Sandra Gulland
Die Sonne des Königs
Historischer Roman
Roman
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Fischer e-books
Sandra Gulland wuchs im kalifornischen Berkeley auf, wo sie auch studierte. 1970 ging sie nach Kanada und arbeitete als Lehrerin und Lektorin. Heute lebt sie in Killaloe, Ontario und San Miguel de Allende in Mexiko. Sandra Gulland ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Mit ihrer Romantrilogie um Joséphine hat sich Sandra Gulland bereits längst ihren Platz unter den großen Autoren historischer Romane gesichert. Die Sonne des Königs ist ihr neuer Roman.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: akg-images
Die kanadische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Mistress of the Sun«
bei HarperCollins Publishers Ltd.
© 2008 by Sandra Gulland, Inc.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400148-7
In Dankbarkeit für meine himmlische Familie,
die ich so sehr vermisse –
meine Großmutter May,
meine Cousine Linda,
und nun auch, zu meiner tiefen Trauer,
meine Mutter Sharon.
Mein größter Wunsch wäre gewesen,
dass ihr drei dies hättet lesen können.
Ich bin erblindet Weil ich zu lange in die Sonne geblickt habe.
aus »Hall of Mirrors« von Jane Urquhart
EINE ROMA-FRAU in einem flatternden karmesinroten Kleid rauscht vorbei. Sie steht kerzengerade auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes. Ihr Kopfschmuck aus Truthahnfedern zittert in der brennenden Sommersonne.
»Die wilde Frau!«, verkündet der Schausteller und schwenkt seinen schwarzen Hut.
Die Menge jubelt, als das schäumende Pferd seinen Schritt beschleunigt. Es schüttelt seinen großen Kopf, Schweiß- und Speicheltropfen fliegen umher, wehender Schweif, donnernde Hufe im Staub.
Die wilde Frau streckt die Arme aus. Ihre zarten Röcke bauschen sich hinter ihr auf. Langsam erhebt sie die Arme zum wolkenlosen Himmel und stößt einen gellenden Kriegsschrei aus.
Ein blasses Mädchen – kaum groß genug, um über die Absperrung hinwegzublicken – schaut wie gebannt zu. In ihrer Phantasie streckt sie selbst ihre dünnen Arme aus, die Füße fest auf dem breiten Rücken eines Pferdes.
Hingerissen presst sie die Hände an die Wangen. Oh, der Wind!
MAN SCHRIEB DAS JAHR 1650, das achte Herrschaftsjahr des jungen Königs Louis XIV – eine Zeit von Hungersnot, Pest und Krieg. In den Weilern, Höhlen und Wäldern fern der Städte starben die Menschen. Landauf, landab regierte die Gewalt. Das Mädchen war gerade sechs Jahre alt geworden.
Sie war klein für ihr Alter und wurde oft für eine Vierjährige gehalten – jedenfalls bis sie den Mund zum Reden öffnete. Ihr Ausdruck war von einer selbstverständlichen Reife, durch die sie ihrem Alter weit voraus schien. Sie trug eine eng anliegende, mit Bändern unter dem Kinn befestigte Kappe, und ihre flachsfarbenen Haare fielen ihr bis hinunter zur Taille. Ihr Kleid aus grauem Serge wurde von einer Kette verschönert, die sie selbst aus Igelzähnen gefertigt hatte. »Koboldkind«, so nannten die Leute sie manchmal, wegen ihrer kleinen Gestalt, ihrer zarten weißen Haut, den blonden Haaren und dem beunruhigenden Blick.
Das Mädchen ließ die wilde Frau nicht aus den Augen, als diese von dem Pferd hinuntersprang und sich mit einem Schwenk ihrer Federkrone verbeugte. Ohne die Jongleure, den Clown auf Stelzen, den Purzelbäume schlagenden Zwerg oder den Bauern mit der luftgefüllten Schweinsblase an einer Schnur auch nur eines Blickes zu würdigen, umrundete sie das Gelände und lief zu dem Wagenplatz jenseits des Hügels. Dort fand sie die wilde Frau, die gerade einen Ledereimer voller Wasser über ihr wirres Haar goss. Die Blechspangen ihres Kleides blitzten in der Sonne.
»Potzblitz, ist das heiß!«, fluchte die Frau. Ihr Pferd, ein Schecke mit rosafarbenen Augenlidern, stand ein paar Schritte entfernt, angebunden an einen Ochsenkarren. »Was willst du, Engelchen?«, fragte die Akrobatin durch ihre tropfenden Strähnen hindurch.
»Ich möchte reiten können wie Ihr«, antwortete das Mädchen. »Im Stehen.«
»So, das möchtest du also«, sagte die Frau und rieb sich das Gesicht mit den Händen ab.
»Ja. Ich bin eine Pferdenärrin«, erklärte das Mädchen nüchtern. »Sagt mein Vater.«
Die Frau lachte. »Und wo ist dein Vater, wenn man fragen darf?«
Das Pferd scharrte mit den Hufen und wirbelte Staubwolken auf. Die Frau ruckte an seinem ausgefransten Führstrick und sagte etwas in einer fremden Sprache. Das Pferd hob seinen hässlichen Kopf, wieherte und erhielt gleich darauf eine vielstimmige Antwort.
Pferde.
»Sie stehen hinten auf der Weide«, sagte die Frau und ermunterte das Kind, dorthin zu gehen.
Das Mädchen schlängelte sich zwischen den Wagen und Zelten hindurch bis zu einer Weide, auf der vier Zugpferde, ein Esel und ein geschecktes Pony grasten. Eine angebundene ältere Stute mit einer Glocke um den Hals hob den Kopf, als das Kind sich näherte, fuhr dann aber fort, an den schimmeligen Kleiebrotlaiben zu fressen, die man den Tieren auf einen Haufen hingeworden hatte. Der Sommer war trocken gewesen, und das Gras wurde knapp.
Und da entdeckte das Mädchen das Pferd, das weiter hinten im Wald angebunden war – ein junger Hengst, so erriet sie anhand seines stolzen Gehabes. Eine Absperrung trennte ihn von den anderen Pferden, und eines seiner Vorderbeine war mit einem Lederriemen hochgebunden.
Es war ein Schimmel, ein großes Tier. Worte aus der Bibel kamen ihr in den Sinn: Und ich sah den Himmel aufgehen, und siehe: ein weißes Pferd. Sein Hals war lang und am Kopfansatz schmal. Seine gespitzten Ohren waren klein und wohlgeformt, seine Nüstern weit gebläht. Seine Augen schauten ihr mitten ins Herz. Halleluja!
Sie dachte an die Geschichten, die ihr Vater ihr erzählt hatte – Geschichten von Neptun, der seine Schimmel der Sonne geopfert hatte, Geschichten von Pegasus, dem geflügelten Pferd. Huldige ihm, der auf Wolken reitet. Sie dachte an den König, einen Jungen, kaum älter als sie selbst, der die Aufstände in Paris beendet hatte, indem er auf einem Schimmel in das Kampfgetümmel hineingeritten war. Und der ihn reitet, von dem heißt es: Treu und wahrhaftig, und er richtet und streitet mit Gerechtigkeit.
Sie kannte dieses Pferd: Es war das Pferd aus ihren Träumen.
Sie bahnte sich einen Weg über die Lichtung. »Ho, mein Junge«, sagte sie und streckte die Hand aus.
Der Hengst legte die Ohren an.
LAURENT DE LA VALLIÈRE lenkte seinen quietschenden Wagen auf das steinige Feld, ließ sich vom Kutschbock gleiten und reckte sich, eine Hand auf den unteren Rücken gelegt. Sein Armeehut war mit Federn geschmückt, aber fleckig, und er trug ein rissiges Lederwams mit geflickten Wollärmeln, die an der Schulterpartie verschnürt waren. Seine gesteppten Kniebundhosen und die ausgeleierte Pumphose darüber, seit über einem halben Jahrhundert aus der Mode, waren ebenfalls an vielen Stellen geflickt und gestopft. Mit seinen Stiefeln und Sporen und dem umgegürteten Schwert glich er einem Offizier der Kavallerie, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Er band das Kutschpferd, eine Stute, an einer verkümmerten Eiche fest und ging auf die Gruppe von Leuten zu, die sich auf dem Feld versammelt hatte. Wo der Weg endete, saß eine korpulente Roma-Frau auf einem Baumstumpf – die Wächterin, wie er annahm. Nicht alle Zigeuner waren Vagabunden, aber die meisten durchaus zwielichtige Gestalten. Er tastete unter seinem Lederwams nach dem Rosenkranz, den er am Herzen trug, eine Schnur mit einfachen Holzperlen, die einst die heilige Theresia von Avila berührt hatte. O Gott, vertreibe alle unheilvollen Gedanken aus meinem Herzen und erquicke mich mit froher Hoffnung. Amen.
»Monsieur de la Vallière«, stellte er sich vor und tippte an seinen Hut. Er war sehr angesehen in dieser Gegend, und man schätzte ihn wegen seiner Heilkunst und seiner Mildtätigkeit, aber die Roma waren ein fahrendes Volk, sie kannten ihn höchstwahrscheinlich nicht. »Ich suche ein kleines Mädchen«, erklärte er.
Ein plötzlicher Windstoß trug ihm Uringeruch zu. »Ein Mädchen, sagt Ihr?«, fragte die Frau grinsend, ihr lückenhaftes Gebiss entblößend.
»Ja, meine Tochter.« Mit einer Hand gab Laurent dabei die Größe an.
»Blond, mit einer Zahnlücke im Oberkiefer?«
»Also ist sie hier!« Gepriesen seist du, o Herr! Er hatte bereits den ganzen Nachmittag nach ihr gesucht. Nachdem sie im Haus nirgendwo zu finden gewesen war, hatte er in der Scheune, im Taubenschlag, in der Kornkammer, der Molkerei und sogar im Hühnerstall nachgesehen. Er hatte den Wald und die Felder dahinter durchkämmt und ängstlich das Flussufer abgeschritten, bis er schließlich die Stute angespannt hatte und in die Stadt gefahren war. Beim Stoffhändler in Reugny erfuhr er schließlich von den Roma mit ihren dressierten Ponys. Das Mädchen war verrückt nach Pferden.
»Sie ist auf der Weide ganz hinten – bei Diablo«, fügte die Frau mit einem kehligen Lachen hinzu.
Der Teufel? Laurent bekreuzigte sich und machte sich auf den Weg über den Hügel und zwischen den Planwagen hindurch bis zu dem dahinter liegenden Feld. Dort sah er seine Tochter. Sie kauerte im Staub.
»Petite!«, rief er. Sie war von kräftigen Pferden umringt.
»Vater?« Sie stand auf. »Sieh mal!«, sagte sie, als sie sich ihm näherte, und zeigte auf einen Schimmel am Waldrand.
»Wo bist du bloß gewesen?« Furcht übermannte ihn, jetzt, wo er sie in Sicherheit wusste. »Du hättest … « Überall machten Vagabunden die Gegend unsicher. Noch in der Woche zuvor waren zwei Pilger auf dem Weg nach Tours ermordet worden.
Er beugte sich zu seiner Tochter hinunter und nahm ihre Hand. O Gott, ich danke dir von ganzem Herzen für die Gnade, die du mir geschenkt hast. Amen. Ihre blassen Wangen waren gerötet. »Kleines, du darfst nicht einfach so weglaufen.« Sie war ein impulsives, gefühlvolles Kind, aufrichtig und unabhängig, jungenhaft in ihrem Wesen. Eigenschaften, die seine Frau ganz und gar nicht schätzte. Sie ließ bei dem Mädchen Strenge walten und zwang sie, stundenlang am Spinnrad zu sitzen. Doch was konnte er schon dagegen tun? Die Erziehung einer Tochter war Aufgabe der Frau.
»Ich werde im Stehen auf einem galoppierenden Pferd reiten«, lispelte Petite durch ihre Zahnlücke. Sie streckte die Arme aus und ihre weit auseinander stehenden blauen Augen leuchteten.
Laurent fragte sich, ob der Heilige Geist aus ihr sprach oder gar der Teufel? Man konnte die beiden leicht verwechseln.
»Wie die wilde Frau«, erklärte sie.
Die blühende Phantasie des Mädchens bereitete ihnen Sorge. Im Frühjahr hatte sie hinten in der Scheune aus Steinen einen einfachen Pferch gebaut, den sie als ihr »Kloster« bezeichnete. Darin hatte sie verletzte Tiere gesund gepflegt, zuletzt einen Feuersalamander und einen Hühnerhabicht.
»Die haben versprochen, es mir beizubringen.«
»Komm, lass uns gehen«, sagte Laurent und nahm seine Tochter an der Hand. »Ich habe Brötchen im Wagen.« Vorausgesetzt, die Roma hatten sie nicht gestohlen.
»Aber was ist mit Diablo?«, fragte Petite und blickte sich nach dem Hengst um.
»Er gehört diesen Leuten hier.«
»Sie haben gesagt, sie würden ihn billig verkaufen.«
»Nächste Woche fahren wir zum Pferdemarkt nach Tours«, versprach er. »Dort kaufen wir dir ein Pony, wie du es dir immer gewünscht hast.« Tatsächlich ritt das Mädchen auf allem, was vier Beine hatte. Im Jahr zuvor hatte sie einem Kalb das Springen beigebracht.
»Du hast gesagt, die Pferde, die auf dem Markt verkauft würden, wären kreuzlahm. Du hast gesagt, das wären alles klapprige Mähren.«
»Stimmt, es ist kein gutes Jahr für Pferde.« Durch den endlosen Krieg mit Spanien und die ewigen Aufstände waren akzeptable Reittiere schwer zu finden. Praktisch jeder Vierbeiner war von irgendeiner Armee konfisziert worden. Außerdem wurde die natürliche Aversion der Leute gegen den Verzehr von Pferdefleisch in Zeiten einer Hungersnot außer Kraft gesetzt. »Aber Hoffnung gibt es immer. Lass uns beten, und der liebe Gott wird uns helfen, ein Pferd für dich zu finden.«
»Ich habe für dieses Pferd gebetet«, erklärte Petite. Der Hengst stand immer noch reglos wie eine Statue da und ließ sie nicht aus den Augen. »Ich habe für diesen Schimmel gebetet.«
Laurent blieb stehen und dachte nach. Er konnte einen Hengst gebrauchen, und seine Tochter hatte einen untrüglichen Blick für Pferde. Die Beine des Hengstes waren gerade, seine Schultern lang. Sein Kopf war schmal wie der eines Widders: einfach perfekt. Obwohl das Tier mager war, besaß es eine breite Brust. Pferde mit dieser seltenen, milchweißen Färbung, seien, so hieß es, wie Wasser: temperamentvoll und dennoch sanft. Einmal gestriegelt und gebürstet, wäre er ein prachtvolles Tier, zweifellos.
»Wie viel wollen sie für ihn haben, hast du gesagt?«
SIE BENÖTIGTEN VIER STARKE MÄNNER – die Kraftakrobaten der Truppe –, um den Hengst hinten am Wagen festzubinden. Bei dem Gezerre löste sich die Fußfessel, und einer der Männer schrie: »Zurück! Zurück!«, als das befreite Tier wild um sich trat.
Was ist bloß los mit diesem Hengst?, fragte sich Laurent. Nicht einmal ein Pferd, das unter einer ungünstigen Sternenkonstellation geboren war, gebärdete sich normalerweise derartig wild. Hatte es im Schlachtengetümmel einen Schaden erlitten? So etwas sah man in letzter Zeit häufig, obwohl der Schimmel keine erkennbaren Narben oder verräterischen Schwertwunden aufwies.
»Bei allem Respekt, Monsieur … «
Laurent wandte sich erschrocken um. Hinter ihm stand ein junger Mann mit rabenschwarzem Antlitz. Er trug ein an den Ellbogen geflicktes, langes Gewand und einen Turban aus Leinentuch um den Kopf. Ein Mohr? Eine kleine, fransengeschmückte Reisetasche hing an einem Strick um seine Taille, aber Laurent entdeckte weder ein Schwert noch ein Messer. Er schickte ein rasches Stoßgebet an den heiligen Jakobus, den Maurentöter, und dachte an seine eigenen Waffen: sein rostiges Schwert, das stumpfe Messer in seinem rechten Stiefel. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihm, als er das Kreuz um den Hals des jungen Mannes gewahrte.
»Ich rate Euch, seid vorsichtig«, sagte der junge Mann. »Dieser Hengst ist außergewöhnlich schwierig – bösartig, behaupten manche, doch dieses Wort benutze ich in der Regel nicht, jedenfalls nicht im Hinblick auf Tiere.«
Der Hengst stieß ein schrilles Wiehern aus.
»Vater?«, sagte Petite unsicher, halb versteckt hinter Laurents Beinen.
Das Pferd attackierte mit gefletschten Zähnen einen der starken Männer, und der Mann stürzte. Sein Lederwams war zerrissen. »Der Leibhaftige!«, rief er, als er sich aufrappelte.
Drei Bengel hatten sich eingefunden und schauten johlend zu, als sei es eine Bärenhatz, ein Teil der Darbietung.
»Seine Name lautet nicht umsonst Diablo«, fuhr der Dunkelhäutige fort und bedeutete den Jungen, Abstand zu halten.
Laurent rieb sich das stoppelige Kinn, das nach seiner wöchentlichen Rasur verlangte. Es erstaunte ihn, dass sich der Mohr so gewandt in ihrer Sprache ausdrückte, was jener Glaubenslehre widersprach, dass die Heiden eher Tieren als Menschen glichen. »Ihr kennt also dieses Pferd?«, fragte er. War der Mohr vielleicht der Pfleger des Pferdes? Wenn ja, dann allerdings ein ziemlich schlechter, denn seine langen, splittrigen Hufe und die verfilzte Mähne ließen darauf schließen, dass sich seit längerer Zeit niemand mehr um das Tier gekümmert hatte.
»Ja. Ich bin Pferdebändiger. Ich bereite und dressiere die Pferde hier. Mein Name ist Azeem.«
Petite meldete sich zu Wort. »Habt Ihr dem Esel beigebracht, sich wie ein Hund hinzusetzen?«
»Hat dir dieses Kunststück gefallen?« Der Mohr lächelte; seine Zähne waren weiß und regelmäßig.
»Ich habe einer Ziege beigebracht, eine Leiter hinaufzuklettern«, erzählte Petite.
Laurent nahm seine Tochter an der Hand. Tierbändiger wurden in den frühen Morgenstunden, zur Zeit der Matutin geboren. Hieß es nicht, solche Menschen hätten das zweite Gesicht? »Dieses Pferd sieht mir aber nicht besonders gebändigt aus«, bemerkte er.
»Die Roma haben seine Ohren zusammengenäht, als er ein Fohlen war, aber dadurch ist er erst recht böse geworden.«
Laurent gab einen missbilligenden Laut von sich. Pferden die Ohren zusammenzunähen sollte sie gefügiger machen – etwa, damit sie beim Beschlagen nicht austraten –, aber er hielt diese Praxis für Unsinn. Dadurch lenkte man das Pferd nur ab, gab ihm etwas zum Nachdenken. Genau dasselbe galt für das Hochbinden eines Hufes. »Böse, sagt Ihr?«, fragte er den Mohren. Der Strick schnitt in den Nacken des Schimmels ein. Der Hengst zerrte so stark daran, dass Laurent befürchtete, er könne sich den Hals brechen.
»Ja. Ein Knochenzauber ist praktisch das Einzige, das ihn jetzt noch bessern könnte«, antwortete der Mohr und bekreuzigte sich dabei.
Laurent runzelte die Stirn. Er hatte von der Knochenzaubermethode gehört. Ein Mann, den er kannte, hatte damit sein Pferd gezähmt, aber anschließend selbst den Verstand verloren. Er sei zum Fluss gegangen, am Wasser gewesen, hieß es. So drückten es die Nachbarn aus, wenn sie untereinander tuschelten. Der Mann brauchte nur an seine Scheunentür zu klopfen, und schon flog sie auf, als stünde der Teufel dahinter. Außerdem behauptete er, er sähe das Pferd nachts neben seinem Bett.
»Charlottes Vater hat mit einem Zauber seine lahme Berberstute kuriert«, erzählte Petite ihrem Vater.
»Monsieur Bosse?« Dieses Pferd hatte drei Rennen gewonnen, wobei Laurent Glücksspiele durchaus nicht guthieß.
»Ja, aber mit Wasserzauber. Vielleicht ist das etwas anderes als Knochenzauber«, antwortete das Mädchen.
»Ich bitte um Vergebung, Monsieur«, sagte der Mohr, zu Laurent gewandt. »Ich hätte in Gegenwart eines Kindes nicht über so etwas sprechen dürfen.« Er bückte sich und schaute dem Mädchen ins Gesicht. »Mademoiselle, wie man es auch nennen mag – Knochenzauber, Wasserzauber, Krötenzauber –, hütet Euch davor. Verstanden?«
»Mit Zauberei wollen wir nichts zu tun haben«, erklärte Laurent und zog Petite näher zu sich hin, weg von dem Mohren. Das Pferd war jetzt fest angebunden. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen.
»Ihr seid ein weiser Mann, Monsieur.« Der schwarze junge Mann richtete sich auf und verbeugte sich aus der Taille heraus, eine Hand auf die Brust gelegt. »Es ist eine Gabe des Teufels, und der Teufel gibt nichts umsonst.«
LAURENTS KRÄFTIGE STUTE zog den Wagen die kleine Straße mit den tiefen Räderspuren entlang. Seine Tochter saß neben ihm und blickte sich ängstlich nach dem widerspenstigen Schimmel um. Anfangs hatte sich das Pferd gegen den Zug des Wagens gesträubt, aber die Stute war stark und die Stricke hielten. Nachdem er eine Weile hinterhergezogen worden war, fügte sich der Hengst und trottete hinterdrein.
Petite bat, sich hinten auf den Wagen setzen zu dürfen. »Damit er sich nicht von Gott verlassen fühlt«, erklärte sie.
»Lass ihn lieber in Ruhe«, erwiderte Laurent müde. Der Hengst war ein hübsches Pferd, aber in einem beklagenswerten Zustand. Seine Frau würde ihm Vorhaltungen machen, so viel war sicher. »Du würdest ihn nur beunruhigen.«
Petite setzte sich wieder neben ihren Vater, biss in ein Brötchen und baumelte mit den Beinen. »War der Pferdebändiger ein Mohr?«
»Ich glaube schon«, sagte Laurent. Sie näherten sich jetzt Reugny; man sah schon die Turmspitze der kleinen Kirche über den Baumwipfeln. Laurent fragte sich, ob es Neuigkeiten gab. Dem Sonnenstand nach war es später Nachmittag, gegen fünf Uhr. Ob der Postreiter aus Tours bereits eingetroffen war? Das Letzte, was Laurent gehört hatte, war, dass sich im Süden Bordeaux gegen den König erhoben hatte und die königlichen Truppen die Stadt belagerten. Wenn Bordeaux siegreich aus den Kämpfen hervorging, blickten sie einer ungewissen Zukunft entgegen. Der König konnte gezwungen werden, sich hinter die Mauern von Paris zurückzuziehen und die Provinz den sich bekriegenden Prinzen zu überlassen. Doch was gab es schon noch, wofür es sich zu kämpfen lohnte? Frankreich glich einem zerbrochenen Krug. Das Einzige, was die Leute noch gemeinsam hatten, war ihre Armut. Die Bauern konnten sich glücklich schätzen, wenn sie für ein Tagwerk fünfzehn Sous erhielten, den Gegenwert für einen Korb Eier.
Wie konnte man in solcher Zwietracht weiterleben? Laurent betastete die Kupfermünze, die in seinen Hemdsaum eingenäht war, die mit dem eingravierten Porträt Henris des Großen. Nach dem Tod des guten Königs war ein jahrzehntelanges Chaos ausgebrochen. Jede Nacht betete Laurent, dass ihr junger und überaus frommer Monarch das ewige Blutvergießen beenden würde. Der König war der Repräsentant Gottes, so stand es geschrieben. Gewiss würde er triumphieren.
»Ich war auf dem Weg in das Land der Mohren«, sagte Petite und riss Laurent damit aus seinen Grübeleien.
»Ach ja?«, fragte er geistesabwesend und lenkte den Wagen auf einen freien Platz jenseits des Dorfangers. Im Dorf herrschte reges Treiben: Eine Menschenmenge hatte sich rund um den Galgenbaum versammelt. Lautes Gelächter brandete auf, dann folgte ein lautes Zischen. Vielleicht ein Hahnenkampf?
»Heute Morgen.«
»Du warst heute Morgen unterwegs ins Land der Mohren?«
»Um enthauptet zu werden«, erklärte Petite. »Wie die heilige Theresia in dem Buch. Aber der Mohr, den wir getroffen haben, war ein Pferdebändiger, und er hatte gar kein Schwert. Und auch keine Axt.«
»Die heilige Theresia in dem Buch?«, fragte Laurent verwirrt. Im Laufe der Zeit hatte er eine bescheidene Bibliothek zusammengetragen – einige Werke über Landwirtschaft und Geschichte, größtenteils aber religiöse und philosophische Traktate. Unter ihnen befand sich auch die Lebensgeschichte der heiligen Theresia, ein dünnes, ledergebundenes Büchlein. Woher kannte es seine Tochter?
»Hat Monsieur Péniceau dir daraus vorgelesen?« Der Hauslehrer seines Sohnes war einmal Hofschreiber gewesen und konnte recht passabel lesen und schreiben, doch die Theologie war gewiss nicht sein Metier.
»Nein, ich habe es selbst gelesen, aber ich bin erst auf Seite sechzehn.«
Laurent drehte sich zu ihr um und starrte sie an. »Du kannst lesen?«
»Ja. Manche Wörter finde ich aber noch schwierig.«
»Wer hat dir das beigebracht?« Dass seine Tochter frühreif war, wusste er, aber sein zwei Jahre älterer Sohn Jean konnte bisher nicht einmal richtig das Alphabet!
»Ich hab’s mir selbst beigebracht«, antwortete Petite, die aufgestanden war und mit den Augen den Anger absuchte. »Da steht jemand am Pranger.«
»Bleib beim Wagen«, befahl Laurent und nahm sich vor, auf das Thema Lesen später einzugehen. »Ich muss noch für ein paar Besorgungen in die Apotheke.«
»Und was ist mit Diablo?«, fragte Petite. Sie blickte sich nach dem Schimmel um.
»Er kann nicht weglaufen.« Der Strick hielt. »Lass niemanden in seine Nähe.«
Kaum war Laurent ein paar Schritte gegangen, als er jemanden »Papa!« rufen hörte.
Ein strammer Bursche rannte über den belebten Dorfplatz, eine Angelrute in der einen, eine Ködertasche in der anderen Hand.
»Jean!«, rief Petite ihren Bruder.
»Agathe Balin steht am Pranger!«, erzählte der Junge seinem Vater atemlos. Er drehte sich um und zeigte auf die Menge.
»Warum?«, fragte Petite.
»Jean!«, sagte Laurent warnend.
»Weil sie Unzucht getrieben hat, Papa. Mit Monsieur Bosse, sagen alle. Geh hin und guck es dir mal an, Papa. Sie ist von oben bis unten voller Spucke.« Jeans sommersprossige Wangen waren gerötet.
»Monsieur Bosse – Charlottes Vater?«, fragte Petite.
Laurent schaute hinunter auf seinen Sohn. »Du solltest eigentlich im Unterricht sein!«
Jean warf seine Angel und seine Tasche hinten auf den Wagen. »Wo habt ihr denn dieses Pferd her?« Er ging um den Wagen herum, um es sich anzusehen. Das Pferd schnaubte und rollte die Augen, sodass man das Weiße sah. »Ist es wild?«
»Geh nicht näher heran, mein Sohn!«, warnte Laurent.
»Potztausend!«, fluchte der Junge, der gerade noch einem wohlgezielten Tritt ausweichen konnte. »Was für ein gemeines Vieh!«
»Er gehört mir«, erklärte Petite. »Ich habe für ihn gebetet.«
»Das ist kein Pferd für ein Mädchen, Kleines«, widersprach Laurent, auf dem Weg zur Apotheke.
»Was bedeutet ›Unzucht treiben‹ eigentlich?«, fragte Petite, als sie für ihren Bruder auf dem Kutschbock ein Stück zur Seite rutschte.
»WOZU IST EIN PFERD NÜTZE, das man weder reiten noch bei der Arbeit einsetzen kann?«, fragte Madame Françoise de la Vallière, mit blutigen Händen, weil sie kurz zuvor ein Kaninchen für das Sonntagsmahl geschlachtet hatte. Sie schnitt den Kopf ab und streckte die Beine, um die Pfoten zu entfernen. Sie war eine hübsche Frau mit runden Wangen und einem Grübchen im Kinn. Zwischen ihren schmal gezupften Augenbrauen bildeten sich tiefe Zornesfalten.
»Der Hengst, den ich nicht reiten kann, muss erst noch geboren werden«, behauptete Laurent mit aufgesetztem Optimismus. Nur mit Hilfe des Pflügers und dreier Feldarbeiter war es ihm gelungen, das Tier in den Stall zu schaffen – bewaffnet mit Mistgabeln und der Fischbeinpeitsche.
»Er hat nach mir getreten«, sagte Jean.
»Immer noch keine Neuigkeiten aus Bordeaux.« Laurent ließ seine Jagdhündin zur Hintertür herein, und sie eilte zu dem Korb mit ihren Jungen, der am Feuer stand.
»Mademoiselle Balin steht in der Stadt am Pranger«, berichtete Jean.
Blanche, das pockennarbige Küchenmädchen, starrte ihn mit ihrem einen Auge an. »Agathe Balin?«
Françoise zog die Augenbrauen hoch. »Ach, wirklich?«
»Ja, weil sie mit Monsieur Bosse Unzucht getrieben hat, haben die Leute gesagt.«
»Mit einem verheirateten Mann!« Françoise schnitt den Unterbauch des Kaninchens auf. »Dieses Mädchen hatte vom ersten Tag an den Teufel im Leib.« Sie nahm die Ausscheidungsorgane heraus, schnitt den Schwanz ab und zog dann dem Tier mit einer geübten Bewegung die Haut ab.
»Alle haben sie angespuckt, und ein Hund hat ihr das Gesicht abgeleckt«, erzählte Jean und schüttelte zwei Aale aus seiner Tasche in ein Kupferbecken. »Ihr hättet mal hören sollen, wie sie gekreischt hat, als ich ihr die Füße gekitzelt habe.«
»Ein guter Fang«, bemerkte Françoise und bedeutete Blanche, die Aale hinauszutragen und auszunehmen.
»Und du hättest lieber für die Rettung ihrer Seele beten sollen, anstatt das arme Mädchen zu quälen«, seufzte Laurent.
»Aber alle haben das gemacht«, erwiderte Jean und folgte der Magd zur Hintertür hinaus.
»Er ist doch noch ein kleiner Junge, Laurent«, beschwichtigte Françoise ihren Mann, schnitt den Bauch des Kaninchens ganz auf und entfernte die restlichen Eingeweide.
»Er hätte eigentlich im Unterricht sitzen sollen.«
»Und deine Tochter hätte an ihrer Handarbeit sitzen sollen.« Françoise warf einen Blick zu Petite hinüber, die am Feuer hockte und den Hund streichelte. »Sie läuft weg, und ihr beide kommt mit einem Pferd wieder. Und das nennst du Disziplin?«
»Ein echter Schimmel ist selten«, gab Laurent zu bedenken. Der Hengst hatte sogar blaue Augen, eine Eigenschaft, von der er zwar schon gehört, die er aber selbst noch nie gesehen hatte. »Ein edles Pferd«, fügte er hinzu und dachte dabei an die uralte eingemeißelte Inschrift über dem Kaminsims: Ad principem ut ad ignem amor indissolubilis. Liebe den König wie ein Altarfeuer – ewig. Dies waren die ersten Worte, die er beim Aufwachen sah und die letzten, die ihn beim Einschlafen begleiteten. Es war ihr Familienwahlspruch seit Generationen. Der Ur-ur-ur-Großvater seines Vaters war an der Seite der Johanna von Orléans geritten. Der König konnte sich in schweren Zeiten immer auf die de la Vallières verlassen, doch Françoise war keine de la Vallière. Sie stammte aus dem Hause Provost, eine Familie, sie sich gern in schweren Zeiten bereichert hatte. Seine Gattin würde niemals den Wert eines Pferdes wie diesem würdigen können: ein reiner Schimmel, ein wunderschöner Cheval blanc, ein Reitpferd für Könige. Nicht alles konnte gemessen und gewogen werden, nicht alles konnte man mit Geld bezahlen.
»Außerdem hat er einen guten Körperbau«, fügte Petite hinzu, während sie einen Hundewelpen liebkoste.
»Er hat einen hervorragenden Körperbau«, verbesserte sie Laurent. Sein altes Kavalleriepferd Hongre konnte kaum noch traben. Er hatte sich in den Weißen verguckt.
»Vater will mit ihm züchten.«
»Wie unschicklich, über Derartiges mit einem Mädchen zu reden!«, flüsterte Françoise ihrem Mann zu. »Sie verbringt sowieso viel zu viel Zeit bei den Pferden. Es wird Zeit, dass sie sich wie eine Dame benimmt.« Sie stach dem Kaninchen das Messer in die Brust und zerteilte es mit einem Schnitt in zwei Hälften.
AM NÄCHSTEN MORGEN, beim dritten Hahnenschrei, Schlüpfte Petite leise zur Hintertür hinaus, eine trockene Brotkruste in der Hand. In der Nacht hatte es geregnet. Der Mond stand noch am Himmel und erhellte die Außengebäude, den nebligen Küchengarten und die großen Bäume dahinter – eine stille Welt im Zwielicht. Der Hahn krähte erneut, und ein zwitschernder Star antwortete ihm. Petite zog ihre Holzschuhe an und suchte sich einen Weg zwischen den Pfützen auf dem Hühnerhof hindurch.
Vorsichtig öffnete sie die Scheunentür und hob sie dabei an, so gut sie konnte, damit die Angeln nicht quietschten. Sie wollte den Pflüger nicht wecken, der auf dem Heuboden schlief. Drei Schwalben sausten an ihr vorbei. Petite stand in der Dunkelheit, atmete den warmen Duft der Pferde ein und spürte, dass sie sie bemerkt hatten. Der alte Hongre wieherte leise. Der Pflüger regte sich, schlief dann aber weiter.
Fahles Licht fiel durch das winzige offene Fenster am anderen Ende der Scheune herein. Es dauerte einen Moment, ehe Petite die Umrisse der Pferde und der beiden Milchkühe erkennen konnte. An der Wand über den Geschirren hing eine Peitsche aus Weißbirke, die die Dämonen daran hindern sollte, nachts die Pferde zu reiten.
Der Kopf des Schimmels erschien im Eckverschlag und verschwand wieder. Petite tastete sich an den Futterkisten und den Holzstößen entlang, bis Diablo vor ihr stand wie eine Geistererscheinung. »Ho, mein Junge«, flüsterte sie. Er warf den Kopf hoch. Ja, schön war er wirklich, das schönste Tier, das sie je gesehen hatte. Siehe, schön bist du, zitierte sie in Gedanken einen Vers aus dem Hohelied. Sie sehnte sich danach, seine verfilzte Mähne zu kämmen und seinen langen, weißen, knotigen und klettenübersäten Schweif zu waschen und einzuölen. Die schorfigen Stellen auf seiner Kruppe würden abheilen und keine Narben hinterlassen, wenn er sie nur an sich heranließe.
»Liebling«, murmelte sie, ein gefährliches, aufregendes Wort.
Das Pferd legte die Ohren an.
Sie klemmte die Brotkruste unter ihre Achsel, damit sie ihren Geruch annahm, und hielt sie ihm dann auf der flachen Hand hin, eine Leckerei und eine Bestechung zugleich. Er drehte sich von ihr weg und peitschte mit dem Schweif.
Petite steckte sich ein Stück Brot in den Mund und kaute lautstark darauf herum. Zufrieden beobachtete sie, wie Diablo das rechte Ohr zurückdrehte. Geduld ist die Begleiterin der Weisheit, pflegte ihr Vater zu sagen, den heiligen Augustin zitierend. Wieder streckte sie die Hand aus.
Das Pferd stürzte mit gefletschten Zähnen auf sie los.
DER HERBST WAR STÜRMISCH in jenem Jahr. Bei schlechtem Wetter, wenn sie im Haus bleiben musste, staubte Petite am liebsten die Bücher im kleinen Studierzimmer ihres Vaters ab, und am allerliebsten dann, wenn ihr Bruder Jean in der Stube nebenan Unterricht erhielt. Auf diese Weise konnte sie während der Arbeit dem Lehrer lauschen und ganz nebenbei Latein und sogar ein wenig Geschichte lernen. An jenem besonders verregneten Novembermorgen knisterte ein Feuer im Kamin, und Monsieur Péniceau las aus dem Trost der Philosophie vor, einer Übersetzung der Consolatio Philosophiae von Boethius.
»Seliger Tod, der sich nicht drängt in die Freuden der Jugend«, rezitierte der Hauslehrer mit seiner hohen Fistelstimme.
Durch die offene Tür sah Petite, dass Jean den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, eine Wange auf den Händen, die Augen geschlossen. Mit seiner Stupsnase, dem Grübchen im Kinn und den dunklen Locken glich er einem Cherub – ein Ebenbild ihrer hübschen Mutter.
Petite öffnete die Fensterläden, um Licht hereinzulassen. Dann zog sie eine Etagère heran, kletterte darauf und las die Titel der Bücher am Fenster. Eines enthielt lateinische Verse über die Jagd, ein anderes – ein schweinsledernes Exemplar mit Golddruck – trug den Titel Histoire naturelle des quadrupèdes: eine Naturgeschichte der Vierbeiner. Soweit sie feststellen konnte, handelte es sich bei den Büchern auf dieser Seite im Wesentlichen um praktische Anleitungen zu Tierzucht sowie Nachschlagewerke über Kräuterkunde und Botanik.
Sie zog das abgegriffene Werk über Heilkunde heraus, das ihr Vater konsultierte, wenn er die Kranken und Armen pflegte. Petite kannte das Buch gut, da sie ihren Vater oft auf seinen Runden begleitete. Erst tags zuvor hatten sie eine Frau mit ihren drei Kindern besucht, die in einer Höhle an den Steilhängen wohnte. Der jüngste Spross hatte sich beim Fallenstellen einen Schnitt am Bein zugezogen, den Petites Vater mit sauberem Leintuch verband. Der Junge lag auf einem Bett aus trockenem Laub, an dessen Kopfende ein Kreuz aus Zweigen stand. Die Frau hatte sich beim Abschied tief vor Petites Vater verbeugt und dabei seine Hand an ihre Stirn gedrückt, als erbitte sie seinen Segen.
Dieses häufig benutzte Buch war nicht verstaubt, aber Petite wischte dennoch mit ihrem Lappen über den Einband und schob es zurück an seinen Platz.
»Während ich solches schweigend bei mir selbst erwog«, quäkte der Hauslehrer weiter, »schien es mir, als ob zu meinen Häupten ein Weib hinträte von höchst ehrwürdigem Antlitz, mit funkelnden und über das gewöhnliche Vermögen der Menschen durchdringenden Augen.«
Petite nahm das nächste Buch heraus und hielt es ans Licht, um zu sehen, ob es mit Ruß beschmutzt war. Es war größer als die anderen, aber im Rücken nicht gebunden. Stattdessen wurden die dünnen, vergilbten Seiten mit Garn zusammengehalten. Der Titel, Pferd und Reiter, stand vorne in dicken Lettern auf dem Pappendeckel, und der Inhalt war nicht von Hand geschrieben, sondern gedruckt und von daher leichter lesbar für sie.
Vorsichtig schlug Petite die brüchigen Blätter um: Die Pferdezucht, Die Reitkunst, Die Ausbildung von Rennpferden, Die Pferdehaltung. Nachmittag für Nachmittag war sie in der stillen Stunde nach dem Mittagessen in die Scheune geschlichen und hatte versucht, mit einer Handvoll Hafer oder einem stibitzten Zuckerstückchen den Hengst zu locken. Sie hatte ihm sanft zugeredet, ihm Pferdebrot hingehalten, das sie selbst gebacken hatte, und dennoch reagierte er nach wie vor mit Drohgebärden. Jede Nacht vor dem Zubettgehen betete sie für ihn und flehte die Heiligen um Hilfe an.
Warum werden meine Gebete nicht erhört, fragte sie sich, als sie die Seiten umblätterte: Wie man schlechten Charakter kuriert, Mittel gegen Bockigkeit, Von Hexen und Nachtmahren. Petites Atem ging schneller, als sie las: Vom Knochenzauber.
Sie warf einen raschen Blick durch den Türspalt. Jean war jetzt ganz offensichtlich eingeschlafen; sein Mund stand weit offen. »Drum hinweg, ihr, Sirenen!«, las der Hauslehrer, »die ihr süß seid zum Verderben!«
Petite schlug das Buch an der Stelle auf, die vom Knochenzauber, seinem Nutzen und seiner Anwendung handelte. Vorsicht!, las sie.
Sie hörte die Haustür zuschlagen und dann Stimmen: Es war ihr Vater, der aus der Stadt nach Hause zurückgekehrt war. Rasch schob sie das Buch zurück an seinen Platz und schlich zur Zimmertür. Monsieur Péniceau unterbrach seine Lektüre, und Jean setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Ich bringe gute Neuigkeiten!«, verkündete der Vater, als er die Stube betrat. Wasser tropfte aus seinen langen, vom Regen durchnässten Haaren. »Der König hat über Bordeaux gesiegt!«
»Bravo!«, rief der Hauslehrer mit schriller Stimme.
»Bravo«, sagte Jean und stand auf. »Hat es aufgehört zu regnen? Kann ich angeln gehen?«
»Nein, das Angeln muss vorerst warten, mein Sohn. Es gibt Wichtigeres zu tun! Auf dem Rückweg nach Paris wird der Hofstaat in Amboise Station machen.«
»Der König kommt nach Amboise?«, fragte Petite und gesellte sich zu den anderen in der Stube.
»Ja, Kleines. Der König und seine Mutter. Ich wurde dazu auserwählt, den Empfang des Königs vorzubereiten. Deine Mutter wird mich begleiten müssen, um dabei zu helfen, die Mutter des Königs zu bedienen, und … « – er wandte sich an Petites Bruder – » … du wirst ebenfalls mitkommen müssen, Jean. Es ist eine günstige Gelegenheit, dich den Mitgliedern des Hofstaates vorzustellen, vielleicht sogar dem König und seinem Bruder, die etwa in deinem Alter sind.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Petite enttäuscht.
»DU BIST ZU JUNG, UM MITZUFAHREN, Louise, und das ist mein letztes Wort«, sagte Françoise, während sie ihren Schrankkoffer durchsuchte.
»Aber ich bin schon sechs!«, erwiderte Petite.
»Kinder würden den Hofstaat nur stören. Blanche passt solange auf dich auf.«
»Jean darf mitfahren, und er ist erst acht.«
»Mit acht ist man schon groß, mit sechs noch nicht. Bei einem Jungen ist es sowieso etwas anderes.«
Françoise schüttelte ihr grünes Samtkleid aus. »Ich werde wohl mein gelbes Seidenkleid tragen müssen«, sagte sie traurig, mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. »Warum sitzt du nicht an deinem Spinnrad?«, fragte sie dann.
»Es hat aufgehört zu regnen«, antwortete Petite. »Ich wollte fragen, ob ich Vater draußen bei den Pferden helfen darf.«
»Nun geh schon«, antwortete Françoise ungeduldig. Sie öffnete ihre Schmuckschatulle. »O mein Gott!«, ächzte sie.
LAURENT DE LA VALLIÈRE war in der Scheune und untersuchte gerade sein altes Kavalleriepferd, als seine Tochter hereinkam und ihn am Ärmel zupfte.
»Mutter sagt, ich soll dir sagen, ihre Perlen sind weg!«
Laurent seufzte. »Ich werde später mit ihr darüber reden«, sagte er und hob Hongres rechten Vorderhuf an.
»Du willst doch nicht etwa auf dem alten Ungarn nach Amboise reiten, Vater?«, fragte Jean von der Verschlagwand herunter, auf der er saß. »Er ist alt und hat einen flachen Kopf. Alle würden über ihn lachen.«
»Hongre ist ein edles Pferd, mein Sohn. Er hat mir gute Dienste geleistet. Aber ich möchte ihn tatsächlich lieber nicht mitnehmen nach Amboise.« Laurent setzte den Huf des Pferdes ab und streichelte seine Schulter. »Er wird allmählich zu alt für solche langen Ritte.«
Ein Pferd schnaubte, und alle drei drehten sich um.
»Warum reitest du nicht Diablo?«, fragte Petite.
»Tja, wenn ich ihn zähmen könnte … « All seinen Bemühungen zum Trotz hatte es Laurent bisher nicht geschafft, sich dem Schimmel auch nur zu nähern.
Petite ging mit einer Handvoll Getreide zum Eckverschlag.
»Halte dich von diesem Pferd fern!«, warnte Laurent. »Geh lieber die Eier einsammeln.«
Petite warf das Getreide in den Verschlag und rannte zur Scheunentür hinaus.
»Und du«, sagte Laurent zu seinem Sohn gewandt, »putz mir Hongre für morgen. Ich werde ihn mit nach Amboise nehmen.«
»Warum kann das nicht der Pflüger erledigen?«, maulte Jean, sprang auf den Boden und klopfte sich den Staub von der Kniebundhose. »Schau dir mal an, wie der Verschlag von dem Schimmel aussieht, der Dreck türmt sich ja. Wann hat er wohl zum letzten Mal ausgemistet?«
»Jean«, mahnte Laurent und griff nach dem Rosenkranz unter seiner Kleidung. »Er repariert gerade ein Rad am Wagen.« Doch tatsächlich hatte sich der Mist im Eckstall knietief angehäuft. Die sonst so reinliche Scheune stank.
Was soll ich bloß mit diesem Pferd anfangen, fragte sich Laurent auf dem Weg über den Hof zurück zum Haus. Vom ersten Tag an hatte es Schwierigkeiten gegeben. Ein Schwein starb an Finnen. Eines der Zugpferde erkrankte an Räude, und die knotigen, nässenden Eiterbeulen auf dem Rücken der Stute machten es unmöglich, sie anzuschirren. Laurent selbst hatte sich das Bein an der Pflugschar verletzt. Der Schnitt war verheilt, Gott sei Dank, aber erst nachdem er den Heiligen Georg angerufen und die Pflugschar mit einem Geheimmittel behandelt hatte, das er auf dem Markt von Reugny erstanden hatte. Es bestand aus Moos von dem Kopf einer unbeerdigten männlichen Leiche. Der Pflüger, der ein Gespür für das Übersinnliche besaß, war davon überzeugt, dass der Weiße bösen Geistern Tür und Tor geöffnet hatte. Seine verfilzte, zu Hexenlocken verdrehte Mähne war ein deutliches Zeichen. Laurent hatte Curé Barouche zehn Sous bezahlt, damit er das Pferd sowie die Scheune von dem Zauber befreite, aber nicht einmal das hatte geholfen. Diablo – er trug diesen Namen wahrlich nicht umsonst. Ein Teufel von einem Tier, dachte Laurent und hielt vor der Hintertür inne, denn ihm fielen mit einem Kloß im Hals die verschwundenen Perlen seiner Gattin wieder ein.
Françoise war in der Küche und hob grüne Kochäpfel aus einem Topf mit sprudelndem Wasser. »Das mit deinen Perlen tut mir leid«, sagte Laurent, hängte seinen Hut an den Haken und zog seinen Mantel aus.
»Das muss das Spülmädchen gewesen sein«, meinte Françoise und warf einen Apfel in einen Holzeimer mit Brunnenwasser. »Sie ist eine diebische Elster!«
»Das Mädchen war es nicht, Françoise«, erwiderte Laurent, während er aus seinen Arbeitsstiefeln schlüpfte. »Ich habe sie genommen.«
Seine Frau fuhr herum und starrte ihn an, einen Apfel in der einen, ein Küchenmesser in der anderen Hand.
Laurent senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich habe sie versetzt«, beichtete er.
»Du hast meine Perlen versetzt – die Perlen, die ich von meiner Großmutter geerbt habe?«
»Ich verspreche dir, dass du deine Kette wiederbekommst.«
»Woher nimmst du das Recht dazu?« Françoises Stimme klang tränenerstickt.
»Beruhige dich«, flüsterte Laurent und wies mit dem Kinn hinüber zur Beiküche, in der Blanche und das Spülmädchen beschäftigt waren. »Jemand brauchte unbedingt das Geld.«
»Wir brauchen das Geld, Laurent!«
»Es tut mir wirklich leid … « Laurents Entschuldigung wurde von einem Hämmern an der Küchentür unterbrochen.
»Warum muss der Pflüger immer derart drauflospoltern?«
»Ich gehe schon, Françoise.«
»Herr, der Schimmel!«, sagte der Pflüger, wobei sein Atem in weißen Wölkchen in der kalten Herbstluft kondensierte. »Er hat zwei Stallbretter herausgeschlagen.«
»Könnt ihr ihn im Zaum halten?«
»Ja, aber … «
»Ich komme gleich.«
»Dieses Pferd muss weg, Laurent«, sagte Françoise, als ihr Mann die Tür gegen die Kälte schloss. »Verkaufe es auf dem Markt.«
»Das Problem ist nur, es dorthin zu bekommen«, entgegnete Laurent und griff nach seinem Mantel.
»Dann wird es Zeit, andere Maßnahmen zu ergreifen.« Françoise schälte geschickt einen Apfel, sodass die Schale in einer langen Spirale hinunterhing. »Ich weiß nicht, warum du dich dagegen sträubst, den Arbeitern Pferdefleisch zu essen zu geben. Es ist gut und nahrhaft, und … «
»Das werde ich nicht tun, und das ist mein letztes Wort.«
Petite erschien in der Tür, einen Korb mit Eiern in der Hand. »Sprecht ihr von Hongre?«
»Du sollst nicht dazwischenreden, wenn deine Eltern sich unterhalten, Mademoiselle!«, rügte sie Françoise. Sie schnitt den Apfel in zwei Hälften und entfernte das Kerngehäuse. »Nein, wir haben nicht von Hongre geredet – obwohl du auch ihn loswerden solltest, wo du schon einmal dabei bist, Laurent. Dieses alte Pferd tut nichts mehr außer zu fressen.«
»Nein, noch nicht, Françoise«, seufzte Laurent.
»Ihr habt von Diablo geredet.« Petite stellte abrupt den Eierkorb hin.
»Pass doch auf!« Françoise runzelte die Stirn, als sie sah, dass zwei Eier angeknackst waren.
»Kleines, deine Mutter hat recht. Sie denkt eben praktisch.«
»Aber nicht Diablo, Vater!«
Laurent zog sich den Hut über die Ohren. »Morgen brechen wir nach Amboise auf. Wenn wir wiederkommen, wird es geschehen müssen.«
KRAH! EINE RABENKRÄHE stieß einen warnenden Schrei aus.
Petite, eingepackt in warme Kleidung aus selbstgesponnener Wolle, hob den Blick. Drei blauschwarze Krähen saßen auf den Zweigen einer Ulme unter einer großen Zahl von Nestern aus Lehm und Zweigen.
Krah! Krah!
Petite drehte sich um und sah zu, wie ihr Vater das Geschirr der vierrädrigen, offenen Kutsche prüfte. »Wann kommt ihr wieder?«, fragte sie, reckte sich und streichelte dem alten Pferd ihres Vaters den Hals. Hongre döste in der hellen Morgensonne. Seine Zügel waren zwischen die Speichen eines Wagenrades geschlungen. Der von Eseln gezogene Planwagen war abfahrbereit, beladen mit Schrankkoffern und Bettzeug.
»Kommt darauf an.« Laurent zog einen Gurt um zwei Loch strammer und ruckte daran, um sicherzugehen, dass er fest saß.
Petite schaute ihrem Vater in die blassblauen Augen. »Ich will nicht, dass du Diablo tötest, Vater.«
»Ein Pferd muss zu etwas nütze sein.«
»Er kann gezähmt werden. Ich habe für ihn gebetet.«
»Er ist gefährlich. Ich will nicht, dass du irgendwelchen Unsinn mit ihm treibst, verstanden? Ich verbiete es dir.« Er bückte sich und schaute seiner Tochter in die Augen. »Du darfst dich nicht in seine Nähe wagen! Und jetzt geh ins Haus. Du holst dir sonst noch den Tod hier draußen.«
Petite rannte zur Eingangstreppe und kauerte sich dort nieder, ihre Knie mit den Armen umschlungen. Das Kopfsteinpflaster auf dem Hof war mit leuchtend buntem Herbstlaub bedeckt, und durch die kahlen Zweige der Bäume konnte sie den Fluss sehen, an dessen Ufer Moos und Farne wuchsen.
Die große Vordertür schwang auf, und ein warmer, nach Vanille duftender Luftzug wehte ihr entgegen. »Da bist du ja!«, sagte Françoise vorwurfsvoll. Sie trug eine Fischbeinkrinoline unter ihren Röcken, sodass sie sich seitwärts drehen musste, um durch die Tür zu passen. Der Hauslehrer kam als nächstes, gefolgt von Jean, der in seine Sonntagskleidung gezwängt worden war, in der er sich sichtlich unbehaglich fühlte. Er trug ein verschossenes gelbes Samtwams und Kniebundhosen, die ihm mittlerweile ein wenig zu klein geworden waren.
»Mir ist nicht kalt, Mutter«, behauptete Petite zähneklappernd. Sie rutschte ein Stück, um die anderen vorbeizulassen.
»Jean, komm her!«, rief Laurent. Er steckte die Peitsche in ihren Halter.
Jean drängte sich nach vorn und der Hauslehrer half Françoise die Treppe hinunter. Ihre Reifröcke wippten bei jedem Schritt auf und ab. Unten angekommen, drehte sie sich noch einmal um.
»Sei brav, Louise«, mahnte sie und zeigte mit ihrem gefleckten Kaninchenmuff auf ihre Tochter. »Treib keinen Unfug. Klettere nicht auf Bäume. Und hecke auch keine anderen Streiche aus.«
Krah! Krah! Die Saatkrähen flogen auf.
NACHDEM ALLE WEG WAREN, wurde es still. Blanche stellte für Petite eine Milchschüssel auf den grün gestrichenen Tisch in der Küche. Petite betete, während sie die sämige Vanillesoße löffelte. O Herr, ich bitte dich, sag mir, was ich tun soll! Sie schloss die Augen und wartete auf ein Zeichen.
»Bist du mit den Büchern deines Vaters fertig?«, fragte Blanche und räumte die Holzschüssel weg.
Das Buch über Pferde! Natürlich! »Nein, aber ich bringe die Arbeit jetzt gleich zu Ende«, sagte Petite und sprang auf.
Im Studierzimmer ihres Vaters war es dunkel. Petite ertastete sich den Weg zum Fenster und öffnete mühevoll die Läden. Sonnenlicht erhellte die Figur der Jungfrau Maria, die als Briefbeschwerer auf dem Papierstapel an einem Ende von Vaters Schreibtisch stand.
Pferd und Reiter befand sich genau an der Stelle, an der sie es zuletzt gesehen hatte, zwischen dem Familien-Arzneibuch und einem Werk über Reitkunst auf dem Regal direkt am Fenster. Petite bekreuzigte sich und griff danach.
Obwohl es dick war, wog das Buch nicht schwer. Petite zog einen Korbstuhl ans Licht und machte es sich darauf bequem. Sie legte das Buch auf den Schoß, schlug es auf und blätterte bis zu dem Kapitel über Knochenzauber. Das meiste konnte sie lesen – genug jedenfalls, um zu verstehen, wie der Zauber durchgeführt werden musste. Töte eine Kröte oder einen Frosch … Setze ihn auf einen Weißdornbusch … bei Vollmond …
Vorsicht!, las sie erneut.
Sie fühlte sich verzagt und ängstlich. War Zauberei nicht Teufelswerk? Sie dachte an all die Ermahnungen, die man ihr mit auf den Weg gegeben, an die Gesprächsfetzen, die sie aufgeschnappt hatte, und sie überlegte, das Buch zurückzustellen. Das Fegefeuer wartete auf die Seelen der armen Sünder. Sie solle die Finger von jeglicher Zauberei lassen, hatte sie der Mohr eindringlich gewarnt.
Doch was sollte aus Diablo werden? Wie sollte sie ihn retten? Sie hatte ihn mit Hafer, mit Brotkanten und Apfelstückchen gelockt. Sie hatte zu Jesus, zur heiligen Mutter Maria und zu allen Heiligen gebetet, die ihr nur einfielen – und immer noch versuchte Diablo, auf sie loszugehen, wenn sie sich ihm näherte. Knochenzauber sei das Einzige, was ihn zähmen könne, hatte der Mohr behauptet. Wie konnte es eine Sünde sein, ein Pferd zu zähmen? Und dadurch sein Leben zu retten?