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Das Buch

Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden – so heißt es in einem italienischen Sprichwort. Denn genau so hätte sich die Geschichte dieses Buches ereignen können: Als Bruno Maccallini von seinem italienischen Cousin zu einer Hochzeit nach Sardinien eingeladen wird, ist die Freude groß. Schon immer wollte er seiner Lebensgefährtin Jutta Speidel die Trauminsel im Mittelmeer zeigen – weiße Sandstrände, azurblauer Himmel, Berge wie im Märchen und eine einfache, aber unverwechselbare Küche. Doch schon bei ihrer Ankunft in Cagliari werden sie mit der ersten Katastrophe konfrontiert. Schafhirten und Bauern haben einen landesweiten Streik ausgerufen und blockieren den Flughafen. Wie sollen die beiden da bloß nach Gesturi, einem kleinen Ort im wildromantischen Hinterland, gelangen, wo die Trauung von Maurizio und Guilia in einer mehrtägigen Zeremonie stattfinden soll? Nur gut, dass das deutsch-italienische Duo vor Einfällen sprüht und seit seiner wagemutigen Tour über die Alpen sattelfest geworden ist. Denn wie Jutta und Bruno rasch feststellen, erwartet sie auf Sardinien ein wunderbares Abenteuer der anderen Art …

Die Autoren

Jutta Speidel ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Schauspielerinnen im deutschsprachigen Raum. Sie wurde in München geboren, lebt dort und hat zwei erwachsene Töchter. Sie ist Gründerin der Stiftung HORIZONT, die sich für obdachlose Kinder und ihre Mütter einsetzt. www.horizont-ev.org

Bruno Maccallini stammt aus Rom und ist in Italien ein erfolgreicher Theaterschauspieler, Regisseur und Fernsehproduzent. In Deutschland wurde er als »Cappuccino-Mann« in verschiedenen Werbekampagnen berühmt (»Isch abbe gar kein Auto, Signorina!«). Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Jutta Speidel spielt er auch in deutschen Fernsehfilmen.

Von Jutta Speidel und Bruno Maccallini ist in unserem Hause bereits erschienen:

Wir haben gar kein Auto … Mit dem Rad über die Alpen

Jutta Speidel / Bruno Maccallini

Zwei Esel auf Sardinien

Ein deutsch-italienisches Abenteuer

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Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.de

Der Text von Bruno Maccallini
wurde von Katharina Schmidt
und Barbara Neeb übersetzt.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Konzeption: HildenDesign, München

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Artwork HildenDesign unter Verwendung von Motiven von iStockphoto/Gilibuter (Landschaft)
Titelfoto: © Carmen Lechtenbrink

Satz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-8437-0053-5

FÜR ALLE »ESEL« AUF GOTTES ERDBODEN

Prolog

Auftakt

Jutta

Wahrnehmung und Erwartungshaltung bedeuten jede Menge Konfliktstoff für eine Beziehung. Vor allem, wenn die beiden Liebenden so gar nicht konfliktscheu sind! Planen diese zwei dann noch eine gemeinsame Unternehmung, kann es ganz schön turbulent werden.

Damit erzähle ich Ihnen ja wohl nichts Neues, ich gebe auch nicht vor, einen revolutionär neuen Denkansatz gefunden zu haben, aber dennoch erstaunt es mich immer wieder.

Es liegt auch gar nicht daran, dass mein Lebenspartner und ich nicht zusammenpassen, nein, es liegt an unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen! Da jeder von uns eine Situation subjektiv wahrnimmt und dann nach seinen jeweiligen Empfindungen handelt, stößt er unweigerlich bei dem anderen auf Widerstand. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass diese beiden emotionsüberfrachteten Verhaltensmuster, die unser Verhalten bestimmen, auf Kriegsfuß miteinander stehen.

Gestern zum Beispiel habe ich für unser Münchner Zuhause einen Weihnachtsbaum gekauft. Geschlachtet im bayrischen Voralpenwald, duftend und knackig frisch, hat man ihn mir ins Netz gezogen. Bruno, mein italienischer Lebensgefährte, strich währenddessen um sämtliche kleineren Bäumchen herum, um endlich mit einem immerhin ein Meter zwanzig hohen Baum mit ausladenden Zweigen anzukommen.

»Ein bayrischer Weihnachtsbaum auf einer römischen Großstadtterrasse, wow, das wär’s doch! Was meinst du, tesoro?« Ja, was sollte ich groß meinen? Doch wie soll das Kerlchen auf die Terrasse kommen?

So, und damit sind wir genau an dem Punkt, von dem ich vorher gesprochen habe.

ER (Wahrnehmung): Will auch einen Baum!

(Erwartungshaltung): Du musst mir helfen, ihn im Flieger nach Rom zu bringen!

SIE (Wahrnehmung): Oje, jetzt will er von hier so einen wuchtigen Baum nach Rom schleppen!

(Erwartungshaltung): Na, da soll er sich mal schön selbst drum kümmern!

Aber so funktioniert es halt nicht in einer Partnerschaft. Bruno hat sich schließlich bereit erklärt, mein kleines Köfferchen mitzunehmen, und ich, die ich drei Stunden später nach Rom fliege, nehme den Baum. Seiner Wahrnehmung zufolge bin ich erstens geschickter im Stewardessenbezirzen, so eine faule Ausrede! Und zweitens ist – laut Bruno – der Transport des Baums viel einfacher, als zwei kleine Köfferchen zu ziehen. Obendrein erwartet der Gute, dass ich diese Situation, wie so viele andere zuvor, souverän meistere, denn er sei schließlich prädestiniert zu scheitern.

Soll ich Ihnen jetzt, während ich mit dem Baum in der Sicherheitskontrolle vor unbezirzbaren Sicherheitsbeamten stehe und abblitze, meine Erwartungshaltung mitteilen? Ja, Sie lachen und sagen, ich sei ein Esel! Recht haben Sie, absolut, aber was hilft’s? Bruno erwartet, dass ich mit dem Baum heil in Rom ankomme und ihn auch noch römisch-kitschig schmücke!

Na dann – »O du Fröhliche«!

Erzählen will ich aber eine ganz andere Geschichte. Dies ist nur der Auftakt. Sie werden bald verstehen, warum es mir so wichtig ist, alles Nachfolgende unter diesen beiden Gesichtspunkten zu sehen: Wahrnehmung und Erwartungshaltung.

Der fremde Cousin

Bruno

Der Anruf erreicht mich Anfang Januar um fünf vor acht, kurz vor den Nachrichten. Jutta und ich haben die Weihnachtstage in meiner Wohnung in Rom verbracht. Zum Glück hat sie meinen Weihnachtsbaum mit ins Flugzeug bekommen – als Sperrgepäck! Ich wusste doch, dass sie es schafft.

Meine Pizza steht dampfend auf dem Couchtisch und wartet auf mich. Das darf ich mir nicht entgehen lassen: Die neueste Meldung über den hundertsten Sexskandal unseres Hardcore-Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ist zu bestürzend und deftig, als dass man sie ignorieren könnte. Ich mache es mir auf dem Sofa bequem und … DRRIIINNG … Wenn das wieder diese Callcenter-Tante von Bofrost ist, oder schlimmer, der Schwätzer von der Telecom, dann zeige ich sie an. Diese Telefonverkäufer sind eine einzige Pest. Gleich das erste »Ja?«, mit dem ich mich melde, muss also bedrohlich klingen. Schweigen am anderen Ende. Dann höre ich nur noch das Besetztzeichen. Prima, wer auch immer das war, hat verstanden und aufgelegt. Ich beiße in das erste Stück meiner Pizza und – DRIINNGGG! Schon wieder!

»Hallo?« Diesmal gebe ich mich etwas zugänglicher. Am anderen Ende sagt eine etwas schrille, aber höfliche Stimme schüchtern:

»Hallo, Bruno, bist du’s? Weißt du, wer ich bin …?«

»Wer spricht da?«

»Ich bin’s, Maurizio, dein Cousin …«

Schweigen. Das trifft mich. Ich möchte jetzt nicht mehr gemütlich in meinem Sofa versinken, sondern vor Scham im Erdboden – und das nicht nur, weil ich die Stimme meines Cousins nicht gleich erkannt habe, sondern mich in diesem Moment nicht einmal an sein Gesicht erinnere! Na ja, er ist schließlich nur ein Cousin dritten Grades, was will man da erwarten?

»Maurizio … Maurizio, DU bist das? Ja, wie lange ist das denn jetzt her …??«

»Tante Ada hat mir deine Nummer gegeben, also eigentlich hatte ich es schon auf Facebook versucht, aber du hast meine Freundschaftsanfrage nie bestätigt …«

Wie peinlich! Maurizio, der wahrscheinlich meine Verlegenheit bemerkt hat, stürzt sich in einen zehnminütigen Wortschwall und zündet sich dazu eine Zigarette nach der anderen an. Ich unterbreche ihn nicht. Er kommt von einem zum anderen: Erst erzählt er von seinem Peter-Pan-Syndrom, dann von seinem Studium an einer Elite-Uni in Rom, seinem Abschluss summa cum laude in Pharmakologie, dem Master in Chemie an der Berkeley-Universität in Kalifornien, seinen Forschungen über die Fotochemie der DNA, seinen Patenten und wie man ihn bei Fragen zur Nukleinsäure hinzuzieht, seinen Büchern und Preisen, internationalen Ehrungen, schließlich sogar, dass er mit Bono (ja genau, dem Bono!) befreundet ist und – von seiner bevorstehenden Hochzeit!

»Das ist ja wunderbar, du heiratest? Wer ist die Glückliche?«

»Giulia. Wir sind seit fünf Jahren zusammen. Sie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, lebt auch in Rom, aber ihre Familie kommt aus Sardinien.«

»Das ist ja fabelhaft, Maurizio, ich freu mich wirklich für dich. Und ich seh dich immer noch in diesen unmöglichen hautengen Jeans vor mir! Tja, lang ist’s her. Und jetzt bist du ein international anerkannter Chemiker und sogar mit Bono befreundet!«

»Hmm, ja, wir haben uns in München kennengelernt.«

»In München?«

»Ja, er wurde dort an der Wirbelsäule operiert, ein böser Unfall während der Proben, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Sein Arzt ist ein guter Freund von mir und hat mich ihm während seiner Reha vorgestellt. Um ihn aufzumuntern, habe ich ihm dann einige von meinen Kondomwitzen erzählt, weißt du noch?«

»Na klar erinnere ich mich!«

»Er hat sich weggeschmissen, und so haben wir gleich unsere Handynummern ausgetauscht.«

»Was hast du denn in München gemacht? Ich bin oft dort. Meine Lebensgefährtin ist Deutsche.«

»Sì, sì, ich weiß … Ich weiß alles … Irgendwann wirst du mir deine berühmte Jutta Speidel doch vorstellen, oder? Also, willst du mein Trauzeuge sein?«

Ich bin heftig versucht, spontan nein zu sagen.

»Aber ja doch, gern … Wann denn?«

»Wir heiraten im Oktober, in Gesturi, du weißt schon, das Land der Nuraghen. Es ist wunderschön dort, warst du schon mal da? Wir werden feiern, feiern und feiern!« Nachdem wir noch eine Weile geplaudert und uns dann verabschiedet haben, schalte ich den Fernseher aus und schiebe meine Pizza noch mal in den Ofen, denn inzwischen ist sie kalt geworden. Ich erinnere mich an den Wunschtraum meiner Jugendzeit: Ich wollte damals unbedingt auf den Komoren heiraten, da ich irgendwo gelesen hatte, Hochzeiten auf den Inseln vor den Küsten von Mosambik und Madagaskar würden auf besondere Weise gefeiert. Ich war vollkommen fasziniert von der dort sogenannten »Grand Mariage«, die bis zu neun Tage dauern kann und an der die ganze Dorfgemeinschaft teilnimmt.

Wie schön doch Hochzeiten sind! Schade nur, dass sie nicht immer halten, was sie versprechen! Ich hole die Pizza wieder aus dem Ofen und schnappe mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Eigentlich bin ich richtig froh, dass der Cousin dritten Grades aus dem Nichts aufgetaucht ist. Maurizio hat erzählt, dass sie am Sonntagvormittag heiraten, aber das eigentliche Fest schon drei Tage vorher beginnt: mit dem Junggesellenabschied, dem Umzug der Aussteuer (der Braut) ins neue Heim und der Probe. Gibt es eine bessere Gelegenheit, mit Jutta einen so wenig bekannten Teil von Sardinien zu besuchen, der nichts mit dem Rummel und dem Luxus der Costa Smeralda zu tun hat? So ein Kurzurlaub im Spätsommer wäre doch genau das Richtige. Diese kargen unberührten Landschaften, die tausendjährige Tradition und eine ursprüngliche Küche sind doch der ideale Ausgleich für unser hektisches Alltagsleben. Tagsüber werden wir auf einem Felsen in der Sonne sitzen und eine Herde Schafe an uns vorüberziehen lassen, nachts liegen wir uns in den Armen und beobachten die Sterne … Hektisch greife ich mir das letzte Stück Pizza vom Teller – und dann zum Telefon.

»Ach, tesoro, ich bin so richtig romantisch gestimmt …«

Die Einladung

Jutta

Als die Sonne den letzten Schnee aufleckt, flattert eine vielversprechende Einladung in mein Haus in München. Vorausgegangen war ein Anruf im Januar von Bruno, ich möchte mir doch unbedingt Mitte Oktober eine Woche freihalten, denn uns erwarte eine grandiose Einladung. Mehr wolle er jetzt nicht verraten, aber ich würde staunen, denn so was hätte ich bestimmt noch nie erlebt. Bruno liebt es, mich auf die Folter zu spannen.

Sofort gehe ich in Gedanken meinen Kleiderschrank, meinen Schuhschrank, meine Handtaschen und die Schmuckschatulle durch, um festzustellen, dass fast alles zu alt und viel zu häufig getragen ist und ich außerdem schon lange nach einem Grund suche, mir was Schönes zu kaufen. Vielleicht brauche ich ja auch einen neuen Hut?

So öffne ich den rosaroten Umschlag, überlege noch, wer denn jetzt eine Tochter bekommen haben könnte, um in schnörkeliger goldener Schrift zu lesen, dass sich Maurizio die Ehre gibt, seine Giulia zu ehelichen, und man doch größten Wert darauf legt, die bucklige italienische Verwandtschaft nebst ihren Angebinden an der Seite zu haben, um diesen wichtigen Tag im Leben gemeinsam zu zelebrieren. Da Giulia, die schon jahrelang in Rom an Maurizios Seite lebt, eine echte Sardin ist, aber Großmutter, Großvater sowie sicherlich fünfzig Cousinen und Cousins und bestimmt auch Mama und Papa die Insel nur im äußersten Notfall verlassen, findet die Hochzeit tief im Süden Sardiniens in einem Dorf namens Gesturi statt. Maurizio ist einer von Brunos unzähligen Cousins, wie ich wenig später am Telefon erfahre.

Er freue sich riesig über diese unerwartete Einladung, hätte man sich doch in den letzten Jahren etwas aus den Augen verloren. Der Umstand, dass Bruno eigentlich gar nicht so genau weiß, ob er Giulia überhaupt schon mal gesehen hat, hört sich nicht gerade nach tiefen verwandtschaftlichen Beziehungen an. Aber in Italien will das gar nichts heißen, denn: La famiglia è la famiglia. Wir haben zu kommen, ohne Wenn und Aber. Es scheint die Familie auch gar nicht zu stören, dass Bruno geschieden ist und mit einer tedesca aus Bayern zusammenlebt. Sicherlich nehmen sie an, dass ich ständig in Rom um ihn herumscharwenzle, die brave Hausfrau gebe und selbstredend un italiano perfetto quatsche, am besten noch römischen Dialekt. Man kann nämlich einem Italiener unmöglich zumuten, Deutsch zu lernen. Diese Sprache ist kalt und hart und völlig unsexy, und jeder Mensch muss sich doch glücklich schätzen, die schönste Sprache der Welt sprechen zu dürfen.

Wie schwer sich diese metaphernreiche Sprache erlernen lässt, wenn man über grazie und prego hinauswill, kann sich ein Italiener nur schwer vorstellen. Bei Gott, ich bin wahrlich kein Sprachgenie und tue mich wirklich schwer damit. Wenn dann noch mein Gegenüber in rasendem Tempo Dialekt spricht, verstehe ich nulla. Warum haben eigentlich Italiener nie Zeit, langsam und deutlich zu sprechen? Wahrscheinlich, weil sie immer so unglaublich viel in einen schlichten Satz reinpacken wollen. Sie gehen nicht einfach mal kurz Brot holen, sondern erzählen ausgiebig, warum es eigentlich gerade ein ungünstiger Zeitpunkt für sie ist und man doch wirklich Wichtigeres zu tun habe. Aus allem wird ein großes Theater gemacht. Natürlich gibt’s sone und solche – und ich hab eben so einen an meiner Seite. Ein Schelm, wer Schlimmes dabei denkt!

Man sollte meinen, die Aussicht, Mitte Oktober nochmals in wärmere Gefilde fliehen zu dürfen, stimmt mich glücklich. Aber derart langfristige Verabredungen machen mich eigentlich immer nervös. Weiß ich denn, ob in einem halben Jahr etwas Wichtiges ansteht? Vielleicht stecke ich mitten in einem Film oder liege mit Grippe im Bett? Aber bei dieser Einladung wird keine Ausrede akzeptiert, denn hier heißt es: Mitgefangen, mitgehangen! Gerne auch Sippenhaft genannt. Das ist überhaupt eine gute Bezeichnung für italienische Verhältnisse.

Ich will keinesfalls undankbar erscheinen, es gibt ja nun wirklich Schlimmeres, als zu einer Hochzeit nach Sardinien zu fliegen und eine Woche richtig gut zu essen, viel zu lachen und mit entzückenden alten Männern Ballu Sardu, den sardischen Volkstanz, zu tanzen, der einem die Tränen in die Augen treibt. Sardinien, so mutmaßt der einschlägig belesene deutsche Tourist, ist eine Insel mit endlos langen Sandstränden und unglaublich reichen Menschen, die nachts bis in die Puppen feiern und tagsüber ihre Luxuskörper der Sonne entgegenstrecken. Die Costa Smeralda, wo die Gärten der Schönen und Reichen liegen, wie man sie von Luftaufnahmen kennt, wo im Sommer die Boulevardblätter sich die Klinke in die Hand geben, um die neuesten Skandale aufzudecken! Man hat es ja schon immer gewusst, Berlusconi geht fremd!!! Skandal!

Aber kann ich mich darauf verlassen, dass Sardinien wirklich so ist? Oder muss ich mich vielleicht auf etwas ganz anderes gefasst machen? Soll ich meine Vorurteile pflegen? Hab ich nicht gerade deswegen diese Insel seit Jahrzehnten gemieden, und jetzt kann ich ihr nicht mehr ausweichen! Nicht nur die Frage, in welche Gesellschaft ich hineingerate, beschäftigt mich, sondern auch, wie ich aufgenommen werde, wie ich mich verständige, und nicht zuletzt: WAS ZIEHE ICH AN?

Nein, wirklich, verstehen Sie mich nicht falsch, aber hier wird es bereits herbsteln, und dort? Brauche ich einen Pullover, oder kann ich noch im Meer baden?

Und wie kleidet man sich als Nichtverwandte bei einer so großangelegten Hochzeit?

Highheels und Spaghettiträgerkleidchen? Und was, um Himmels willen, schenkt man einem italienischen Brautpaar? Schweißperlen zieren meine Stirn angesichts all dieser existentiellen Fragen!

1. Tag – Donnerstag

Ankunft in Cagliari

Jutta

Um auf Nummer sicher zu gehen und keinesfalls zu leger gekleidet zu sein, habe ich in München ein cremefarbenes Röckchen mit großen blauen Punkten und ein blaues Oberteil angezogen, dazu cremefarbene Sandaletten mit Absatz und eine passende Handtasche. Als Schutz gegen die Spätsommersonne trage ich einen großen Strohhut, und für plötzliche Schauer oder kalte Winde habe ich einen cremefarbenen Sommermantel. So kann mir nichts passieren – dachte ich.

Um 9 Uhr 20 besteige ich in München das Flugzeug, um planmäßig um 11 Uhr 10 in Cagliari zu landen. Meinen Reisekoffer mit einem traumhaft schönen petrolfarbenen Cocktailkleid, klassisch elegant und, wie mir scheint, genau richtig für diese folkloristische Hochzeit, habe ich aufgegeben. Man muss sich doch ein bisschen absetzen von der Braut, und außerdem neigen Italiener aus dem Süden zu grauenhaftem Kitsch, was sowohl ihre Kleidung als auch ihren Schmuck angeht. Es ist gut, wenn ich sofort als die tedesca zu erkennen bin.

Brunos Maschine aus Rom soll eine halbe Stunde nach mir landen, ich kann inzwischen mein Gepäck holen und dann bei einem gemütlichen Cappuccino in der Eingangshalle auf ihn warten. Unser Leihauto steht am Flughafen bereit, wir können gegen Mittag losfahren, gerade rechtzeitig, um eine knappe Stunde später in Gesturi vom harten Kern der Familie der Braut in Empfang genommen zu werden. Dann folgt ein Mittagessen, und Bruno, der zum Trauzeugen erkoren wurde, muss anschließend mit Maurizio zum örtlichen Pfarrer, um die Hochzeit zu besprechen. Ich habe also genügend Zeit, um auszupacken und es mir in unserer Pension gemütlich zu machen. Va bene! Das ist, laut Bruno, unser Plan.

Wunderschön ist der Anflug auf die Insel. Mindestens eine Viertelstunde lang fliegen wir an der Ostküste mit ihren schneeweißen Stränden und wunderschönen Häusern entlang, und insgeheim träume ich von einem Häuschen hier, nur ein klitzekleines, maximal fünf Minuten vom Strand entfernt. Wie lange schwärme ich schon von einem Balkon mit Blick aufs Meer, wo ein Tisch und zwei Stühle Platz haben. Sonst nichts. Ein Balkon zum Träumen und Genießen.

Nach der Landung sitzen wir erst mal im Bus fest, der uns an der Gangway erwartet hat. Keine Ahnung, warum es nicht weitergeht! Endlich setzt er sich, nach einer gefühlten Viertelstunde, in Bewegung, ohne dass auch nur irgendjemand eine Erklärung abgegeben hätte. Aber das kenne ich schon aus Italien. Sicher musste der Fahrer noch einen wahnsinnig dringenden Anruf tätigen. Italiener lassen alles stehen und liegen, wenn ihr telefonino klingelt, und dann reden sie so laut und vor allem lange, dass jeder um sie herum mitbekommt, wie wichtig sie sind.

Es darf nicht wahr sein, jetzt hält der Bus vor der Halle und macht die Türen nicht auf!

Wenn das so weitergeht, muss nicht ich auf Bruno warten, sondern er auf mich. Passt mir gar nicht, weil ich gerne noch einen Cappuccino trinken würde, immerhin bin ich ja schon um sechs in der Früh aufgestanden. Außerdem geht mir dieses laute Gequatsche der italienischen Passagiere auf die Nerven. Was haben die eigentlich alle in München gemacht? Es sind doch gar keine Ferien! Und das Oktoberfest ist auch schon zehn Tage vorbei.

Na ja, Geschäfte werden sie gemacht haben, was sonst? In München leben angeblich sechzigtausend Italiener, und fast alle arbeiten in der Gastronomie oder besitzen ein Schuhgeschäft. Die Luft hier im Bus wird mit der Zeit nicht besser, und warm scheint es draußen auch zu sein. Die Sonne hat jedenfalls noch enorme Kraft, das merkt man sogar durch die Fensterscheiben.

Zur Toilette würde ich eigentlich auch gerne gehen. Im Flieger bin ich immer zu faul, mich durch die Reihen zu quetschen. Außerdem mag ich es nicht, wenn dann über mich getuschelt wird. Aha, die Speidel muss aufs Klo!

Jetzt kommt eine Stewardess mit Sicherheitsbeamten über das Rollfeld. Sie schwenkt Papiere in der Hand und gestikuliert lebhaft. Vielleicht ist George Clooney mit Bodyguards in der Wartehalle und gibt Interviews. Ist mir alles gleich, ich will jetzt raus aus diesem stickigen Bus. Und siehe da, endlich öffnet sich die Tür! Ein unglaublicher Lärm von Hunderten von Stimmen empfängt uns, dazwischen Gemeckere von Ziegen und Schafen, dann wiederum langgezogene »IIIIIIIAAAAAAAAHs« von Eseln. Wütende Stimmen skandieren mir unverständliche Sprechgesänge. Ich sehe nichts, denn die Türen der Halle sind geschlossen, und es müffelt ganz schön nach Ziege!

Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Vielleicht ist eine Maschine mit einem Viehtransport gelandet, und sie müssen jetzt erst mal die Tiere versorgen? Plötzlich muss ich lachen. Wenn ich jetzt zum Beispiel gar nicht auf Sardinien gelandet bin, sondern das nur glaube und wir eine Notlandung auf einer griechischen Insel machen mussten? Na, das wäre eine Erklärung!

Um mich herum wird laut diskutiert. Ein paar Brocken verstehe ich, aber das meiste ist für mich absolut unverständlicher sardischer Dialekt, in dem sich die Konsonanten mit den Vokalen zu einem Brei vermischen, der tief im Rachen wiedergekäut wird und sich ohne Punkt und Komma in einer Buchstabeneruption entlädt. Fasziniert beobachte ich einen bäuerlich aussehenden Mann, dessen Gesicht bei jedem Wort nur so glüht. Was mag ihn so begeistern? Immer wieder verstehe ich ein Wort, das teilweise enthusiastisch und dann von anderen wiederum verärgert ausgesprochen wird, nur mir sagt es leider rein gar nichts.

»SCIOPERO, SCIOPERO«, rufen sie, »Pecore Sciopero.« Das muss ein wirklich wichtiger Mann sein, denk ich mir. Schräg vor mir steht ein Pärchen mittleren Alters, offensichtlich ebenso wie ich mit dieser Situation überfordert. Hilfesuchend blicken sie sich in der Menge um, bis dann ihr verzweifelter Blick an mir klebenbleibt. Ich zucke mit den Achseln, um ihnen zu signalisieren, dass ich leider auch nicht weiterhelfen kann. Ich lächle ihnen zu, um sie zuversichtlich zu stimmen. Sicherlich kommt gleich unser Gepäck, und alles wird sich klären. In Italien ticken die Menschen halt anders als bei uns in den nördlichen Gefilden. Mit etwas Humor betrachtet ist das ja auch wieder sehr lustig, und ist es nicht letztlich der Grund, warum wir Deutschen Italien so lieben? Es kann ja nicht nur an den Spaghetti liegen, die kochen wir mittlerweile ebenso gut. Die Frau lächelt zurück, ich nicke noch mal aufmunternd und sage laut: »Es wird bestimmt alles gut. Wenn Sie Probleme haben, können Sie sich ruhig an mich wenden, ich verstehe Italienisch.« Ich hab sie ja wohl nicht alle! Kein Wort verstehe ich. Warum nur hab ich das gesagt? Diesen Satz werde ich noch bereuen!

Die Rollbänder, auf denen wir sehnsüchtig unsere Koffer erwarten, stehen still. Nichts tut sich, keiner kommt und gibt eine Erklärung ab, warum wir hier wie Vieh im Stall festgehalten werden. Wenigstens eine Ansage könnten sie machen, vielleicht sogar auf Englisch, damit auch die armen Touristen Bescheid wissen. Minute um Minute vergeht, ohne dass sich auch nur das Geringste tut, und in mir steigt leichter Groll hoch. Meine einzige Hoffnung ist, dass Bruno in wenigen Minuten landet und wir dann wenigstens zu zweit in diesem Chaos stehen und er in kürzester Zeit herausfindet, was los ist.

Und wirklich, ich höre Flugzeugbrummen, das mich hoffnungsfroh stimmt. Plötzlich öffnen sich die Türen zur Eingangshalle. Ich versuche an meinem Platz zu bleiben, schließlich habe ich ja mein Gepäck noch nicht, aber ein Italiener in Uniform, Polizist oder Sicherheitsbeamter, das kann ich nicht erkennen, winkt uns, zu kommen.

»Kommen Sie bitte, hier entlang«, dann bricht eine Tirade Sardisch über uns herein, der ein absolut unverständliches Kauderwelsch, das wohl Englisch sein soll, folgt. Ich kann nicht anders, hinter mir setzt sich die Menge in Bewegung und zieht mich mit. Unbekannte Hände drücken mich nach vorne. Wie in einem Horrorfilm. Einmal in meinem Leben wollte auch ich demonstrieren, ich erinnere mich nicht mehr, wofür. Es war Anfang der siebziger Jahre. Ich marschierte friedlich, aber irgendwelche Parolen von mir gebend auf der Ludwigstraße in München, vorbei an den großen Universitäten, mit Blick auf die Feldherrnhalle. Man hatte uns gewarnt, die Polizei werde hart durchgreifen, wenn es zu Ausschreitungen kommen würde. Abenteuerlustig, wie ich nun mal war, gepaart mit großer Naivität, schließlich bin ich auf dem Land aufgewachsen, also eine echte Landpomeranze, wollte ich eben auch mal ein Revoluzzer sein. Ich folgte dem Tross, die Hand nach Che-Guevara-Art kampfbereit zum Himmel emporgereckt. Plötzlich vernahm ich ein Brummen aus den Seitenstraßen, und ehe ich mich’s versah, rollten Wasserwerfer auf die Demonstranten zu. Die Menge stob auseinander. Ich rannte in die Schellingstraße und konnte mich in letzter Minute in einen Hauseingang drücken, bevor ein dicker, gewaltiger Wasserstrahl an mir vorbeischoss. Für Bruchteile von Sekunden streifte er meinen Arm, und ich dachte, er wäre gebrochen. Dieses Erlebnis war wie ein Schock und hat mich für alle Zeiten von jeglichen Demonstrationen geheilt. Ich bin bei Gott kein feiger Mensch, aber Gewalt ist mir verhasst.

Genauso ohnmächtig wie damals fühle ich mich jetzt. Ich kann nicht stehen bleiben, wo ich möchte. Man bestimmt über mich und schiebt mich vorwärts. Ich werde wütend und versuche mich zu widersetzen, sinnlos.

Und dann stehe ich da! Vor mir eine Absperrung, dahinter Schafe, Ziegen, Bauern mit Transparenten, die wild durcheinanderschreien. Ein bizarres Bild. Es scheint um eine wichtige Sache zu gehen und soll wohl auch uns Touristen ansprechen. Warum sonst suchen sie sich den Flugplatz aus? Der Gestank der Viecher ist unbeschreiblich. Hinter uns schließen sich wieder die Türen, so dass ich nicht sehen kann, ob Bruno angekommen ist. Absurd!

Flug Air One 5498

Bruno

Wunderbar, wenn man nicht das ganze Gepäck mitschleppen muss! Da ich online eingecheckt habe, musste ich den großen Koffer nur am Bag-drop-Schalter abgeben. Mein Rucksack ist trotz der auf den letzten Drücker gemachten Einkäufe ziemlich leicht.

Ich steige in den Shuttlebus, der mich zum Flughafen bringt. Vor mir steht eine Frau mit enormer Oberweite. Auch an Bord ist sie vor mir, ich komme einfach nicht an ihr vorbei. Die Mikrophonstimme kündigt an, dass wir bald starten, ich verstaue mein Gepäck in der Ablage über den Sitzen. Inzwischen setzt sich die Frau auf den Gangplatz, direkt neben meinen Sitz in der Mitte. Sie ist offenbar total in Panik! Sie kennen doch diese Leute, die sich in die Seitenlehnen verkrallen, sobald das Flugzeug sich auch nur bewegt? Die schon auf der Rollbahn bleich im Gesicht werden und nach den ersten drei Minuten in der Luft ihre Mutter an eine Nomadenkarawane verkaufen würden, wenn sie dafür das Flugzeug verlassen und den Rest der Reise schwimmend zurücklegen dürften?

Genau so jemanden habe ich jetzt neben mir. Sie öffnet und schließt ständig ihren Gurt, blickt nervös zu den Stewardessen und landet schließlich, bei einer plötzlichen Turbulenz, beinahe in meinen Armen.

»Passen Sie doch auf«, knurre ich. Kaum habe ich das gesagt – patsch! –, da schüttet mir die dumme Kuh ihren Apfelsaft über meine Hose. Ich funkele sie wütend an und will ihr ordentlich die Meinung sagen, aber mein Zorn verraucht unverzüglich angesichts dieser Körbchengröße Doppel-D.

Ich rufe die Stewardess.

»Ja bitte?«

»Ich möchte mich woanders hinsetzen.«

»Kommen Sie, in der letzten Reihe ist noch ein Fensterplatz frei.«

Ich stehe auf, quetsche mich an ihr vorbei und habe dabei nicht mal einen Gruß für sie übrig.

Mein neuer Platz ist jetzt hinter einem typisch coolen Italiener mit übergroßer RayBan-Sonnenbrille. Er sitzt ruhig, geradezu regungslos da, als habe der Sitz ihn verschluckt. Allerdings nur, bis das Essen serviert wird, denn da klappt er – schwupps – die Rückenlehne zurück. Nun hat er mit Sicherheit mehr Beinfreiheit, aber mich zwingt er so quasi dazu, das Essen aus der Schale zu schlabbern! Also wieder zurück zu Doppel-D!

Als ich an meinen alten Platz zurückkehre, erwidert sie gleich meinen Blick und sagt: »Es tut mir leid wegen Ihrer Hose.«

Sie klingt, als käme sie aus Mailand und leicht nach Upperclass.

»Kein Problem, aber wie geht es Ihnen? Immer noch nervös?«

»Ach«, stöhnt sie, »seit Jahren überlege ich mir schon, einen dieser Kurse gegen Flugangst zu machen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie auch helfen. Ja sicher, Autofahren ist viel gefährlicher, aber wer kann mir schon hundertprozentig garantieren, dass das Flugzeug, in dem ich fliege, nicht abstürzt? Alles Unvorhersehbare macht mir Angst.«

Jetzt, da wir uns ein bisschen unterhalten haben, ist sie mir gar nicht mehr so unsympathisch. Sie muss so um die vierzig sein und ist Art Director bei einer bekannten Werbeagentur. Sie fliegt für ein Fotoshooting nach Sardinien.

»Und Sie müssen Sarde sein! Was für eine wunderbare Insel!«

»Nein, ich komme nicht aus Sardinien, ich reise zur Hochzeit eines Vetters.«

»Ach … wie schön!!«

Sie seufzt und lehnt sich entspannt gegen die Rückenlehne. Das deute ich als Aufforderung, die Unterhaltung fortzusetzen.

»Darf ich Ihnen eine ziemlich indiskrete Frage stellen?«

»Fragen Sie ruhig.«

»Sind die echt?«

Einen Augenblick lang glaube ich, dass sie mir nicht antwortet, aber …

»Na sicher! Hier ist alles echt. Die waren schon so, als ich dreizehn war. Als junges Mädchen habe ich mich dafür geschämt, aber mit der Zeit … Schauen Sie nur hin. Ich kenne das. Wenn ich mit Männern rede, wandert ihr Blick immer dorthin. Mir macht es nichts aus. Und außerdem sieht man schon, dass Sie nicht der typisch geile Bock sind, der nicht weiß, wohin mit seinen Augen.«

»Interessant«, sage ich und überlege verzweifelt, wie ich das Gespräch zurück auf ein neutraleres Gebiet lenken kann. Damit mein Blick nicht wieder in ihrem Ausschnitt landet, richte ich ihn auf die Zeitung, in der sie blättert.

»GEDULD DER BAUERN AM ENDE!« Ich lese leise vor mich hin, aber so, dass sie mich hören kann. »Für heute wird ein Protestzug von ungefähr tausend sardischen Hirten am Flughafen von Cagliari erwartet. Und in den nächsten Tagen werden noch weitere Tausende von Demonstranten aus allen Teilen Sardiniens mit Pferden, Eseln und Ziegen dort eintreffen. Sie wollen nicht nur den Flughafen besetzen, sondern auch das Amtsgebäude der Regionalverwaltung. Die Schäfer sind verzweifelt, sie fürchten um ihre Zukunft und die ihrer kleinen Betriebe, besonders wegen des Milchpreises, ein Alptraum, der diesen Sektor tagtäglich bestimmt. Reisende, die zum Flughafen wollen, werden weder die Parkplätze noch den Wartebereich der Abflughalle erreichen können, während Passagiere, die von anderen Flughäfen eintreffen, auf Hunderte Demonstranten treffen, die das Ankunftsterminal besetzen und die Gepäckbänder lahmgelegt haben

Den Blick starr auf den Ausschnitt der Signora gerichtet, brülle ich: »Das Gepäck!«

Die Walküre bleibt ungerührt und zeigt nicht das leiseste Erstaunen. »Alles in Ordnung?«, fragt sie mich.

In absoluter Schicksalsergebenheit starre ich weiter in das üppige Dekolleté. Vor mir sehe ich zwei große Koffer, die auf Nimmerwiedersehen zwischen zwei riesigen weißen Brüsten verschwinden.

Der Streik

Jutta

Meine Füße schmerzen. Wenn ich meine Sandaletten ausziehe, laufe ich Gefahr, dass mir einer in dem Gedrängel auf die Zehen steigt. Lass ich sie an, kann ich bald nicht mehr stehen. Die Frage, was ich denn machen soll, hat sich nach einem Blick auf den Boden allerdings erübrigt. Nun wird mir auch klar, warum es hier so stinkt. Der Boden ist übersät von plattgetretenen Ziegenköteln, dazwischen immer wieder gelblich Feuchtes. Halleluja, wie komm ich hier bloß raus?!

Ich krame in meiner Handtasche nach meinem Handy, vielleicht ist Bruno ja schon in der Halle hinter mir, und ich kann wenigstens mit ihm reden. Es klingelt fünf- bis sechsmal, dann geht die automatische Ansage dran.

»Al momento il cliente non è … blablabla.« Er scheint noch nicht gelandet zu sein, komisch!

»Scusi, Signore, lei sa che cosa è?«, frage ich den Herrn neben mir. Ich will wissen, was hier eigentlich los ist.

»Certo, un sciopero di pecorai!«

Aha, dachte ich’s mir doch! »Come? Wie bitte?« Ich verstehe nur Bahnhof, was heißt denn nur dieses sciopero?

»Die Schäfer streiken und haben den Flughafen lahmgelegt«, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und blicke in die Augen eines jungen Mädchens mit Rastazöpfchen.

»Ach, wirklich? Woher wissen Sie das?«, antworte ich ihr dankbar.

»Die sind stinksauer, weil die Preise für ihre Ziegenmilch so in den Keller gegangen sind, alles wegen der Scheißmafia, die wollen das Monopol.«

Ich bedanke mich für diese Auskunft. Was gehen mich deren Milchpreise an? Erneut angle ich mein Handy aus der Tasche und wähle Brunos Nummer. Es läutet und läutet, aber er geht nicht ran. Wenigstens scheint er gelandet zu sein. Na, dann wird er ja gleich sehen, was hier für ein Chaos herrscht! Inzwischen skandieren die aufgebrachten Bauern unter dem Geläut ihrer Ziegenglocken derart laut, dass einem die Ohren weh tun. Sie rammen ihre Stecken in den Boden und schreien ihre Parolen heraus. Mir reicht’s! Ich halte mir die Ohren zu und versuche, mich durch die Menschenmenge zu drängeln, links hinten in der Halle habe ich eine Bar gesehen. Der Weg zur Bar gestaltet sich äußerst schwierig. Kinder sitzen auf Rucksäcken, völlig genervte Mütter versuchen, weinende Babys zu beruhigen. Alle schreien durcheinander. Immer noch kein Bruno in Sicht. Überhaupt entdecke ich nur verzweifelte und wütende Gesichter. Nur wenige überlassen sich ihrem Schicksal und versuchen zu scherzen. Ich kann nur durch ihre Mimik verstehen, was sie bewegt, aber ich spüre eine unglaubliche Energie in diesem Raum. Wie so oft in Italien beherrscht die Emotion die Lage. Die Menschen denken nicht groß nach, sondern genießen das casino, wie sie so schön zu einem Durcheinander sagen. Endlich kann man mal so richtig in die Vollen gehen, ohne Rücksicht auf Verluste. Entweder sich ergeben oder ordentlich zuschlagen, lautet die Devise.

Ich quetsche mich weiter in Richtung Bar. Wenn ich auf den Tresen klettere, kann ich besser nach Bruno Ausschau halten. Leider ist hier gerade niemand, der freundlich fragt, ob man vielleicht einen Cappuccino möchte, oder, der Situation angemessener: einen Whisky. Das Personal hat sich offenbar rechtzeitig in Sicherheit gebracht, wohl ahnend, welche Meute sich hier versammeln würde. Vielleicht frage ich einen Bauern nach einem Glas Ziegenmilch, ich würde in diesem Moment alles für etwas Trinkbares geben. Beherzt schwinge ich meinen Popo auf den Tresen. Dabei rempele ich einen Mann an, und meine Tasche fällt mit lautem Getöse auf den Boden. Der Akku meines Handys fällt auch heraus, jetzt kann mich Bruno nicht mehr erreichen. Verzweifelt suche ich den Boden nach meinen Habseligkeiten ab. Mein Rock ist verschmiert, und einen Moment lang habe ich das Bedürfnis, ein paar Tränen zu verdrücken, so sehr bedauere ich mich.