Thomas Mann
Versuch über das Theater
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 14.1: Essays I (1893-1914), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Erstdruck dieses Textes in: Nord und Süd, 32. Jg., Bd. 124, H. 370, Januar 1908, S. 116-119, und H. 371, Februar 1908, S. 259-290.
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ISBN 978-3-10-400344-3
Wovon ist die Rede? Vom Drama oder vom Theater? Wir wollen die Begriffe scheiden und jedem das Seine geben.
Das Drama ist schließlich eine Dichtungsform (die höchste, – sagen die Dramatiker). Aber das Theater ist nicht die Literatur (obwohl ein großer Teil des Publikums und der Kritiker das glaubt).
Das Theater macht Zugeständnisse an die Literatur, es hat den Ehrgeiz, sich ihrer bisweilen anzunehmen. Aber das Theater hat die Literatur nicht nötig, es könnte offenbar ohne sie bestehen. Das ist mein Eindruck. Man muß dem Theater eine gewisse absolute Daseinsfähigkeit und Daseinsberechtigung zuerkennen. Es ist ein Gebiet für sich, eine Welt für sich, eine fremde Welt: die Dichtung ist dort nicht eigentlich zu Hause, auch die dramatische nicht, wie wir sie verstehen, – das ist mein Eindruck.
Ich vergesse nie den Ruck, den mir vor Jahr und Tag eine Zeitungsnachricht versetzte. Es war eine Theaternotiz, eines jener Telegramme, welche die Theaterreferenten um Mitternacht in alle Winde senden. In einer großen Stadt hatte man das dramatische Gedicht: »Die Kronprätendenten« einer Theateraufführung zugrunde gelegt. »Die Aufführung war ansprechend«, hieß es. »Das Stück vermochte nicht zu interessieren.« – »Das Stück«, »vermochte nicht«, »zu interessieren«. Und zwar die »Kronprätendenten«. Eine Nachricht aus der Welt des Theaters. Eine wildfremde, unheimliche Nachricht.
Die Fremdheit, die Befremdung ist gegenseitig. Wenn Nietzsche über das Theater bittere und tief geringschätzige Dinge sagte, wenn Maupassant erklärte: »Le théâtre m’ennuye«, wenn Flaubert schrieb, er kehre von der Beschäftigung mit seinem {124}Theaterstück »zu ernsten Dingen«, »à des choses sérieuses« zurück, (die erstbesten Beispiele) – man gibt uns von drüben die Geringschätzung, die Langeweile zurück. Ich sprach einmal mit einem Hoftheater-Regisseur, einem Mann im Ruf literarischen Feinsinns. Es war von dem Dänen Hermann Bang die Rede. Irgendwo war ein Theaterstück dieses Romanciers aufgeführt worden. Es sei recht gut, seine erste brauchbare Leistung, sagte der Regisseur; was er früher gemacht habe, sei nichts. Ich war verletzt und betrübt. »Oh«, sagte ich, »er hat wundervolle Sachen geschrieben, – »Tine« zum Beispiel, »Am Wege« …« »Ja, ja, Romane und Aufsätze, das mag sein«, – sagte der Regisseur.
Das Theater, das Theaterstück ist die Kunst dort drüben. Der Roman, die Novelle sogar ist Geschreibsel. Ein Theaterkritiker hat drucken lassen, in dem erzählenden Satze »Rosalie erhob sich, strich ihr Kleid glatt und sagte ›Adieu!‹« sei Kunst doch streng genommen nur das Wort »Adieu«. Er wiederholte: »Streng genommen.«
Man weiß nichts von uns auf der anderen Seite. Man kennt uns dort nur insofern wir dem Theater unseren Tribut gezollt haben. Herr M. hatte seinem Namen durch eine Reihe distinguierter Romane und Novellen literarischen Ruf verschafft. Dieser Ruf genügte ihm nicht; das Rampenlicht, die plumpe Öffentlichkeit, der sinnfällige Ruhm des Theaters verlockte ihn, und er schrieb ein Stück, in welchem er allen sich darbietenden dichterischen Wirkungsmöglichkeiten fast heldenmütig entsagte, sich mit zusammengebissenen Zähnen den Bedürfnissen der Kulisse bequemte. Nehmen wir an, daß das Stück »Kaspar Hauser« hieß. Es ward aufgeführt, hatte Erfolg und verschwand wieder. Es vergeht Jahr und Tag, aber der Romancier hat Blut geleckt, er beißt die Zähne zusammen und schreibt ein zweites Stück. Und nun notiert die Tagespresse: »Herr M., der Verfasser des »Kaspar Hauser«, hat soeben eine {125}Verskomödie beendet …« Herrn M. als »Verfasser des Kaspar Hauser« zu bezeichnen, ist eine boshafte Ungerechtigkeit. Aber in der Welt des Theaters kommt er ausschließlich als solcher in Betracht.
Um in das seltsam zweideutige Verhältnis zwischen Literatur und Bühne Einblick zu gewinnen, genügt es, unsere Theaterkritik am Werke zu sehen. Der Typus des Oncle Sarcey kommt bei uns ja nicht vor. Dieser joviale Cyniker, der auf die Bretter schwor, dem Publikum immer recht gab, mit dem Kulissen-Routinier durch dick und dünn ging und dem zarten Dichter ins Gesicht sagte, daß er absolut gar nichts vom Theater verstehe, – hat unter unseren Dramaturgen nicht seinesgleichen. Dennoch war er zum mindesten eine reinliche Existenz. Er gehörte mit Leib und Seele zur Welt jenseits der Rampe, zum Schauspieler, zum Stückeschreiber, er stand mit behäbiger Entschlossenheit auf seiten des Theaters, gegen die Literatur, er liebte das Theater, und wenn er ihm seine ganze Aufmerksamkeit, die Arbeit seines Lebens widmete, so war das eine klare und einleuchtende Handlungsweise. Aber wer erklärt mir die Folgerichtigkeit in dem Verhältnis unserer Kritiker zum Theater? Das Theater ist in weit handgreiflicherem Sinne als die übrigen Kunstarten eine gesellschaftliche Angelegenheit, und eine prompte journalistische Berichterstattung über die theatralischen Ereignisse der Saison ist in der Ordnung. Klage ist laut geworden, daß diese Berichterstattung neuerdings meist in einem überaus verdrossenen, höhnischen und spielverderberischen Tone ausgeübt werde, – aber hier ist nicht die Rede von der großen Menge der Zeitungsschreiber, die mit Ächzen und Ekel ihre Freiplätze im Theater einnehmen, in Telegrammen und spaltenlangen Artikeln die Dramatiker verhöhnen, das Theater verfluchen und dennoch durch die Eilfertigkeit und den Umfang eben dieser Berichter{126}{127}läßt
Humor