Zsolnay eBook
Qiu Xiaolong
Tödliches Wasser
OBERINSPEKTOR CHENS
SECHSTER FALL
Aus dem Amerikanischen
von Susanne Hornfeck
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erscheint 2011 unter dem Titel Don’t Cry, Tai Lake bei St. Martin’s Press in New York.
ISBN 978-3-552-05540-7
© Qiu Xiaolong 2011
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2011
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
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1
DA STAND OBERINSPEKTOR Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium nun also vor dem Eingang des Erholungsheims für Kader in Wuxi.
Der Urlaub in dieser Stadt hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Am vergangenen Sonntagmorgen hatte Chen in Zhenjiang an einem politischen Kompaktseminar für aufstrebende Parteifunktionäre mit »neuen Aufgabenbereichen« teilgenommen, als er plötzlich einen Anruf vom Genossen Parteisekretär Zhao erhielt, dem ehemaligen Leiter der Disziplinarbehörde der Partei. Trotz seiner Pensionierung war Zhao nach wie vor eine der einflussreichsten Figuren in Peking. Zu beschäftigt, um den für ihn arrangierten Erholungsaufenthalt in Wuxi anzutreten, schickte er Chen an seiner statt in die Ferien. Und dieser hätte natürlich nie gewagt, ein so wohlgemeintes Angebot aus der Verbotenen Stadt abzulehnen.
Noch am selben Tag verließ er das Fortbildungszentrum und nahm den Überlandbus nach Wuxi; vom Bahnhof brachte ihn ein Taxi zum Erholungsheim.
Er hatte schon viel von diesem Ort gehört; eine Mischung aus Kurheim und Sanatorium, landschaftlich reizvoll gelegen und bekannt für seine Spezialangebote für höchste Kaderkreise, zu denen Chen allerdings längst noch nicht gehörte. Ihm war klar, dass er das alles nur Zhao zu verdanken hatte.
In Anbetracht des Sonntags und der kurzfristigen Änderung des Arrangements, war Qiao Longxing, der Direktor des Erholungsheims, bei Chens Ankunft nicht zugegen. Die Dame vom Empfang brachte den Oberinspektor zu einer europäisch anmutenden Villa mit hohen Marmorsäulen, die sich hinter einem gusseisernen Zaun mit Goldspitzen und einem funkelnden Stahltor verbarg. Das freistehende Gebäude lag auf einem von Bäumen beschatteten Hügel. Die Empfangsdame behandelte ihn zwar mit ausgesuchter Höflichkeit, ließ ihn aber dennoch spüren, dass die Einquartierung in der Villa seinen Status ausmachte und nicht umgekehrt. Mangels konkreter Anweisungen von Qiao blieb ihr nichts anderes übrig, als Chen mit den üblichen einführenden Hinweisen in dem Luxusquartier unterzubringen.
»Unser Haus liegt im Yuantouzhu, dem Schildkrötenkopfpark, dessen Name auf einen in den See ragenden Felsvorsprung zurückgeht. Er wurde im Jahr 1918 angelegt und umfasst fünfhundert Hektar einschließlich der landschaftlich reizvollen Halbinsel am Nordwestufer des herrlichen Taihu. Umgeben von grünen Hügeln und dem klarem Wasser des Sees ist sie das beste Erholungsgebiet in Wuxi. Das Sanatorium im Süden der Halbinsel wurde Anfang der fünfziger Jahre für hohe Kader errichtet.«
Beim Zuhören wurde Chen bewusst, dass die Kommunisten sich bereits bei der Eroberung des Landes nach geeigneten Orten umgesehen hatten, an denen Parteifunktionäre sich in luxuriöser Umgebung erholen konnten. Und dieses Privileg galt in China bis heute als eine Selbstverständlichkeit.
»Unsere Hausgäste haben freien Zugang zum Park, während die Touristen das Erholungsheim natürlich nur durch das Tor betrachten können. Genießen Sie Ihren Aufenthalt hier«, schloss die Empfangsdame ihre Ausführungen und legte den Schlüssel sowie eine Dauerkarte für den Park auf den Mahagonitisch in der Diele, bevor sie leise die Tür hinter sich zuzog.
Chen trat zum Fenster an der Vorderseite des Hauses, das den Blick auf die geschwungene, von Koniferen eingefasste Auffahrt und den Weg zu einer kleineren, unterhalb gelegenen Villa freigab. Ebenfalls zu sehen war eine Reihe mehrstöckiger Gebäude mit identischen, wie Streichholzschachteln ausgerichteten Balkonen, die den Häusern das Aussehen eines modernen Hotelkomplexes gaben. Von seinem Standort aus konnte Chen das Erholungsheim zwar nicht völlig überblicken, aber diese Unterkunft war zweifellos den höchsten Funktionärsrängen vorbehalten.
Dennoch fühlte Chen sich nicht wohl, so allein in dieser schönen großen Villa, die auf zwei Stockwerken über insgesamt neun Räume verfügte. Während er ein Zimmer nach dem anderen inspizierte, fragte er sich, was er mit so viel Platz anfangen sollte.
Schließlich brachte er seinen kleinen Koffer in das größte Schlafzimmer im Parterre, das eine herrliche Aussicht auf den Taihu bot. Gleich daneben lag das geräumige Wohnzimmer, mit offenem Marmorkamin und einem Schutzgitter aus verziertem Kupfer. Ausgestattet war es mit einer Sitzgruppe aus schwarzem Leder und einem Fernseher mit LCD-Bildschirm. Eine Seite des Raums bestand fast vollständig aus Panoramafenstern mit Seeblick.
Ebenfalls im Parterre befand sich ein Arbeitszimmer mit deckenhohen Bücherregalen, in denen verloren einzelne Bände standen, und einem Schreibtisch, auf dem ein nagelneuer Laptop lag. Auch dieses Zimmer verfügte über große Fenster, doch sie gingen zur Auffahrt und zum Hügel hinaus.
Chen begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen; wann immer er dabei den apricotfarbenen Perserteppich verließ, hallten seine Schritte in dem großen Haus nach.
Nach einer Weile entschloss er sich, in dem riesigen Badezimmer mit Seeblick ein Bad zu nehmen. Von dem Silbertablett auf dem Beistelltischchen in der Wohnzimmerecke nahm er sich eine Flasche Perrier und ein Glas mit.
Während er in der Wanne lag und den perlenden Luftblasen in seinem Mineralwasserglas zusah, fühlte er sich eins werden mit dem See dort draußen. Ab und an drang das Quaken eines Frosches vom Hügel zu ihm herein. Auch vernahm er das angenehme Murmeln einer Kaskade, die er allerdings noch nicht gesehen hatte. Als er hinaussah, identifizierte er als Quelle dieser flüchtigen Melodie einen winzigen Lautsprecher, der in einem Felsen unter seinem Fenster versteckt war. Eine geniale Idee. Aber war eine solche Illusion hier überhaupt nötig?
Wie so oft in letzter Zeit fühlte er sich ausgebrannt. Eine Sonderermittlung nach der anderen hatte ihn über Monate hinweg nicht zur Ruhe kommen lassen. Er war wirklich urlaubsreif. Der Aufenthalt hier würde ihn, zumindest zeitweise, von seiner Verantwortung und seinen Pflichten ablenken. Und im Moment stand in der ihm unterstellten Abteilung für Spezialfälle des Shanghaier Polizeipräsidiums nichts Besonderes an, außerdem war Wuxi nur eine Zugstunde von Shanghai entfernt, im Notfall konnte er rasch zurück sein. In der Zwischenzeit würde sein langjähriger Partner, Hauptwachtmeister Yu Guangming, die Stellung halten.
Es dauerte nicht lange, da überkam den Oberinspektor in seinem Wannenbad ein Gefühl der Einsamkeit, das von dem überdimensionierten, leeren Gebäude um ihn herum noch verstärkt wurde.
Die Luftblasen hatten sich aus dem französischen Mineralwasser verflüchtigt. Er stieg aus der Wanne, zog sich an, steckte ein Taschenbuch ein und ging nach draußen.
Wie die Empfangsdame erklärt hatte, war das Erholungsheim durch einen Hinterausgang mit dem Park verbunden. Dort sah Chen Touristen durch den Zaun auf die Villa deuten und ihre Kameras auf sie richten. Um nicht ebenfalls fotografiert zu werden, ging er rasch weiter und folgte einer schmalen, menschenleeren Straße in Richtung Stadtzentrum.
Vermutlich war er bei seiner Ankunft hier entlanggekommen, doch vom Taxi aus hatte er kaum etwas gesehen. Hinter dem mauergleichen Zaun fiel der ungepflegte, mit Büschen bewachsene Hang zu einer breiteren Straße hin ab, auf der einige Autos vorbeirasten. Dahinter erhob sich eine Hügelkette; Wegweiser versprachen Touristenattraktionen.
Dann mündete die Straße in einen kleinen Platz mit Bushaltestelle. An einem Stand, umgeben von einfachen Tischen und Bänken, konnte man Tee trinken; in einem pavillonartigen Kiosk mit zinnoberroten Säulen wurden Andenken feilgeboten. Eben stieg eine Touristengruppe aus einem grauen Bus. Viele der Ausflügler hielten Pläne mit den lokalen Sehenswürdigkeiten in der Hand. Offensichtlich befand sich der kleine Platz in unmittelbarer Nähe zum Park.
Chen empfand eine angenehme Anonymität, während er selbst mit seinem Touristenplan umherwanderte, den er bei der Ankunft am Busbahnhof erstanden hatte.
Er war jahrelang nicht mehr in Wuxi gewesen, und die Stadt hatte sich seit einem Ausflug in Kindertagen, noch in Begleitung seiner Eltern, stark verändert. Damals hatten sie in der Umgebung zwar eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abgeklappert, doch in der Stadt selbst war er noch nie gewesen.
Bald verlor er trotz der Karte, die offenbar nicht auf dem neuesten Stand war, die Orientierung. Ähnlich wie Shanghai hatte Wuxi sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt. Immer wieder stieß er auf neue Straßennamen, die nicht in seinem Plan verzeichnet waren.
Doch das störte ihn wenig. Falls er nicht zurückfand, konnte er immer noch ein Taxi nehmen. Er ging gern zu Fuß, zumal hier, wo es viel zu sehen gab; die Rolle des Touristen war neu für ihn. Man hatte sie ihm ebenso aufgedrängt wie die Polizeilaufbahn, die er nach dem Universitätsabschluss begonnen hatte.
An einem Eckladen, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, bog er in eine Seitenstraße ab. Wenngleich schäbig und düster, entsprach sie mit ihrem Kopfsteinpflaster und den malerischen Häusern eher seinem Bild von der Stadt.
Am Ende der Gasse entdeckte er einen einfachen Straßenimbiss mit rotlackierter Holztür und weißgetünchten Wänden. In einem der rustikalen Fenster drehte sich ein Windrad aus orangefarbenem Papier. Vor dem Lokal standen grobe Holztische und Bänke, drinnen gab es weitere Sitzplätze.
Vielleicht lag es daran, dass er nicht zu Mittag gegessen hatte, vielleicht an der Atmosphäre des Ortes, jedenfalls verlangsamte er seinen Schritt. Abgesehen von einer weißen Katze mit schwarzem Stirnfleck, die neben der abgetretenen Schwelle döste, war er der einzige Gast.
Neben dem Eingang stand eine Reihe bunter, mit Wasser gefüllter Plastikcontainer, in denen lebende Fische und Reisfeldaale auf ihren Verzehr warteten. Letzteres verwunderte ihn, denn Reisfeldaale wurden normalerweise nicht in Wasser gehalten.
Chen wählte einen Tisch im Freien. In einem Bambusköcher steckten Einwegstäbchen wie in einer Blumenvase. Das Wetter war erstaunlich warm für Mai, und er wischte sich nach seinem Spaziergang die Schweißperlen von der Stirn, froh um die leichte Brise, die in Böen durch die Gasse wehte.
Ein alter Mann kam aus der Küche im rückwärtigen Teil des Hauses geschlurft und brachte ihm eine abgegriffene Speisekarte. Offenbar war er Besitzer, Koch und Kellner in einer Person.
»Was hätten Sie denn gern?«
»Nur ein paar Kleinigkeiten – am besten lokale Spezialitäten«, erwiderte Chen; großen Hunger hatte er nicht. »Und ein Bier.«
»Die ›Drei Weiß‹ sind unsere Spezialität hier«, erklärte der Alte. »Aber für einen allein dürfte der Fisch zu groß sein. Und von den weißen Krabben rate ich ab, die sind heute nicht frisch.«
Chen hatte von seinem Ausflug nach Wuxi nur wenig im Gedächtnis behalten, aber er erinnerte sich noch genau an die Begeisterung seines Vaters für die »Drei Weiß« – weißer Fisch, weiße Krabben, aber was das dritte war, wusste er nicht mehr. Eine weitere lokale Spezialität waren die Suppenklößchen, leicht süßlich, mit viel gehacktem Ingwer, von denen seine Mutter damals ein ganzes Bambuskörbchen mit nach Hause genommen hatte.
»Was immer Sie vorschlagen.«
»Wie wär’s mit Wuxi-Spareribs und Lotoswurzeln mit Klebreisfüllung?«
»Klingt gut.«
»Dazu einheimisches Bier? Ein Taihu vielleicht?«
»Perfekt.« Der See war für sein klares Wasser bekannt, was wiederum gute Brauerzeugnisse versprach.
Schon nach wenigen Minuten kehrte der Alte mit einer Bierflasche und einem Schälchen gesalzener Erdnüsse zurück.
»Der Snack geht aufs Haus. Guten Appetit. Sind Sie als Tourist hier?«
Chen deutete nickend auf seinen Plan.
»Dann wohnen Sie sicher im Kailun?«
Vermutlich ein Hotel in der Nähe, das Chen nicht kannte. »Nein, im Erholungsheim für Kader. Nicht weit von hier.«
»Oh«, bemerkte der alte Mann, bevor er sich wieder in die Küche verzog, »dafür sind Sie aber noch reichlich jung.«
Seine Verwunderung war durchaus verständlich, denn das Erholungsheim stand normalerweise nur verdienten Kadern in entsprechend fortgeschrittenem Alter offen; Chen dagegen war eindeutig unter vierzig.
Der Oberinspektor erwiderte nichts und zog sein Buch aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Doch anstatt es aufzuschlagen, nippte er erst einmal an seinem Bier.
Das Leben konnte absurder sein als jede Literatur. Er hatte einen Abschluss in Englischer Literatur gemacht, war dann jedoch von der staatlichen Arbeitsvermittlung dem Shanghaier Polizeipräsidium zugewiesen worden, wo er, zum eigenen Erstaunen und dem seiner Kollegen, rasch Karriere gemacht hatte. In der Parteischule in Zhenjiang sagte man ihm eine Laufbahn voraus, die weit über den Rang eines Oberinspektors hinausging.
Augenblicklich allerdings genoss er es, ein namenloser Tourist zu sein, der seine Ferien mit einer Flasche Bier und einem Kriminalroman verbrachte. Su Shi, einer seiner Lieblingsdichter aus der Sung-Dynastie, hatte einst beklagt, »keinen Anspruch auf ein Selbst« zu haben, doch das, so fand Chen, musste nicht immer ein Nachteil sein.
Der alte Mann brachte die bestellten Gerichte.
»Danke«, sagte Chen und blickte zu ihm auf. »Wie läuft das Geschäft?«
»Könnte besser sein. Die Leute reden. Aber letztlich ist es überall dasselbe.«
Was redeten die Leute?, fragte sich Chen. Vermutlich ging es um die schlechte Qualität der Speisen. Das war nichts Ungewöhnliches in einem Touristenort, wo die Gäste ein Restaurant selten zweimal aufsuchten.
Doch an den Rippchen war nichts auszusetzen, sie waren perfekt zubereitet, Farbe und Geschmack stimmten, und es gab reichlich Sauce. Auch die gefüllten Lotoswurzeln waren ausgezeichnet, frisch und knackig, aufs Beste kombiniert mit dem süßlichen Klebereis.
Außerdem genoss Chen das für einen Shanghaier seltene Privileg, der einzige Gast zu sein, und schob sich zufrieden eine weitere Scheibe der rosigen Lotoswurzeln in den Mund. Schon bald war er beim zweiten Bier angelangt. Das Buch lag noch immer ungeöffnet vor ihm, während seine Gedanken zu schweifen begannen.
Wo bist du gewesen all die Tage –
wie die wandernde Wolke,
die die Heimkehr vergisst,
das Ende des Frühlings nicht achtend?
Er schüttelte die plötzliche Welle von Selbstmitleid ab und zog sein Handy aus der Tasche. Dann wählte er Hauptwachtmeister Yus Nummer in Shanghai.
»Hallo, Yu, tut mir leid, dass ich nicht noch einmal in Shanghai vorbeigekommen bin, aber Zhenjiang liegt so nahe bei Wuxi.«
»Keine Sorge, Chef. Hier steht nichts Besonderes an, zumindest kein Fall für die Sonderkommission.«
»Und wie sind die Reaktionen im Präsidium?«
»Was kann Parteisekretär Li schon sagen, wo dein Urlaub von höchster Stelle angeordnet wurde?«
Parteisekretär Li sah in Chen eine zunehmende Bedrohung für seine Vormachtstellung im Präsidium. Zwar stand er kurz vor der Pensionierung, doch wenn es nach ihm ginge, würde er sich nicht so bald in den Ruhestand verabschieden.
»Halt mich auf dem Laufenden, Yu. Du kannst mich hier jederzeit anrufen, ich werde nicht allzu beschäftigt sein.«
»Bist du dir da sicher?«
Chen kannte den Grund für die Skepsis seines langjährigen Partners. Er war schon öfter zu überraschenden und unerklärten Urlauben aufgebrochen, über deren Hintergründe er selbst Yu im Ungewissen gelassen hatte. Außerdem hatte er unter Zhao schon einmal in einem politisch höchst sensiblen Fall ermittelt.
»Zhao hat nichts dergleichen angedeutet«, erwiderte Chen. »Erinnerst du dich an den Antikorruptionsfall? Damals hat er mir einen Sonderurlaub versprochen. Und dieses Versprechen hat er jetzt eingelöst.«
»Gut zu hören, Chef. Dann genieß die Ferien. Ich werde dich nur im Notfall stören.« Dann fügte Yu noch hinzu: »Übrigens hast du einen Verehrer in Wuxi. Einen gewissen Huang Kang, ein junger Absolvent der Polizeiakademie. Ich habe ihn vor zwei, drei Monaten bei einer Versammlung getroffen. Er hat mich nach Geschichten über dich gelöchert.«
»So, so.«
»Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihm deinen derzeitigen Aufenthaltsort vorenthielte.«
»Lass mir erst mal ein paar Tage meine Ruhe. Sobald er davon weiß, kommen womöglich noch andere daher – mit oder ohne Fall. Dann ist es vorbei mit der Erholung. Aber du kannst mir ja seine Nummer geben«, fügte er hinzu. »Dann rufe ich ihn bei Gelegenheit an und sage, du hättest darauf bestanden.«
Chen notierte sich die Nummer. Keine Eile. Das konnte er immer noch am Ende seines Urlaubs erledigen.
Dann schlug er das Taschenbuch mit dem vielversprechenden Titel An Unsuitable Job for a Woman auf, das ein Verleger in Guangxi unbedingt von ihm übersetzt haben wollte. Krimis erfreuten sich wachsender Beliebtheit auf dem Buchmarkt, und die Konditionen des Übersetzervertrages waren gar nicht schlecht. Allerdings reichte das Honorar bei weitem nicht an die Beträge heran, die er bei Fachübersetzungen für seine reichen Geschäftsfreunde verdiente.
Er hatte kaum mehr als zwei oder drei Seiten gelesen, als er merkte, dass sich ein weiterer Gast im Lokal einfand.
Er blickte auf und sah eine schlanke junge Frau, die ihn diskret musterte; dabei bog sich ihr Hals wie eine Lotosblüte in kühler Brise.
Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie trug einen schwarzen taillierten Blazer über einer weißen Bluse, Jeans und dazu schwarze Pumps. Über ihrer Schulter hing eine Tasche. Sie ignorierte das Verbot, eigene Speisen und Getränke mitzubringen, und setzte sie sich mit ihrer Wasserflasche an einen der Nachbartische, griff sich die Speisekarte und rief: »Ich bin da, Onkel Wang!«
»Komme gleich!«, antwortete der Alte und streckte den Kopf aus der Küchentür. »Musst du sogar am Wochenende arbeiten, Shanshan?«
»Wollte nur einen neuen Versuch im Labor kontrollieren. Da hat es Komplikationen gegeben. Aber mach dir keine Gedanken, ein paar Stunden am Nachmittag, dann bin ich fertig.«
Die junge Frau war ganz offensichtlich keine Unbekannte hier. Vielleicht war der Alte ein Verwandter, schließlich hatte sie ihn Onkel Wang genannt.
Prompt kam der alte Mann mit einem dampfenden Plastikbehälter angeschlurft, den er wohl in der Mikrowelle für sie aufgewärmt hatte. Seit viele Staatsbetriebe im Zuge der Wirtschaftsreform ihre Kantinen wegen mangelnder Rentabilität schlossen, mussten sich Angestellte mittags häufig anderweitig verpflegen.
Auf einem Bett aus weißem Reis lag ein Omelette mit reichlich Frühlingszwiebeln. Sie holte ihre eigenen Essstäbchen aus der Umhängetasche.
»Die Frühlingszwiebeln sind aus meinem Gärtchen«, sagte Onkel Wang mit zahnlosem Grinsen. »Hab sie heute Morgen erst geerntet. Völlig organisch.«
»Organisch« – diesen Begriff hätte Chen, der still sein Bier trank, hier nicht erwartet.
»Das ist aber lieb von dir, Onkel Wang.«
Der Alte verzog sich wieder in die Küche und überließ seine Gäste sich selbst.
Die Frau begann in aller Ruhe zu essen und würzte den Reis mit einem Löffelchen scharfer Sauce, dann versenkte sie sich in die Lektüre einer zerknitterten Zeitung, die sie aus ihrer Tasche holte. Beim Lesen zogen sich ihre schmalen Brauen verärgert zusammen.
Chen ertappte sich dabei, wie er sie mit Interesse musterte. Sie war attraktiv. Ihr ovales, von langem schwarzem Haar umrahmtes Gesicht strahlte vor jugendlicher Lebhaftigkeit, in den großen, klaren Augen lag ein Ausdruck von Mutwillen. Die Nase war schmal, und wenn sie lächelte, kräuselte sich ihr Mund.
Auf der Umhängetasche – wenn sie denn ihr gehörte – waren die Schriftzeichen »Chemiefabrik Nr. 1 Wuxi« aufgedruckt. Vermutlich ihre Arbeitsstelle.
Gelegentlich gefiel er sich in der Rolle des abgeklärten Ästheten, ganz wie in dem Gedicht von Bian Zhilin: Du betrachtest die Szene, / und der Betrachter der Szene betrachtet dich. Bian zählte zu jenen modernen Dichtern, die er an der Universität gelesen hatte. Im realen Leben war der Lyriker ein eher zögerlicher Mensch gewesen, sich selbst schätzte Chen anders ein. Dennoch fand er nichts Anrüchiges daran, sich als Dichter der abgeklärten Betrachtung hinzugeben, und die Rolle des genauen Beobachters passte ja auch zu seiner Identität als Polizist.
Dann musste er über sich selbst lachen. Ein abgearbeiteter Polizist konnte sich schließlich nicht am ersten Tag seiner Ferien in einen kraftvollen Poeten verwandeln.
Er hatte es nicht eilig, nachdem er seine Rippchen und die Lotoswurzeln verzehrt hatte. Allerdings erschien es ihm unschicklich, am leeren Tisch sitzen zu bleiben.
Er stand auf und ging zu den Reisfeldaalen hinüber, die sich in ihrem Bassin schlängelten. Er hockte sich hin und berührte die glitschigen Fische mit dem Finger. Dabei konnte er nicht umhin, auf die wohlgeformten Fesseln der jungen Frau zu schielen.
»Sind die Aale gut?«, erkundigte er sich laut in Richtung Küche.
»Fragen Sie ihn lieber, warum er sie in Wasser hält«, flüsterte ihm die Frau zu. Sie hatte sich unerwartet zu ihm herübergebeugt, wobei ihr Haar fast sein Gesicht berührte.
Sie schien es gut mit ihm zu meinen. Und so folgte er ihrer Aufforderung.
»Warum halten Sie die Reisfeldaale in Wasser?«
»Nur meinen Kunden zuliebe«, entgegnete Wang, der aus der Küche gekommen war. »Heutzutage werden die Tiere mit Hormonen und allem Möglichen vollgepumpt. Ich halte sie einen Tag lang in Wasser, damit die Rückstände dieser Medikamente ausgespült werden.«
Aber wie sollten die Chemikalien auf diese Weise verschwinden? Augenblicklich verlor Chen den Appetit.
»Dann bringen Sie mir besser eine Portion Stinkenden Tofu«, sagte er. »Mit viel roter Chilisauce.«
Das hielt er für eine sichere Wahl, doch als er aufblickte, sah er, wie sie lächelnd den Kopf schüttelte.
Er wollte sie nicht über die Tische hinweg ansprechen, zumal der Alte immer wieder aus der Küche kam. Diese Frau faszinierte ihn. Sie kannte den Restaurantbesitzer offenbar gut, zögerte aber nicht, seine Gerichte zu kritisieren.
Gleich darauf stellte Onkel Wang eine Platte mit goldbraun frittiertem Tofu in roter Chilisauce vor ihn hin.
»Tofu aus der Gegend«, erklärte er schlicht, dann ging er in die Küche zurück.
»Wollen Sie sich nicht dazugesellen, solange der Tofu noch heiß ist?« Chen wandte sich ihr zu und hob die Stäbchen in einer einladenden Geste.
»Gern«, erwiderte sie und kam, die Wasserflasche in der Hand, an seinen Tisch. »Aber das Angebot mit dem Stinkenden Tofu muss ich leider ablehnen.«
»Ich weiß, dass viele Leute den Geruch nicht mögen«, sagte er, während er auf die Bank ihm gegenüber deutete und ein Paar frische Stäbchen für sie aus dem Köcher zog. »Aber wenn man erst einmal probiert hat, kann man gar nicht mehr aufhören. Ein Bier?«
»Nein, danke. Die Bauern hier beschleunigen die Herstellung des Tofu mit chemischen Zusätzen wie mittlerweile allgemein üblich. Hinzu kommt die schlechte Wasserqualität. Sehen Sie sich doch mal den See an. Total verschmutzt.«
»Unvorstellbar!«
»Glaubt man Nietzsche, so ist Gott längst tot. Und das bedeutet, dass der Mensch zu allem fähig ist.«
»Sie lesen also Nietzsche«, sagte Chen bewundend.
»Und was lesen Sie?«
»Einen Kriminalroman. Übrigens, ich heiße Chen Cao. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Dann ließ er sich, seine Zurückhaltung vergessend, zu einem Kompliment hinreißen. »Doch wie sagt das Sprichwort? Ihnen einen Tag lang zu lauschen ist nützlicher als zehn Jahre Lektüre.«
»Ich spreche nur aus beruflicher Erfahrung. Mein Name ist Shanshan. Woher kommen Sie?«
»Shanghai«, erwiderte er und fragte sich, welchem Beruf sie wohl nachging.
»Dann machen Sie wohl Urlaub hier. Ein hart arbeitender Intellektueller, der in einem kleinen Lokal in Wuxi einen englischen Krimi liest«, resümierte sie scherzhaft. »Ich tippe auf Englischlehrer.«
»Na ja, was kann ich sonst schon«, antwortete er ausweichend; er wollte sich nicht gleich als Polizist zu erkennen geben. Immerhin hatte er während des Studiums mit dem Lehrerberuf geliebäugelt.
Außerdem wollte er, wenigstens eine Zeitlang, einmal nicht Polizist sein. Und auch nicht als solcher behandelt werden. Die Polizeiarbeit hatte, ganz gegen seinen Willen, einen immer größeren Teil seiner Persönlichkeit in Beschlag genommen. Es war verlockend, zumindest zeitweise, in eine andere Identität als die des Oberinspektors zu schlüpfen – er fühlte sich wie eine Schnecke, die ihr Haus nicht mehr tragen muss.
»Schullehrer verdienen nicht schlecht, jetzt, wo private Nachhilfestunden so gefragt sind«, bemerkte sie mit einem Seitenblick auf die vor ihm stehenden Platten.
Er wusste, was sie meinte. Chinesische Eltern boten alle finanziellen Mittel für eine gute Ausbildung ihrer Kinder auf, damit diese für den Konkurrenzkampf in einer Leistungsgesellschaft gerüstet waren. Sein Partner Yu und dessen Frau Peiqin zum Beispiel gaben einen Großteil ihres Einkommens für die Privatstunden ihres Sohnes aus. Ein Lehrer konnte sich ein Vermögen dazuverdienen, indem er abends zehn und mehr Schüler in seinem winzigen Wohnzimmer versammelte.
»Ich nicht. Ich überlege gerade, ob ich für ein zusätzliches Taschengeld dieses Buch hier ins Chinesische übersetzen soll.«
»Diesen Krimi?«, sagte sie und warf einen Blick auf das Cover.
»Gelegentlich schreibe ich auch Gedichte«, beeilte er sich zu ergänzen, »aber dafür gibt es heutzutage keine Leser.«
»Ich mochte Lyrik auch – auf dem Gymnasium«, erklärte sie nachdenklich. »Aber im Zeitalter der Umweltverschmutzung ist Lyrik ein echter Luxus, so wie ein Hauch frische Luft oder ein Tropfen klares Wasser. Aber Gedichte können nichts bewegen, wir reden uns das bloß ein.«
»Nein, ich finde …«
Ihre Unterhaltung wurde durch das schrille Klingeln eines Mobiltelefons in ihrer Umhängetasche unterbrochen.
Während sie das rosarote Handy an ihr Ohr presste, wich im hellen Nachmittagslicht plötzlich die Farbe aus ihrem Gesicht.
»Ist was passiert?«, fragte er.
»Nein, das war eine gemeine Drohung«, sagte sie und warf das Handy zurück in die Tasche.
»Was für eine Drohung?«
»›Wenn du nicht sagst, was man von dir erwartet, wirst du es bereuen.‹«
»Vielleicht einer dieser Scherzbolde«, beschwichtigte er. »Das ist mir auch schon passiert.«
Aber dazu war die Botschaft zu spezifisch.
Auch ihr schien das klar zu sein, und sie zog erneut die Brauen zusammen. Vermutlich war dieser Anruf mehr als nur ein schlechter Scherz, aber das ging ihn nichts an. Sie blickte auf ihre Armbanduhr.
»Ich muss zurück zu meiner Arbeit«, sagte sie. »War nett, Sie getroffen zu haben, Herr Chen. Ich hoffe, Sie werden schöne Ferien hier verbringen.«
»Und Ihnen ein angenehmes Wochenende …«
Während er noch überlegte, ob er sie nach ihrer Telefonnummer fragen sollte, hatte sie sich bereits auf den Weg gemacht, ihr langes Haar schwang hinter ihr her.
Eine Zufallsbekanntschaft; zwei namenlose Wolken, die einander am Himmel begegnen und dann ihre jeweilige Reise fortsetzen.
Er war mit Sicherheit nicht der erste, dem diese Metapher in den Sinn gekommen war, doch konnte er sich nicht erinnern, wo er sie gelesen hatte.
Bevor sie die Straße überquerte, drehte sie sich noch einmal um, winkte und rief ihm, wie zur Entschuldigung für den abrupten Aufbruch, ein »Wiedersehen« zu.
»Noch ein Bier?« Onkel Wang trat wieder aus der Küche und musste feststellen, dass der Tofu kaum angerührt worden war. »Ich kann ihn noch mal kurz anbraten.«
»Nein, danke. Bloß ein Bier«, erwiderte Chen. »Sie kennen sie?«
»Ihre Eltern, um genau zu sein. Nach dem Abschluss wurde ihr hier in Wuxi eine Stelle zugeteilt. Sie ist ganz allein in der Stadt. Deshalb kommt sie mittags her. Ich wärme nur das Essen auf, das sie morgens vorbeibringt.«
»Was macht sie denn?«
»Sie ist Ingenieurin. Irgendwas mit Umwelt. Ein harter Job. Selbst am Wochenende muss sie arbeiten. Warum ist sie so plötzlich verschwunden? Worüber haben Sie gesprochen?«
»Sie bekam einen Anruf. Irgendeine üble Drohung. Daraufhin ist sie gegangen.«
»Ich weiß, dass es Leute gibt, die sie nicht mögen.«
Dann war der Anruf wohl doch eher eine Warnung als ein schlechter Scherz. Aber er kannte diese Frau ja kaum. Was hatte das alles mit ihm zu tun?
Mit dem letzten Bier spülte er auch die Neugierde des Polizeibeamten hinunter. Schließlich war er hier auf Urlaub.
Und der ließ sich gar nicht schlecht an.
2
AM NÄCHSTEN MORGEN weckte Chen ein Klopfen an der Tür, die sich im gleichen Moment öffnete. Verwirrt saß er in seinem Bett und glaubte zu träumen.
»Zimmerservice«, verkündete eine junge Frau und lächelte ihn strahlend an. Sie hatte offene Gesichtszüge, eine gute Figur und trug ein Silbertablett mit Kaffee, Toast, Marmelade und Eiern. Offenbar war sie speziell für den Dienst bei ranghohen Kadern zuständig, zu denen er ja keineswegs gehörte.
Er tastete in der Tasche seiner Hose, die über der Stuhllehne hing, nach Kleingeld, doch so unvermittelt, wie sie gekommen war, hatte sie das Tablett abgestellt und den Raum auf leisen Sohlen schon wieder verlassen.
Der Kaffee war stark und belebend. Chen fühlte sich wie in einem Fünfsternehotel, nur luxuriöser, schließlich hatte er eine ganze Villa für sich allein.
Seine erste Tasse Kaffee trank er im Bett und ließ den Blick dabei über die weite Fläche des Sees gleiten, dessen Wasser im Morgenlicht glitzerte.
Dann läutete das Telefon, ein dezentes Klimpern, das unmittelbar aus der Kaffeetasse aufzusteigen schien.
Es war Genosse Parteisekretär Zhao, der sich aus Peking meldete.
»Sie haben hart genug gearbeitet, Genosse Oberinspektor Chen. Jetzt müssen Sie Ihren Urlaub genießen. Vergessen Sie das Präsidium.«
»Aber dieser Erholungsaufenthalt war doch eigentlich für Sie gedacht.«
»Ich bin im Ruhestand und habe praktisch jeden Tag Urlaub. Deshalb wird er Ihnen viel mehr nützen. Außerdem können Sie dabei Studien über den sozialen Wandel in unserem Land betreiben. Halten Sie nach problematischen Entwicklungen im Zuge unseres rasanten Wirtschaftswachstums Ausschau. Sie müssen sich auf neue, verantwortungsvolle Aufgaben vorbereiten – nicht unbedingt in Ihrer Eigenschaft als Polizist und auch nicht auf Shanghai beschränkt. Schicken Sie mir am Ende Ihrer Ferien einen Bericht.«
Das war ein Fingerzeig, und zwar in die richtige Richtung. In der Partei war es üblich, dass man aufstrebende junge Kader »soziale Studien« betreiben ließ, bevor man sie beförderte.
»Aber ich bin doch völlig fremd hier«, gab Chen zu bedenken. »Die Leute werden mir nicht unbedingt Auskunft geben.«
»So konkret war das nicht gemeint. Nur ein paar Eindrücke und Beobachtungen. Ich werde dafür sorgen, dass man in Wuxi weiß, unter wessen Obhut Sie stehen.«
»Vielen Dank, Genosse Parteisekretär Zhao. Ich werde die Augen offenhalten und Ihnen Bericht erstatten.«
Der Anruf ließ ihn etwas verunsichert zurück. Zhao wollte sicher keine detaillierten Darlegungen aus Sicht des Oberinspektors. Aber wenn er Genaueres über Wuxi erfahren wollte, war es nicht schlecht, eine Art kaiserliches Schwert zur Hand zu haben, das ihm in Wuxi die Türen öffnete.
Und gleichzeitig würde er den Service für hochrangige Kader genießen. Wer schaute einem geschenkten Gaul schon ins Maul!
Solange er keine konkreten Pläne für seine Ferien hatte, konnte er sich ebenso gut um den Ausgleich von Yin und Yang in seinem Körper bemühen, wie Doktor Ma, ein erfahrener Arzt der traditionellen chinesischen Medizin in Shanghai, ihm dringend geraten hatte.
Die Tasse in der Hand, blickte er erneut aufs Wasser hinaus. Er atmete tief durch und bemerkte einen eigentümlichen Geruch, der charakteristisch für den See zu sein schien. Sein Wasser schimmerte grün im Morgenlicht. Die Frühlingswasser kräuseln sich blauer als der Himmel – hieß es in einem Gedicht von Wei Zhuang mit dem Titel »Schönheit des Südens«, womit die Gegend um Wuxi gemeint war.
Doch das Läuten der Türglocke lenkte ihn ab. Er ging öffnen und sah sich einem stämmigen grauhaarigen Mann gegenüber, der ihm lächelnd eine Flasche Champagner hinhielt.
»Ich bin Qiao Longxing, der Direktor des Erholungsheims. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Sie gestern nicht persönlich empfangen konnte, Genosse Oberinspektor Chen«, sagte Qiao mit tiefem Ernst, trat ein und schaltete als erstes die Klimaanlage an. »Ich musste zu einem Treffen nach Hangzhou, daher erfuhr ich von Ihrer Ankunft erst durch den Genossen Parteisekretär Zhao. Und wissen Sie was? Heute Morgen hat er gleich noch einmal angerufen und mir berichtet, welch verdienstvolle Arbeit Sie für die Partei geleistet haben. Er betonte, dass Sie einen ebenso herrlichen Aufenthalt verdient hätten, wie er selbst ihn vor einigen Jahren hier verlebt hat. Ich bin daraufhin sofort zurückgeeilt, aber Sie waren schon eingetroffen. Ich muss mich also in aller Form bei Ihnen entschuldigen.«
»Das ist wirklich nicht nötig, Direktor Qiao«, sagte Chen, der keinen Grund für Qiaos Entschuldigung sah, zumal dessen Rang in der Kaderhierarchie – wie vermutlich der der meisten Gäste hier – höher als sein eigener war.
»Sie haben die beste Unterkunft der ganzen Anlage, die sonst der Führungsspitze aus Peking vorbehalten bleibt. Genau das Arrangement, wie es für den Genossen Parteisekretär Zhao gedacht war.«
»Ich bin überwältigt, Direktor Qiao.«
»Sollten Sie irgendetwas benötigen, dann lassen Sie es mich wissen. Wir werden Ihnen eine persönliche Krankenschwester zuweisen.«
»Nicht doch. Ich bin allenfalls ein wenig überarbeitet. Aber ich möchte Sie um etwas anderes bitten«, erwiderte Chen. »Machen Sie meinen Aufenthalt hier möglichst wenig publik. Die Anwesenheit eines Polizeibeamten könnte manchen Gästen unangenehm sein.«
Er hatte mehrfach Ermittlungen auf höchster Ebene durchgeführt, und hier wimmelte es geradezu von hochrangigen Kadern. Er wusste zwar nicht, was die Einzelnen von ihm dachten, aber ihm war klar, dass er in diesen Kreisen nicht gerade beliebt war.
»Da mögen Sie recht haben, Oberinspektor Chen«, sagte Qiao. »Ich werde Sie also in Gegenwart anderer nicht als Oberinspektor betiteln. Unser verehrter Parteisekretär erwähnte, Sie seien mit vielen wichtigen Fällen betraut. Haben Sie besondere Pläne für Ihren Aufenthalt hier?«
Offenbar hatte Qiao die Vermutung, dass Chen nicht nur auf Urlaubsreise war: ein Polizist unter hohen Kadern, das beflügelte die Phantasie.
»Keineswegs. Es ist ein reiner Erholungsaufenthalt.«
»Umso besser. Ich werde ein Begrüßungsbankett für Sie ausrichten, mit Spezialitäten aus dem See. Ich möchte ein paar leitende Angestellte dazubitten und einige Beamte aus dem Ort.«
»Nein, tun Sie das bitte nicht, Direktor Qiao. Sie sind doch sicher auch sehr beschäftigt.« Solche Schlemmereien auf Staatskosten waren ihm durchaus vertraut, aber der Gedanke, sich zwei bis drei Stunden mit irgendwelchen Amtsträgern am Banketttisch zu langweilen und in offiziellen Phrasen zu ergehen, reizte ihn überhaupt nicht. Also griff er zu einer Notlüge: »Außerdem bin ich heute Mittag schon zum Essen verabredet.«
»Dann eben ein andermal«, erwiderte Qiao und erhob sich. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt in Wuxi. Hier gibt es viel zu sehen.«
Direkt nach Qiaos Besuch verließ Chen die Villa, schließlich hatte er eine Verabredung.
Als er sah, dass der Park von Touristen bevölkert war, änderte er seinen ursprünglichen Plan. Dort würde er besser erst am Abend hingehen. Stattdessen hielt er sich rechts und schlug denselben Weg wie am Vortag ein.
An der Straße entdeckte er verwitterte Wegweiser zu irgendwelchen Sehenswürdigkeiten, aber keine Touristen. In einer Kurve raste eine schwarze Limousine mit Vollgas an ihm vorbei, so dass er sich, an den Hang gepresst, in Sicherheit bringen musste. Vermutlich war diese Straße einzig und allein deshalb gebaut worden, damit die Parteifunktionäre direkt zum Erholungsheim fahren konnten, ohne den Park betreten zu müssen.
In Wuxi überquerte er den kleinen Platz, ging durch ein paar unbekannte Gässchen und fand sich zu seiner Verwunderung plötzlich wieder vor dem Lokal von Onkel Wang.
Dass er sich derart verlaufen hatte, lag jedenfalls nicht an dieser jungen Frau, versicherte er sich nicht ohne Selbstironie. Es war das gute Essen, das ihn anzog, versuchte er diesen Streich seines Unterbewusstseins zu rechtfertigen. Außerdem schätzte er die ruhige, anonyme Atmosphäre. Dort war er ein Niemand, und außer ihm war niemand da.
Was die Verunreinigung der Lebensmittel betraf, vor der ihn die Frau gewarnt hatte, so würde das Problem vermutlich überall das gleiche sein.
Onkel Wang zeigte sich durchaus nicht überrascht, ihn zu sehen.
»Sie sind früh dran, Herr Chen. Was darf’s denn heute sein?«
»Es ist noch nicht Mittagszeit. Bringen Sie mir erst mal eine Kanne grünen Tee.«
»Einen Tee, aber gern. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie bestellen wollen.«
Bald darauf wurde eine Teekanne vor ihn hingestellt, dazu ein Schälchen mit Sonnenblumenkernen und ein halbvoller hellblauer Aschenbecher, vermutlich derselbe, den er gestern benutzt hatte.
Er nippte an seinem Tee und blickte die Straße entlang.
Ein Stück entfernt nahm eine Familie vor ihrer Haustür ein spätes Frühstück ein. Auf einem Plastikstuhl, einem Holzschemel und einem Bambussessel saß sie im Kreis, jedoch ohne Tisch in der Mitte. Die Mutter versuchte schimpfend, den kleinen Jungen zu füttern, dessen ganze Aufmerksamkeit einem bunten Drachen galt, der im Baum hing. Der Vater rauchte unterdessen ungerührt seine Zigarette.
Noch ein Stück weiter hockte ein Straßenhändler neben einem weißen Laken, auf dem er allerlei Souvenirs und Kleinigkeiten feilbot. Sonderbar. In dieser Seitenstraße, fernab vom Touristenstrom, würde er wohl kaum Käufer für seine Waren finden. Dennoch schien der Mann keineswegs um sein Geschäft besorgt zu sein; in dem kurzärmligen weißen Hemd wirkte er fast wie jemand, der zum Vergnügen vor seinem Haus sitzt. Doch der Oberinspektor verbat sich derartige Spekulationen sogleich. Er kannte sich hier nicht aus und wollte keine unbegründeten Schlüsse ziehen.
Was er sah, waren Alltagsszenen mit ganz gewöhnlichen Menschen, sagte er sich, und es entspannte ihn, sie unbeteiligt wahrzunehmen.
Er hatte das Gefühl, etwas schreiben zu können, und zog sein Notizheft heraus. Ihm schwebten ein paar Zeilen über seine Erfahrungen fern des Polizistendaseins vor. In den vergangenen Monaten war er immer weniger zum Schreiben gekommen, und die viele Arbeit hatte ihm die nötige Ausrede dafür geliefert.
Wo sonst leben wir,
als in geliehenen Identitäten,
als in der Phantasie anderer?
Wie unter einer Lupe betrachtet man dich und mich,
posierend vor einem im Wind flüsternden Walnussbaum,
ein Schmetterling, der sich zum schwarzen Auge der Sonne aufschwingt.
Nur im rechten Licht
und am rechten Ort
werden wir als bedeutungsvoll wahrgenommen
wie der Specht,
der seine Daseinsberechtigung
durch den Widerhall hohler Bäume
unter Beweis stellt.
Die Zeilen nahmen eine unvorhergesehene Wendung, wurden zunehmend melancholisch. Er hielt inne, schrieb dann aber weiter. Eine durchaus sinnvolle Betätigung, wie er sich selbst versicherte.
Onkel Wang füllte die Teekanne aus rotbraunem Ton mit heißem Wasser auf.
Es ging auf Mittag zu, und Chen war noch immer der einzige Gast. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu ihr. Den Stift in der Hand erinnerte er sich an ihre Äußerung über die Bedeutung der Lyrik in der heutigen Gesellschaft. Das Nachdenken über Identitäten war tatsächlich ein Luxus, den sich nur müßige Touristen wie er leisten konnten. Andere Menschen hatten alle Hände voll damit zu tun, in dieser Gesellschaft überhaupt zurechtzukommen. Wer beschäftigte sich schon mit solch abgehobenen Ideen? Außerdem war die Frage, ob ihn die Arbeit eines Polizisten befriedigte, rein akademisch. Was sollte er sonst tun?
»Lassen Sie sich Zeit.« Onkel Wang war an seinen Tisch getreten und legte die Speisekarte vor ihn hin. »Es hat keine Eile.«
Nachdem er die Seite mit den lokalen Fischspezialitäten studiert hatte, entschied Chen sich für »fangfrischen Fisch aus dem See«, der in Klammern als Empfehlung des Hauses ausgewiesen war. Man konnte schließlich nicht einen ganzen See mit Hormonen verseuchen, sagte er sich.
»Eine gute Wahl«, bestätigte Onkel Wang. »Heute sind die Exemplare von mittlerer Größe und quicklebendig.«
Es war ein Erlebnis, mit anzusehen, wie der Alte den Fisch vor den Augen seines Gastes im Freien zubereitete. Das Tier war nicht allzu groß, wehrte sich aber heftig; Schuppen blitzten auf, und der Schwanz schlug heftig. Gleich darauf warf Onkel Wang den Fisch in einen Wok mit siedendem Öl.
Von dort wanderte er, noch immer dampfend heiß, auf eine Platte und wurde in einem Bett aus roten Chilis serviert. Seine Haut war goldbraun und knusprig, das Fleisch saftig und zart.
»Heute ist aber nicht viel los, Onkel Wang«, stellte Chen fest, während er zu den Stäbchen griff.
»Die meisten meiner Kunden kommen aus der nahe gelegenen Chemiefabrik, weil das Essen in der Kantine nichts taugt. Aber dort gab es heute Morgen einen Zwischenfall.«
»Sie meinen in dem Betrieb, wo Shanshan arbeitet?«
»Ja, am frühen Morgen sind mehrere Polizeiautos hingefahren. Soviel ich gehört habe, ist jemand ermordet worden. Deshalb glaube ich kaum, dass heute viele von der Belegschaft zum Essen kommen.«
»Oh …« Chen ließ die Stäbchen sinken. Doch dann ermahnte er sich, dass ihn die Sache nichts anging – nicht hier in Wuxi.
Er wollte dem Fisch eben zu Leibe rücken, als Shanshan plötzlich auftauchte und die Straße zum Lokal überquerte.
Onkel Wang begrüßte sie lauthals: »Du bist spät dran heute, Shanshan. Dein Freund wartet schon auf dich.«
Es stimmte zwar, dass Chen schon eine ganze Weile hier saß, aber gewartet hatte er nicht. Dennoch widersprach er dem alten Mann nicht, sondern winkte ihr mit seinem Notizheft zu. Sie musste ihn für einen literaturnärrischen Touristen halten. Warum auch nicht? Unter dem Vorwand einer solchen Identität konnte er wenigstens hemmungslos zitieren und ihr durch Gedichtzeilen zu verstehen geben, was sich direkt nicht aussprechen ließ. Ernsthaft, aber nicht zu ernst.
Sie blieb stehen und nickte ihm zu, bevor sie sich an den Alten wandte.
»Keine Zeit zum Mittagessen heute, Onkel Wang. Ich muss sehen, dass ich die Fähre erwische. Lass meine Proviantdose im Kühlschrank stehen.«
»Aber du musst doch was essen. Ich wärm dir rasch ein paar Dampfbrötchen auf, die kannst du für unterwegs mitnehmen.«
Nachdem Onkel Wang wieder in die Küche geeilt war, warf sie einen Blick in Chens aufgeschlagenes Notizheft. Eine Frage formte sich wie leiser Wellengang in den großen, klaren Augen. Während er noch über diese Metapher nachdachte, wurde ihm klar, dass sie auszusprechen angesichts des verschmutzten Wassers im See höchst unpassend gewesen wäre.
Stattdessen sagte er schlicht: »Ich hatte gehofft, Sie würden zum Mittagessen bleiben.«
»In der Fabrik ist etwas passiert. Schlimme Sache. Ich muss zur Fähre.«
Sie würde sich einem Fremden gegenüber nicht zu dem Mord äußern. Ihre Zurückhaltung war durchaus verständlich.
»Und was halten Sie von meiner heutigen Bestellung?« Durch einen Themenwechsel versuchte er, das Gespräch aufrechtzuerhalten. »Eines der berühmten ›Drei Weiß‹ von Wuxi.«
»Nicht gut.«
»Tatsächlich! Aber der Fisch stammt aus dem Taihu und wird in der Speisenkarte ausdrücklich empfohlen.«
»Sie sind aus Shanghai, Sie können das nicht wissen. Die Fischer hier züchten die Tiere in Einfriedungen, die sie innerhalb des Sees abtrennen. Sie fügen dem Wasser Chemikalien zu, um den Ertrag zu verbessern. Zum Beispiel Antibiotika – Unmengen davon –, damit die Fische nicht krank werden«, erklärte sie. »Aber selbst wenn dieser Fisch tatsächlich frei im See und nicht in einer dieser Zuchten aufgewachsen wäre … Haben Sie sich den See denn nicht angesehen? Sein Wasser ist so verschmutzt, dass es ungenießbar geworden ist. Wie können dort wohlschmeckende Fische gedeihen?«
Er hatte schon von solchen Umweltproblemen gehört, auch in Wuxi. Doch ein Polizist konnte sich immer nur mit einem Fall beschäftigen, mit dem, den er gerade zu lösen versuchte.
»Ist die Wasserqualität denn so schlecht? Erst kürzlich habe ich einen Schlager gehört, der das herrliche Wasser des Taihu pries. Sie kennen ihn bestimmt.«
»Natürlich, der kommt ständig im Fernsehen«, sagte sie, und nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Sie sind als Tourist hier, Sie haben ja keine Ahnung. Haben Sie je von der Ausbreitung der Grünalgen hier im See gehört?«
»Nein. Ich bin seit Jahren nicht mehr in Wuxi gewesen und habe meinen Urlaub erst gestern angetreten. Ich hatte noch keine Gelegenheit, um den See zu wandern.«
»Einmal war die gesamte Wasseroberfläche mit einer faulig stinkenden Schicht überzogen; die Menschen hatten tagelang kein Trinkwasser – aber ich bin glücklicherweise unabhängig.« Sie hob ihre Flasche.
»Hat man versucht, etwas dagegen zu tun?«
»Was sollte das nützen? Die Stadtregierung hat die Sache zur ›Naturkatastrophe‹ erklärt. Wegen der Erwärmung des Wassers sei das Bakterienwachstum explodiert. Aber egal, welche Gründe sie dafür angeben. Wer die Bilder gesehen hat, wie die Fabriken ihren Giftmüll in den See leiten, der glaubt der Regierung sowieso nicht. Selbst die Anwohner standen Schlange, um sich mit abgefülltem Trinkwasser einzudecken. Die Nachbarorte haben sogar ihre Schleusen- und Kanaltore geschlossen, um eine Ausbreitung zu verhindern. Dennoch haben die zuständigen Beamten nichts unternommen, denn Wuxis Aufschwung wurde erst durch die Fabriken rings um den See möglich. Ein kleines Wirtschaftswunder. Und die einzige Messlatte für Erfolg im heutigen China ist Geld. Dafür tun die Leute alles.«
Sie war offenbar nicht nur kritisch, was das Essen betraf, also keine dieser Vegetarierinnen oder Biofreaks. Sie prangerte die Umweltverschmutzung an und analysierte auch deren soziale und gesellschaftspolitische Ursachen.
»Aber ich sollte Ihnen nicht den Appetit verderben«, sagte sie dann mit einem Seitenblick auf den unberührten Fisch.
»Von meinem Fenster aus ist mir der See ganz klar vorgekommen. Wie in dem Tang-Gedicht, wo sich die Frühlingswasser blauer kräuseln als der Himmel.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»Im Erholungsheim für Kader.«
»Das ist nur für ganz hohe Tiere. Aber Sie – sagten Sie nicht, Sie seien Lehrer?«
»Eben. Wie kann ich da ein hoher Kader sein? Jemand hat mir sein Urlaubsarrangement überlassen. Und ich kleines Licht konnte das natürlich nicht ablehnen.«
»Ach so «, erwiderte sie und musterte ihn von oben bis unten. »Umsonst?«
»Umsonst.« Er fragte sich, ob sie ihm das abnahm. Aber es stimmte ja. Zugleich stellte er fest, dass sie es doch nicht eilig zu haben schien – noch nicht.
»Sie sagten, Sie seien auf dem Weg zur Fähre«, sagte er spontan. »Darf ich Sie vielleicht begleiten? Dann könnten Sie mir mehr über den See erzählen.«
Und vielleicht auch etwas über den Mordfall, hoffte er insgeheim.
»Ich bin keine Touristenführerin.«
»Ich will ja auch keine Führung, zumindest keine für Touristen, aber was Sie über den See zu berichten haben, interessiert mich.« Er deutete auf sein Heft, bevor er es zuklappte. »Wie schon gesagt, ich schreibe gelegentlich Gedichte. Das Bild eines hoffnungslos verschmutzten Sees könnte eine aussagekräftige Metapher sein, ähnlich wie in ›The Waste Land‹.«
Sie sah ihn an; widerstreitende Gefühle zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Dann traf sie einen Entschluss.
»Na gut. Aber ich muss Sie warnen, es wird nicht der Teil des Sees sein, den Sie von Ihrem Fenster aus sehen.«
»Umso besser.« Er erhob sich und ließ ein paar Scheine auf dem Tisch liegen. »Gehen wir.«
Sie waren schon ein Stück gegangen, als Onkel Wang ihnen nachlief: »Ihr Fisch, Herr Chen, deine Dampfbrötchen, Shanshan!«
Chen nahm die Tüte mit den Dampfbrötchen entgegen. »Vielen Dank«, sagte er. »Wir gehen zum See. Ich besorge uns unterwegs noch etwas zu essen.«