1. Tag – Donnerstag
Ankunft in Cagliari
Jutta
Um auf Nummer sicher zu gehen und keinesfalls zu leger
gekleidet zu sein, habe ich in München ein cremefarbenes Röckchen mit großen
blauen Punkten und ein blaues Oberteil angezogen, dazu cremefarbene Sandaletten
mit Absatz und eine passende Handtasche. Als Schutz gegen die Spätsommersonne
trage ich einen großen Strohhut, und für plötzliche Schauer oder kalte Winde
habe ich einen cremefarbenen Sommermantel. So kann mir nichts passieren –
dachte ich.
Um 9 Uhr 20 besteige ich in München das Flugzeug, um planmäßig
um 11 Uhr 10 in Cagliari zu landen. Meinen Reisekoffer mit einem traumhaft
schönen petrolfarbenen Cocktailkleid, klassisch elegant und, wie mir scheint,
genau richtig für diese folkloristische Hochzeit, habe ich aufgegeben. Man muss
sich doch ein bisschen absetzen von der Braut, und außerdem neigen Italiener aus
dem Süden zu grauenhaftem Kitsch, was sowohl ihre Kleidung als auch ihren
Schmuck angeht. Es ist gut, wenn ich sofort als die tedesca zu erkennen bin.
Brunos Maschine aus Rom soll eine halbe Stunde nach mir landen,
ich kann inzwischen mein Gepäck holen und dann bei einem gemütlichen Cappuccino
in der Eingangshalle auf ihn warten. Unser Leihauto steht am Flughafen bereit,
wir können gegen Mittag losfahren, gerade rechtzeitig, um eine knappe Stunde
später in Gesturi vom harten Kern der Familie der Braut in Empfang genommen zu
werden. Dann folgt ein Mittagessen, und Bruno, der zum Trauzeugen erkoren wurde,
muss anschließend mit Maurizio zum örtlichen Pfarrer, um die Hochzeit zu
besprechen. Ich habe also genügend Zeit, um auszupacken und es mir in unserer
Pension gemütlich zu machen. Va bene! Das ist, laut
Bruno, unser Plan.
Wunderschön ist der Anflug auf die Insel. Mindestens eine
Viertelstunde lang fliegen wir an der Ostküste mit ihren schneeweißen Stränden
und wunderschönen Häusern entlang, und insgeheim träume ich von einem Häuschen
hier, nur ein klitzekleines, maximal fünf Minuten vom Strand entfernt. Wie lange
schwärme ich schon von einem Balkon mit Blick aufs Meer, wo ein Tisch und zwei
Stühle Platz haben. Sonst nichts. Ein Balkon zum Träumen und Genießen.
Nach der Landung sitzen wir erst mal im Bus fest, der uns an
der Gangway erwartet hat. Keine Ahnung, warum es nicht weitergeht! Endlich setzt
er sich, nach einer gefühlten Viertelstunde, in Bewegung, ohne dass auch nur
irgendjemand eine Erklärung abgegeben hätte. Aber das kenne ich schon aus
Italien. Sicher musste der Fahrer noch einen wahnsinnig dringenden Anruf
tätigen. Italiener lassen alles stehen und liegen, wenn ihr telefonino klingelt, und dann reden sie so laut und vor allem lange,
dass jeder um sie herum mitbekommt, wie wichtig sie sind.
Es darf nicht wahr sein, jetzt hält der Bus vor der Halle und
macht die Türen nicht auf!
Wenn das so weitergeht, muss nicht ich auf Bruno warten,
sondern er auf mich. Passt mir gar nicht, weil ich gerne noch einen Cappuccino
trinken würde, immerhin bin ich ja schon um sechs in der Früh aufgestanden.
Außerdem geht mir dieses laute Gequatsche der italienischen Passagiere auf die
Nerven. Was haben die eigentlich alle in München gemacht? Es sind doch gar keine
Ferien! Und das Oktoberfest ist auch schon zehn Tage vorbei.
Na ja, Geschäfte werden sie gemacht haben, was sonst? In
München leben angeblich sechzigtausend Italiener, und fast alle arbeiten in der
Gastronomie oder besitzen ein Schuhgeschäft. Die Luft hier im Bus wird mit der
Zeit nicht besser, und warm scheint es draußen auch zu sein. Die Sonne hat
jedenfalls noch enorme Kraft, das merkt man sogar durch die Fensterscheiben.
Zur Toilette würde ich eigentlich auch gerne gehen. Im Flieger
bin ich immer zu faul, mich durch die Reihen zu quetschen. Außerdem mag ich es
nicht, wenn dann über mich getuschelt wird. Aha, die Speidel muss aufs Klo!
Jetzt kommt eine Stewardess mit Sicherheitsbeamten über das
Rollfeld. Sie schwenkt Papiere in der Hand und gestikuliert lebhaft. Vielleicht
ist George Clooney mit Bodyguards in der Wartehalle und gibt Interviews. Ist mir
alles gleich, ich will jetzt raus aus diesem stickigen Bus. Und siehe da,
endlich öffnet sich die Tür! Ein unglaublicher Lärm von Hunderten von Stimmen
empfängt uns, dazwischen Gemeckere von Ziegen und Schafen, dann wiederum
langgezogene »IIIIIIIAAAAAAAAHs« von Eseln. Wütende Stimmen skandieren mir
unverständliche Sprechgesänge. Ich sehe nichts, denn die Türen der Halle sind
geschlossen, und es müffelt ganz schön nach Ziege!
Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Vielleicht ist eine
Maschine mit einem Viehtransport gelandet, und sie müssen jetzt erst mal die
Tiere versorgen? Plötzlich muss ich lachen. Wenn ich jetzt zum Beispiel gar
nicht auf Sardinien gelandet bin, sondern das nur glaube und wir eine Notlandung
auf einer griechischen Insel machen mussten? Na, das wäre eine Erklärung!
Um mich herum wird laut diskutiert. Ein paar Brocken verstehe
ich, aber das meiste ist für mich absolut unverständlicher sardischer Dialekt,
in dem sich die Konsonanten mit den Vokalen zu einem Brei vermischen, der tief
im Rachen wiedergekäut wird und sich ohne Punkt und Komma in einer
Buchstabeneruption entlädt. Fasziniert beobachte ich einen bäuerlich aussehenden
Mann, dessen Gesicht bei jedem Wort nur so glüht. Was mag ihn so begeistern?
Immer wieder verstehe ich ein Wort, das teilweise enthusiastisch und dann von
anderen wiederum verärgert ausgesprochen wird, nur mir sagt es leider rein gar
nichts.
»SCIOPERO, SCIOPERO«, rufen sie, »Pecore Sciopero.«
Das muss ein wirklich wichtiger Mann sein, denk ich mir. Schräg vor mir steht
ein Pärchen mittleren Alters, offensichtlich ebenso wie ich mit dieser Situation
überfordert. Hilfesuchend blicken sie sich in der Menge um, bis dann ihr
verzweifelter Blick an mir klebenbleibt. Ich zucke mit den Achseln, um ihnen zu
signalisieren, dass ich leider auch nicht weiterhelfen kann. Ich lächle ihnen
zu, um sie zuversichtlich zu stimmen. Sicherlich kommt gleich unser Gepäck, und
alles wird sich klären. In Italien ticken die Menschen halt anders als bei uns
in den nördlichen Gefilden. Mit etwas Humor betrachtet ist das ja auch wieder
sehr lustig, und ist es nicht letztlich der Grund, warum wir Deutschen Italien
so lieben? Es kann ja nicht nur an den Spaghetti liegen, die kochen wir
mittlerweile ebenso gut. Die Frau lächelt zurück, ich nicke noch mal aufmunternd
und sage laut: »Es wird bestimmt alles gut. Wenn Sie Probleme haben, können Sie
sich ruhig an mich wenden, ich verstehe Italienisch.« Ich hab sie ja wohl nicht
alle! Kein Wort verstehe ich. Warum nur hab ich das gesagt? Diesen Satz werde
ich noch bereuen!
Die Rollbänder, auf denen wir sehnsüchtig unsere Koffer
erwarten, stehen still. Nichts tut sich, keiner kommt und gibt eine Erklärung
ab, warum wir hier wie Vieh im Stall festgehalten werden. Wenigstens eine Ansage
könnten sie machen, vielleicht sogar auf Englisch, damit auch die armen
Touristen Bescheid wissen. Minute um Minute vergeht, ohne dass sich auch nur das
Geringste tut, und in mir steigt leichter Groll hoch. Meine einzige Hoffnung
ist, dass Bruno in wenigen Minuten landet und wir dann wenigstens zu zweit in
diesem Chaos stehen und er in kürzester Zeit herausfindet, was los ist.
Und wirklich, ich höre Flugzeugbrummen, das mich hoffnungsfroh
stimmt. Plötzlich öffnen sich die Türen zur Eingangshalle. Ich versuche an
meinem Platz zu bleiben, schließlich habe ich ja mein Gepäck noch nicht, aber
ein Italiener in Uniform, Polizist oder Sicherheitsbeamter, das kann ich nicht
erkennen, winkt uns, zu kommen.
»Kommen Sie bitte, hier entlang«, dann bricht eine Tirade
Sardisch über uns herein, der ein absolut unverständliches Kauderwelsch, das
wohl Englisch sein soll, folgt. Ich kann nicht anders, hinter mir setzt sich die
Menge in Bewegung und zieht mich mit. Unbekannte Hände drücken mich nach vorne.
Wie in einem Horrorfilm. Einmal in meinem Leben wollte auch ich demonstrieren,
ich erinnere mich nicht mehr, wofür. Es war Anfang der siebziger Jahre. Ich
marschierte friedlich, aber irgendwelche Parolen von mir gebend auf der
Ludwigstraße in München, vorbei an den großen Universitäten, mit Blick auf die
Feldherrnhalle. Man hatte uns gewarnt, die Polizei werde hart durchgreifen, wenn
es zu Ausschreitungen kommen würde. Abenteuerlustig, wie ich nun mal war,
gepaart mit großer Naivität, schließlich bin ich auf dem Land aufgewachsen, also
eine echte Landpomeranze, wollte ich eben auch mal ein Revoluzzer sein. Ich
folgte dem Tross, die Hand nach Che-Guevara-Art kampfbereit zum Himmel
emporgereckt. Plötzlich vernahm ich ein Brummen aus den Seitenstraßen, und ehe
ich mich’s versah, rollten Wasserwerfer auf die Demonstranten zu. Die Menge stob
auseinander. Ich rannte in die Schellingstraße und konnte mich in letzter Minute
in einen Hauseingang drücken, bevor ein dicker, gewaltiger Wasserstrahl an mir
vorbeischoss. Für Bruchteile von Sekunden streifte er meinen Arm, und ich
dachte, er wäre gebrochen. Dieses Erlebnis war wie ein Schock und hat mich für
alle Zeiten von jeglichen Demonstrationen geheilt. Ich bin bei Gott kein feiger
Mensch, aber Gewalt ist mir verhasst.
Genauso ohnmächtig wie damals fühle ich mich jetzt. Ich kann
nicht stehen bleiben, wo ich möchte. Man bestimmt über mich und schiebt mich
vorwärts. Ich werde wütend und versuche mich zu widersetzen, sinnlos.
Und dann stehe ich da! Vor mir eine Absperrung, dahinter
Schafe, Ziegen, Bauern mit Transparenten, die wild durcheinanderschreien. Ein
bizarres Bild. Es scheint um eine wichtige Sache zu gehen und soll wohl auch uns
Touristen ansprechen. Warum sonst suchen sie sich den Flugplatz aus? Der Gestank
der Viecher ist unbeschreiblich. Hinter uns schließen sich wieder die Türen, so
dass ich nicht sehen kann, ob Bruno angekommen ist. Absurd!