Das Ethos des Politikers, die internationale Finanzkrise und die außenpolitische Situation der Bundesrepublik – um diese Themen kreisen die in diesem Band versammelten Reden, die Helmut Schmidt in den vergangenen Jahren aus ganz unterschiedlichen Anlässen gehalten hat. Sie bündeln in konzentrierter Form einige Kernaussagen seiner in einem langen politischen Leben gewonnenen Erfahrungen. Der Band enthält auch die viel beachtete Rede, die Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 aus Anlass des feierlichen Gelöbnisses der Rekruten der Bundeswehr vor dem Berliner Reichstag gehalten hat.
Helmut Schmidt, geb. 1918 in Hamburg, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, ist seit 1983 Herausgeber der ZEIT. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen, zusammen mit Fritz Stern, «Unser Jahrhundert. Ein Gespräch». Gemeinsam mit Richard von Weizsäcker hat er im gleichen Verlag die Reihe «Die Deutschen und ihre Nachbarn» herausgegeben.
Rede am 20. Juli 2008 aus Anlass des feierlichen Gelöbnisses der Rekruten der Bundeswehr auf dem Platz vor dem Reichstagsgebäude
Lassen Sie mich zunächst Ihnen, Herr Bundesminister, für die Einladung danken, in der heutigen Feier das Wort zu ergreifen. Ich tue das mit innerer Bewegung. Denn heute vor über 70 Jahren bin ich selbst Rekrut gewesen. Und es liegt auch schon fast vier Jahrzehnte zurück, dass ich als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt zu unseren Soldaten sprechen durfte.
Heute will ich mich besonders an die Rekruten wenden und will versuchen, Ihnen ein kleines Stück meiner eigenen geschichtlichen Erfahrung vorzutragen.
1937 bin ich als Wehrpflichtiger eingezogen worden. Damals habe ich die nationalsozialistische Führung Deutschlands für verrückt gehalten und habe sie als ein Übel betrachtet. Aber dass sie aus Verbrechern bestand, das habe ich noch während des Hitlerschen Weltkrieges nicht begriffen. Erstmals als ich im Herbst 1944 als Zuhörer zum sogenannten Volksgerichtshof abkommandiert war und dort einen Tag des unmenschlichen Schauprozesses gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli miterleben musste, erst da habe ich angefangen, den verbrecherischen Charakter des «Dritten Reiches» zu begreifen. Jedoch habe ich danach gleichwohl als kämpfender Soldat weiterhin meine Befehle und Pflichten befolgt – so wie Millionen anderer Soldaten auch.
In den letzten sieben oder acht Monaten des Krieges sind zivile Bürger und Soldaten in größerer Zahl ums Leben gebracht worden als vorher während der ganzen ersten fünf Jahre des Krieges. Diese ungeheuren Opfer aus fast allen europäischen Völkern waren absolut sinnlos, denn unser schließlicher Zusammenbruch war längst erkennbar.
Auch wenn das Attentat auf Hitler geglückt wäre – das katastrophale Ende war gleichwohl gewiss. Trotzdem haben wir weitergekämpft. Und die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Rüstung haben weitergearbeitet. Denn in den Schulen, in den Kirchen und in den Fabriken waren wir zum Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Staat erzogen und gedrillt worden. Vor allem aber hatte jedermann Angst vor der Gestapo und vor dem Kriegsgericht.
Schon seit 1941, seit unserem Überfall auf die Sowjetunion, ist mir klar gewesen, damals 22 Jahre alt, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Er würde in einer Katastrophe enden. Gleichwohl blieb ich patriotisch gesinnt und glaubte: Wenn mein Land im Krieg ist, dann muss ich als Soldat meine Pflicht erfüllen. Das hatte ja mein Vater 1914/18 genauso getan.
Die meisten der Frauen und Männer vom 20. Juli 1944 waren weitgehend ähnlich erzogen worden. Was sie aber vor vielen Millionen Deutscher auszeichnete, das war ihre Überzeugung, dass es gleichwohl ihre moralische Pflicht war, wenigstens einen letzten Versuch zum Staatsstreich zu unternehmen. Manche von ihnen haben geahnt oder gewusst, dass selbst ein geglückter Staatsstreich die Katastrophe nicht mehr abwenden konnte. Tresckow hat es gewusst – und hat gesagt: «Ja, trotzdem!» Ähnlich Stauffenberg, der Julius Leber zum Reichskanzler machen wollte. Leber aber wusste auch: In jedem Falle wird die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unausweichlich. Tatsächlich hat später die Kapitulation das Schicksal unseres Volkes in die Hände der siegreichen Feinde gelegt.
Wenn heute drei Bundesverteidigungsminister nacheinander die Verbindung des Gedenkens an den 20. Juli 1944 mit dem feierlichen Gelöbnis von heutigen Rekruten als eine Tradition geschaffen haben; wenn inzwischen neben deutschen Politikern auch hervorragende Repräsentanten der Polen und der Franzosen, der Engländer und der Amerikaner, der Norweger und der Holländer sich als Redner an dieser Tradition beteiligt haben, so haben sie damit die heroische moralische Leistung des aktiven Widerstands gegen Hitler ehren wollen. Zugleich haben sie die von ihren Nationen ausgehende Versöhnung mit uns Deutschen bestätigt. Vor allem haben sie ihr Vertrauen in Deutschland ausgedrückt – und ihr Vertrauen in unsere beständige Einbindung in die Europäische Gemeinschaft.
In der Tat: Die heutige Bundesrepublik Deutschland ist ein ganz anderer Staat geworden. Ganz anders als zu Zeiten Wilhelms II., anders als zu Zeiten Weimars – unvergleichlich besser und zuverlässiger als Hitlers Unrechtsstaat. Heute muss keiner von uns sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um eine Unrechtsregierung zu stürzen. Heute muss kein Deutscher sich in der eigenen Seele mit seinem gespaltenen Bewusstsein quälen, des Nachts Hitler zum Teufel zu wünschen, aber am nächsten Tage abermals seine Befehle zu befolgen. Heute leben wir alle unter einer besseren inneren Verfassung und in einer friedlicheren äußeren Verfassung als jemals die früheren Generationen.
Das ist eine gewaltige Leistung der letzten 60 Jahre. Wir haben diese Leistung allerdings nicht allein und nicht nur aus eigener Kraft zustande gebracht. Sondern wir verdanken sie unserer Einbettung in die Europäische Gemeinschaft und in das Atlantische Bündnis. Wir verdanken sie unseren Nachbarn. Wir verdanken sie allen Europäern, die gegen Diktatur und Unrecht und gegen die Teilung Europas aufbegehrt haben.
Zugleich aber legt uns das Vertrauen, das unsere Nachbarn und das die einstmaligen Sieger heute in uns setzen, dies Vertrauen legt uns eine schwere Bürde auf. Denn wir allesamt sind belastet mit der Verantwortung dafür, dass sich die Schrecken der deutschen Vergangenheit nicht wiederholen dürfen. Das ist eine sehr schwere Verantwortung.
Zwar glauben viele, unser heutiger Friede sei doch selbstverständlich. Aber seit Jahrhunderten haben wir Deutsche uns keineswegs als eine sonderlich friedfertige Nation erwiesen. Richard von Weizsäcker, als Bundespräsident am vierzigsten Jahrestag der Kapitulation sprechend, hat sehr nüchtern festgestellt: «Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und für kein Land! … Wir bleiben als Menschen gefährdet.» Und diese beiden Sätze sind leider die reine Wahrheit. Es ist leider wahr, dass wir Menschen verführbar sind. Auch wir Deutschen bleiben verführbar.
Weil wir einer denkbaren politischen Verführung widerstehen wollen, deshalb ist es notwendig, sowohl moralisch aus unserer Geschichte zu lernen als aber auch politisch daraus zu lernen. Der politische Anfangsfehler wurde im Frühjahr 1930 gemacht. Denn drei Jahre, bevor Hitler an die Macht kam, ist – über eine nebensächliche Streitfrage – die Weimarer Koalition zerfallen, welche bis dahin die Reichsregierung getragen hatte. Die demokratischen Parteien räumten freiwillig das Feld. Sie machten freiwillig Platz für eine Notverordnungs-Diktatur. So ist 1933 Hitler zur Macht gekommen, die er sogleich schändlich missbraucht hat.
Die Weimarer große Koalition hat nicht nur sich selbst aufgegeben, sie hat vor allem die parlamentarische Demokratie preisgegeben. Aus dieser historischen Tatsache haben wir für heute und morgen zu lernen.
Tatsächlich sind seit 1949 alle acht Bundeskanzler und ihre politischen Parteien und Fraktionen mit der parlamentarischen Demokratie sehr viel klüger umgegangen. Sie haben auch in kluger Weise dazu beigetragen, uns den äußeren Frieden zu erhalten. So haben wir unserem Grundgesetz und dem Völkerrecht gehorcht, als wir uns dem Krieg im Irak verweigert haben.
Wenn wir dagegen heutzutage an militärischen Eingriffen in Afghanistan uns beteiligen, dann geschieht es in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz, in Übereinstimmung mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – und gemeinsam mit unseren Verbündeten.
Man kann über solche Einsätze streiten. Jedoch jeder Soldat und jeder Rekrut darf sich darauf verlassen: Auch künftig werden Bundestag und Bundesregierung unsere Streitkräfte nur im Gehorsam gegen das Grundgesetz und nur im Gehorsam gegen das Völkerrecht einsetzen.
Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück – ganz anders als ich als Rekrut des Jahres 1937! –, Ihr habt das Glück, einer heute friedfertigen Nation und ihrem heute rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen: Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen. Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen sind das oberste Gebot – nicht nur für die Regierenden, sondern für uns alle.
Rede in Hamburg im Gästehaus des Senats am 14. Januar 2009