Das Buch

Hermann ist Rheinländer durch und durch: Er liebt Witze, seine Mundart und vor allem den Karneval. Doch seitdem er vor vielen Jahren sein Herz an eine finnische Frau verlor, lebt er im kalten Tampere, unweit von Helsinki, aber weit weg von allem, was Spaß macht. Obwohl er bereits so lange dort ist, dass seine Tochter das Teenie-Alter erreicht hat, fühlt er sich fremd in Finnland. Irgendwas fehlt ihm – und wenn es nur ein anständiges Essen ist, jenseits von Erbsensuppe und Roggenbrot.

Darum trifft Hermann eine Entscheidung: Nach all den Jahren des sanften Anpassens an die seltsamen Finnen will er es nun offensiver versuchen und endlich zum echten Finnen werden. Dafür erstellt er eine 7-Punkte-Liste mit allen wesentlichen Etappen für eine gelungene Integration. Und dafür muss man vor allem gut schweigen können. Gar nicht so einfach für einen Rheinländer …

Der Autor

Dieter Hermann Schmitz, Jahrgang 1963, ist verheiratet und zweifacher Vater. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner finnischen Frau und den beiden Kindern in Tampere in Südfinnland. Dort unterrichtet er Übersetzungswissenschaft an der Universität.

Dieter Hermann Schmitz

Die spinnen,
die Finnen

Mein Leben im hohen Norden

Ullstein

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Abdruck des Liedtextes Kuka on tuo mies mit freundlicher Genehmigung von Komponist und Texter Markus Leppiniemi sowie des Männerchors Seminaarinmäen mieslaulajat (kurz: Semmarit).

Alle Übersetzungen von Zitaten, Sprichwörtern, Filmtiteln, Reimen, Liedtexten und Ähnlichem stammen vom Autor, mit Ausnahme einiger Buchtitel, soweit diese bereits in deutscher Übersetzung vorliegen.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

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Übertragung können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung und Gestaltung des Vor- und Nachsatzes: Sabine Wimmer, Berlin

Titelillustration: Isabel Klett

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-548-92041-2

Für meine Frau

(…koska hän on ihana)

Dummes Gerede vorweg

Gelegentlich werde ich gefragt, wie es ist, als Ausländer in Finnland zu leben. Darauf antworte ich meist mit: »Ich bin kein Ausländer. Im Gegenteil: Ich bin Rheinländer!«

Früher habe ich damit manchen zum Schmunzeln gebracht und mich selbst dabei amüsiert. Heute weiß ich, dass gerade das mein Malheur ist: Man kann zwar in ein fremdes Land ziehen, aber das Land, in dem man geboren ist, zieht unweigerlich mit.

Wie man weiß, gelten die Rheinländer als lebenslustig, gesprächig, kontaktfreudig und sorglos … Nix als Karneval und gute Laune im Sinn und ab und zu ein paar katholische Feiertage! Könnte der Kontrast zu den Finnen größer sein? Sie sind angeblich zurückhaltend, wortkarg, protestantisch-spröde bis nordisch-unterkühlt. Böse Zungen behaupten, ihre liebsten Hobbys seien Sauna, Saufen und Selbstmord. Nichts davon ist wahr. Ich brauche nur an meinen Schwippschwager zu denken: Er rührt nie einen Tropfen Alkohol an. Außer freitags, samstags und sonntags.

Alles nur Vorurteile! Ich kenne viele nette Leute hier, die Spaß am Leben haben, hilfsbereit sind, Kinder mögen und gerne lachen. Wie könnte man schlecht von den Finnen denken? Und wer behauptet, das Land wäre dunkel und trostlos, der kennt nicht den finnischen Winter Ende Februar: überall Eis und Schnee, dazu gleißendes Sonnenlicht, von überall gespiegelt, hundertfach verstärkt und tausendfach zurückgeworfen, mit flirrender Luft voller glänzender Kristalle. Mehr Licht, als das Auge ertragen kann und man in Deutschland während des gesamten Winters hat!

Ich lebe schon lange hier in Finnland, aber ein richtiger Finne bin ich noch nicht. Das sollte sich endlich ändern!

Saunatraum

Ich sitze in unserer Sauna, in einem schummrigen, heimeligen Halbdunkel. In einem kleinen Raum aus Holzlatten, der ein Kosmos für sich ist. Wohltuende Wärme umgibt mich, ich fühle mich entspannt und geborgen. Wie ein Kind im Mutterleib. Nur mit dem Unterschied, dass ich nicht über eine Nabelschnur versorgt werde, sondern eine kühle Flasche Bier neben mir steht. Die feindliche Welt da draußen ist verschwunden. Eine Welt, in der es Telefonrechnungen gibt, schlechtgelaunte Kollegen und plattgefahrene Karnickel am Straßenrand. Hier gibt es nichts außer Ruhe, Wärme und Erholung. Balsam für die Seele. Entschlackung für den Körper. Keine Sanduhr, keine Regeln, keine Bademeister! Dies ist keine türkische Dampfsauna und kein deutsches Kurbad, sondern eine finnische Sauna. Ein Tempel der Abgeschiedenheit. Kein Sandstrand in Thailand und kein Gipfel der Alpen kann diese besinnliche Wirkung entfalten. Wer nie in einer finnischen Sauna war, hat sein Leben nicht gelebt. Nicht einmal die Endorphinausschüttung nach einem Marathonlauf kann ein stärkeres Hochgefühl auslösen. Die finnische Sauna ist der Raum, in dem die Zeit stillsteht, der Körper schwerelos wird und der Geist zu sich selber findet. Ob Buddha in einer Sauna gesessen hat, als ihm Gedanken von der Wiedergeburt kamen?

Meine Augen halb geschlossen, denke ich an nichts. Nicht einmal daran, dass eine globale Pflicht zum täglichen Saunagang wahrscheinlich der einzige Weg zum Weltfrieden wäre. Wer in der Sauna sitzt, glaubt daran, dass man Polarlicht hören kann. Mit einer trägen, entspannten Bewegung greife ich nach der Kelle, um einen Aufguss zu machen. Das Wasser prasselt auf die Saunasteine. Es zischt und dampft. Dem Aufgusswasser ist eine wohlduftende Essenz beigemischt, die den Geruch eines Birkenwaldes verströmt. Es ist herrlich …

Döselig, wie der Rheinländer sagt, betrachte ich die warme, dampfumschmeichelte Haut meiner Arme, auf der sich geruchlose Schweißperlen sammeln wie die Wassertropfen auf einem Blütenkelch. Aber was ist das? Ich stutze! Ist das wirklich Schweiß, was aus meinen Poren tritt? Es sieht aus wie kleine schwarze Pünktchen. Und die schwarzen Pünktchen werden auch noch zusehends größer. Mit einem Schlag bin ich in heller Aufregung. Die Stimmung aus Losgelöstheit und Muße ist wie weggewischt. Seltsame Gebilde entsprießen meiner Haut. Und nicht nur auf meinen Armen. Überall! Eben sahen sie noch aus wie schwarze, dünne Bindfäden. Jetzt sind sie schon hart und borstig und werden rasch länger. Tatsächlich, es sind Haare. Sehr dichte Haare. Anders gesagt: Fell! Ein tierisches Fell schießt mir aus allen Poren. Gleichzeitig beginnt mich ein fürchterlicher Schmerz an den Schläfen zu plagen, und ein ungeheurer Druck pocht unter meiner Schädeldecke. Es ist, als müsse mein Kopf zerplatzen. Ich will um Hilfe rufen, aber meinem Munde entfährt nur ein Grunzen. Dabei schieben sich meine Lippen mit Macht nach vorne, mein Unterkiefer klappt unnatürlich aus, während meine Nase immer länger wird und binnen Sekunden mit den Lippen verwächst. Das unförmige Etwas ähnelt einer Hundeschnauze. Mit schreckgeweiteten Augen greife ich nach meinem klobigen Gesichtserker, nur um voller Panik festzustellen, dass meine Finger zu Stümpfen zusammengeschrumpelt sind und mit den Händen zu Klumpen verwachsen. Im selben Augenblick birst mein Schädel! Mit einem knackenden Geräusch platzt er links und rechts auseinander. Aus den klaffenden Wunden winden sich zwei knöcherne Stangen, die sich in kürzester Zeit zu Schaufeln ausweiten. Mein Körper ist mittlerweile über und über von einem schwarz-braunen Fell bedeckt. Die Hundeschnauze in meinem Gesicht ist zu einer Art Pferdemaul angeschwollen, meine Hände haben sich in Hufe verwandelt. Ich sehe an mir herab und stelle fest, dass an meinem Hintern der lange Schwanz eines Rindviehs baumelt. Ich will brüllen vor Panik, aber ich bringe nur ein tiefes, kehliges Röhren zustande. Immerhin ist es laut! Umständlich springe ich von der Saunabank auf und will nach draußen. Die Glastür der Sauna zerspringt klirrend in abertausend Teile, denn statt sie aufzustoßen, haben meine Hufe sie eingetrampelt. Auf dem Weg hinaus bleibe ich mit meinem Geweih im Türrahmen hängen. Mein Schwanz peitscht ungewollt auf die Saunasteine und verbreitet schneller, als mir lieb ist, den Geruch von versengten Haaren. Schließlich habe ich mich freigekämpft, galoppiere röhrend durch Badezimmer und Waschküche, ramme die Hintertür des Hauses ein und springe ins Freie. Es ist bereits Nacht, und ein fahler Mond sieht spöttisch auf mich herab. In unserem Garten liegt kniehoch der Schnee. Aber das kann mich nicht aufhalten, auch wenn ich auf allen vieren laufe. Ich presche davon, ungestüm, voller Angst und mit Schaum vor dem Maul. Meine Hufe pflügen durch den Schnee. Allmählich wird mir klar: Ich bin zum Elch geworden! Ich renne mir das Herz aus dem Leib und sprenge auf einen Wald zu. Dort angekommen, jage ich einen Hügel hinauf. Erst als ich den höchsten Punkt erreicht habe, halte ich inne – keuchend, entsetzt, auf dünnen, zittrigen Beinen meinen wuchtigen Körper haltend. Ich blicke in den nächtlichen Himmel empor und röhre. Über mir wabert das herrlichste Polarlicht in Grün und Rot. Ich kann es hören. Es klingt wie ein höhnisches Wiegenlied. Ich bin ein Elch, ein finnischer Elch. 

Das Zwitterwesen

Es ist, als wäre nichts geschehen. Ein ganz normaler Alltag. Wir sitzen beim Frühstück. Die Kinder müssen bald zur Schule, meine Frau und ich zur Arbeit. Ich bin also kein Elch, ich habe nur schlecht geträumt.

Meine Frau Eila ist der lebende Grund, warum ich in Finnland bin. Ihretwegen genieße ich subpolare Winter und helle Sommernächte. Obwohl sie selbst hervorragend Deutsch spricht, habe ich nur ihretwegen vor vielen Jahren damit begonnen, Finnisch zu lernen. Ihretwegen trage ich im Herbst ein Paar Gummistiefel von Nokia, esse Roggenbrot statt weißer Brötchen und trinke am 1. Mai zwei Glas Sima, was in etwa schmeckt wie ein Kölsch vom Vorjahr, mit Zucker gesüßt und mit Kohlensäure versetzt. Meine Frau ist humorvoll, offenherzig und wunderschön. Selbst morgens beim Aufwachen! Sie und ich streiten nur selten. Und wenn, gehen mir oft schnell die Argumente aus. Zum Glück kann ich dann meine Geheimwaffen hervorzaubern: zwei Bemerkungen, mit denen ich sie in null Komma nichts in Wut versetzen kann. Die eine ist die lapidare Aussage: »Du wirst wie deine Mutter!« Jede finnische Frau gerät bei diesem Satz in Rage. Es kommt unweigerlich zu einem Gau, der nach einer Phase der Überhitzung in tiefe Zerknirschung übergeht und zum Überdenken der eigenen Position führt. Warum die Androhung, wie die eigene Mutter zu werden, bei finnischen Frauen Angst und Schrecken auslöst, ist mir unerklärlich. Ich für mein Teil schätze meine Schwiegermutter. Sie kann tollen Schokoladenkuchen backen.

Die zweite Bemerkung verwende ich nur, wenn wir uns auf Finnisch streiten und mir die Worte ausgehen. Dann sage ich: »Warum kannst du keine Schwedin sein? Dann hätte ich deine Sprache schon nach sechs Monaten gelernt.« In der Tat ist das Schwedische – böse ausgedrückt – nur ein Deutsch zweiter Klasse. Und wenn man wie ich auch noch rheinisches Platt spricht und über Englischkenntnisse verfügt, lässt sich Schwedisch wahrscheinlich im Spaziergang lernen. Finnisch dagegen ist eine echte Herausforderung. Eine Lebensaufgabe. Das kann jeder Finnland-Tourist beim Gang in den Supermarkt leicht feststellen. Die meisten werden schon überfordert sein, wenn sie vor einem Kühlregal stehen und eine Getränketüte in der Hand halten mit der Aufschrift rasvaton maito. Aber sobald ihr Blick auf das Kleingedruckte fällt – und das ist hier immer das Schwedische –, naht die Rettung, denn fettfri mjölk lässt sich ohne Fremdsprachenkenntnisse leicht in »fettfreie Milch« übersetzen. Oder greifen wir nach einer Flasche mit bläulichem Reinigungsmittel. Welcher nicht Finnisch sprechende Deutsche kann schon mit der Aufschrift lasin- ja ikkunanpuhdistusaine etwas anfangen? Auf Schwedisch schlicht: glas- och fönsterspray. Alles klar! Ein kleines Döschen mit dem Etikett leivinjauhe bereitet Verständnisprobleme? Auf Schwedisch: bakpulver. Nichts ist einfacher!

Immer wenn ich bei einer Auseinandersetzung die Schwedinnen-Karte ziehe, treibt das meine Frau regelmäßig zur Weißglut. Denn keine finnische Frau will eine Schwedin sein. Selbst dann nicht, wenn sie ABBA hört oder sich für das schwedische Königshaus interessiert. Man hat ja seinen Stolz! Aber wie gesagt: Glücklicherweise streiten Eila und ich höchst selten.

Unsere Kinder, ein gemischtes Doppel, Mädchen/Junge, streiten jedenfalls öfter, sowohl miteinander als auch mit uns, aber alles andere wäre wahrscheinlich besorgniserregend. Die Ältere ist Senja Anna Marlene und stolze dreizehn Jahre alt. Wie in Finnland üblich, hat sie bei ihrer Taufe mehr als einen Vornamen abbekommen. Wäre ich ein Müller im Märchen, würde ich von ihr behaupten, dass sie Stroh zu Gold spinnen kann. Oder wäre ich ein Hahn, würde ich bei ihrem Erscheinen krähen: »Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie’!« Leider ist sie mittlerweile längst über das Alter hinaus, dass sie an den Osterhasen glaubt. Und um bei Märchen zu bleiben: Demnächst werde ich ihr, wie die gute Fee bei Aschenputtel, sagen müssen: »Bis zwölf Uhr musst du zu Hause sein!« Sonst ist der Zauber vorbei.

Märchen der Brüder Grimm haben übrigens in der Erziehung unserer Kinder eine große Rolle gespielt. Als Auslandsdeutscher empfinde ich die Wahrung des eigenen Kulturguts als wichtige Aufgabe. Deshalb wollte ich, dass unsere Kinder die verschiedensten Märchen, Mythen und Legenden aus deutschen Landen kennenlernen. So sind sie groß geworden mit Till Eulenspiegel, dem Froschkönig, Winnetou und Räuber Hotzenplotz. Und unser Sohn kann Gags von Helge Schneider passagenweise rezitieren (»Mein Herz weitete sich zu einem saftigen Steak.«). Er heißt Benni und ist der Jüngste der Familie. Sein vollständiger Vorname lautet Benni Antti Wolfgang. »Antti« hat im finnischen Zweig unserer Familie eine lange Tradition. Großvater, Urgroßvater, Onkel, Vettern und viele andere Verwandte tragen ihn als Ruf- oder Zweitnamen, und er geht zurück auf Isontalon Antti, einem Raufbold und Raubein aus Österbotten, der es als Messerstecher mit rebellischem Blut im vorletzten Jahrhundert zu zweifelhaftem Ruhm brachte. Er wird bis heute in Volksliedern besungen und ist zu einer Art finnischem Robin Hood verklärt worden. Sein Leben hat man sogar verfilmt, und in einigen Gemeinden Österbottens wird er für touristische Werbezwecke benutzt.

Vom Rebellenblut hat unser Sohnemann auch einiges geerbt. Vor allem, wenn er sich über seine Mathe-Hausaufgaben ärgert und seine Schulhefte in die Ecke pfeffert. Er kann tolle Comics und Bildergeschichten zeichnen und ist begeistert von Haien, Dinosauriern und sonstigem Ungetier. Aber Mathematik ist ihm ein Greuel. Er hat zwei Schuljahre damit verbracht, zu lernen, dass man auf Deutsch sieben-und-sechzig sagt, während es auf Finnisch wörtlich sechzig-und-sieben heißt.

Seit er laufen und sprechen kann, haben schon die verschiedensten Phänomene phasenweise sein Leben dominiert. Vor Zeiten war er etwa fasziniert von Piraten. In der Zeit mussten wir stets damit rechnen, dass er mit Schlapphut, Augenklappe und Säbel bewaffnet in die Küche kam und Essen verlangte – im Tonfall eines Kapitäns, der uns bei Nichtbefolgung über die Planke schickt.

Momentan ist Benni im Grusel-Rausch: Er hat sich in der Stadtbücherei ein paar Bücher über unerklärliche Phänomene ausgeliehen, über Fabelwesen und Fantasy. Er kennt von Sphinx bis Greif, Elf und Vampir alles, was die menschliche Phantasie und der Aberglaube an Ausgeburten hervorgebracht haben.

Während meine Frau und ich beim Frühstücken einen Blick in die Tageszeitung werfen und Senja durch ein Modemagazin sieht, blättert Benni in einem Buch über Feen, Trolle und Poltergeister.

»Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum«, setze ich an und beiße von meinem kernig-gesunden Roggenbrot ab. »Lass hören!«, sagt Senja und schiebt ihr Mode-und-Beauty-Magazin zur Seite. »Na erzähl«, sagt auch meine Frau aufmunternd, obwohl ich bemerke, dass sie kaum aufschaut und in einem Artikel weiterliest, der davon berichtet, wie eine alte Oma sich aus ihrer brennenden Holzhütte befreien konnte. Sie mag solche Artikel über menschliche Schicksale. Artikel wie »Treuer Hund rettet alte Oma«, »Opa im Eis eingebrochen und seither spurlos verschwunden«, »Schamane in Lappland verkauft Schamhaare an Esoterik-Touristen«. In Finnland ist was los, die Zeitungen sind voll davon.

Auch unser Benni spitzt bei meiner Bemerkung mit dem Traum die Ohren und grinst. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass er zuhört, obwohl er ungeniert weiter in seinem Buch über norwegische Trolle schmökert. Ich nehm’s ihm nicht übel, denn er ist der Einzige in unserer Familie, der zugleich lesen und zuhören kann.

»Also ich hab geträumt, ich säße in der Sauna …«

Meine Frau legt die Zeitung beiseite. Sie ist Finnin. Ein Traum über die Sauna ist ernst zu nehmen.

»Und?«, fragt sie.

»Na ja, anfangs war alles wunderbar: schön warm, es war ruhig, ich war ganz entspannt. Dann habe ich einen Aufguss gemacht, und plötzlich sind mir überall Haare gewachsen.« Meine Frau und meine Tochter werfen sich einen kumpelhaften, geradezu geheimbündlerischen Blick zu und grinsen sich an. »Und dann?«, fragen sie amüsiert.

»Dann ist mir auch ein Geweih gewachsen, und es war irgendwie – grauenhaft. Ich bin zum Elch geworden.«

Das habe ich kaum ausgesprochen, da gibt es schon allseits kein Halten mehr: Meine Frau lacht und schüttelt ihre langen blonden Haare, meine Tochter lacht und sieht aus wie ein Teenager, der sich fragt: Wie doof ist das denn?!, und ich selber lache auch, denn einen schwachsinnigeren Traum habe ich nie gehabt. Nur Benni lacht nicht. Seine Augen blitzen hellwach. Und gespannt fragt er mich: »Bist du dann hinausgerannt und hast den Mond angeheult?«

»Nein, nicht den Mond, aber das Polarlicht!«

Aufgeregt beginnt er, in seinem Buch zu blättern. »Hier!«, ruft er, springt auf und kommt mit dem Buch zu mir herüber. Er hat die Seite mit den Werwölfen aufgeschlagen. »Du bist ein Zwitterwesen, halb Mensch, halb Tier. Nur bist du kein Werwolf, sondern ein Wer-Elch!«

Ich wusste es: Benni ist ein Genie. Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen: Ich bin ein Zwitterwesen!

Alle Wege führen nach Tampere

Wie üblich nehme ich die Kinder auf dem Weg zur Arbeit mit in die Stadt, wo sie beide zur Schule gehen. Meine Frau hat’s weniger weit. Sie arbeitet als Lehrerin in einer kleinen Grundschule in unserem Ortsteil mit seinem schnuckelig-harmlosen Dorfcharakter, nur ein paar Schritte von unserem Zuhause entfernt. Dieses Zuhause liegt in einem Vorort von Tampere, Finnlands heimlicher Hauptstadt. Mit den Ureinwohnern dieser Stadt, meiner finnischen Wahlheimat, teile ich die feste Überzeugung, dass Tampere die wahre Metropole des Landes ist. Na gut, Helsinki ist größer und zudem nicht nur Sitz von Parlament und Regierung, sondern auch der finnischen Börse und der meisten nationalen Fernsehsender. Aber abgesehen davon ist die Stadt ein Moloch voller hässlicher Wohnbunker, in dem man zwei, drei nette Straßenzüge findet, wenn man lange genug sucht. Die Winter in Helsinki sind schlabbrig, grau und verregnet. In den Zeitungen war neulich zu lesen, dass mittlerweile selbst die Krähen in Helsinki an Fettleibigkeit leiden, weil sie sich angewöhnt haben, Fritten aus dem Abfalleimer zu fressen. Den McKrähen, wie sie im Großstadt-Slang heißen, droht gar der Verlust ihrer Flugfähigkeit. Über Tamperes Seen kreisen dagegen schneeweiße und kerngesunde Möwen, denn hier ist die Welt noch in Ordnung.

Zugegebenermaßen verfügt Helsinki über ein paar gutausgestattete Museen, doch sind sie zumeist vollgestopft mit Gemälden, die Landschaften aus anderen Teilen des Landes zeigen. Und eine der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt ist der Bahnhof. Wahrscheinlich weil man von dort ins Hinterland gelangt. Alles in allem lässt sich sagen: Das Beste an Helsinki ist sein Zoo.

Neben Helsinki hält sich noch Turku für die bedeutendste Stadt des Landes. Diese Hochnäsigkeit rührt daher, dass das kleine, unattraktive Städtchen vor mehr als zwei Jahrhunderten mal eine Rolle gespielt hat. In Turku stehen ein alter Dom und eine Burg vom Charme eines Schlachthofs – das war’s! Nicht viel, womit man wuchern könnte. Abgesehen davon liegt auch Turku an der Küste, und die Winter sind wie in Helsinki: schlabbrig, grau und verregnet.

Die anderen erwähnenswerten Städte in Finnland – Oulu, Jyväskylä, Vaasa, Kuopio, Rovaniemi, Seinäjoki, Joensuu – taugen allesamt als Zungenbrecher für ausländische Touristen und als Orientierungspunkte auf der Landkarte. Tampere dagegen ist Finnlands Mittelpunkt, das wahre Zentrum, Suomen keskipiste. Die Stadt hat die erfolgreichsten Eishockeyklubs, die besten Theaterbühnen und die umtriebigste Rockszene. Außerdem hat Tampere eine kulinarische Spezialität zu bieten, deren Verzehr und Genuss die Finnen spaltet: Entweder man mag sie und ist Tamperaner, oder man mag sie nicht und muss sehen, wie man mit diesem Schicksal klarkommt: mustamakkara, Schwarzwurst. Gegessen wird diese Blutwurst mit Preiselbeeren. Sie sieht pervers aus, aber meine Kinder mögen sie! Kein Wunder, sie sind in Tampere zur Welt gekommen.

Auf unserem Weg zu Schule und Arbeit fahren wir zunächst durch ruhige Vorstadtstraßen mit netten Holzhäusern. Dann biegen wir ab auf die große Zufahrtsstraße Richtung Innenstadt. Im morgendlichen Berufsverkehr geht es teilweise nur mit Tempo vierzig voran. Die Finnen nennen das Stau. Für Deutsche ist das Normalverkehr.

Während Senja englische Vokabeln lernt und Benni vor seinem geistigen Auge Vampire pfählt, bin ich stolz auf die beiden. Sie sprechen zwei Sprachen, sie wechseln von Deutsch zu Finnisch und wieder zurück, so wie andere Leute durch die TV-Kanäle zappen.

»Vati«, fragt Benni und blickt von seinem Buch auf, »glaubst du an die Wiedergeburt?« Was für eine Frage von einem Jungen, der gerade mal elf Jahre alt ist! Noch bevor ich antworten kann, kommt die nächste Frage: »Möchtest du im nächsten Leben als Elch wiedergeboren werden?«

»Nein, im nächsten Leben möchte ich als Finne wiedergeboren werden«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.

Senja muss husten. Ich weiß nicht, ob das mit ihren Vokabeln oder mit meiner Antwort zu tun hat. Benni schaut nachdenklich zum Fenster hinaus.

Links liegt ein Gewerbegebiet mit Supermärkten und Möbelhäusern, rechts ein Landrücken mit Kiefernbestand und vor uns, in der aufgehenden Sonne, Tamperes Wahrzeichen, der Aussichtsturm Näsinneula. Er sieht aus wie ein Fernsehturm, beherbergt aber nur ein Restaurant, das sich in etwa hundertzwanzig Metern Höhe kaum merkbar im Kreis dreht. Die Portionen dort sind immer nett und übersichtlich auf dem Teller verteilt und die Preise ähnlich hoch wie der Turm. Aber die Aussicht ist das Geld wert.

Wir drei nähern uns allmählich dem Stadtzentrum. Zu unserer Rechten ist nun der winterliche Näsijärvi zu erkennen, jener See, der im Norden an Tampere grenzt.

»Ich möchte nicht«, meldet sich Benni von der Rückbank zu Wort, während sein Blick über die unendlichen Weiten des zugefrorenen Sees gleitet, »dass du als Finne wiedergeboren wirst. Ich finde, du solltest so bleiben, wie du bist!«

Ich muss schmunzeln. Schön, wenn es jemanden gibt, der einen genau so mag, wie man ist. Andererseits: Benni glaubt auch noch beharrlich an die Zahnfee, sein Urteil besitzt daher keinen Expertenstatus.

Dann verlassen wir die große Kraftfahrtsstraße, es geht hinein ins Herz der Stadt, vorbei an Wohnhäusern und Stadtparks. Auf dem Bürgersteig sieht man Schulkinder mit schwarzen Wollmützen, ein paar Frauen mit Kinderwagen und einige Hundehalter, die ihre Vierbeiner Gassi führen.

Ein Spitz erleichtert sich auf einem Grünstreifen an der Straße. Ich muss an Schwarzwurst denken. Vor einem Zebrastreifen halte ich an, um einen älteren Herrn herüberzulassen. Ungläubig starrt er mich an und winkt mir unwirsch, ich solle weiterfahren. Ich habe gegen ein ungeschriebenes Gebot der finnischen Verkehrsordnung verstoßen: In Finnland hält kein Schwein vor dem Zebrastreifen! Außerdem gehört es zum guten Ton, auch noch bei Dunkelgelb über die Ampel zu fahren. Ungeniert sprechen die meisten Autofahrer am Handy. Und Blinker benutzt man beim Abbiegen oder Spurwechsel nur in Ausnahmefällen. Den älteren Herrn habe ich durch mein Verhalten sichtlich beleidigt. Er schaut mich so vorwurfsvoll an, als würde ich ihn für hundertvier und körperbehindert halten. Niemand hält hier vor dem Zebrastreifen. Und die Fußgänger erwarten das auch nicht.

Senja und Benni besuchen im Stadtteil Tammela eine Schule mit deutschsprachigem Zug. Sie ist in einem ansehnlichen grundrenovierten Jugendstil-Bau untergebracht. Bevor die Kinder aussteigen, schärfe ich Benni noch einmal ein, dass er die Unterrichtsstunden nicht in phantastischen Parallelwelten verbringen soll.

Ich setze gerade den Blinker und will weiterfahren, da macht es platsch. Eine der kerngesunden Möwen der Stadt hat mir mitten auf die Windschutzscheibe geschissen. Das ist Tampere! Hier ist die Welt noch in Ordnung.

Wie finnisch bin ich?

Wenige Minuten später lenke ich Ronkoteus auf seinen angestammten Uni-Parkplatz. Meine Frau und ich haben die Angewohnheit, unseren Fahrzeugen Namen zu geben. Der Name Ronkoteus ist die direkte Entlehnung aus einem Roman von Arto Paasilinna, aus der verrückten Geschichte über einen Finnen der Bronzezeit, dem es gelingt, sich mit Hilfe von Adlern und einem selbstgezimmerten Fluggerät in die Lüfte zu schwingen. Unser Ronkoteus ist zwar kein Adler, sondern ein dunkelblauer Kompakt-Van, aber er beschwingt uns.

Ich steige aus und betrete ein modernes Gebäude aus Glas und Stahl – die geheiligten Hallen der Universität Tampere. Hier arbeite ich als Hochschullehrer in der Sektion Translationswissenschaft. Das Wort klingt imposant und erfüllt mich stets mit tiefer Andacht.

Meine Kollegen und ich bilden angehende Übersetzer und Dolmetscher aus. In meinem Falle solche, die sich mit Deutsch herumschlagen müssen. Der Job bietet viele Annehmlichkeiten. Eine davon ist, dass ich ständig von jungen Frauen umgeben bin. Denn die Sprach- und Translationswissenschaften sind auf eklatante Weise weiblich dominiert. Mindestens achtzig Prozent unserer Studienanfänger sind weiblich. Und die übrigen zwanzig Prozent – sprich: die Jungs – haben häufig einen weiblichen Touch oder sind als Ingenieur zu untalentiert. Verwunderlich ist nur, dass die Studentinnen mit jedem Jahrgang jünger werden. Mittlerweile könnten die jungen Küken meine Kinder sein. Die meisten von ihnen sind nett und machen brav ihre Hausaufgaben.

Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie viele talentierte Mädel dabei sind, die sich an der deutschen Sprache nicht die Zähne ausbeißen, nicht einmal an den Artikeln. Warum ist es der Becher, die Tasse und das Glas? Warum ist es der Eingang, die Tür und das Tor? Der Zugang zur deutschen Sprache könnte so viel einfacher sein, wenn man durch Eingang, Tür und Tor schlüpfen könnte, ohne sich Gedanken über Artikel machen zu müssen. Es ist ja noch einsehbar, dass Vater der und Mutter die ist. Aber warum ist es die Hose und der Rock? Meine Kollegen von der Philologie würden mir sprachhistorisch sicher alles erklären können, doch das tröstet weder mich noch meine Studentinnen. Das ist uns sozusagen Jacke wie Hose.

Einige meiner Kollegen sind Deutsche wie ich. Zum Beispiel Albert, ein grantiger Franke, der mit den Jahren immer griesgrämiger geworden ist und ständig über das Wetter mäkelt. Er hasst Schnee! Tragisch für ihn ist, dass er als Schnee-Hasser nicht schon vor Jahrzehnten erkannt hat, dass er im falschen Land heimisch geworden ist.

Dann gibt es da noch Lea. Sie ist etwa in meinem Alter und kommt aus dem Ruhrpott. Sie spricht schneller, als in allen Stahlschmieden von Thyssen und Krupp zu besten Zeiten gehämmert wurde, und lässt dabei so viel Dampf ab wie ein Braunkohlekraftwerk. Sie begrüßt mich eigentlich nie mit einem »Guten Morgen« oder »Hallo«, sondern das Erste, was man von ihr zu hören bekommt, ist ein »Hach, ich kann dir sagen …«.

Zu meinen finnischen Kolleginnen gehört Tiina. Mit Doppel-i, wie sich das im Finnischen gehört. Sie ist Vollblutakademikerin, graduiert, promoviert und habilitiert. Und dennoch schreckt sie nicht davor zurück, sich bunte Schleifchen in die Haare zu binden wie ein Vorschulmädchen.

Mein Büro ist ein kleines Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Bürostuhl, Computer und Bücherregalen. Als Uni-Mensch ist man in Finnland quasi Staatsdiener und immerhin gut ausgestattet. Keine Dächer, durch die das Wasser tropft, keine Wände, von denen der Putz abblättert. Unser Gebäude ist top ausgestattet und gut in Schuss. Und wenn man einmal einen Hausmeister braucht, kommt auch jemand eilfertig herbei, bewaffnet mit Mobiltelefon, Generalschlüssel und einem Schraubenzieher mit Wechselköpfen. Hausmeister in Deutschland gebärden sich oft wie Großwesire, die über Audienzen beim Sultan entscheiden und Zugang zur Schatzkammer haben. Hausmeister in Finnland sind meistens freundlich. Mein Lieblingshausmeister heißt Jukka. Er ist klein, dick, immer lustig und winkt einem allzeit ein freundliches »Morjens« entgegen. Das ist Tamperer Dialekt und entspricht einem rheinischen »Tach, wie isset?!«.

Die Unis in Finnland haben selten etwas Altehrwürdiges, dafür atmen sie aber auch nicht den Mief uralter Zeiten. Mir bleibt wenig Zeit, um nach dem Einschalten des Computers gegen die tägliche Flut von Mails anzukämpfen, denn schon um halb neun habe ich einen Übersetzungskurs. Heute geht es um einen touristischen Text, der von Winterfreuden am Rodelhügel oder auf dem Eis berichtet. Im Finnischen kennt man einen Haufen Begriffe für Schlitten und Rutschunterlagen aller Art, so wie kelkka, liukuri, ufo, rattikelkka, potkuri, reki, rengas, napakelkka – abhängig davon, wie groß und aus welchem Material die Gefährte sind, ob man sie steuern kann und wie man sich fortbewegt. Mit anderen Worten: Es gibt übersetzerisch jede Menge Nüsse zu knacken.

Ich finde es immer noch amüsant, dass es in Finnland so viele sprechende Vornamen gibt. Ich dachte früher immer, so etwas gab es nur im Wilden Westen bei den Indianern, wo die Krieger Heulender Wolf oder Mutiger Bär hießen und die Squaws Dampfhammer-Zunge oder Schleife-im-Haar. In meinem nun beginnenden Kurs sitzen eine Kukka (Blume), eine Tuuli (Wind), eine Satu (Märchen), eine Suvi (Sommer) und sogar eine Minttu (Minze). Das ist reine Poesie.

»Du siehst bleich aus«, begrüßt mich Tuomas, ein Kollege von den Historikern, als wir uns zufällig in der Mensa treffen, wo ich mir nach zwei Stunden Übersetzungskurs eine Pause gönne. Tuomas setzt sich zu mir. Er nimmt einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Kaffee kippt man in Finnland literweise in sich hinein, in großen Henkelbechern und in noch größeren Mengen. Für Kaffeetässchen aus feinem Porzellan mit unnötigen Untertassen hat man hierzulande keinen Sinn. Tuomas hat in seinem Arbeitszimmer auch eine eigene Kaffeemaschine stehen, die ständig vor sich hin brodelt. Dort sitzt er, forscht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er schreibt und trinkt Kaffee, und wenn er mal eine Pause braucht, kommt er in die Mensa, um einen Kaffee zu trinken. Dann am liebsten in Gesellschaft.

Tuomas ist Doktorand und schreibt an einer Arbeit über den finnischen Bürgerkrieg. Auch die Finnen haben Traumata, die aufgearbeitet werden müssen. Tuomas hat jahrelang in Berlin gelebt und spricht ein hervorragendes Deutsch. Er ist der lebende Beweis dafür, dass es auch Finnen geben kann, die viel reden, schlagfertig sind und kein Blatt vor den Mund nehmen. Tuomas ist ein paar Jahre jünger als ich, Typus junger, hoffnungsvoller Nachwuchswissenschaftler.

»Geht’s dir nicht gut oder hast du schlecht geschlafen?«, fragt er. Ich schlürfe vorsichtig von meinem Tee. Den trinke ich, weil mein Magen nur an begrenzte Mengen Kaffee gewöhnt ist. »Letzteres«, antworte ich und erzähle ihm von meinem eigenartigen Traum. Als er hört, dass ich letzte Nacht zum Elch geworden bin, muss er lachen. »Du hättest eigentlich ein Hirsch werden sollen, ein saksanhirvi.« Er ist sichtlich stolz auf sein Wortspiel: Auf Finnisch heißt »Hirsch« wörtlich »deutscher Elch«, saksanhirvi. Dann wird er ernst und überlegt. »Hermann«, sagt er und schaut mich über den Rand seiner Kaffeetasse an, »vielleicht hast du ein Problem.«

»Und das wäre?«

»Euer Benni hat es doch schon gesagt: Du bist ein Zwitterwesen. Du bist wahrscheinlich schon zu lange in Finnland.« Er schüttet den letzten Schluck Kaffee in sich hinein.

»Wo ist da das Problem?«, gebe ich zu bedenken, obwohl ich weiß, dass er recht hat. »Es gibt schließlich viele Menschen, die in Finnland leben, und das seit ewigen Zeiten.«

»Ja, schon, aber sie sind Finnen.«

Damit trifft er den Nagel auf den Kopf. Ich nicke kaum merklich und nippe von meinem Tee. Was würde mein Dilemma mehr verdeutlichen als mein Nachname: In meiner alten Heimat ist »Schmitz« so gewöhnlich wie Rantanen oder Virtanen in Finnland – ein Name, der im Telefonbuch mancher Städte oder Regionen viele Seiten füllt. Aber in Finnland ist »Schmitz« eine Zumutung, unaussprechlich und schwer zu schreiben. In diesem Namen nehmen sechs Konsonanten ein lächerlich kleines und kurz gesprochenes »i« in die Zange und türmen sich zu unüberwindlichen Blockaden auf für jemanden, der daran gewöhnt ist, dass seine Muttersprache überreichlich Vokale ausstreut und verschwenderisch mit Y und Ä und Ö umgeht. Wie lange habe ich gebraucht, um mich an Worte wie yöpöytä zu gewöhnen? Wie kann ich da den Finnen ein »Schmitz« aufzwingen? Wahrscheinlich ist mein Nachname im Finnischen das, was ich selbst in Finnland bin: ein Fremdkörper! Und je länger man da ist, umso bewusster wird einem das Fremdsein!

»Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragt Tuomas.

Er grinst und sieht mich neugierig an. Tuomas hat in Berlin das Quatschen gelernt – und ich in Finnland das Schweigen. Ich möchte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Tuomas auch schon wieder aufspringt und zu seiner Doktorarbeit zurückhastet. »Bis dann«, winkt er mir noch zu und verschwindet.

Es dauert keine halbe Stunde, da teilt mir mein Büro-computer mit, dass Tuomas mir eine Mail geschickt hat. Ich habe nicht die geringsten Zweifel, dass er mir irgendwelche Albernheiten zu unserem Mensathema zukommen lässt, trotzdem klicke ich die Mail an und öffne sie. Ich liege richtig. Seine Nachricht ist überschrieben mit: Zehn Anzeichen, an denen man merkt, dass man schon zu lange in Finnland lebt.

Solche und ähnliche Scherztexte sind mir schon mehrfach begegnet. Sie wabern durchs Internet und kursieren zwischen Ausländern in Finnland und sonstigen Suomi-Freunden, meist auf Englisch. Ich schließe meine Bürotür, um ungestört lesen zu können:

Du lebst schon zu lange in Finnland …

1. wenn du donnerstags Appetit auf Erbsensuppe hast;

2. wenn du zehn Grad Außentemperatur für warm und sechzig Grad in der Sauna für sackkalt hältst;

3. wenn du jemanden, der dich freundlich anlächelt;

a) für einen Ausländer hältst oder

b) für einen Betrunkenen oder

c) für einen betrunkenen Ausländer;

4. wenn du es normal findest, fünf Jahre lang verlobt zu sein, ohne ans Heiraten auch nur einen Gedanken zu verschwenden;

5. wenn es dich nicht mehr wundert, dass alle, die im Bus sprechen, mit jemandem telefonieren;

6. wenn du dir den ganzen Winter über nichts Schöneres vorstellen kannst, als den Sommer in einem primitiven Ferienhäuschen zu verbringen, um von Mücken zerstochen zu werden;

7. wenn du Schiffstouren nach Schweden oder Estland nett findest, obwohl alle immer nur schwanken: Das Schiff schwankt, die Betrunkenen schwanken, die Tangotänzer schwanken;

8. wenn du in einem deutschen Lexikon einen Begriff, der mit W anfängt, irgendwo unter V suchst;

9. wenn du im Sommer Nordic Walking betreibst, nur um die Zeit bis zur nächsten Skilanglauf-Saison zu überbrücken;

10. wenn du die ganze Woche über keinen Tropfen Alkohol anrührst, aber dir am Freitag restlos die Kante gibst.

Tuomas hat mich mit seiner Mail tatsächlich amüsiert, aber nicht nur das. Nach dem ersten Lesen beschließe ich, seine Liste noch einmal durchzugehen und meine persönliche Finnisierung zu überprüfen. Ich drucke die Mail aus, greife mir außerdem Stift und Notizblock und lege los.

Punkt 1: Erbsensuppe am Donnerstag. Wo die Tradition der alldonnerstäglichen Erbsensuppe im hohen Norden herrührt, wäre ein interessantes Thema für eine Doktorarbeit an der Schnittstelle zwischen Ernährungswissenschaft, Volkskunde, Soziologie und Esoterik. Es beginnt bereits im finnischen Ganztagskindergarten und zieht sich durch alle Schulküchen, Mensen und Werkskantinen: Donnerstag ist Erbsensuppentag! In finnischen Krankenhäusern und Altenheimen sieht es nicht anders aus. Dieser Gewohnheit verdankt wahrscheinlich eine ganze Erbsensuppen-Industrie ihre Existenz. Manch einer löffelt die grüne Pampe sogar mit Senf! Ich erkenne sofort: Meine Finnisierung ist auf diesem Gebiet noch nicht ausreichend fortgeschritten. Als Kind deutscher Prägung erwarte ich in der Erbsensuppe eine deftige Wursteinlage, und weil eine solche am finnischen Donnerstag fehlt, greife ich nur selten zu. Ich notiere mir auf meinen Zettel: »Donnerstags Erbsensuppe essen!«

Punkt 2: Wärmeempfinden. Befriedigt darf ich feststellen, dass ich in dieser Hinsicht so finnisch bin wie jeder Jussi oder Kalle vom Lande. Ich lebe schon so lange in diesen Breiten, dass ich im April oder Mai, nach langen Wintermonaten, zehn Grad Außentemperatur durchaus als warm empfinden kann. Und als Saunafreund sind für mich lächerliche sechzig Grad entschieden zu wenig, wenn ich gezielt schwitzen will.

Punkt 3: Freundliches Anlächeln, das nur von Ausländern oder Betrunkenen stammen kann. Hier bin ich unschlüssig. Denke ich wirklich schon so? Und stimmt es, dass Finnen einem weniger freundlich begegnen als Polen oder Portugiesen, dass sie zurückhaltender sind als Iren oder Italiener und dass ihre Mimik für gewöhnlich einer Eisscholle ähnelt? Nun, da mag etwas Wahres dran sein, aber es gibt dennoch genügend Finnen, die freundlich lächeln und gesprächig sind. Punkt 3 auf meiner Liste bleibt unentschieden.

Punkt 4: Verlobtsein ohne Folgen. Junge finnische Paare, die sich verloben, um dann jahrelang dahinzuleben, ohne an diesem Schwebezustand etwas ändern zu wollen, gibt es wirklich zuhauf. Entsprechend können sie mich damit auch nicht mehr verwundern. Also bin ich auch hierhin schon vollstens enkulturiert. (Bei meiner Frau und mir ging alles ruck, zuck. Das muss damit zusammenhängen, dass sie aus Österbotten kommt. Angeblich leben dort Leute, die nicht lange fackeln und keine halben Sachen mögen.)

Punkt 5: Im Bus am Handy sprechen. Tatsächlich wird morgens im Bus wenig gesprochen, und wenn doch, dann am Mobiltelefon, vorzugsweise mit einem Nokia-Modell vom letzten Frühjahr. Eine Ausnahme bilden frisch eingeschulte Kinder. Die unterhalten sich über den Unterricht, die Lehrerin und die Hausaufgaben von gestern und kichern viel. In Deutschland würden sie von ihren Eltern kutschiert, statt mit dem Bus zu fahren. Aber spätestens ab dem dritten Schuljahr sitzen fast alle Kids mit dem typischen Schulbusgesicht aus Hochmut, Übermüdung, Langeweile und Verdrossenheit herum. Aber ich bin überzeugt, das ist kein finnisches Phänomen, sondern generationenspezifisch.

Das Vorurteil mit der mangelnden Gesprächigkeit im Bus war mir seit langem bekannt, und in den vergangenen Jahren habe ich bei Deutschland-Besuchen bewusst darauf geachtet. Das Resultat meiner Recherchen: In Sachsen, Schwaben oder Bremen wird in Bussen auch nicht mehr geredet als hier. Und die Schüler sehen genauso unmotiviert aus. Punkt 5 streiche ich durch.

Punkt 6: Der finnische Wintertraum vom Urlaub im Sommerhäuschen. Ohne Frage erfreuen sich Sommerhäuschen in Finnland einer großen Beliebtheit. Ein solches mökki muss an einem Seeufer liegen, fernab von allem und vor allem ohne Nachbarn in Seh- oder Hörweite. Mit Plumpsklo und ohne fließend Wasser. Mit einer holzbeheizten Strandsauna, von der aus man nackt ins kühle Nass springen kann. Böse gesagt: das Neverland aller finnischen Spinner. Dabei wohnen die meisten – vom mitteleuropäischen Blickwinkel aus betrachtet – ohnehin auf dem Land. Weshalb sie sich dann nach einem Urlaub sehnen, der noch »landiger« ist, bleibt mir unklar. Vielleicht bin ich aber auch nur falsch geprägt. Mein ehefräulicher finnischer Familienanschluss kommt ja aus Österbotten. Das sind Felder, Äcker und plattes Land, ab und zu ein paar Scheunen und im Hintergrund eine einsame Kirchturmspitze, die einem den Weg weist, wo der nächste Friedhof ist. Das hat nichts mit dem Bilderbuchfinnland von der Saimaa-Seenplatte oder dem Schärengebiet zu tun. Touristisch ist es dort so interessant wie in Niedersachsen Ende November. Im Besitz meiner Schwiegereltern oder der weiteren Verwandtschaft befindet sich jedenfalls kein Sommerhäuschen an irgendeinem lauschigen Plätzchen in Ufernähe, das wir über die Jahre eifrig hätten mitbenutzen und für das ich eine Begeisterung hätte entwickeln können. Nichts, woran ich mich mit der Zeit gewöhnt hätte oder was wir in den nächsten Jahrzehnten irgendwann erben würden. Ab und zu haben meine Frau und ich mit den Kindern so einen Hüttenurlaub gemacht. Dafür hatten wir irgendein Häuschen gemietet zu einem Preis, zu dem man nach Griechenland hätte fliegen können. Es war immer ganz nett, aber nach einer Woche war mir langweilig. Ein mökki-Typ bin ich jedenfalls nicht.

Andererseits, überlege ich weiter, sind das die meisten Finnen vielleicht auch nicht mehr. Das wirklich primitive Leben auf dem Lande im Einklang mit der Natur für die Dauer der gesamten langen Sommerferien ist wohl nur eine Verklärung von Freitzeitverhalten aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Man kannte nichts anderes, und Flugreisen waren zu teuer. Die meisten Finnen zieht es heute eher an die Costa Brava oder nach Thailand. Und wenn in finnischen Sommerhütten geurlaubt wird, dann gleichen die Behausungen Luxuswohnungen mit rustikalem Anstrich, die jeden Komfort bieten. Ohne Fernseher, Laptop und Internetanschluss traut sich sowieso keine Familie mit Kindern mehr aufs Land, die Waldeinsamkeit früherer Jahre ist eher betreutem Wohnen in gepflegten Feriendörfern gewichen. Der nächste Kiosk, wo man die Käse-blättchen der Regenbogenpresse kaufen kann, ist nie weit entfernt, und die nächste Karaokekneipe auch nicht. Mein Fazit: Man muss kein mökki-Mensch sein, um als waschecht finnisch durchzugehen. Zufrieden wende ich mich dem nächsten Punkt zu.

Punkt 7: Schiffstouren nach Schweden oder Estland. Hier muss ich passen. Solchen Fahrten auf der Fähre zum Eindecken mit Billig-Alk und integriertem Kennenlernprogramm für einsame Herzen kann ich nichts abgewinnen. Sie rangieren in meiner persönlichen Werteskala noch weit unter Butterfahrten auf Mosel und Mittelrhein. Hier besteht also akuter Nachholbedarf. Um voll in Finnland aufzugehen, muss ich solche Touren gut finden. Oder es zumindest noch einmal versuchen. Ich notiere: Ostseefähre, einmal hin und zurück, ohne am Zielhafen überhaupt auszusteigen.

Punkt 8: Suchen in Nachschlagewerken. Finnische Lexika und Telefonbücher sind anders angeordnet als deutsche. Begriffe wie ässävika (Aussprachefehler beim »s«) oder ötökkä (lästiges Krabbeltier) findet man nicht etwa wie in deutschen Nachschlagewerken unter A oder O, denn für die Umlaute Ä und Ö gibt es mit vollem Recht eigene Stichwortregister. Weil man ein offiziell zweisprachiges Land ist, hat auch das schwedische Å seinen angestammten Platz. Das ist moderne Integrationspolitik, die im Wörterbuch beginnt. Im Übrigen habe ich es immer bewundert, dass man im Finnischen unnötige lateinische Buchstaben einfach außen vor gelassen hat: Wozu braucht man ein »x«, wenn man zum Beispiel auch »Meksiko« schreiben kann? Wozu ein W, wenn man es sowieso wie ein V ausspricht? (Eine Wase mit Vasser.) Wer als finnischer Bildungsbürger im Leksikon »Wagner« sucht, muss unter »V« nachschlagen.

Ich bin integriert – oder jedenfalls teilweise verfinnt, freue ich mich, denn ich bin beim Suchen im urdeutschen Duden oder beim Blättern im Brockhaus auch schon durcheinandergeraten. Es steht also gar nicht so schlecht um mich.

Punkt 9: Nordic Walking im Sommer. Was anfangs auch hier als Skilaufen für Demente verspottet wurde, ist längst zum Volkssport geworden. Und den treibe auch ich gerne, vor allem dann, wenn zu wenig Schnee liegt, um Skilanglauf zu machen. Also bin ich auch in diesem Punkt so finnisch wie der Durchschnitt.

Punkt 10: Abstinenz während der Woche, wildes Zechen am Freitagabend. Auch hier muss ich nicht lange überlegen. Wenn ich Finne werden will, habe ich auf diesem Gebiet noch einiges zu tun. Ich kritzel auf meinen Notizzettel: Nächsten Freitag Wodka kaufen!

Eine Weile starre ich auf meinen Zettel, als wäre er eine Agenda. Vielleicht könnte ich ja wirklich ein bisschen finnischer werden.

Futter für Fiona

Draußen herrschen arktische Temperaturen, gefühlte minus zwanzig Grad, absolut ungeeignet für Minigolf oder Federball. Ich ziehe die Kapuze meiner Winterjacke über den Kopf, empfinde aber die Kälte trotz allem als Grund zur Freude. Ein eisiger Winter ist mir lieber als graues Wischmopp-Wetter.

Als Kind habe ich mir immer solche Winter gewünscht, mit Eis und Schnee und Kaminfeuerromantik und am besten noch mit beklemmend gruseligen Wolfsspuren ums Haus, die neben der Kälte für zusätzliche Gänsehaut sorgen. Und natürlich mit reichlich Gelegenheit zum Wintersport. Als kleiner Junge in deutschen Landen wurde jede erbärmlich seltene Gelegenheit zum Schlittenfahren ausgenutzt, so lange, bis nach einem halben Tag schon wieder alles an weißer Pracht geschmolzen war und man mit seinen Schlittenkufen die Grasnarbe der Hänge zu Matsch fuhr. Was gibt es Schöneres als wahre Winter? Was ist herrlicher als weiße Weihnachten? (Seit mehreren Jahren verspüre ich eine gewisse Sehnsucht nach etwas ähnlich Schönem: grüne Ostern! Aber man kann im Leben ja nicht alles haben.)

Aber an Weihnachten will ich gar nicht denken. Das letzte Fest der Holdseligkeit liegt erst wenige Wochen hinter uns, es ist Mitte Januar und sydäntalvi. Da blickt man nach vorne! Sydäntalvi ist ein seltsames Wort, eines von vielen für die verschiedenen Phasen des Winters. Es ist die dunkelste und kälteste Zeit, in der sich auch im Süden Finnlands die Sonne nur für wenige Stunden pro Tag blicken lässt, sozusagen das Herzstück des Winters, denn sydän heißt Herz, und talvi ist der Winter. Daneben gibt es für die Finnen auch noch den syystalvi, wörtlich Herbstwinter. Damit gemeint ist der beginnende Winter mit Schneeregen und nächtlichem Frost, auch bekannt als die Zeit, in der die Apotheken ihre höchsten Umsätze mit Antidepressiva machen. Hoffnungsvoller ist da schon der kevättalvi, der Frühlingswinter. Solch pittoreske Wortbildungen bezeugen den Sinn der Finnen für Poesie. Kevättalvi ist die Zeit, in der die Tage wieder länger werden, die Sonne strahlt und die ersten Vögel zu zwitschern wagen, obwohl ihnen bestenfalls Eiszapfen zum Nestbau zur Verfügung stehen. Eine herrliche Zeit! Am schlimmsten aber ist der takatalvi, der Nachwinter. Ein dahingefluchtes takatalvi liegt den Finnen auf den Lippen, wenn fast alles schon getaut war, die ersten Blümchen sich todesmutig der Sonne entgegenrecken und dann plötzlich arktischer Frost und heftige Schneefälle zurückkehren. Die Rheinländer brauchen sich also gar nichts auf ihren Karneval einzubilden, den sie vollmundig fünfte Jahreszeit nennen. Die Finnen kennen mindestens acht Jahreszeiten, davon vier bis fünf winterliche.

Am Ende meines Arbeitstages marschiere ich auf den Uni-Parkplatz zu unserem Auto, bürste frischen Schnee von der Windschutzscheibe und freue mich, dass Ronkoteus mich nicht im Stich lässt. Ich will gerade den Rückwärtsgang einlegen und aus meiner Parkbucht fahren, da vernehme ich ein leises klägliches Miauen. Meine Tochter hat das Miauen unserer Katze für mich aufgenommen und auf meinem Mobiltelefon als Signalton für eintreffende Textnachrichten installiert. Jedes Mal wenn ich diesen Ton höre, verspüre ich einen leichten Schmerz in meiner Wade. (Das ist die Stelle, in die mich unsere Mieze immer beißt, wenn sie Hunger hat.) Ich krame also mein Handy aus der Innentasche und lese die Kurzmitteilung von meiner Frau: Wann ich denn komme und ob ich noch einkaufen gehen könne. Das sind zwei Fragen in einem Satz, auch wenn die zweite nur so tut, als wäre sie eine, denn es folgt im Anschluss eine längere Einkaufsliste: Milch, Brot, Bananen, Margarine …