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J. R. Ward. Vampirherz

Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUNG
GLOSSAR DER BEGRIFFE UND EIGENNAMEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
EPILOG

DANKSAGUNG

Mit unendlicher Dankbarkeit den Lesern der Black Dagger und ein Hoch auf die Cellies – auf welcher Couch sind wir jetzt?

 

Ich danke euch so sehr:
Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh.

 

Dank an Cap’n Bunny alias Pink Beast und PythAngie the Pitbull Mod – im Ernst, Dorine und Angie, ihr kümmert euch so gut um mich.

 

Dank an die Viererbande: Ich knutsch euch zu Tode … knu-tsche euch zu To-de. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen würde.

 

An DLB: Vergiss nicht, dass deine Mami dich lieb hat. Immer. An NTM: Was ich am meisten an du-weißt-schon-wo liebe … bist du. Ich habe so ein Glück, dich zu kennen.

 

Und wie immer heißen Dank an meinen Exekutivausschuss:

Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan.

Und mit dem größten Respekt an die unvergleichliche Suzanne Brockmann.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.

 

 

Besuchen Sie J. R. Ward unter: www.jrward.com

EPILOG

Joyce O’Neal Rafferty war in Eile und total genervt, als sie beim Pflegeheim ankam. Der kleine Sean hatte die ganze Nacht gespuckt, und sie hatte drei Stunden beim Kinderarzt warten müssen, bis er sie dazwischenschieben konnte. Dann hatte Mike eine Nachricht auf dem AB hinterlassen, dass er heute länger arbeiten musste, weswegen er keine Zeit hätte, auf dem Heimweg in den Supermarkt zu gehen.

Verdammt, sie hatten keinen Krümel Essen mehr im Kühlschrank oder in der Vorratskammer.

Mit Sean auf dem Arm raste sie den Korridor entlang, diversen Teewagen und einem Trupp Rollstühle ausweichend. Wenigstens schlief der Kleine jetzt und hatte sich seit mehreren Stunden nicht mehr übergeben. Sich um ein krankes, quengelndes Baby und gleichzeitig noch um ihre verwirrte Mutter zu kümmern, überstieg Joyces Kräfte. Besonders nach einem Tag wie diesem.

Sie klopfte an die Tür und trat sofort ein. Odell saß aufrecht im Bett und blätterte in einem Band Reader’s Digest.

»Hallo, Mama, wie geht es dir?« Joyce ging zu dem Kunstledersessel am Fenster. Als sie sich hinsetzte, quietschte das Polster. Genau wie Sean, als er aufwachte.

»Mir geht es gut.« Odells Lächeln war freundlich. Aber ihre Augen blieben so leer wie dunkle Murmeln.

Joyce blickte schnell auf die Uhr. Zehn Minuten würde sie bleiben, danach wollte sie noch schnell beim Supermarkt vorbeifahren.

»Ich hatte gestern Abend Besuch.«

»Ach ja?« Und sie würde Vorräte für mindestens eine Woche einkaufen. »Wer war es denn?«

»Dein Bruder.«

»Teddy war hier?«

»Butch.«

Joyce erstarrte. Dann folgerte sie, dass ihre Mutter wieder einmal etwas durcheinanderwarf. »Das ist ja schön, Mama.«

»Er kam, als sonst niemand da war. Nach Einbruch der Dunkelheit. Und er hat seine Frau mitgebracht. Sie ist sehr hübsch. Er hat gesagt, sie würden in einer Kirche heiraten. Ich meine, sie sind schon Mann und Frau, aber nach ihrer Religion. Komisch – ich habe nicht rausgekriegt, was sie eigentlich ist. Vielleicht orthodox?«

Odell hatte definitiv Halluzinationen. »Das ist ja toll.«

»Er sieht jetzt aus wie sein Vater.«

»Ach, wirklich? Ich dachte, er wäre der Einzige, der nicht nach Papa schlägt.«

»Sein Vater. Nicht deiner.«

Joyce runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Ihre Mutter bekam einen träumerischen Gesichtsausdruck und blickte aus dem Fenster. »Hab ich dir je von dem Blizzard 1969 erzählt?«

»Mama, bleib doch mal bei Butch …«

»Wir saßen alle im Krankenhaus fest, wir Schwestern und die Ärzte. Niemand konnte rein oder raus. Zwei Tage war ich dort. Mein Gott, dein Vater war so wütend, weil er sich allein um euch Kinder kümmern musste.« Ganz plötzlich wirkte Odell um Jahre jünger und hellwach. »Es gab da einen Chirurg. Er war so … so anders als alle anderen. Er war der Chefarzt, ein sehr wichtiger Mann. Er war … wunderschön und anders und sehr bedeutend. Auch einschüchternd. Seine Augen sehe ich heute noch in meinen Träumen. « Ebenso plötzlich verpuffte die Begeisterung wieder, und ihre Mutter sank in sich zusammen. »Ich war schlecht. Ich war eine schlechte, schlechte Ehefrau.«

»Mama …« Joyce schüttelte den Kopf. »Was redest du denn da?«

Jetzt liefen Odell Tränen über das faltige Gesicht. »Als ich heimkam, ging ich zur Beichte. Ich betete. Ich betete so inständig. Aber Gott hat mich für meine Sünden bestraft. Selbst die Wehen … die Wehen waren furchtbar bei Butch. Ich bin fast gestorben, so stark habe ich geblutet. All meine anderen Geburten verliefen reibungslos. Aber nicht Butchs …

Joyce drückte Sean so fest an sich, dass er protestierend zu zappeln begann. Sie lockerte ihren Griff wieder und versuchte, ihn zu trösten, gleichzeitig flüsterte sie: »Erzähl weiter, Mama … sprich weiter.«

»Janies Tod war meine Strafe dafür, dass ich untreu war und das Kind eines anderen Mannes zur Welt brachte.«

Sean stieß ein Heulen aus. In Janies Kopf schwirrte ein schrecklicher, grässlicher Verdacht herum, dass das …

Ach, Quatsch, was dachte sie sich nur dabei? Ihre Mutter war nicht mehr ganz richtig im Kopf.

Schade nur, dass sie im Moment ganz offenbar bei klarstem Verstand war.

Odell nickte, als antwortete sie auf eine Frage, die ihr jemand gestellt hatte. »O ja, ich liebe Butch. Sogar mehr als meine ganzen anderen Kinder, weil er so etwas Besonderes ist. Das durfte ich aber nie zeigen. Ihr Vater musste schon genug ertragen, nachdem ich das getan hatte. Butch zu bevorzugen wäre eine Beleidigung für Eddie gewesen, und ich konnte nicht … ich würde meinen Ehemann niemals so beschämen. Nicht, wo er doch trotzdem bei mir blieb.«

»Papa wusste davon?« Allmählich setzten sich die Puzzleteile zusammen, und ein hässliches Bild kam zum Vorschein. Mist – es war die Wahrheit. Natürlich wusste Papa Bescheid. Deshalb hat er Butch so gehasst.

Jetzt wurde Odells Miene wehmütig. »Butch sah so glücklich aus mit seiner Frau. Und gütige Mutter Gottes, wie schön sie ist. Die beiden passen so gut zusammen. Sie ist genauso besonders, wie sein Vater es war. Wie Butch es ist. Sie sind alle so etwas Besonderes. Wie schade, dass sie nicht bleiben konnten. Er sagte … er sagte, er wäre gekommen, um sich zu verabschieden.«

Als Odells Augen sich mit Tränen füllten, fasste Joyce nach ihrem Arm. »Mama, wohin ist Butch gegangen?«

Ihre Mutter sah auf die Hand, die sie berührte. Dann zog sie die Augenbrauen zusammen. »Ich möchte einen Cracker. Kann ich einen Cracker haben?«

»Mama, sieh mich an. Wohin ist er gegangen?« Wobei sie nicht ganz sicher war, warum ihr das auf einmal so wichtig erschien.

Ausdruckslose Augen wandten sich ihr zu. »Mit Käse. Ich möchte einen Cracker mit Käse.«

»Mama, wir haben von Butch gesprochen, bitte, konzentrier dich.«

Meine Güte, das Ganze war ein solcher Schock – und dann auch wieder nicht. Butch war schon immer anders gewesen, oder nicht?

»Mama, wo ist Butch?«

»Butch? Danke der Nachfrage. Es geht ihm sehr gut. Er sah so glücklich aus. Ich freue mich, dass er geheiratet hat.« Ihre Mutter blinzelte. »Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie eine Krankenschwester? Ich war früher auch Krankenschwester …«

Einen Moment lang wollte Joyce weiterbohren, sie zu einer Antwort drängen.

Doch als ihre Mutter weiter vor sich hin brabbelte, sah sie nur aus dem Fenster und atmete tief ein. Odells sinnfreies Gerede war plötzlich tröstlich. Ja, die ganze Sache war Unsinn. Nichts als Unsinn.

Lass es gut sein, sagte Joyce sich. Lass es einfach gut sein.

Sean hörte auf zu weinen und schmiegte sich an sie. Joyce liebkoste seinen warmen, kleinen Körper. Inmitten des monotonen Wortschwalls, der vom Bett herüberplätscherte, dachte sie daran, wie sehr sie ihren kleinen Jungen liebte. Und ihn immer lieben würde.

Sie küsste sein weiches Köpfchen. Die Familie war doch trotz allem das Wichtigste im Leben.

Das Allerwichtigste.

1

Marissa materialisierte sich auf der Terrasse vor Rehvenges Penthouse und kollabierte fast. Als sie auf die Schiebetür zutaumelte, riss er sie von innen weit auf.

»Gütige Jungfrau der Schrift. Marissa.« Hastig legte er den Arm um sie und zog sie hinein.

Von Blutlust übermannt umklammerte sie seinen Bizeps. Der Durst in ihr war so stark, dass sie kurz davor stand, ihn hier auf der Stelle und im Stehen zu beißen. Um sich davon abzuhalten, ihm die Kehle aufzureißen, entwand sie sich seinem Griff. Doch er fing sie wieder ein und wirbelte sie herum.

»Komm sofort hierher!« Er schleuderte sie beinahe auf die Couch. »Du wirst noch zusammenklappen.«

Erschöpft sank sie auf den Polstern zusammen, sie wusste, dass er recht hatte. Ihr Körper war völlig aus dem Gleichgewicht, in ihrem Kopf drehte sich alles, Hände und Füße waren taub. Ihr Magen war nur mehr ein hohles, knirschendes Loch, die Fänge pochten, die Kehle war so trocken wie der Winter, so heiß wie der August.

Doch als er hektisch seine Krawatte löste und die Knöpfe an seinem Hemd aufmachte, murmelte sie: »Nicht an deinem Hals. Das ertrage ich nicht … nicht dein …«

»Für das Handgelenk bist du schon zu entkräftet. Du könntest nicht genug heraussaugen, und uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Wie auf dieses Stichwort hin trübte sich ihre Sicht, und ihr schwanden langsam die Sinne. Sie hörte ihn noch fluchen, dann zog er sie auf sich, drückte ihr Gesicht an seinen Hals und …

Die Biologie übernahm das Kommando. Sie biss ihn so heftig, dass sie seinen Körper zucken fühlte, und der pure Instinkt ließ sie saugen. Mit einem donnernden Brüllen strömte seine Kraft in ihre Eingeweide, breitete sich in ihren Gliedmaßen aus und ließ das Leben in ihren Körper zurückkehren.

Während sie verzweifelt schluckte, flossen ihre Tränen so heiß wie sein Blut.

 

Rehvenge hielt Marissa nur locker fest. Er war erschüttert, wie ausgehungert sie war. Dabei war sie so ein zerbrechliches, zartes Wesen.

Sie sollte niemals so leiden müssen. Er strich ihr mit der Hand beruhigend über den schlanken Rücken. Innerlich wurde er immer wütender. Verdammt, was war nur mit dem Kerl los, auf den sie so stand? Wie konnte er sie zwingen, zu einem anderen zu gehen?

Zehn Minuten später hob sie den Kopf. Auf ihrer Unterlippe war ein schmaler Blutstreifen zu sehen, und Rehv musste sich mit der Hand an der Sofalehne festklammern, um ihn nicht abzulecken.

Endlich gesättigt, aber mit tränennassem Gesicht lehnte sich Marissa anmutig gegen die ledernen Polster am anderen Ende der Couch und schlang die schmalen Arme um sich. Sie schloss die Augen, und er beobachtete, wie die Farbe in ihre feuchten Wangen zurückkehrte.

Schon ihr Haar allein. So samtig. So üppig. So vollkommen. Er wollte nackt und ohne Medikamente und hart wie Stein sein, und diese blonde Pracht überall auf seinem Körper ausgebreitet fühlen. Und wenn er all das nicht haben konnte, dann wollte er sie wenigstens küssen. Und zwar sofort.

Doch er streckte nur den Arm nach seinem Anzugsakko aus, holte ein Taschentuch heraus und beugte sich zu ihr herüber. Sie zuckte zusammen, als er ihre Tränen abtupfte und nahm ihm rasch das Stück Leinen aus der Hand.

Sofort rutschte er zurück in seine Sofaecke. »Marissa, zieh doch zu mir. Ich möchte für dich sorgen.«

In der folgenden Stille dachte er an den Ort, an dem sie derzeit untergeschlüpft war – und kam zu dem Schluss, dass der Mann, den sie begehrte, sich auf dem Anwesen der Bruderschaft befinden musste. »Du liebst Wrath noch immer, habe ich recht?«

Ihre Augenlider schnellten nach oben. »Was?«

»Du hast gesagt, du könntest dich nicht bei dem Mann, den du liebst, nähren. Wrath hat jetzt eine Partnerin …«

»Es ist nicht Wrath.«

»Dann Phury? Da er im Zölibat lebt …«

»Nein. Und ich – ich kann jetzt nicht darüber sprechen, tut mir leid.« Sie senkte den Blick auf sein Taschentuch. »Rehvenge, ich hätte jetzt wirklich sehr gern ein wenig Zeit für mich. Darf ich hier ein bisschen sitzen bleiben? Allein?«

Auch wenn er nicht gewöhnt war, fortgeschickt zu werden – schon gar nicht aus seiner eigenen Wohnung –, war er ihr gegenüber zu jeder Form von Nachsicht bereit. »Bleib, so lange du möchtest, Tahlly. Schließ einfach nur die Tür hinter dir, wenn du gehst. Ich aktiviere die Alarmanlage dann per Fernbedienung.«

Er zog die Anzugjacke über, ließ aber die Krawatte gelockert und den Hemdkragen geöffnet, denn die Bisswunden an seinem Hals waren zu empfindlich, um sie zu bedecken. Nicht, dass ihm das auch nur das Geringste ausgemacht hätte.

»Du bist so gut zu mir«, sagte sie, den Blick starr auf seine Schuhe gerichtet.

»Nein, das bin ich nicht.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Niemals bittest du mich um eine Gegenleistung …«

»Marissa, sieh mich an. Sieh mich an.« Gütige Jungfrau im Schleier, sie war so wunderschön. Besonders mit seinem Blut in ihren Adern. »Mach dir doch nichts vor. Ich möchte dich als meine Shellan. Ich möchte dich nackt in meinem Bett haben. Ich möchte deinen Leib mit meinem Kind anschwellen sehen. Ich möchte von dir … das volle Programm. Ich tue das alles nicht, um nett zu dir zu sein, sondern um dir nahezukommen. Ich tue es, weil ich hoffe, dass ich dich irgendwann, irgendwie dahin bringen kann, wo ich dich haben will.«

Als ihre Augen sich weiteten, behielt er den Rest lieber für sich. Es war besser, nicht damit herauszurücken, dass der Symphath in ihm in ihrem Kopf herumwühlen und jede Emotion besitzen wollte, die sie jemals empfunden hatte. Oder ihr anzuvertrauen, dass Sex mit ihm … kompliziert wäre.

Ach ja, die Freuden seiner Veranlagung. Und seiner Anomalie.

»Aber auf eines kannst du dich unbedingt verlassen, Marissa. Ich werde niemals die Grenze überschreiten, wenn du es nicht willst.«

Außerdem hatte Xhex vermutlich recht. Mischlinge wie er blieben besser solo. Selbst wenn Symphathen nicht diskriminiert würden und leben und lieben dürften wie Normale, sollten sie niemals mit jemandem zusammen sein, der gegenüber ihrer dunklen Seite wehrlos war.

Er zog seinen bodenlangen Zobelmantel an. »Dein Mann … sollte besser mal langsam die Kurve kriegen. Verdammt schade um eine so wertvolle Frau wie dich.« Rehv schnappte sich seinen Stock und ging zur Tür. »Wenn du mich brauchst, ruf mich.«

 

Butch marschierte ins ZeroSum, ging nach hinten zum Stammtisch der Bruderschaft und zog seinen Aquascutum-Regenmantel aus. Er hatte vor, ein Weilchen zu bleiben. Was nicht gerade sensationell neu war. Am besten sollte er hier sein Zelte aufschlagen und gleich einziehen.

Als die Kellnerin mit einem Scotch kam, fragte er: »Wäre es unter Umständen möglich, einfach eine Flasche zu bekommen? «

»Das geht leider nicht.«

»Na gut, dann komm mal her.« Er krümmte den Zeigefinger. Als sie sich nach unten beugte, legte er ihr einen Hunderter auf das Tablett. »Das ist für dich. Pass schön auf, dass mein Glas immer voll ist.«

»Geht klar.«

Wieder allein am Tisch betastete Butch die kreisrunden Bisswunden an seinem Hals. Er versuchte, sich nicht vorzustellen, was Marissa jetzt in diesem Augenblick mit einem anderen tat. Einem Aristokraten. Einem Kerl aus gutem Hause, der besser als er selbst war; Platin im Vergleich zu seinem armseligen Eisen. O nein.

Wie ein Mantra wiederholte er im Kopf, was V zu ihm gesagt hatte. Dass das Trinken nicht unbedingt etwas Sexuelles haben musste. Dass es eine biologische Notwendigkeit war. Dass Marissa keine Wahl hatte. Dass es … nicht sexuell sein musste. Er hoffte, wenn er die Litanei nur oft genug im Geiste aufsagte, dann würden seine Empfindungen sich beruhigen, und er könnte die Unausweichlichkeit dieser Sache akzeptieren. Marissa war ja nicht absichtlich grausam zu ihm. Sie war ebenso verstört gewesen wie er selbst.

Lebhaft blitzte ihr nackter Körper vor seinem geistigen Auge auf, und er konnte das Bild eines anderen Mannes, der ihre Brüste streichelte, einfach nicht abschütteln. Eines anderen Mannes, dessen Lippen über ihre Haut wanderten. Der ihr die Unschuld raubte, während er sie nährte; dessen harter Körper sich auf ihr, in ihr bewegte.

Und die gesamte Zeit über trank sie … trank, bis sie genug hatte, bis sie gesättigt war.

Ein anderer sorgte für sie.

Butch kippte seinen doppelten Whiskey in einem Zug hinunter.

O Mann, er würde noch kaputtgehen. Er würde hier und jetzt zusammenbrechen, sein wundes Innerstes würde sich auf den Boden ergießen, seine Organe zusammen mit heruntergefallenen Servietten und Kreditkartenbons unter den Füßen von Fremden zermalmt werden.

Die Kellnerin, die gute Seele, kam mit Nachschub.

Als er das zweite Glas hob, predigte er sich selbst: O’Neal, kneif die Arschbacken zusammen und zeig etwas Selbstachtung. Hab Vertrauen zu ihr. Sie würde niemals mit einem anderen Mann schlafen. Das würde sie einfach nicht tun.

Doch der Sex war ja nur ein Teil davon.

Das wurde ihm bewusst, als er das Glas leerte. Dieser Albtraum hatte noch eine weitere Dimension. Sie würde sich in regelmäßigen Abständen nähren müssen. Sie beide müssten das wieder und wieder und wieder durchstehen.

Mist. Er betrachtete sich selbst gern als einen Mann, der erwachsen genug war, selbstbewusst genug, um mit seinem Leben klarzukommen. Doch er war auch besitzergreifend und selbstsüchtig. Und beim nächsten Mal würde es wieder genau dasselbe sein: sie in den Armen eines anderen Mannes, er allein in einer Kneipe saufend und kurz davor, sich aufzuhängen. Nur wäre es dann noch schlimmer. Und danach noch schlimmer.

Er liebte sie so sehr, so tief, dass er sie beide zerstören würde. Und es würde nicht lange dauern.

Abgesehen davon – was für eine gemeinsame Zukunft konnten sie schon haben? Bei seinem Whiskeykonsum würde seine Leber das Spiel wahrscheinlich nur noch zehn Jahre mitmachen. Marissas Spezies lebte jahrhundertelang. Er wäre lediglich eine Fußnote in ihrem ewigen Leben, ein Schlagloch auf der Straße zu ihrem endgültigen Partner, der zu ihr passte, der ihr geben konnte, was sie brauchte.

Als die Kellnerin mit dem dritten Doppelten kam, hielt Butch seinen Zeigefinger hoch, damit sie neben ihm stehen blieb. Er leerte das Glas in einem Zug und gab es ihr zurück.

Kurz darauf kam sie mit Nummer Vier. Gleichzeitig bemühte sich dieses dürre blonde Jüngelchen mit seinem Trio von stiernackigen Bodyguard-Typen zwei Tische weiter, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Der kleine Scheißer schien jeden verdammten Abend hier zu sein. Oder vielleicht kam Butch das auch nur so vor, weil man den Idioten einfach nicht übersehen konnte.

»Hey!«, rief der Bursche. »Wir wollen was bestellen. Bewegung. «

»Ich komme gleich«, sagte die Kellnerin.

»Sofort«, zischte der Widerling. »Nicht gleich.«

Widerstrebend ging sie an den Tisch, und Butch beobachtete, wie sie übel belästigt wurde. Verfluchte, großmäulige Angeber, die ganze Bande. Und sie würden ihr Verhalten mit Sicherheit im Laufe des Abends nicht bessern.

So wenig wie seine Laune sich bessern würde.

»Du wirkst ein bisschen aggressiv, Butch O’Neal.«

Er kniff die Augen zu. Als er sie wieder aufschlug, stand die Vampirin mit dem Männerhaarschnitt und dem Männerkörper immer noch vor ihm.

»Wirst du uns heute Abend Ärger machen, Butch O’Neal?«

Er wünschte, sie würde aufhören, seinen Namen zu sagen. »Ich kann mich gerade noch beherrschen.«

Ein erotisches Leuchten blitzte in ihren Augen auf. »Oh, das weiß ich. Aber jetzt red mal Tacheles. Machst du heute Abend noch Probleme?«

»Nein.«

Sie sah ihn lange und intensiv an. Dann lächelte sie kaum merklich. »Ich werde dich im Auge behalten. Denk dran.«

2

Joyce O’Neal Rafferty versperrte ihrem Mann mit dem Baby auf der Hüfte und einem bösen Funkeln in den Augen den Weg. Man sah Mike an, dass er von seinen Doppelschichten bei den Verkehrsbetrieben erschöpft war, aber das war ihr vollkommen egal. »Mein Bruder hat heute angerufen. Butch. Du hast ihm von der Taufe erzählt, stimmt’s?«

Ihr Mann küsste den kleinen Sean, versuchte es aber bei seiner Frau erst gar nicht. »Ach, komm schon, Liebling …«

»Das geht dich nichts an!«

Mike schloss die Haustür hinter sich. »Warum hasst ihr ihn alle so?«

»Darüber werde ich nicht mit dir diskutieren.«

Als sie sich abwandte, sagte er: »Er hat deine Schwester nicht umgebracht, Jo. Er war zwölf Jahre alt. Was hätte er tun können?«

Sie setzte sich ihren Sohn auf die andere Hüfte, drehte sich aber nicht um. »Es geht nicht um Janie. Butch hat seiner Familie vor Jahren den Rücken gekehrt. Es war seine eigene Entscheidung, es hatte nichts mit dem zu tun, was passiert ist.«

»Vielleicht habt ja auch ihr alle ihm den Rücken gekehrt.«

Sie blitzte ihn über die Schulter hinweg wütend an. »Warum verteidigst du ihn?«

»Er war mein Freund. Bevor ich dich kennengelernt habe, und wir ein Paar wurden, war er mein Freund.«

»Toller Freund. Wann hast du zum letzten Mal was von ihm gehört?«

»Das spielt keine Rolle. Er war ein guter Freund.«

»Du bist ja so eine sentimentale Seele.« Sie stapfte zur Treppe. »Ich gehe Sean stillen. Dein Essen steht im Kühlschrank. «

Als sie im oberen Stock ankam, warf sie dem Kruzifix an der Wand einen finsteren Blick zu. Dann wandte sie sich ab, ging in Seans Zimmer und setzte sich in den Schaukelstuhl neben seiner Wiege. Sie entblößte eine Brust, legte ihren Sohn daran, und er saugte sich sofort fest. Sein Händchen quetschte die Haut neben seinem Gesicht. Der kleine Körper war warm und mollig und gesund, die Wimpern lagen auf den rosigen Wangen.

Joyce holte ein paar Mal tief Luft.

Mist. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie laut geworden war. Und weil sie das Kreuz des Heilands missachtet hatte. Sie sprach ein Ave Maria und versuchte sich zu entspannen, indem sie Seans perfekte kleine Zehen zählte.

Mein Gott – sollte ihm jemals etwas zustoßen, dann würde sie sterben. Ihr Herz würde buchstäblich nie mehr so schlagen wie vorher. Wie hatte ihre Mutter das ertragen? Wie hatte sie den Verlust eines Kindes überlebt?

Und Odell hatte sogar zwei Kinder verloren, wenn man es genau nahm. Zuerst Janie. Dann Butch. Es war ein Glück, dass die Frau sie nicht mehr alle beisammen hatte. Die Erlösung von ihren Erinnerungen musste ein Segen sein.

Joyce strich über Seans weiches, dunkles Haar. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter sich nie von Janie hatte verabschieden können. Die Leiche war zu zerstört gewesen, um sie für einen offenen Sarg zu präparieren. Eddie O’Neal als ihr Vater hatte sie identifiziert.

Ach, hätte doch nur Butch an jenem furchtbaren Nachmittag die Geistesgegenwart besessen, ins Haus zu laufen und einem Erwachsenen zu erzählen, dass Janie weggefahren war … vielleicht hätte man sie retten können. Eigentlich war es Janie untersagt gewesen, zu Jungs ins Auto zu steigen, und jeder kannte die Regeln. Butch kannte die Regeln. Hätte er nur …

Ach, was sollte das alles? Ihr Mann hatte recht. Die gesamte Familie hasste Butch. Kein Wunder, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte.

Seans Mund zuckte leicht und wurde dann schlaff, sein Händchen ließ ihre Brust los. Doch dann wurde er mit einem Ruck wieder wach und nuckelte weiter.

Apropos aus dem Staub machen … ihre Mutter würde sich auch von Butch nicht verabschieden können. Ihre lichten Momente waren inzwischen extrem kurz und selten. Selbst wenn Butch sich an diesem Sonntag in der Kirche blicken ließ, könnte es gut passieren, dass sie ihn nicht einmal erkannte.

Joyce hörte ihren Mann mit langsamen Schritten die Treppe hinaufkommen.

»Mike?«, rief sie.

Der Mann, den sie liebte und geheiratet hatte, tauchte im Türrahmen auf. Er wurde allmählich rundlich um die Mitte, und die Haare fielen ihm aus, obwohl er erst siebenunddreißig war. Doch als sie ihn jetzt anblickte, sah sie sein jüngeres Selbst durchscheinen: den lässigen Typen aus der Schule. Den Freund ihres älteren Bruders Butch. Den Spitzen-Footballspieler, in den sie jahrelang heimlich verknallt gewesen war.

»Ja?«, fragte er.

»Es tut mir leid, dass ich so sauer geworden bin.«

Er lächelte schwach. »Das alles ist ganz schön hart. Das verstehe ich.«

»Und du hast recht. Wahrscheinlich hätte man Butch wirklich einladen sollen. Ich wollte – ich wollte nur, dass der Tag der Taufe rein ist, verstehst du? Es ist Seans Start ins Leben, und ich möchte nicht, dass ein Schatten darauf fällt. Butch trägt einen Schatten mit sich herum, und alle anderen würden sich in seiner Nähe verkrampfen. Und wo Mutter so krank ist, will ich mich damit nicht befassen.«

»Hat er gesagt, dass er kommt?«

»Nein. Er …« Sie dachte an das Gespräch. Komisch, er hatte geklungen wie immer. Ihr Bruder hatte schon immer eine merkwürdige Stimme gehabt, so heiser und rau. Als wäre entweder seine Kehle deformiert, oder als ob es zu viel gäbe, was er nicht erzählte. »Er sagte, er freue sich für uns. Hat mir für den Anruf gedankt. Sagte, er hoffe, Mom und Dad gehe es gut.«

Ihr Mann betrachtete Sean, der wieder eingeschlummert war. »Butch weiß nicht, dass eure Mutter krank ist, oder?«

»Nein.« Anfangs, als Odell einfach nur vergesslich wurde, hatten Joyce und ihre Schwester beschlossen, es Butch erst zu erzählen, wenn sie Genaueres wüssten. Doch das war inzwischen zwei Jahre her. Und sie wussten längst genau, was los war. Alzheimer.

Niemand konnte sagen, wie lange ihre Mutter noch da wäre. Die Krankheit schritt unerbittlich fort.

»Ich bin eine Diebin, weil ich es Butch nicht erzähle«, sagte sie leise. »Stimmt’s?«

»Ich liebe dich«, murmelte Mike.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie vom Gesicht ihres Söhnchens hoch in das seines Vaters blickte. Michael Rafferty war ein guter Mann. Ein verlässlicher Mann. Er würde nie so gut aussehen wie Hugh Jackman oder so reich sein wie Bill Gates oder so mächtig wie der Präsident. Aber er gehörte ihr, und er gehörte Sean, und das war mehr als genug. Besonders an Abenden wie diesem, während Gesprächen wie diesem.

»Ich liebe dich auch«, sagte sie.

 

Vishous materialisierte sich hinter dem ZeroSum und lief dann durch die Seitengasse zum Vordereingang des Clubs. Als er den Escalade auf der Tenth Street parken sah, atmete er erleichtert auf. Phury hatte gesagt, Butch habe wie ein geölter Blitz das Anwesen der Bruderschaft verlassen, und er habe nicht gerade fröhlich ausgesehen.

Jetzt betrat V den Club und marschierte schnurstracks zum VIP-Bereich. Aber so weit kam er gar nicht.

Die Sicherheitschefin baute sich vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. Als er sie rasch von oben bis unten musterte, überlegte er kurz, wie es wohl wäre, sie zu fesseln. Wahrscheinlich würde sie ihre Krallen einsetzen. Aber das wäre doch ein angenehmer Zeitvertreib für ein oder zwei Stündchen.

»Dein Freund muss gehen«, sagte sie.

»Sitzt er an unserem Tisch?«

»Ja, und du solltest ihn besser hier rausschaffen. Sofort.«

»Was hat er angestellt?«

»Noch nichts.« Beide machten sich auf den Weg nach hinten. »Aber ich möchte, dass es gar nicht erst so weit kommt, und viel fehlt dazu nicht mehr.«

Während sie sich durch die Menge schlängelten, betrachtete V ihre muskulösen Arme und dachte an den Job, den sie hier im Club machte. Der wäre für jeden beinhart, aber vor allem für eine Frau. Warum sie das wohl machte?

»Macht es dich an, Männer zu verprügeln?«, fragte er.

»Manchmal ja, aber bei O’Neal ziehe ich den Sex vor.«

V blieb wie angewurzelt stehen.

Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ist was?«

»Wann hast du es mit ihm gemacht?« Wobei er aus irgendeinem Grund wusste, dass es noch nicht lange her war.

»Die Frage ist doch: Wann werde ich es wieder tun?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Sicherheitskontrolle des VIP-Bereichs. »Heute Nacht jedenfalls nicht. Jetzt hol ihn dir und schaff ihn raus.«

V verengte die Augen. »Das mag ja altmodisch klingen, aber Butch ist schon besetzt.«

»Ach ja? Sitzt er deshalb fast jeden Abend hier und dröhnt sich zu? Seine Partnerin muss ja ein richtiges Schätzchen sein.«

»Lass ihn in Ruhe.«

Ihre Miene verhärtete sich. »Bruder hin oder her, du sagst mir nicht, was ich zu tun habe.«

V beugte sich ganz nah zu ihr und fletschte die Fänge. »Wie gesagt: Du hältst dich von ihm fern.«

Den Bruchteil einer Sekunde glaubte er tatsächlich, sie würden aufeinander losgehen. Er hatte sich noch nie mit einer Frau geschlagen, aber diese hier … na ja, sie wirkte nicht gerade eingeschüchtert von ihm. Besonders, als sie seinen Kiefer beäugte, als schätzte sie den Abstand für einen Aufwärtshaken ein.

»Wollt ihr zwei ein Zimmer oder einen Boxring?«

Hinter ihnen stand Rehvenge, keinen Meter entfernt. Die Amethystaugen des Vampirs leuchteten im Dämmerlicht. In der schummrigen Beleuchtung wirkte sein Irokese genauso dunkel wie der bodenlange Zobelmantel, den er trug.

»Haben wir ein Problem?« Rehvenge blickte von einem zum anderen, während er seinen Pelz auszog und einem Ordner gab.

»Aber nicht doch«, sagte V. Er warf der Frau einen Blick zu. »Alles in bester Ordnung, oder?«

»Ja«, bestätigte sie lässig, die Arme vor der Brust verschränkt. »Absolut.«

Damit drängte sich V an den Türstehern vorbei und zum Tisch der Bruderschaft – ach du Scheiße.

Butch sah völlig fertig aus, und das nicht nur, weil er betrunken war. Tiefe Furchen zogen sich über sein Gesicht, die Augen waren halb geschlossen. Seine Krawatte hing schief, das Hemd war aufgeknöpft … und am Hals hatte er eine Bisswunde, aus der ein wenig Blut auf seinen Kragen getropft war.

Und ganz recht, er suchte Streit, stierte die großkotzigen Krawallbrüder zwei Tischreihen weiter unbeweglich an. Jeden Moment konnte er sich auf sie stürzen.

»Hallo, mein Freund.« V ließ sich betont langsam auf dem Stuhl nieder. Jetzt bloß keine plötzlichen Bewegungen. »Was geht ab?«

Butch kippte seinen Scotch, ohne die erstklassigen Arschlöcher nebenan aus den Augen zu lassen. »Wie läuft’s, V?«

»Gut, gut. Wie viele von den Lagavulins hattest du denn schon?«

»Nicht genug. Ich bin immer noch in der Vertikalen.«

»Willst du mir erzählen, was los ist?«

»Nicht unbedingt.«

»Du wurdest gebissen, Kumpel.«

Als die Kellnerin vorbeikam und das leere Glas abräumte, tastete Butch nach der Wunde an seinem Hals. »Nur, weil ich sie dazu gezwungen habe. Und sie hat sofort wieder aufgehört. Sie wollte mich nicht nehmen, nicht richtig. Also ist sie bei einem anderen. Und zwar genau in dieser Sekunde.«

»Verdammt.«

»So kann man es zusammenfassen. Während wir hier sitzen, ist meine Frau bei einem anderen Kerl. Er ist übrigens ein Aristokrat. Hatte ich das bereits erwähnt? Supermann begrapscht … ist ja auch egal … Wer auch immer er sein mag, er ist stärker als ich. Er gibt ihr, was sie braucht. Er nährt sie. Er …« Butch brach ab. »Und, wie läuft es bei dir so?«

»Ich hab dir doch erklärt, dass das Trinken nicht unbedingt etwas Sexuelles haben muss.«

»Ja, das weiß ich ja.« Der Ex-Cop lehnte sich zurück, als sein nächster Whiskey serviert wurde. »Willst du einen Wodka? Nein? Okay … dann sauf ich für uns beide.« Noch bevor die Kellnerin sich umgedreht hatte, war das Glas schon wieder halb geleert. »Aber es geht nicht nur um den Sex. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass das Blut eines anderen in ihr ist. Ich möchte sie nähren. Ich möchte sie am Leben erhalten.«

»Das ist unlogisch, mein Freund.«

»Scheiß auf die Logik.« Butch starrte in seinen Whiskey. »Hatten wir das nicht gerade erst?«

»Wie bitte?«

»Ich meine … wir waren doch erst letzte Nacht hier. Selbes Getränk. Selber Tisch. Selbes … alles. Es ist, als wäre ich in einer Endlosschleife gefangen, und es hängt mir zum Hals raus. Ich hänge mir zum Hals raus.«

»Wie wäre es, wenn ich dich nach Hause bringe?«

»Ich will nicht nach …« Butchs Stimme erstarb, und er versteinerte auf seinem Sitz. Ganz langsam stellte er das Glas auf dem Tisch ab.

Sofort war V in höchster Alarmbereitschaft. Beim letzten Mal, als sein Freund diesen starren Gesichtsausdruck bekommen hatte, hatten Lesser auf sie gelauert.

Doch er konnte nichts Besonderes entdecken, nur den Reverend, der durch den VIP-Bereich zu seinem Büro lief.

»Butch? Kumpel?«

Butch stand auf.

Er war so schnell, dass V keine Zeit blieb, ihn festzuhalten.

3

Butchs Körper befand sich außerhalb seines Kontrollbereichs und agierte scheinbar völlig selbstständig, als er quer durch den Raum auf Rehvenge zuschoss. Er wusste nur, dass er Marissas Duft aufgeschnappt und ihn zu dem Vampir mit dem Irokesenschnitt zurückverfolgt hatte. Woraufhin er auf ihn zustürzte, als wäre er ein Massenmörder.

Er riss den Reverend heftig zu Boden. Das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Als die beiden auf den Holzdielen auftrafen, fluchte der Vampir lautstark: »Was zum Henker! «, und sofort rasten Rausschmeißer aus allen Richtungen herbei. Bevor Butch von seinem Gegner weggezerrt wurde, gelang es ihm noch, Rehvenges Hemdkragen aufzureißen.

Da waren sie. Bisswunden direkt an der Kehle.

»Nein … verflucht, nein …« Butch wehrte sich gegen die stählernen Hände, die ihn umklammerten, er trat und schlug um sich, bis jemand vor ihm auftauchte, eine Faust hob und sie ihm mitten ins Gesicht donnerte. Während in seinem linken Auge ein irrsinniger Schmerz explodierte, stellte er fest, dass es die krasse Vampirin gewesen war, die ihm den Hieb verpasst hatte.

Rehvenge bohrte seinen Stock in den Fußboden und erhob sich, die Augen glitzerten in einem bösartigen Violett. »In mein Büro. Sofort.«

Jetzt fand eine Art Gespräch statt, der Butch allerdings nicht ganz folgen konnte. Er konnte sich nur auf den Kerl vor sich und den sichtbaren Beweis an seinem Hals konzentrieren. Er stellte sich diesen massigen Körper unter Marissa vor, ihr Gesicht an seiner Kehle, während ihre Fänge die Haut durchbohrten.

Ohne jeden Zweifel hatte Rehvenge sie befriedigt. Ohne jeden Zweifel.

»Warum ausgerechnet du?«, schrie Butch. »Ich mag dich, verdammt noch mal. Warum du?«

»Zeit zu gehen.« Energisch nahm V Butch in den Schwitzkasten. »Ich bringe dich jetzt nach Hause.«

»O nein, noch nicht«, zischte Rehvenge. »Er hat sich in meinem eigenen Laden auf mich gestürzt. Ich will verflucht noch mal wissen, was er sich dabei gedacht hat. Und dann wirst du mir einen guten Grund nennen müssen, warum ich ihm nicht beide Kniescheiben zertrümmern sollte.«

Butch erhob laut und vernehmlich die Stimme. »Du hast sie genährt.«

Rehvenge blinzelte. Hob die Hand an den Hals. »Wie bitte?«

Butch knurrte die Bisswunden an, er versuchte bereits wieder, sich loszureißen. Es war, als gäbe es zwei Hälften von ihm. Die eine war einigermaßen vernunftbegabt, und die andere war vollkommen jenseits von Gut und Böse. Nicht schwer zu erraten, welche sich gerade durchsetzte.

»Marissa«, schnaubte er. »Du hast sie genährt.«

Rehv riss die Augen weit auf. »Du bist es? Du bist der, den sie liebt?«

»Ja.«

Der Reverend keuchte geschockt. Dann rieb er sich das Gesicht und zog seinen Hemdkragen zusammen, um die Wunde zu verdecken. »Ach … Scheiße. Verdammter Mist.« Er wandte sich ab. »Vishous, schaff ihn hier raus und sieh zu, dass du ihn nüchtern kriegst. Gütige Jungfrau, die Welt ist heute Nacht viel zu klein.«

Jetzt verwandelten sich Butchs Knie plötzlich in Gummi und der Raum begann, sich wild um ihn zu drehen. Mannomann, er war doch um einiges betrunkener, als er gedacht hatte, und der Schlag ins Gesicht hatte ihm auch nicht gerade gut getan.

Unmittelbar, bevor er bewusstlos wurde, stöhnte er: »Ich hätte es sein sollen. Sie hätte mich benutzen sollen …«

 

Mr X parkte seinen Minivan in einer Seitenstraße der Tenth Street und stieg aus. Die Stadt schaltete schon einen Gang höher, die Kneipen drehten die Musik auf und füllten sich mit den Betrunkenen und anderweitig Berauschten.

Zeit, auf die Jagd nach den Brüdern zu gehen.

Während Mr X die Autotür schloss und seine Waffen überprüfte, warf er einen Blick über die Motorhaube zu Van.

Er war immer noch höllisch enttäuscht von seinem Auftritt im Ring. Auch erschrocken. Andererseits würde es sicherlich ein Weilchen dauern, bis die Macht verschmolz. Kein Lesser ging sofort mit der vollen Kraft aus seiner Initiation hervor, und nur weil Van der Mann aus der Weissagung war, gab es keinen Grund zu glauben, dass er eine Ausnahme bildete.

Trotzdem Scheiße.

»Woran erkenne ich, wer ein Vampir ist?«, fragte Van.

Richtig. Konzentration auf ihre Arbeit. X räusperte sich. »Die Zivilisten werden Ihren Geruch entdecken. Und Ihnen werden sie auffallen, weil sie Angst bekommen. Was die Brüder angeht: Die kann man nicht übersehen. Sie sind größer und aggressiver als alles, was Sie je erlebt haben, und sie schlagen immer zuerst zu. Wenn sie uns entdecken, werden sie angreifen.«

Nebeneinander marschierten sie auf die Trade Street. Die Nacht war eisig, genau die Mischung aus kalt und feucht, die X früher immer zum Kampf angestachelt hatte. Doch jetzt hatte sich sein Fokus verschoben. Er musste unterwegs sein, weil er der Haupt-Lesser war; aber ihm ging es einzig und allein darum, sich und Van auf dieser Seite der Wirklichkeit zu halten, bis der Kerl zu dem gereift war, was er sein sollte.

Gerade wollten sie sich in eine kleine Gasse ducken, als Mr X stehen blieb. Er wandte den Kopf um und blickte hinter sich. Dann auf die andere Straßenseite.

»Was ist denn …«

»Klappe.« Mr X schloss die Augen und ließ seinen Instinkten freien Lauf. Er atmete ruhig und sammelte sich, ließ seine mentalen Fühler durch die Nacht schweifen.

Omega war in der Nähe.

Dann öffnete er die Lider hoch und dachte, dass das unmöglich sein konnte. Der Meister konnte ohne den Haupt-Lesser nicht auf diese Seite kommen.

Und doch war das Böse nah.

Auf den Absätzen seiner Springerstiefel wirbelte Mr X herum. Ein Auto fuhr auf der Trade Street vorbei. Er blickte darüber hinweg zum ZeroSum, diesem Technoschuppen. Der Meister war da drin. Eindeutig.

Ach, du Scheiße, hatte es schon wieder einen Machtwechsel an der Spitze der Gesellschaft gegeben?

Nein, in diesem Fall wäre Mr X nach Hause gerufen worden. Dann hatte Omega vielleicht einen anderen benutzt, um herüberzukommen? War das überhaupt möglich?

Ohne ein Wort zu verlieren trabte Mr X über die Straße auf den Club zu, und Van folgte ihm dicht auf den Fersen. Er war zwar völlig ahnungslos, aber zu allen Schandtaten bereit.

Vor dem ZeroSum stand eine lange Schlange von Menschen in grellen Klamotten. Alle bibberten vor Kälte, rauchten oder telefonierten mit ihren Handys. Mr X hielt inne. Dahinter … der Meister war hinter dem Gebäude.

 

Mit der Hüfte schob Vishous die Feuerschutztür des ZeroSum auf und schleppte Butch zum Escalade. Als er seinen Freund wie eine bleischwere Teppichrolle auf den Rücksitz hievte, betete er, der Bursche würde nicht aufwachen und um sich schlagen.

V klemmte sich gerade hinter das Lenkrad, als er etwas kommen spürte. Seine Instinkte erwachten und heizten die Adrenalinproduktion an. Obwohl die Bruderschaft weder dazu veranlagt noch darauf trainiert war, jemals einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, befahl ihm sein sechster Sinn jetzt, Butch hier wegzuschaffen. Und zwar so schnell wie möglich.

Er ließ den Motor an und fuhr los. An der Mündung der Straße entdeckte er zwei Männer, die auf den SUV zuliefen. Einer der beiden war hellhaarig. Lesser. Nur – woher hatten sie gewusst, dass er und Butch hier waren?

V trat das Gaspedal durch. Brachte sich und seinen Kumpel aus der Schusslinie.

Sobald er sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht verfolgt wurden, warf er einen Blick auf den Rücksitz. Der Ex-Cop rührte sich nicht. Total ausgeknockt. O Mann, diese Sicherheitschefin hatte einen ganz schönen Schlag drauf. Andererseits galt das auch für den ganzen Lagavulin.

Die gesamte Fahrt über gab Butch keinen Mucks von sich. Erst als V ihn in die Höhle trug und auf seinem Bett ablegte, öffnete er die Augen.

»Alles dreht sich.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Gesicht tut weh.«

»Warte, bis du in einen Spiegel gesehen hast, dann weißt du, warum.«

Butch schloss die Lider wieder. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«

Vishous wollte ihm gerade aus dem Anzug helfen, als es an der Tür klingelte.

Schimpfend ging er zum Vordereingang und warf einen Blick auf die Monitore. Ihn überraschte nicht, wen er da sah, aber Butch war momentan wirklich nicht in der Verfassung für ein großes Publikum.

V trat in die Vorhalle und schloss die Tür hinter sich, bevor er die Haustür öffnete. Sie sah zu ihm auf, und er konnte die Traurigkeit und die Sorge an ihr riechen, ein Duft wie getrocknete Rosen.

Sie sprach leise. »Ich habe den Wagen vorfahren sehen, deshalb weiß ich, dass er jetzt zu Hause ist. Ich muss ihn sehen. «

»Heute nicht. Komm morgen wieder.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde hart, sie sah aus wie die Marmorstatue einer Göttin. »Ich gehe erst, wenn er mich selbst wegschickt.«

»Marissa …«

Ihre Augen blitzten auf. »Erst, wenn er es mir selbst sagt, Krieger.«

V musterte sie. In ihrer Entschlossenheit wirkte sie angriffslustig – ähnlich wie die muskulöse Vampirin vorhin im Club, nur ohne die Faust.

Das war offenbar die Nacht der weiblichen Kerle.

V schüttelte den Kopf. »Lass mich ihn wenigstens erst mal ein bisschen herrichten, okay?«

Panik flackerte in ihren Augen auf. »Warum ist das denn nötig?«

»Du lieber Himmel, Marissa. Was hast du denn gedacht, was passieren würde, wenn du dich bei Rehvenge nährst?«

Ihr fiel die Kinnlade herunter. »Woher weißt du das?«

»Butch hat sich im Club auf ihn gestürzt.«

»Was? Er … lieber Himmel.« Unvermittelt verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. »Du lässt mich jetzt ins Haus. Und zwar auf der Stelle.«

V hielt die Hände hoch und murmelte: »Scheiße«, als er die Tür öffnete.