Thomas Mann
Das Wunderkind
Fischer e-books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Covergestaltung: Stefan Gelberg
Coverabbildung: © Archiv S. Fischer Verlag
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 2.1: Frühe Erzählungen (1893-1912), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, 2. Auflage. Frankfurt am Main 2008. Erstdruck dieses Textes in: Neue Freie Presse (Wien), 25. Dezember 1903 (=Druckvorlage).
E-Book-Umsetzung: pagina GmbH, Tübingen
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ISBN 978-3-10-400618-5
Das Wunderkind kommt herein – im Saale wird’s still.
Es wird still, und dann beginnen die Leute zu klatschen, weil irgendwo seitwärts ein geborener Herrscher und Herdenführer zuerst in die Hände geschlagen hat. Sie haben noch nichts gehört, aber sie klatschen Beifall; denn ein gewaltiger Reklameapparat hat dem Wunderkinde vorgearbeitet, und die Leute sind schon betört, ob sie es wissen oder nicht.
Das Wunderkind kommt hinter einem prachtvollen Wandschirm hervor, der ganz mit Empirekränzen und großen Fabelblumen bestickt ist, klettert hurtig die Stufen zum Podium empor und geht in den Applaus hinein wie in ein Bad, ein wenig fröstelnd, von einem kleinen Schauer angeweht, aber doch wie in ein freundliches Element. Es geht an den Rand des Podiums vor, lächelt, als sollte es photographiert werden, und dankt mit einem kleinen, schüchternen und lieblichen Damengruß, obgleich es ein Knabe ist.
Es ist ganz in weiße Seide gekleidet, was eine gewisse Rührung im Saale verbreitet. Es trägt ein weißseidenes Jäckchen von phantastischem Schnitt mit einer Schärpe darunter, und sogar seine Schuhe sind aus weißer Seide. Aber gegen die weißseidenen Höschen stechen scharf die bloßen Beinchen ab, die ganz braun sind; denn es ist ein Griechenknabe.
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