen ging, sahen die Politiker einfach nur zu und stellten sich dumm.
In Hintersteiners Bauch begann es zu rumoren. Der eingeschlossene Furz hatte sich offenbar auf die Suche nach einem Ausgang gemacht. Dem Furz ging es gut, der konnte sich – im Gegensatz zu seinem Quartiergeber – auf Nimmerwiedersehen verdrücken.
Alexander Bendar deutete auf das Papier. »Tja, es tut mir leid, Herr Bürgermeister, aber auch hier muss ich sagen, dass Sie zu früh ausgestiegen sind und meinen Rat, die Entwicklung in Ruhe abzuwarten, leider nicht befolgt haben.«
Hintersteiner räusperte sich und schlug einen vertraulichen Ton an. »Natürlich sind die Verluste der Gemeinde schlimm, aber nachdem es vielen anderen Gemeinden in Österreich nicht viel besser ergangen ist, wird man im öffentlichen Interesse so schnell wie möglich Gras über die Sache wachsen lassen. Das viel größere Problem für mich sind meine persönlichen Verluste.« Er machte eine kurze Pause. »Ich spreche ganz offen mit Ihnen, Herr Bendar. Diese Zahlen hier bedeuten für mich den Ruin, und ich habe um dieses Gespräch gebeten, weil ich mit Ihnen gemeinsam eine Lösung finden möchte.« Hintersteiner legte die beiden Blätter nebeneinander. »Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Gemeinde also noch ein Kapital von einer Million Euro, ich habe von meiner Million Euro, die ich investiert habe, fast neunzig Prozent verloren. Gibt es da irgendeine Möglichkeit, ich meine, Sie kennen sich da besser aus als ich, Sie wissen –.«
Bendar holte tief Luft und atmete mit einem hörbaren Seufzer aus. Es klang fast so, als wäre er derjenige, der sich in einer Zwangslage befand. »Auf gut Deutsch, Sie möchten, dass ich gewisse Umschichtungen vornehme?«
Hintersteiner rutschte auf dem Kunstledersessel hin und her. Seine Hose war durchgeschwitzt und klebte an seinen dicken Oberschenkeln wie eine zweite Haut. »Naja, wie Sie richtig gesagt haben, handelt es sich bei den Investitionen der Gemeinde um öffentliche Gelder. Und nachdem uns die Politik in dieses Abenteuer hineingeritten hat, wird die Aufregung nur von kurzer Dauer sein.«
Bendar tat so, als würde er nachdenken. »Natürlich gibt es auf dem Markt nach wie vor Papiere mit hohem Performancepotential, die sich hervorragend zur Portfo-lioversifikation eignen. Ich spreche allerdings nicht von fungiblen Wertpapieren, sondern von amerikanischen Hedge-Fonds und kasachischen Schuldverschreibungen mit einem Triple-A-Rating.«
»Amerikanische Hedge-Fonds und kasachische Schuldverschreibungen?« Hintersteiner glaubte, sich verhört zu haben. »Aber diese Papiere sind doch schuld an den Milliardenverlusten. Das würde ja bedeuten, dass Sie weiter Öl ins Feuer gießen. Nein, also bei amerikanischen Hedge-Fonds und kasachischen Schuldverschreibungen mache ich nicht mit.«
Bendar lächelte mitleidig, während er seine toten Handys so positionierte, dass sie in exakt demselben Abstand nebeneinanderlagen. Das Ganze sah aus wie ein kleiner Handyfriedhof. »Herr Bürgermeister, entschuldigen Sie, aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wo die Milliardenverluste eigentlich hingekommen sind, über die sich die ganze Welt Gedanken macht?«
Hintersteiner fiel keine Antwort ein.
»Oder anders gefragt: Ist die Zahl der Mutimillionäre in den letzten Jahren gestiegen oder gesunken? Mir wäre jedenfalls nichts bekannt, dass es heute weltweit weniger Millionäre gäbe als vor einem Jahr. Von den Milliardären ganz zu schweigen.«
Hintersteiner deutete auf die beiden Papiere. »Also, was würde das konkret bedeuten?«