Carlos Ruiz Zafón

Der Fürst des Nebels

Roman

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Carlos Ruiz Zafón

Carlos Ruiz Zafón begeisterte mit seinen Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹, ›Der Gefangene des Himmels‹ und ›Das Labyrinth der Lichter‹ waren allesamt internationale Bestseller. Auch ›Marina‹, der Roman, den er kurz vor den großen Barcelona-Romanen schuf, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine ersten Erfolge feierte Carlos Ruiz Zafón mit den drei phantastischen Schauerromanen ›Der Fürst des Nebels‹, ›Mitternachtspalast‹ und ›Der dunkle Wächter‹.

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren und starb 2020 in seiner Wahlheimat Los Angeles.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Im Sommer 1943 zieht Max’ Familie in ein altes Haus am Meer, auf der Flucht vor dem tobenden Krieg. In Roland, dem Enkel des Leuchtturmwärters, finden Max und seine Schwester einen faszinierenden neuen Freund. Mit ihm tauchen sie zu dem versunkenen Schiff in der Bucht, dessen Besatzung in einer stürmischen Nacht spurlos verschwand. Und das ist nicht das einzige Rätsel dieses Ortes: Hinter dem Haus befindet sich ein Garten voll seltsamer Skulpturen, und vor Jahren ist ein Junge unter ungeklärten Umständen ertrunken. Weiß der Leuchtturmwärter mehr darüber? Was hat es mit dem finsteren »Fürst des Nebels« auf sich, von dem er erzählt? Als Max endlich dahinterkommt, hat sich bereits eine tödliche Macht erhoben, und ein Menschenleben ist in großer Gefahr …

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel

›El Principe de la Niebla‹ im Verlag Edebé, Barcelona

© 1993 Dragonworks, S.L.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2010 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Coverabbildung: plainpicture/ Yann Grancher

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-400648-2

Für meinen Vater

Kapitel Eins

Nie würde Max jenen Sommer vergessen, in dem er beinahe zufällig die Magie entdeckte. Es war das Jahr 1943, und der Sturm des Krieges riss die Welt unaufhaltsam in den Abgrund. Mitte Juni, an dem Tag, als Max dreizehn wurde, versammelte sein Vater, ein eigenwilliger Uhrmacher und Erfinder von schillernden, oft völlig nutzlosen Dingen, alle Familienmitglieder im Wohnzimmer. Dort teilte er ihnen mit, dass dies der letzte Tag sei, den sie in der Wohnung hoch über den Dächern der Altstadt verbringen würden, die ihr Zuhause gewesen war, solange Max denken konnte. Grabesstille senkte sich über die Familie. Sie sahen einander an und dann den Uhrmacher. Er lächelte, so wie er immer lächelte, wenn er schlechte Neuigkeiten oder eine verrückte Idee hatte.

»Wir ziehen in ein Strandhaus in einem kleinen Dorf an der Küste«, erklärte er. »Wir lassen diese Stadt und den Krieg hinter uns.«

Max schluckte und schüttelte in stillem Protest den Kopf. Die anderen Familienmitglieder folgten seinem Beispiel, aber der Uhrmacher wischte all ihre Bedenken beiseite. Er war auf einer Mission und hatte alles genau ausgearbeitet.

Die Entscheidung stand unumstößlich fest: Am Morgen des folgenden Tages würden sie abreisen. Bis dahin mussten sie ihre liebsten und wertvollsten Dinge packen und sich auf die lange Reise zu ihrem neuen Heim vorbereiten.

Tatsächlich nahm die Familie die Nachricht ohne große Überraschung auf. Eigentlich hatten alle geahnt, dass der gute Maximilian Carver sich schon lange mit dem Gedanken trug, die Stadt zu verlassen und sich einen besseren Ort zum Leben zu suchen. Alle außer Max. Auf ihn hatte die Nachricht den gleichen Effekt wie eine wild gewordene Lokomotive, die durch einen Porzellanladen rast. Wie betäubt starrte er mit offenem Mund vor sich hin. In diesem kurzen Augenblick wurde ihm mit schrecklicher Gewissheit klar, dass seine ganze Welt, seine Freunde aus der Schule, die Jungs aus der Straße und der Eckladen mit den Comics, für immer verschwinden würde. Mit einem Federstrich.

Während die übrigen Familienmitglieder die Versammlung auflösten, um sich mit resignierten Gesichtern ans Packen zu machen, blieb Max reglos sitzen und sah seinen Vater an. Der Uhrmacher beugte sich zu seinem Sohn hinunter und legte ihm die Hände auf die Schultern. In Max’ Blick konnte man lesen wie in einem offenen Buch.

»Jetzt kommt es dir wie das Ende der Welt vor, Max. Aber ich verspreche dir, dort, wo wir hingehen, wird es dir gefallen. Du wirst neue Freunde finden, du wirst sehen.«

»Ist es wegen dem Krieg?«, fragte Max. »Ist das der Grund, warum wir weggehen?«

Ein Schatten der Trauer legte sich über die Augen seines Vaters. All die Tatkraft und Überzeugung, die er in seine Rede gelegt hatte, schienen verschwunden, und Max kam der Gedanke, dass sich sein Vater womöglich am meisten vor dem Umzug fürchtete. Wenn er Vorfreude vorgetäuscht hatte, dann, weil der Umzug das Beste für die Familie war. Sie hatten einfach keine Wahl.

»Es ist schlimm, oder?«, fragte Max.

»Es wird wieder besser werden. Wir werden zurückkehren. Das verspreche ich.«

Maximilian Carver umarmte seinen Sohn, und mit einem geheimnisvollen Lächeln zog er einen Gegenstand aus seiner Jackentasche und legte ihn Max in die Hände. Es war eine glänzende Uhr, die an einer Kette baumelte. Eine Taschenuhr.

»Die habe ich für dich gemacht. Herzlichen Glückwunsch, Max.«

Max ließ die silberne Uhr aufklappen. Die vollen Stunden waren als zu- und abnehmende Monde dargestellt, und die Strahlen einer Sonne, die ihn von der Mitte des Zifferblatts anlächelte, bildeten die Zeiger. In den Deckel war in feingeschwungener Schrift eingraviert: Max’ Zeitmaschine.

Für einen Moment wünschte Max, die neueste Schöpfung seines Vaters könnte tatsächlich die Zeit anhalten. Doch als er aufblickte und durchs Fenster sah, schien es ihm, als würde das Tageslicht schon schwinden und die endlose Stadt mit ihren Turmspitzen, Kuppeln und Schornsteinen, die Netze aus Rauch über den metallischen Himmel webten, hätte bereits zu verblassen begonnen.

Wenn er Jahre später an die Szene zurückdachte, als seine Familie mit den Koffern treppauf und treppab lief und er mit der Taschenuhr seines Vaters in einer Ecke saß, dann wusste er, dass er an diesem Tag für immer aufgehört hatte, ein Kind zu sein.

In der Nacht nach seinem Geburtstag tat Max kein Auge zu. Während die Übrigen schliefen, wartete er darauf, dass dieser unglückselige Morgen anbrach, der den endgültigen Abschied von dem kleinen Universum bedeuten würde, das er sich im Laufe der Jahre geschaffen hatte. Er lag still im Bett, den Blick auf die blauen Schatten gerichtet, die an seiner Zimmerdecke tanzten, als hoffte er, in ihnen ein Orakel zu sehen, das in der Lage wäre, ihm sein weiteres Schicksal vorzuzeichnen. Die lächelnden Monde auf dem Zifferblatt leuchteten in der nächtlichen Dunkelheit. Vielleicht kannten sie die Antwort auf all die Fragen, die Max an diesem Nachmittag zu sammeln begonnen hatte.

Schließlich zeichnete sich das erste Tageslicht am blauen Horizont ab. Max sprang aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Maximilian Carver saß angezogen in einem Lehnsessel und hielt im Schein einer Petroleumlampe ein Buch in den Händen. Max sah, dass er nicht der Einzige war, der die Nacht schlaflos verbracht hatte. Der Uhrmacher lächelte ihn an und klappte das Buch zu.

»Was liest du da?«, fragte Max und deutete auf den dicken Band.

»Es ist ein Buch über Kopernikus. Weißt du, wer Kopernikus war?«, antwortete der Uhrmacher.

»Ich gehe schließlich zur Schule«, entgegnete Max.

Sein Vater hatte die Angewohnheit, einem Fragen zu stellen, als wäre man auf den Kopf gefallen.

»Und was weißt du über ihn?«

»Er hat entdeckt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.«

»So ungefähr. Und weißt du, was das bedeutete?«

»Probleme«, gab Max zur Antwort.

Der Uhrmacher grinste und hielt ihm das dicke Buch hin.

»Nimm. Es gehört dir. Lies es.«

Max betrachtete aufmerksam den geheimnisvollen, in Leder gebundenen Band. Er schien unendlich alt zu sein und den Geist einer uralten Seele zu beherbergen, die durch einen jahrhundertealten Fluch an seine Seiten gefesselt war.

»Also dann«, sagte sein Vater abschließend, »wer weckt deine Schwestern?«

Ohne von dem Buch aufzublicken, bedeutete Max ihm mit einer Kopfbewegung, dass er ihm die Ehre überließ, Alicia und Irina, seine fünfzehn und acht Jahre alten Schwestern, aus ihrem Tiefschlaf zu reißen.

Während sein Vater hinausging, um die Familie zu wecken, setzte sich Max in den Lehnsessel, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Er verlor sich in den Wörtern und Bildern und vergaß für eine Weile, dass seine Familie im Aufbruch begriffen war. Er reiste zwischen Sternen und Planeten umher, bis er aufsah und seine Mutter entdeckte, die mit Tränen in den Augen neben ihm stand.

»Du und deine Schwestern, ihr wurdet in diesem Haus geboren«, murmelte sie.

»Wir werden zurückkehren«, sagte er und wiederholte die Worte seines Vaters. »Du wirst sehen.«

Seine Mutter lächelte ihn an und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Solange du bei mir bist, ist es mir egal, wohin wir gehen«, sagte sie.

Dasselbe hatte er auch gerade gedacht. Eine halbe Stunde später schritten die Carvers zum letzten Mal über die Türschwelle, einem neuen Leben entgegen. Der Sommer hatte begonnen.

 

Max hatte einmal in einem der Bücher seines Vaters gelesen, dass sich manche Bilder aus der Kindheit wie Fotografien ins Album der Erinnerung einprägten, Szenen, zu denen man immer wieder zurückkehrte, ganz gleich, wie viel Zeit verging. Max verstand den Sinn dieser Worte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Sie saßen seit über drei Stunden im Zug, als sich plötzlich bei der Ausfahrt aus einem dunklen Tunnel eine endlose Fläche aus Licht und Helligkeit vor seinen Augen ausbreitete. Das elektrische Blau des Meeres, das unter dem Mittagshimmel glitzerte, brannte sich wie eine übernatürliche Erscheinung in seine Netzhaut. Das aschfarbene Licht, in das die Altstadt stets getränkt war, schien nur noch eine ferne Erinnerung. Max kam es vor, als hätte er die Welt zeitlebens in Schwarzweiß gesehen und mit einem Mal wäre sie zum Leben erwacht, in leuchtenden, kräftigen Farben, die er beinahe berühren konnte. Während der Zug am Meer entlangfuhr, streckte Max den Kopf aus dem Fenster und spürte zum ersten Mal den salzgeschwängerten Wind auf seiner Haut. Er drehte sich zu seinem Vater um, der ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Ecke des Zugabteils betrachtete, während er zu einer Frage nickte, die Max gar nicht gestellt hatte. In diesem Moment wusste er, dass es egal war, wohin diese Reise sie führte und in welchem Bahnhof der Zug hielt; von diesem Tag an würde er nie wieder an einem Ort leben, von dem aus er nicht jeden Morgen beim Aufwachen dieses blendende blaue Licht sehen würde, das wie ein magischer, durchsichtiger Dunst in den Himmel aufstieg. Es war ein Versprechen, das er sich selbst gab.

Während Max dem Zug hinterhersah, der aus dem Bahnhof davonfuhr, ließ Maximilian Carver seine Familie ein paar Minuten mit dem Gepäck vor dem Büro des Stationsvorstehers stehen, um mit einem der örtlichen Fuhrunternehmer einen vernünftigen Preis auszuhandeln, zu dem dieser Gepäckstücke, Personen und sonstigen Krimskrams zum endgültigen Ziel bringen sollte. Nachdem Max den Bahnhof und die ersten Häuser gesehen hatte, deren Dächer vorsichtig über die umstehenden Bäume lugten, hatte er den Eindruck, sich in einem winzigen Spielzeugdorf zu befinden, einer Miniaturlandschaft, wie von einem Modelleisenbahnsammler gebaut. Es war, als könnte man von der Tischplatte fallen, wenn man sich zu weit vorwagte. Dieser Gedanke erschien ihm eine interessante Variation zu Kopernikus’ Theorie über die Erde, als ihn die Stimme seiner Mutter aus seinen kosmischen Träumereien riss.

»Und? Bestanden oder durchgefallen?«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Max. »Es sieht aus wie ein Spielzeugdorf. Wie aus dem Schaufenster einer Spielwarenhandlung.«

»Vielleicht ist es so«, sagte seine Mutter lächelnd, und Max konnte in ihrem Gesicht einen schwachen Abglanz seiner Schwester Irina erkennen.

»Aber sag das nicht deinem Vater«, setzte sie hinzu. »Da kommt er.«

Maximilian Carver kehrte in Begleitung zweier stämmiger Fuhrunternehmer zurück, die mit Fettflecken, Ruß und allerlei anderen unidentifizierbaren Substanzen beschmiert waren. Beide trugen buschige Schnurrbärte und Matrosenmützen, als sei das ihre Berufsuniform.

»Das sind Robin und Philip«, erklärte der Uhrmacher. »Robin nimmt die Koffer mit und Philip die Familie. Einverstanden?«

Max war nicht klar, wer Philip war und wer Robin, und er fragte sich, ob sie selbst es wussten, aber er entschied sich, besser den Mund zu halten. Ohne die Zustimmung der Familie abzuwarten, steuerten die beiden Muskelprotze auf den Gepäckhaufen zu und luden sich ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung gezielt die größten Stücke auf. Max zog seine Uhr hervor und betrachtete das Zifferblatt mit den lächelnden Monden. Die Zeiger zeigten zwei Uhr mittags. Die alte Bahnhofsuhr zeigte halb eins.

»Die Bahnhofsuhr geht falsch«, murmelte Max.

»Siehst du?«, antwortete sein Vater begeistert. »Kaum angekommen, und schon haben wir Arbeit.«

Seine Mutter lächelte nachsichtig, wie sie es angesichts von Maximilian Carvers ungetrübtem Optimismus immer tat, aber Max entdeckte in ihren Augen eine Spur von Traurigkeit und dieses eigenartige Schimmern, das ihm von klein auf das Gefühl gegeben hatte, dass seine Mutter Dinge in der Zukunft sehen konnte, von denen die anderen keine Ahnung hatten.

»Alles wird gut, Mama«, sagte Max, aber gleich nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte er sich wie ein Idiot.

Seine Mutter streichelte ihm über die Wange und lächelte.

»Natürlich, Max. Alles wird gut.«

In diesem Moment hatte Max das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. Er schaute sich rasch um und konnte sehen, wie ihn eine dicke Katze durch das Eisengitter eines Bahnhofsfensters unverwandt anstarrte, als könne sie seine Gedanken lesen. Dann blinzelte sie und sprang mit einem Satz, den man – Katze hin oder her – von einem Tier ihrer Größe nicht erwartet hätte, zu der kleinen Irina und rieb ihren Rücken an den weißen Knöcheln von Max’ Schwester. Das Mädchen kniete sich hin, um das Tier zu streicheln, das leise miaute. Irina nahm es auf den Arm, und die Katze ließ sich sanft wiegen, während sie zärtlich die Finger des Mädchens leckte, das wie verzaubert lächelte. Die Katze auf dem Arm, ging Irina zu ihrer wartenden Familie.

»Wir sind gerade erst angekommen, und schon hast du ein Viech aufgelesen. Wer weiß, was die alles mit sich herumschleppt«, meinte Alicia mit offenkundiger Abscheu.

»Es ist kein Viech. Es ist eine Katze, und sie hat niemanden«, entgegnete Irina. »Mama?«

»Irina, wir sind noch nicht einmal angekommen«, setzte ihre Mutter an.

Das Mädchen machte ein klägliches Gesicht, zu dem die Katze ein sanftes, verführerisches Mauzen beitrug.

»Sie könnte im Garten bleiben. Bitte …«

Alicia rollte die Augen. Max betrachtete seine ältere Schwester. Sie hatte keinen Ton gesagt, seit sie die Stadt verlassen hatten; ihre Miene war undurchdringlich, und ihr Blick verlor sich in der Ferne. Wenn ein Familienmitglied alles andere als beglückt war von der Aussicht auf ein neues Leben, dann war es Alicia. Max war versucht, einen Witz über »Ihre Hoheit, die Eisprinzessin« zu reißen, entschied sich aber dagegen. Irgendetwas sagte ihm, dass seine Schwester weit mehr in der Stadt zurückgelassen hatte, als er auch nur ahnen konnte.

»Es ist ein fette, hässliche Katze«, fügte Alicia hinzu. »Willst du zulassen, dass Irina wieder mal ihren Kopf durchsetzt?«

Irina warf ihrer älteren Schwester einen biestigen Blick zu, der eine Kriegserklärung verhieß, falls diese nicht sofort den Mund hielt. Alicia hielt dem Blick einige Sekunden stand, dann wandte sie sich mit einem wütenden Schnauben ab und ging dorthin, wo die Fuhrunternehmer das Gepäck verluden. Unterwegs traf sie mit ihrem Vater zusammen, dem Alicias zorngerötetes Gesicht nicht entging.

»Schon am Streiten?«, fragte Maximilian Carver. »Was ist los?«

Irina zeigte ihrem Vater die Katze. Das Tier, so viel musste man ihm lassen, schnurrte herzerweichend. Irina, die sich von Autoritäten noch nie hatte einschüchtern lassen, legte ihren Fall mit einer Entschlossenheit dar, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.

»Sie ist allein und hat niemanden. Können wir sie nicht mitnehmen? Sie bleibt im Garten, und ich kümmere mich um sie. Versprochen«, erklärte Irina rasch.

Sprachlos sah der Uhrmacher erst zu der Katze und dann zu seiner Frau.

»Du hast immer behauptet, dass man lernt, Verantwortung zu übernehmen, wenn man sich um ein Tier kümmert«, fügte Irina hinzu.

»Habe ich das wirklich behauptet?«

»Ganz oft sogar. Genau so.«

Ihr Vater seufzte.

»Ich weiß nicht, was deine Mutter dazu sagt …«

»Und was sagst du dazu, Maximilian Carver?«, gab seine Frau mit einem Lächeln zurück, das verriet, dass sie sich über den Zwiespalt amüsierte, in dem ihr Mann steckte.

»Na ja. Man müsste sie zum Tierarzt bringen, und außerdem …«

»Bitte!«, bettelte Irina.

Der Uhrmacher und seine Frau warfen sich einen Blick zu.

»Warum nicht?«, beschloss Maximilian Carver, unfähig, den Sommer mit einem Familienstreit anzufangen. »Aber du kümmerst dich um sie. Versprochen?«

Irinas Gesicht begann zu strahlen, und die Pupillen der Katze verengten sich, bis sie nur noch schwarze Schlitze in ihren golden funkelnden Augen waren.

»Los geht’s! Das Gepäck ist schon verladen«, sagte der Uhrmacher.

Irina nahm die Katze auf die Arme und lief zu den Lieferwagen. Den Kopf an die Schulter des Mädchens geschmiegt, hatte die Katze ihre Augen auf Max gerichtet.

»Sie hat auf uns gewartet«, murmelte er.

»Steh nicht da herum, Max. Komm«, sagte sein Vater, während er die Mutter bei der Hand nahm und sich auf den Weg zu den Wagen machte.

Max trottete hinter ihnen her, doch dann drehte er sich noch einmal um und sah auf das mit der Zeit schwarz gewordene Zifferblatt der Bahnhofsuhr. Er betrachtete es eingehend und stellte fest, dass etwas daran nicht stimmte. Max erinnerte sich genau, dass die Uhr bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof halb eins gezeigt hatte. Jetzt standen die Zeiger auf zehn vor zwölf.

»Max!«, erklang die Stimme seines Vaters, der vom Lieferwagen aus nach ihm rief. »Wir fahren!«

»Ich komme ja schon«, murmelte Max vor sich hin, ohne den Blick von dem Zifferblatt abzuwenden.

Die Uhr war nicht kaputt. Sie funktionierte einwandfrei, mit einer einzigen Besonderheit: Sie ging rückwärts.

Kapitel Zwei

Das neue Haus der Carvers lag am äußersten Ende eines langen Strandes, der sich wie eine Tafel aus leuchtend weißem Sand am Meer entlangzog, in der sich kleine Inseln aus wildem Gras im Wind bogen. Der Strand lag gleich nördlich des Dorfes, das aus verschnörkelten viktorianischen Häusern bestand, eine lange, gewundene Parade spitzer Giebel und farbiger Schiebefenster. Die meisten waren in hübschen Pastelltönen gestrichen, und mit ihren Gärten und den sorgfältig ausgerichteten weißen Zäunen bestärkten sie Max in seinem Eindruck eines Spielzeugstädtchens, den er gleich nach der Ankunft gehabt hatte. Auf ihrem Weg fuhren sie durch den Ort, die Hauptstraße entlang und am Rathausplatz vorbei, während Maximilian Carver mit der Begeisterung eines Touristenführers die Sehenswürdigkeiten des Dorfes erklärte.

Der Ort war still und von demselben strahlenden Licht erfüllt, das Max verzaubert hatte, als er zum ersten Mal das Meer sah. Die meisten Dorfbewohner benutzten für ihre Erledigungen das Fahrrad oder gingen einfach zu Fuß. Die Straßen waren blitzblank, und abgesehen von dem einen oder anderen Motorengeräusch war nur das leise Rauschen der Wellen zu hören, die sich am Strand brachen. Während sie durch das Dorf fuhren, konnte Max beobachten, wie sich auf den Gesichtern der einzelnen Familienmitglieder die Gedanken widerspiegelten, die der Anblick jenes Ortes in ihnen hervorrief, in dem sich von nun an ihr Leben abspielen sollte. Die kleine Irina und ihre Verbündete, die Katze, betrachteten die geordnet vorbeiziehenden Straßen und Häuser mit heiterer Neugier, als fühlten sie sich bereits zu Hause. Alicia war in unergründliche Gedanken versunken und schien Tausende von Kilometern entfernt zu sein, was Max in seinem Gefühl bestärkte, dass er wenig bis gar nichts über seine ältere Schwester wusste. Heranwachsende Mädchen waren ein Rätsel der Evolution, dachte Max. Auch Kopernikus hätte sie nicht begreifen können.

Seine Mutter musterte das Dorf mit resignierter Ergebenheit und lächelte gezwungen, um sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen, die sie aus einem für Max nicht ersichtlichen Grund empfand. Maximilian Carver schließlich sah sich triumphierend in seiner neuen Umgebung um, während er jedem einzelnen Familienmitglied Blicke zuwarf, die pflichtbewusst mit einem zustimmenden Lächeln erwidert wurden – alles andere hätte dem guten Uhrmacher das Herz gebrochen, so überzeugt war er, seine Familie in das neue Paradies geführt zu haben.

Beim Anblick der von Licht und Stille durchfluteten Straßen erschien Max das Gespenst des Krieges weit weg und sogar unwirklich. Vielleicht hatte sein Vater eine geniale Eingebung gehabt, als er beschloss, an diesen Ort zu ziehen. Als die Lieferwagen in den Weg einbogen, der zu ihrem Haus am Strand führte, hatte Max die Bahnhofsuhr und die Unruhe, die Irinas neue Gefährtin ihm zunächst verursacht hatte, bereits aus seinen Gedanken verbannt. Er blickte zum Horizont und glaubte die Umrisse eines schwarzen, schlanken Schiffs zu erkennen, das wie eine Erscheinung durch den Dunst glitt, der über der Oberfläche des Ozeans schwebte. Sekunden später war es verschwunden.

 

Das Haus besaß zwei Stockwerke und lag etwa fünfzig Meter vom Strand entfernt, umgeben von einem bescheidenen Garten mit weißem Zaun, der förmlich nach einem neuen Anstrich schrie. Es war aus Holz und bis auf das dunkle Dach ganz weiß gestrichen. Bedachte man die Nähe des Meeres und dass es täglich dem feuchten, salzhaltigen Wind ausgesetzt war, befand es sich in einem recht passablen Zustand.

Auf der Fahrt hatte Maximilian Carver seiner Familie erzählt, dass das Haus 1924 für den angesehenen städtischen Chirurgen Dr. Richard Fleischmann und seine Frau Eva Gray als Sommerresidenz an der Küste erbaut worden war. Das Haus hatte damals in den Augen der Dorfbewohner als überspannte Extravaganz gegolten. Die Fleischmanns waren ein kinderloses Ehepaar, Einzelgänger und offensichtlich nicht sonderlich auf den Kontakt mit den Leuten im Dorf erpicht. Dennoch, und weil sonst nicht viel im Dorf passierte, brodelte die Gerüchteküche bald, und man kam schnell zu der Übereinkunft, dass das Paar vermutlich versuchte, etwas hinter sich zu lassen. Schlechte Erinnerungen wahrscheinlich, von der Art, die einen überallhin verfolgte. Bei seinem ersten Besuch hatte Doktor Fleischmann ausdrückliche Anweisung gegeben, dass sowohl das Baumaterial als auch die Handwerker direkt aus der Stadt hergebracht werden sollten. Durch diese Marotte hatten sich die Kosten für das Haus bestimmt verdreifacht, aber der vermögende Chirurg konnte sich das erlauben. Stadtmenschen, dachten die Dorfbewohner; sie glauben, dass man mit Geld alles kaufen kann.

Den ganzen Winter des Jahres 1924 hindurch beobachteten die Einheimischen skeptisch und argwöhnisch das Kommen und Gehen unzähliger Bauarbeiter und Lastwagen, während das Gerippe des Hauses am Ende des Strandes Tag für Tag in die Höhe wuchs. Im Frühjahr des darauffolgenden Jahres schließlich verpassten die Maler dem Haus den letzten Anstrich, und Wochen später traf das Ehepaar ein, um den Sommer dort zu verbringen. Welch schlechte Erinnerungen auch immer sie verfolgen mochten, das Haus am Strand wurde bald zu einem Glücksbringer, der das Leben der Fleischmanns verändern sollte. Die Frau des Chirurgen, die vertraulichen Informationen der örtlichen Klatschmäuler zufolge nach einem Unfall vor einigen Jahren keine Kinder mehr bekommen konnte, wurde gleich in diesem ersten Jahr schwanger. Am 23. Juni 1926 brachte Fleischmanns Frau mit der Unterstützung ihres Mannes unter dem Dach des Strandhauses einen Jungen zur Welt, der den Namen Jacob erhalten sollte.

Den Erzählungen nach war Jacob ein Geschenk des Himmels, durch das sich das verbitterte und eigenbrötlerische Wesen der Fleischmanns veränderte. Bald verstanden sich der Arzt und seine Frau bestens mit den Dorfbewohnern und wurden in den glücklichen Jahren, die sie in dem Haus am Strand verbrachten, zu beliebten und geschätzten Persönlichkeiten im Ort, bis es 1932 zur Tragödie kam. An einem frühen Junimorgen jenes Jahres ertrank der kleine Jacob, als er am Strand vor dem Haus spielte.

Alle Freude und alles Licht, das der ersehnte Sohn dem Ehepaar gebracht hatte, erloschen an jenem Morgen für immer. Im Winter 1932 ging es mit Fleischmanns Gesundheit zusehends bergab, und seine Ärzte wussten schon bald, dass er den nächsten Sommer nicht mehr erleben würde. Ein Jahr nach dem Unglück stellten die Anwälte der Witwe das Haus zum Verkauf. Es fand sich jedoch kein Käufer, und so stand das Haus am Ende des Strandes jahrelang leer und geriet langsam in Vergessenheit.

Maximilian Carver hatte durch puren Zufall von seiner Existenz erfahren. Der Uhrmacher war auf dem Heimweg von einer Reise gewesen, um Ersatzteile und Werkzeug für seine Werkstatt einzukaufen, und hatte beschlossen, in dem Dorf zu übernachten. Beim Abendessen in dem kleinen Hotel des Ortes kam Maximilian mit dem Besitzer ins Gespräch und äußerte seinen langgehegten Wunsch, in einem Dorf wie diesem zu leben. Der Hotelbesitzer erzählte ihm von dem Haus, und Maximilian beschloss, die Weiterreise zu verschieben und sich das Haus am nächsten Tag anzusehen. Auf der Rückfahrt jonglierte er mit Zahlen und erwog die Möglichkeit, eine Uhrmacherwerkstatt in dem Dorf zu eröffnen. Er wartete noch acht Monate, bis er seiner Familie die Nachricht mitteilte, aber im Grunde seines Herzens hatte er die Entscheidung längst getroffen.

 

Der erste Tag in dem Haus am Strand blieb Max als eine kuriose Abfolge ungewöhnlicher Bilder in Erinnerung. Zunächst schaffte es Maximilian Carver irgendwie, kaum dass die Lieferwagen vor dem Haus angehalten hatten und Robin und Philip anfingen, das Gepäck auszuladen, über etwas zu stolpern, das wie ein alter Eimer aussah, und nach einer rasanten Stolperpartie auf dem weißen Zaun zu landen, von dem er über vier Meter niederriss.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte seine Frau.

»Alles bestens«, gab er zurück, den Fuß noch im Eimer. »Das ist ein gutes Omen.«

»Ich wusste, dass er das sagen würde«, grummelte Alicia.

Ihre Mutter warf ihr einen warnenden Blick zu.