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Ebenfalls von Kristin Cashore bei CARLSEN:
Die Beschenkte









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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2011
Originalcopyright © 2009 by Kristin Cashore
Originalverlag: Dial Books, a member of the Penguin Group (USA) Inc.
Originaltitel: Fire
Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor
Umschlagfotografie © plainpicture/STOCK4B
Landkarte: Jeffery C. Mathison
Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92088-8

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Für meine kleine Schwester Catherine,
die (korinthische) Säule meines Herzens

Karte






Dellianische Klage

Als ich nicht hinsah, erlosch dein Feuer
Zurück blieb nur Asche, die ich zertrat
Welch Verlust eines Wunders, das du warst

In meinem lodernden Feuer bewahre ich deine Wut und meine
In meinem lodernden Feuer bewahre ich deinen Schmerz und meinen
Über den schändlichen Verlust eines Lebens

 

Prolog

 

Larch dachte oft, dass er den Tod seiner Frau Mikra niemals verwunden hätte, wenn sein neugeborener Sohn nicht gewesen wäre. Zum einen, weil der Säugling einen atmenden, funktionierenden Vater brauchte, der morgens aufstand und den Tag über arbeitete; zum anderen wegen des Kindes selbst – so ein gutmütiges Baby, so ruhig. Sein Glucksen und Gurren war so melodisch und seine Augen dunkelbraun wie die seiner toten Mutter.

Larch war Jagdaufseher auf einem Anwesen im südöstlichen Königreich Monsea. Wenn er nach einem Tag im Sattel nach Hause zurückkehrte, nahm er der Amme das Baby beinahe eifersüchtig ab. Verdreckt und nach Schweiß und Pferden stinkend barg Larch den Jungen an seiner Brust, setzte sich in den alten Schaukelstuhl seiner Frau und schloss die Augen. Manchmal weinte er, dann malten die Tränen saubere Streifen in sein schmutziges Gesicht, aber immer lautlos, damit er keins der Geräusche überhörte, die das Kind machte. Der Junge betrachtete ihn. Seine Augen beruhigten Larch. Die Amme sagte, es sei ungewöhnlich für ein so kleines Kind, einen dermaßen klaren Blick zu haben. »Das ist kein Grund zur Freude«, warnte sie, »ein Kind mit seltsamen Augen.«

Larch brachte es nicht fertig, sich Sorgen zu machen. Die Amme sorgte sich schon für zwei. Jeden Morgen untersuchte sie die Augen des Babys, wie es die unausgesprochene Angewohnheit aller frischgebackenen Eltern in den sieben Königreichen war, und jeden Morgen atmete sie ein wenig freier, sobald sie festgestellt hatte, dass sie unverändert waren. Denn ein Säugling, der mit gleichfarbigen Augen einschlief und mit verschiedenfarbigen Augen wieder aufwachte, war ein Beschenkter; und in Monsea wurden beschenkte Babys wie in den meisten Königreichen umgehend Eigentum des Königs. Ihre Familien bekamen sie in der Regel nie wieder zu Gesicht.

Auch nachdem der erste Geburtstag von Larchs Sohn verstrichen war, ohne dass sich die braunen Augen des Jungen verändert hätten, hörte die Amme nicht auf zu unken. Sie hatte Erzählungen von Beschenkten gehört, bei denen es länger als ein Jahr gedauert hatte, dass die Augen ihre endgültige Farbe angenommen hatten, und Beschenkter oder nicht, das Kind war auf jeden Fall nicht normal. Erst vor einem Jahr war Immiker aus dem Bauch seiner Mutter gekrochen und er konnte schon seinen Namen sagen. Mit fünfzehn Monaten bildete er einfache Sätze; mit anderthalb Jahren hatte er die Babysprache abgelegt. Zu Beginn ihrer Zeit bei Larch hatte die Amme gehofft, durch ihre Fürsorge einen Ehemann und einen starken, gesunden Sohn zu gewinnen. Jetzt fand sie das Baby, das wie ein kleiner Erwachsener sprach, während es an ihrer Brust trank, und jedes Mal wortgewandt Bescheid gab, wenn seine Windeln gewechselt werden mussten, geradezu unheimlich. Sie kündigte.

Larch war froh über den Weggang der missmutigen Frau. Er baute eine Trage, in der das Kind während der Arbeit vor seiner Brust hing. Er weigerte sich, an kalten oder regnerischen Tagen auszureiten; er weigerte sich, mit dem Pferd zu galoppieren. Er arbeitete weniger und machte häufig Pausen, um Immiker zu füttern, ihn in den Schlaf zu wiegen und zu wickeln. Das Kind plapperte unentwegt, fragte nach den Namen von Pflanzen und Tieren und erfand Nonsensgedichte, die sich Larch gern anhörte, weil sie ihn immer zum Lachen brachten.

»Die Vöglein, sie lieben die Wipfel der Bäume, denn in ihrem Kopf sind das Wunderorte«, sang der Junge geistesabwesend und tätschelte im Rhythmus den Arm seines Vaters. Dann, einen Augenblick später, sagte er: »Vater?«

»Ja, mein Sohn?«

»Du liebst die Dinge, die ich mir erträume, denn in deinem Kopf gelten nur meine Worte.«

Larch war vollkommen glücklich. Er wusste nicht mehr, warum ihn der Tod seiner Frau so betrübt hatte. Er sah jetzt ein, dass es besser so war, mit ihm und seinem Sohn allein auf der Welt. Er begann den Leuten auf dem Anwesen aus dem Weg zu gehen, weil ihre Gesellschaft ihn langweilte und er nicht einsah, warum sie in den Genuss des Umgangs mit seinem Sohn kommen sollten.

Als Immiker drei Jahre alt war, öffnete Larch eines Morgens die Augen und sah, dass sein Sohn wach neben ihm lag und ihn anstarrte. Das rechte Auge des Jungen war grau. Sein linkes Auge war rot. Larch sprang entsetzt und mit gebrochenem Herzen auf. »Sie werden dich mitnehmen«, sagte er zu seinem Sohn. »Sie werden dich mir wegnehmen.«

Immiker blinzelte ruhig. »Das werden sie nicht, weil dir etwas einfallen wird, wodurch du sie daran hindern kannst.«

Dem König einen Beschenkten vorzuenthalten, war Diebstahl, der mit Gefängnis und Geldstrafen geahndet wurde, die Larch niemals würde bezahlen können, und trotzdem wurde er von dem Drang getrieben zu tun, was der Junge sagte. Sie würden ostwärts reiten müssen, in die felsigen Berge an der Grenze, wo kaum jemand lebte, bis sie auf einen Felsbrocken oder ein Gestrüpp stießen, das ihnen als Versteck dienen konnte. Als Jagdaufseher konnte Larch Tiere aufspüren, jagen, Feuer machen und Immiker ein Heim bereiten, das niemand finden würde.

Immiker war bemerkenswert ruhig angesichts ihrer Flucht. Er wusste, was ein Beschenkter war. Larch nahm an, dass die Amme es ihm gesagt hatte; oder vielleicht hatte auch Larch selbst es ihm erklärt und dann wieder vergessen. Larch wurde vergesslich. Er spürte, wie sich Teile seiner Erinnerung vor ihm verschlossen, wie dunkle Räume hinter Türen, die er nicht mehr öffnen konnte. Larch schrieb das seinem Alter zu, da er genau wie seine Frau nicht mehr ganz jung gewesen war, als diese bei der Geburt ihres Sohnes starb.

»Ich habe schon manchmal überlegt, ob deine Gabe etwas mit Sprechen zu tun hat«, sagte Larch, als sie durch die Hügel ostwärts ritten und den Fluss und ihr altes Zuhause hinter sich zurückließen.

»Hat sie nicht«, sagte Immiker.

»Natürlich nicht«, sagte Larch und verstand nicht, wie er überhaupt auf diese Idee hatte kommen können. »Macht nichts, mein Sohn, du bist ja noch jung. Wir werden es schon herausfinden. Hoffen wir, dass es etwas Nützliches ist.«

Immiker antwortete nicht. Larch überprüfte die Gurte, die den Jungen vor ihm im Sattel hielten. Er beugte sich vor, um Immikers Goldschopf zu küssen, und trieb das Pferd an.

Eine Gabe war eine besondere Fähigkeit, die weit über das Können eines normalen Menschen hinausging. Eine Gabe konnte alle möglichen Formen annehmen. Die meisten Könige hatten mindestens einen Beschenkten in ihrer Küche, einen übermenschlich begabten Bäcker oder Kellermeister. Glücklich schätzen konnten sich die Könige mit Soldaten in ihrer Armee, die über die Gabe des Schwertkampfes verfügten. Es gab Beschenkte, die ein unglaublich gutes Gehör hatten, so schnell rennen konnten wie ein Berglöwe, große Summen im Kopf ausrechnen konnten oder sogar spürten, ob Essen vergiftet war. Es gab auch nutzlose Gaben wie die Fähigkeit, den Oberkörper an der Taille einmal rundherum zu drehen oder Steine zu essen, ohne krank zu werden. Und es gab unheimliche Gaben. Manche Beschenkte konnten Ereignisse voraussagen. Manche konnten in den Geist anderer eindringen und Dinge sehen, die sie nichts angingen. Der König von Nander hatte angeblich eine Beschenkte, die durch einen einzigen Blick ins Gesicht eines Menschen sagen konnte, ob derjenige jemals ein Verbrechen begangen hatte.

Die Beschenkten waren Werkzeuge der Könige und weiter nichts. Man hielt sie für widernatürlich und wer ihnen aus dem Weg gehen konnte, tat das, in Monsea genauso wie in den meisten der sechs anderen Königreiche. Niemand war gerne in Gesellschaft eines Beschenkten.

Larch hatte diese Ansicht früher geteilt. Jetzt erkannte er, dass das grausam, ungerecht und dumm war, denn sein Sohn war ein normaler kleiner Junge, der anderen zufällig in vielerlei Hinsicht überlegen war, nicht nur, was seine Gabe anging, als was auch immer die sich entpuppen mochte. Für Larch war das nur ein weiterer Grund, seinen Sohn von der Gesellschaft fernzuhalten. Er würde Immiker nicht an den Hof des Königs schicken, wo man ihn meiden und verspotten würde und für den Zweck benutzen, den der König für richtig hielt.

Sie waren noch nicht lange in den Bergen, als Larch widerwillig einsehen musste, dass man sich dort unmöglich verstecken konnte. Das Problem war nicht die Kälte, obwohl der Herbst hier so rau war wie der Winter auf dem Anwesen des Lords. Es war auch nicht das Gelände, obwohl das Gestrüpp hart und stachelig war, sie jede Nacht auf dem blanken Fels schliefen und es keinen Platz gab, von dem man sich auch nur vorstellen konnte, dass dort Gemüse oder Getreide wachsen würde. Das Problem waren die Raubtiere. Es verging keine Woche, in der Larch nicht irgendeinen Angriff abwehren musste. Berglöwen, Bären, Wölfe. Riesige Vögel, Greifvögel, deren Spannweite doppelt so breit war wie ein Mann groß. Einige der Tiere verteidigten ihr Revier, alle waren bösartig, und sobald der Winter unbarmherzig über Larch und Immiker hereinbrach, waren alle hungrig. Das Pferd verloren sie eines Tages an zwei Berglöwen.

Nachts wärmte Larch den Jungen unter seinem Mantel im Innern des dornigen Unterschlupfs, den er aus Ästen und Gestrüpp gebaut hatte, und lauschte auf das Geheul, die losgetretenen Steine am Abhang, das Gekreisch, das bedeutete, dass ein Tier ihre Witterung aufgenommen hatte. Beim ersten verräterischen Geräusch schnallte er den schlafenden Jungen in der Trage vor seine Brust. Er entzündete eine Fackel, so hell, wie sein Brennstoffvorrat es erlaubte, und stellte sich vor den Unterschlupf, um den Angriff mit Feuer und Schwert abzuwehren. Manchmal stand er stundenlang dort. Larch bekam nicht viel Schlaf.

Er aß auch nicht viel.

»Du wirst noch krank, wenn du weiter so viel isst«, sagte Immiker zu Larch, als sie vor ihrem kärglichen Abendessen aus zähem Wolfsfleisch und Wasser saßen.

Larch hörte augenblicklich auf zu kauen, denn wenn er krank würde, könnte er den Jungen nicht verteidigen. Er reichte ihm den größten Teil seiner Portion. »Danke für die Warnung, mein Sohn.«

Sie aßen eine Weile schweigend weiter und Immiker verschlang Larchs Essen. »Könnten wir nicht höher in die Berge steigen und sie überqueren?«, fragte Immiker.

Larch blickte in die unterschiedlichen Augen des Jungen. »Meinst du, dass wir das tun sollten?«

Immiker zuckte seine schmalen Schultern. »Wäre es möglich, lebendig auf die andere Seite zu gelangen?«

»Was glaubst du?«, fragte Larch, dann schüttelte er über seine Frage den Kopf. Das Kind war erst drei Jahre alt und wusste nichts davon, wie man Gebirge überquerte. Es war ein Zeichen für Larchs Erschöpfung, dass er so oft und so verzweifelt nach der Meinung seines Sohnes fragte.

»Wir würden es nicht überleben«, sagte Larch mit fester Stimme. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, dem es gelungen wäre, über das Gebirge nach Osten zu gelangen, weder hier noch in Estill oder Nander. Ich weiß nichts über das Land jenseits der sieben Königreiche, abgesehen von den haarsträubenden Geschichten, die die Leute im Osten über regenbogenfarbene Ungeheuer und unterirdische Labyrinthe erzählen.«

»Dann musst du mich wieder hinunter in die Hügel bringen, Vater, und mich verstecken. Du musst mich beschützen.«

Larchs Verstand war benebelt, erschöpft, hungrig und wurde von nur einem einzigen Blitz aus Klarheit durchzuckt: seiner Entschlossenheit zu tun, was Immiker sagte.

Es schneite, als Larch vorsichtig einen steilen Hang hinabging. Der Junge war unter seinem Mantel festgeschnallt. Larchs Schwert, sein Bogen und die Pfeile, einige Decken und gebündelte Fleischstücke hingen ihm auf dem Rücken. Als der große braune Greifvogel über einem entfernten Gebirgskamm auftauchte, griff Larch müde nach seinem Bogen. Aber der Vogel stürzte so schnell auf sie zu, dass er schon einen Augenblick später zu nah herangekommen war – es war unmöglich, noch auf ihn zu schießen. Larch stolperte von dem Tier weg, stürzte und merkte, wie er den Hang hinabrutschte. Er verschränkte die Arme vor dem Körper, um das Kind abzuschirmen, dessen Schreie das Gekreisch des Vogels übertönten: »Beschütze mich, Vater! Du musst mich beschützen!«

Plötzlich gab der Hang unter Larchs Rücken nach und sie fielen durch Dunkelheit. Eine Lawine, dachte Larch benommen, in dessen Körper jeder Nerv darauf konzentriert war, das Kind unter seinem Mantel zu behüten. Seine Schulter stieß an etwas Spitzes und Larch spürte reißendes Fleisch und Nässe, Wärme. Eigenartig, so abwärtszustürzen. Der Sturz war berauschend, schwindelerregend, als fiele Larch senkrecht, im freien Fall; und kurz bevor er das Bewusstsein verlor, fragte er sich, ob sie wohl durch den Berg zum Grund der Erde fielen.

Larch schrak hoch und hatte nur einen verzweifelten Gedanken: Immiker. Der Körper des Jungen berührte seinen nicht und die Gurte hingen leer vor seiner Brust. Wimmernd tastete Larch mit den Händen umher. Es war dunkel. Der Untergrund, auf dem er lag, war hart und glatt, wie glitschiges Eis. Er bewegte sich, um seine Reichweite zu vergrößern, und schrie unvermittelt auf, als Schmerz seine Schulter und seinen Kopf durchzuckte. Übelkeit stieg in ihm auf. Er kämpfte dagegen an und blieb still liegen. Dabei weinte er hilflos vor sich hin und stöhnte den Namen des Jungen.

»Vater«, sagte Immikers Stimme ganz nah neben ihm. »Hör auf zu weinen und steh auf.«

Larchs Weinen verwandelte sich in Schluchzer der Erleichterung.

»Steh auf, Vater. Ich habe mich umgesehen. Da vorne ist ein Tunnel und wir müssen weiter.«

»Bist du verletzt?«

»Mir ist kalt und ich habe Hunger. Steh auf.«

Larch versuchte den Kopf zu heben und schrie auf, verlor beinahe das Bewusstsein. »Es hat keinen Zweck. Die Schmerzen sind zu stark.«

»Die Schmerzen sind nicht so stark, dass du nicht aufstehen kannst«, sagte Immiker, und als Larch es erneut versuchte, stellte er fest, dass der Junge Recht hatte. Es tat entsetzlich weh und er übergab sich ein- oder zweimal, aber es war nicht so schlimm, dass er sich nicht auf die Knie und seinen unverletzten Arm stützen und über den eisigen Untergrund hinter seinem Sohn herkriechen konnte.

»Wo …«, keuchte er, dann brach er seine Frage ab. Sprechen war zu anstrengend.

»Wir sind durch eine Felsspalte gestürzt«, sagte Immiker. »Wir sind gerutscht. Da vorne ist ein Tunnel.«

Larch verstand es nicht und die Vorwärtsbewegung kostete ihn so viel Kraft, dass er den Versuch, es zu verstehen, aufgab. Der Weg war rutschig und es ging bergab. Dort, wo sie hinkrochen, war es etwas dunkler als dort, wo sie herkamen. Der kleine Umriss seines Sohnes huschte vor ihm den Hang hinunter.

»Hier ist eine Stufe«, sagte Immiker, aber Larch war so langsam von Begriff, dass er bereits fiel, bevor er verstanden hatte, und kopfüber einen kleinen Felsvorsprung hinunterstürzte. Er landete auf seiner verletzten Schulter und verlor einen Augenblick das Bewusstsein. Von einem kalten Luftstrom und einem modrigen Geruch, der ihm Kopfschmerzen verursachte, wachte er auf. Er lag in einem engen Spalt, eingeklemmt zwischen nah zusammenstehenden Wänden. Er versuchte zu fragen, ob sein Sturz den Jungen verletzt hatte, bekam aber nur ein Stöhnen heraus.

»Wo lang?«, fragte Immikers Stimme.

Larch wusste nicht, was er meinte, und stöhnte erneut.

Immikers Stimme klang müde und ungeduldig. »Ich hab dir doch gesagt, dass das hier ein Tunnel ist. Ich habe mich zu beiden Seiten an der Wand entlanggetastet. Entscheide dich für eine Richtung. Bring mich hier raus.«

In beide Richtungen war es gleich düster, gleich muffig, aber Larch musste sich entscheiden, wenn der Junge das für das Beste hielt. Er bewegte sich vorsichtig. Sein Kopf tat weniger weh, wenn der Luftzug von vorne kam, als wenn er ihm den Rücken zukehrte. Das gab den Ausschlag. Sie würden auf die Quelle des Luftzugs zugehen.

Und so traten Larch und Immiker nach vier Tagen Bluten, Stolpern und Hungern, nach vier Tagen, in denen Immiker Larch immer wieder daran erinnerte, dass es ihm gut genug ging, um in Bewegung zu bleiben, aus dem Tunnel hinaus. Nicht in das Licht des Vorgebirges von Monsea, sondern in das eines fremden Landes auf der anderen Seite des Gebirges. Ein östliches Land, von dem keiner von ihnen mehr gehört hatte als törichte Geschichten, die in Monsea beim Abendessen erzählt wurden – Geschichten von regenbogenfarbenen Ungeheuern und unterirdischen Labyrinthen.

Larch fragte sich manchmal, ob an jenem Tag, als er durch den Berg gefallen war, ein Schlag auf den Kopf sein Gehirn geschädigt hatte. Je mehr Zeit er in diesem neuen Land verbrachte, desto stärker kämpfte er gegen den Nebel an, der über den Rändern seines Verstands schwebte. Die Leute hier sprachen anders und die fremden Wörter und Klänge bereiteten Larch Schwierigkeiten. Er war auf Immiker als Übersetzer angewiesen. Mit der Zeit war er bei immer mehr Dingen auf Immikers Erklärungen angewiesen.

Dieses Land, die Dells, war bergig, stürmisch und rau. In den Dells lebten verwandte Arten der Tiere, die Larch aus Monsea kannte – normale Tiere, deren Aussehen und Verhalten Larch verstand und wiedererkannte. Aber in den Dells lebten auch farbenprächtige, erstaunliche Wesen, die das dellianische Volk Monster nannte. Es war ihre ungewöhnliche Färbung, an der sie als Monster zu erkennen waren, denn in allen anderen körperlichen Einzelheiten glichen sie normalen dellianischen Tieren. Sie hatten die Gestalt dellianischer Pferde, dellianischer Schildkröten, Berglöwen, Greifvögel, Libellen, Bären; aber ihre Farbpalette umfasste Fuchsia, Türkis, Bronze, schillerndes Grün. Ein grau geschecktes Pferd in den Dells war ein Pferd. Ein Pferd, so orange wie der Sonnenuntergang, war ein Monster.

Larch verstand diese Monster nicht. Die Mausmonster, die Fliegen-, Eichhörnchen-, Fisch- und Spatzenmonster waren harmlos; aber die größeren Monster, die menschenfressenden Monster, waren furchtbar gefährlich, viel gefährlicher als ihre tierischen Pendants. Sie hatten es auf Menschenfleisch abgesehen und nach dem Fleisch anderer Monster waren sie geradezu verrückt. Nach Immikers Fleisch schienen sie ebenfalls verrückt zu sein, und sobald Immiker groß genug war, einen Bogen zu spannen, lernte er zu schießen. Larch war sich nicht sicher, wer es ihm beigebracht hatte. Immiker schien immer irgendjemanden bei sich zu haben, einen Mann oder Jungen, der ihn beschützte und ihm bei diesem und jenem half. Nie dieselbe Person. Sie verschwanden immer, sobald Larch ihre Namen gelernt hatte, und ihr Platz wurde von jemand Neuem eingenommen.

Larch wusste noch nicht einmal genau, wo die Leute herkamen. Immiker und er lebten erst in einem kleinen Haus und später in einem größeren und dann in einem noch größeren auf einer felsigen Lichtung am Rand einer Stadt, und einige von Immikers Leuten kamen aus der Stadt. Aber andere schienen aus Spalten in den Bergen und der Erde zu kommen. Diese eigenartigen, bleichen unterirdischen Leute brachten Larch Medikamente. Sie heilten seine Schulter.

Er hatte gehört, dass es ein oder zwei Monster in Menschengestalt mit leuchtend bunten Haaren in den Dells gab, aber er bekam sie nie zu Gesicht. Das war auch besser so, denn Larch konnte sich nie merken, ob die menschlichen Monster gutartig waren oder nicht, und gegen Monster im Allgemeinen war er machtlos. Sie waren zu schön. Ihre Schönheit war so überwältigend, dass Larchs Verstand ganz leer wurde und sein Körper erstarrte, wann immer er einem gegenüberstand, so dass Immiker und seine Freunde ihn verteidigen mussten.

»Das ist ihre Taktik, Vater«, erklärte Immiker ihm immer wieder. »Es ist Teil ihrer Macht als Monster. Sie lähmen dich mit ihrer Schönheit und dann überwältigen sie deinen Verstand und machen dich dumm. Du musst lernen, deinen Verstand vor ihnen zu schützen, so wie ich.«

Immiker hatte zweifellos Recht, aber Larch verstand immer noch nicht. »Was für eine schreckliche Vorstellung«, sagte er. »Ein Wesen, das die Kontrolle über deinen Verstand übernehmen kann.«

Immiker brach in fröhliches Gelächter aus und umarmte seinen Vater. Und Larch verstand immer noch nicht; aber Immikers Zuneigungsbeweise waren selten und sie überwältigten Larch immer mit stummer Freude, die das Unbehagen seiner Verwirrung betäubte.

In seinen seltenen Momenten geistiger Klarheit war Larch sicher, dass er selbst mit Immikers Heranwachsen immer dümmer und vergesslicher geworden war. Immiker erklärte ihm immer wieder die instabile politische Lage dieses Landes, die militärischen Fraktionen, in die es zerfallen war, den Schwarzmarkt, der in den unterirdischen Gängen blühte, die es durchzogen. Zwei dellianische Lords, Lord Mydogg im Norden und Lord Gentian im Süden, versuchten ihre eigenen Reiche in die Landschaft zu meißeln und dem dellianischen König seine Macht zu entreißen. Weit entfernt im Norden gab es eine weitere Nation aus Seen und Berggipfeln mit Namen Pikkia.

Larch konnte das alles in seinem Kopf nicht auseinanderhalten. Er wusste nur, dass es hier keine Beschenkten gab. Niemand würde ihm seinen Sohn mit den verschiedenfarbigen Augen wegnehmen.

Verschiedenfarbige Augen. Immiker war ein Beschenkter. Larch dachte manchmal darüber nach, wenn sein Verstand klar genug zum Denken war. Er fragte sich, wann die Gabe seines Sohnes in Erscheinung treten würde.

In seinen klarsten Momenten, die er nur hatte, wenn Immiker ihn eine Weile allein ließ, fragte sich Larch, ob sie das nicht schon getan hatte.

Immiker hatte Hobbys. Er spielte gern mit kleinen Monstern. Er band sie fest und riss ihnen die Klauen aus oder ihre leuchtend bunten Schuppen oder Büschel ihrer Haare oder Federn. Als der Junge zehn Jahre alt war, überraschte Larch ihn eines Tages, als er einem Kaninchen von der Farbe des Himmels den Bauch aufschlitzte.

Sogar, wie es so blutend, zitternd und mit weit aufgerissenen Augen dalag, fand Larch das Kaninchen schön. Er starrte es an und vergaß, was er von Immiker gewollt hatte. Es war so traurig, zu sehen, wie etwas so Kleinem und Hilflosem, etwas so Schönem zum Spaß Schaden zugefügt wurde. Das Kaninchen begann Geräusche zu machen, ein entsetzliches panisches Quieken, und Larch hörte sich selbst wimmern.

Immiker warf Larch einen Blick zu. »Es tut ihm nicht weh, Vater.«

Augenblicklich fühlte Larch sich besser, jetzt, wo er wusste, dass das Monster keine Schmerzen litt. Aber dann stieß das Kaninchen ein ganz leises, verzweifeltes Jaulen aus, und Larch war verwirrt. Er sah seinen Sohn an. Der Junge hielt dem zitternden Wesen einen Dolch, von dem das Blut tropfte, vor die Augen und lächelte seinen Vater an.

Irgendwo tief unten in Larchs Verstand regte sich ein leiser Verdacht. Larch fiel wieder ein, was er von Immiker gewollt hatte.

»Ich habe eine Idee«, sagte Larch langsam, »was es mit deiner Gabe auf sich haben könnte.«

Immikers Blick begegnete ruhig und vorsichtig Larchs. »So?«

»Du hast gesagt, die Monster übernehmen mit Hilfe ihrer Schönheit die Kontrolle über meinen Verstand.«

Immiker senkte den Dolch und sah seinen Vater mit schräg gelegtem Kopf an. Da war etwas Seltsames im Gesichtsausdruck des Jungen. Fassungslosigkeit, dachte Larch, und ein seltsames amüsiertes Lächeln. Als spielte der Junge ein Spiel, das er zu gewinnen gewohnt war, und diesmal hatte er verloren.

»Manchmal glaube ich, dass du die Kontrolle über meinen Verstand übernimmst«, sagte Larch, »mit Hilfe deiner Worte.«

Immikers Lächeln wurde breiter und dann fing er an zu lachen. Das Gelächter machte Larch so glücklich, dass er ebenfalls zu lachen anfing. Wie sehr er dieses Kind liebte. Die Liebe und das Gelächter perlten aus ihm heraus, und als Immiker auf ihn zukam, breitete er die Arme weit aus. Immiker stieß Larch den Dolch in den Magen. Larch stürzte wie ein Stein zu Boden.

Immiker beugte sich über seinen Vater. »Du warst wunderbar«, sagte er. »Ich werde deine Hingabe vermissen. Wenn man doch jeden so leicht kontrollieren könnte wie dich. Wenn doch nur alle so dumm wären wie du, Vater.«

Es war eigenartig zu sterben. Kalt und schwindelerregend wie der Sturz durch die Berge von Monsea. Aber Larch wusste, dass er nicht durch die Berge von Monsea fiel; im Sterben begriff er zum ersten Mal seit Jahren ganz deutlich, wo er war und was mit ihm geschah. Sein letzter Gedanke war, dass es nicht Dummheit gewesen war, die es seinem Sohn erlaubt hatte, ihn so leicht mit Worten zu verzaubern. Es war Liebe gewesen. Larchs Liebe hatte verhindert, dass er Immikers Gabe erkannte, denn schon vor der Geburt des Jungen, als Immiker nicht mehr war als ein Versprechen in Mikras Körper, war Larch bereits verzaubert gewesen.

Eine Viertelstunde später brannten Larchs Leiche und sein Haus, und Immiker saß auf dem Rücken seines Ponys und bahnte sich einen Weg durch die Höhlen Richtung Norden. Es war befreiend, wieder unterwegs zu sein. Er war seiner Umgebung und seiner Nachbarn in letzter Zeit überdrüssig geworden und er war ruhelos. Bereit für mehr.

Er beschloss diesen neuen Lebensabschnitt durch eine Änderung seines törichten, sentimentalen Namens einzuläuten. Die Leute dieses Landes hatten eine eigenartige Art, Larchs Namen auszusprechen, und Immiker hatte immer gefallen, wie das klang.

Er änderte seinen Namen in Leck.

Ein Jahr verging.

Teil Eins

Monster