1. Auflage Mai 2011
© Satyr Verlag, Berlin 2011
Satyr Verlag ist ein Geschäftsbereich der BlueCat Publishing GbR
Geschäftsführung: Peter Maassen
www.satyr-verlag.de
Lektorat: Volker Surmann, Claudia Denef
Cover, Satz, Layout & Illustrationen: Endai Hüdl
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
ISBN 978-3-86327-008-7
Vorwort der Herausgeber
Der Schiene Schein | |
Der Schaffner, das unbekannte Wesen | |
Zugkupplung mal anders | |
DB juvenil | |
Auf unbekannten Gleisen reisen | |
Bahnsinn in kleinen Dosen | |
Rätsel Mitmensch |
Sicher ist, dass nichts sicher ist
Wer in der Erwartung einer gesitteten und störungsfreien Reise ein Erste-Klasse-Ticket bucht, der kann sich eben nicht darauf verlassen, dass dieser Wunsch nach einer geruhsamen Fahrt auch erfüllt wird; denn möglicherweise steht er, ehe er sich versieht, inmitten eines Junggesellenabschieds und wird von einem Betrunkenen im Waschbärkostüm zum Exklusiv-Gesprächspartner auserkoren. Man kann in so einer Situation entweder unwirsch werden und verzweifeln – oder aber man arrangiert sich mit der neuen Großwetterlage, macht das Beste draus und zischt ein paar Bierchen mit dem leicht alkoholisch riechenden, letztlich aber auch possierlichen und gutmütigen Mensch-Tier-Zwitterwesen.
Bücher, in denen über die Bahn gemeckert wird, gibt es zuhauf. Diesem Kanon ein weiteres Bahn-Bashing-Buch hinzuzufügen, war nicht die Intention der Herausgeber. Vielmehr möchten wir den Zug als räumlich und zeitlich begrenztes Biotop sehen, als Brennglas, unter dem soziale Unterschiede und menschliche Eigenarten auf ganz besondere Art und Weise hervortreten.
Dieses Buch versammelt skurrile, komische, ärgerliche oder sonstwie bemerkenswerte, stets aber wahre Geschichten aus dem Bahnfahreralltag. Den überwiegenden Teil dieser Texte reichten die Leserinnen und Leser der Zeitungen »DIE WELT«, »WELT am SONNTAG« und »WELT KOMPAKT« im Rahmen von Leseraufrufen ein. Ihnen und auch den Einsendern, deren Erlebnisse es nicht in die letzte Fassung des Buches geschafft haben, danken wir. Besonderer Dank gebührt zudem dem Leiter des Ressorts »Reise« bei der »WELT am SONNTAG«, Sönke Krüger, der sich mit großem Elan für dieses Projekt eingesetzt hat. Auch ein paar bekanntere Humoristen und Lesebühnenautoren, unter ihnen Petra Brumshagen, Nils Heinrich, Uli Hannemann und Volker Surmann, haben Gefallen an diesem Projekt gefunden und uns ihre Bahntexte zur Verfügung gestellt. Dabei haben sie in Einzelfällen, so scheint es uns, die Grenzen des Realen überschritten und von der Freiheit des Künstlers Gebrauch gemacht. Dieses zu unterbinden haben wir jedoch nicht als unsere Aufgabe angesehen. Denn auch bei manch realer Begebenheit mag sich der Verfasser mit einem Seufzer gedacht haben: »Ich wünschte, es wäre nur Fiktion!«
Wir wünschen viel Spaß und gute Unterhaltung bei der Lektüre!
Jochen Reinecke, Mirco Drewes
Berlin im Mai 2011
Wenn man auf dem Bahnsteig steht und auf seinen Zug wartet, dann verheißt die Lautsprecherdurchsage, dass der Zug aufgrund von »Störungen im Betriebsablauf« verspätet sei, zumeist nichts Gutes. Doch der entspannte Bahnfahrer sieht in solchen Störungen auch ihr großes Potenzial: Wenn etwas nicht so läuft wie geplant, dann kann man eben nicht nur ärgerliche, sondern auch unerwartet schöne, unterhaltsame oder zumindest erzählenswerte Dinge erleben. In diesem Kapitel erfahren Sie, in welche Situationen man durch technisches oder menschliches Versagen hineinmanövriert werden kann.
Petra Brumshagen, München
Zu Weihnachten wurde ich mit Tickets für freie Fahrten quer durch Deutschland bedacht. Ich liebe solche Tickets, weil man sie, außer freitags, an jedem Tag spontan einsetzen kann. Heute ist so ein Tag. Ein Sonntag im Januar. Ich will von Heidelberg nach München fahren und entscheide mich für eine Verbindung ohne Umsteigen, schön unkompliziert.
Freude kommt auf, als ich entdecke, dass der Freifahrkarte sogar noch ein Gutschein für eine Sitzplatzreservierung beiliegt. Ich muss dafür nur an den Schalter am Bahnhof, um zu reservieren.
Die Schalterhalle sieht von Weitem erfreulich leer aus, und meine Begleitung und ich gehen schnurstracks hinein. Beschwingten Schrittes möchte ich zu einem der zwei besetzten Schalter gehen, als mich eine Art Marktschreier in roter Uniform aufhält, indem er seinen Arm in meine Lauflinie streckt und mich mit der Frage »Was möchten Sie bitte?« völlig überrascht.
Etwas verwirrt über diesen untersetzten Anhalter muss ich mich kurz sammeln. »Ähm, ich möchte mir eine Sitzplatzreservierung kaufen. Das heißt, ich habe einen Gutschein dafür.«
Seine Stirn liegt in Falten. Die Frau hinter dem Schalter, den ich eigentlich gerade beehren wollte, trommelt mit den Fingern und gähnt dabei. Der Mann hingegen räuspert sich vielsagend: »Sie müssen sich bitte erst eine Wartenummer ziehen«, befiehlt er. Meine Begleitung prustet los.
»Eine Wartenummer?«, wiederhole ich ungläubig. Er deutet auf einen Kasten, der mich verdammt an Einwohnermeldeamt erinnert. »Da, auf den Knopf drücken«, fährt er fort und zeigt mir diesen. »Aber«, setze ich an, als meine Begleitung schon fast den Lachtränen nahe ist, »ich bin doch die Einzige hier!«
Verständnislos schüttelt der Uniformierte den Kopf: »Hier läuft trotzdem alles nach Plan.« Er entfernt sich ein paar Meter und postiert sich, als sei auf dem Boden eigens für ihn eine Markierung angebracht.
Gern würde ich einen blöden Spruch reißen, ihn beschimpfen oder einfach ziellos um mich schlagen. Stattdessen ziehe ich meine Nummer. Sie ist fünfstellig. So etwas wie »13069«.
Kaum habe ich sie in der Hand, ertönt eine schrille Tonabfolge wie bei modernen Pausenglocken. Ich fühle derweil im Rucksack nach meinem Geldbeutel, in dem sich mein Gutschein befindet. Plötzlich kommt der Mann wieder mich zu: »Welche Nummer haben Sie gezogen?«
Ich seufze extra laut. »Die 13069«, lese ich von dem kleinen Zettel übertrieben langsam ab.
»Sie wurden soeben aufgerufen!«, erklärt er mir und zeigt mit der Hand über mich, wo auf einem Monitor die »13069« blinkt. Der Verlockung widerstehend, den Mann einfach umzuboxen, lächle ich ihn an und besorge mir relativ reibungslos am Schalter die gewünschte Sitzplatzreservierung. Ein Fensterplatz in Wagen 11. Endlich.
Als ich das Reisecenter verlasse, um mit meiner Begleitung Richtung Gleis zu laufen – ich schreie dabei noch ein bisschen rum, rege mich auf und dann wieder ab –, stupst sie mich plötzlich mit unterdrücktem Lachen an und deutet mitleidig Richtung Anzeigetafel. In dem winzigen Laufband nahe meiner Abfahrtsuhrzeit fährt der Satz entlang: »Dieser Zug verkehrt heute ohne Wagen 11.«
Petra Brumshagen, geboren 1979 in Oberhausen, lebt als freie Autorin und Satirikerin in München. 2009 erschien ihr Debütroman »Scheinfrei« im Berliner Querverlag.
Nicolais Voosen, Köln
»Hoffentlich habe ich den ganzen Scheiß nicht umsonst mitgenommen«, spukte es mir durch den Kopf, als der um dreißig Minuten verspätete ICE den Deutzer Bahnhof erreichte. Neben meinem Reisegepäck für einen dreitägigen Geschäftstrip begleiteten mich ein Fünfzehn-Zoll-Monitor, ein »Wohnzimmer«-PC, eine Tastatur, eine Maus, eine externe Festplatte und eine Mehrfachsteckdose. Und das alles, um mir in Nürnberg mit der Fertigstellung der Videos für die Hochzeit eines guten Freundes die Nächte um die Ohren zu hauen. Hätte man damit doch mal früher angefangen! Doch nicht nur die Deutsche Bahn hat mit Verspätungen zu kämpfen. Egal, da musste ich nun durch mit meinen fünfzehn Kilo Zusatzgepäck, schließlich sollten nächste Woche die Hochzeitsglocken läuten. Die Zeit lief gegen mich und die Deutsche Bahn!
Der Zug rollte vom Gleis, und der düstere Himmel über Deutschland wurde von Wetterleuchten immer wieder stroboskopartig erhellt. Doch es wollte keine Partystimmung im Zug aufkommen. Stattdessen hielt der Zug nach vierzigminütiger Fahrt bereits wieder und fuhr auch nicht weiter. Alles verstummte, vor allem das Personal der Bahn. Ein Knacken und Rauschen durchfuhr weitere zehn Minuten später den verstummten Zug: »Aufgrund eines Unwetters wird sich die Weiterfahrt auf unvorhersehbare Zeit verschieben.« Und wieder Stille. Danke! Türen auf, die Raucher verließen panikartig den Zug und quarzten sich erst einmal den Frust von der Seele.
Aus unserer dreißigminütigen Verspätung war jetzt bereits eine einstündige Verspätung geworden.
Die Zeit stand still und vor allem unser Zug. Auf all den geteerten Lungen Deutschlands wäre man wohl schneller unterwegs gewesen. Das DB-Personal begann, die »Fahrgastrechte«-Formulare zu verteilen: ein vierseitiges Klappformular mit Vorder- und Rückseite, ähnlich einer Tapetenrolle ohne Anfang und Ende. Was nun? Irgendetwas Sinnvolles musste ich tun, und da kam mir wieder mein Zwanzig-Kilo-Marschgepäck in den Sinn.
Die Mehrfachsteckdose war schnell eingesteckt. »Jetzt hole ich mir in Form von Strom alles von der DB zurück«, dachte ich mir. Glücklicherweise hatte ich einen kompletten Tisch für mich, der nun unter Monitor, Tastatur, Maus und Festplatte begraben vor mir lag. ICE, my home, my castle, my business bureau. »Schaut nur her!« Wenn sich jetzt das Unwetter verzogen hätte, hätte es trotzdem kein Weiterkommen für den ICE gegeben, da sämtlicher Strom in meinem Hightech-Schnittcomputer gelandet war. Das ist die Rache des kleinen Mannes, und der hatte nun Durst. Inspiration in flüssiger Form musste her. Ich schlug mich bis zum Bordbistro durch, vorbei an den schlafenden und genervten Leibern zu meinen Seiten, bestellte ein großes Bier und wollte schnell zahlen, doch da geschah es: Die DB-Angestellte schob mit eingemeißeltem Verlegenheitslächeln mein Geld zurück und sagte: »Ab jetzt ist alles kostenlos!« Mit einem Schlag kehrte auch in mein Gesicht ein Strahlen zurück. »Okay, dann hätte ich gerne noch Chips, Salzstangen und ein zweites Bier für meine Begleitung.«
Voller Freude, mein Glück nicht fassend, bahnte ich mir meinen Weg zurück an meinen Platz. Diese Sternstunde der Deutschen Bahn wollte ich eigentlich mit allen teilen und durch die Waggons rufen: »Freibier!« Doch ich zog es vor, mein kleines süßes Geheimnis für mich zu behalten. In dieser Nacht erschuf ich voller Inspiration ein kleines Meisterwerk, welches von den Hochzeitsgästen mit Begeisterung bejubelt wurde. Mit fünfstündiger Verspätung erreichte ich tief in der Nacht Nürnberg.
Nathalie-Lorena Kletti, Elztal
Es war an einem schönen Wintermorgen im November 2009. Ich freute mich auf eine angenehme Bahnfahrt zu meinem besten Freund. Auf dem Weg von Koblenz nach Frankfurt setzte ich mich in dem schon leicht überfüllten IC in ein Abteil in der ersten Klasse. Zu meiner Freude hatte ich dieses Abteil für mich ganz allein. In aller Ruhe fing ich an zu lesen und genoss meinen Kaffee. Nach einiger Zeit kam der Schaffner, um meine Fahrkarte zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt war keinem von uns beiden bewusst, dass er diese auf dieser Fahrt nicht mehr kontrollieren würde, denn die Tür des Abteils hatte sich verkeilt und ließ sich nicht mehr öffnen!
Zunächst noch positiv gesonnen, schmunzelte ich. Er sicherte mir zu, einen Kollegen zu holen, der ihm helfen sollte, die Tür zu öffnen. Doch auch die gebündelten Kräfte zweier Männer reichten nicht aus, um die Tür auch nur einen Millimeter zu bewegen. Mittlerweile war der Zug kurz vor Mainz. Es hieß, dort könne ein Bordtechniker zusteigen, der die Tür gänzlich ausheben sollte. Endlich in Mainz angekommen, kam dann die ernüchternde Nachricht, dass sich zur Zeit leider kein Bordtechniker im Bahnhof befände, und ich mich doch bitte bis Frankfurt Hauptbahnhof gedulden solle. Geduld wäre nicht das Problem gewesen, hätte sich nicht, durch den Kaffee angeregt, ein menschliches Bedürfnis angekündigt.
Um sicherzustellen, dass es mir gut ging, wurde eine Zugbegleiterin vor meinem Abteil postiert. Zusteigende Gäste fanden dies höchst merkwürdig. Mittlerweile hatte sich der Zug gut gefüllt, und so waren nun die Plätze im Flur begehrte Stehplätze. Nur ich hatte ein ganzes Abteil mit sechs Sitzplätzen zur Verfügung. Leicht verärgert fragte eine Mitreisende meine »Bewachung«: »Ist das eine Prominente, oder warum sitzt die allein?«
»Nein, sie ist eingesperrt.« – Die Gesichtsausdrücke der Mitreisenden reichten von Amüsement bis hin zu leichtem Entsetzen.
Inzwischen ließ mir ein Mitarbeiter im Zug sogar einen Getränkegutschein zukommen, den er unter der Abteiltür durchschob. Dies sorgte bei mir nun wirklich für einen ausgiebigen Lachanfall, denn wie sollte ich diesen im Moment einlösen können?
Nach fünfzig Minuten Fahrt erreichte der IC endlich den Frankfurter Hauptbahnhof. Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis der Bordtechniker endlich kam und weitere zehn Minuten, bis die Tür aus den Angeln gehoben war und ich den IC verlassen konnte. Seither meide ich IC-Abteile, deren Türen sich nicht leicht schließen lassen …
Mirjam Wensauer, Schwandorf
Bekanntlich stellte der Winter 2010/2011 die Deutsche Bahn und damit ihre Fahrgäste auf eine harte Probe. Bei -19° Celsius am Morgen des 30.12.2010 standen nur vereinzelte Fahrgäste bibbernd am Bahnsteig. Endlich fuhr der Zug ein, offenbar direkt aus dem Museum für Bahnveteranen entsprungen. Es war warm im Abteil, was friedlich stimmte. Ein Fahrgast suchte die Toilette (der Zug hatte nur eine), welche leider nicht funktionierte und wandte sich hilfesuchend an den Zugbegleiter. Mit einer Gelassenheit, die nur krisenerfahrenen Personen zu eigen ist, stellte sich der Schaffner nun vor die Fahrgäste und verkündete laut, dass jeder, der auf die Toilette wolle, sich jetzt bei ihm melden müsse. Erst in dreißig bis vierzig Minuten (Fahrzeit variiere witterungsbedingt) würde man den nächsten Bahnhof erreichen. Dort könne man eine Pinkelpause einlegen, da der Zug Aufenthalt habe. Später gäbe es diese Möglichkeit leider nicht mehr. Das Ganze sei kein Scherz! Denjenigen Fahrgästen mit einem dringenden Bedürfnis dürfte das Lachen vermutlich vergangen sein, während die übrigen Mitreisenden darüber rätselten, ob wohl funktionsuntüchtige Toiletten und die hierdurch erforderlichen Pausen für die vielen Verspätungsmeldungen der Deutschen Bahn in den letzten Wochen verantwortlich waren. Wenn dem tatsächlich so wäre, wäre dieses Verhalten verzeihlich und als ein besonderer Kundenservice zu werten. Hierfür hätte jeder Fahrgast größtes Verständnis, zumal auch er bei einer längeren Bahnreise in eine derartige Notlage kommen könnte.
Die Skurrilität dieser Situation ließ sich allerdings noch steigern: Bei der Rückfahrt am Abend desselben Tages wurde allen vor Augen geführt, was passiert, wenn ein dringendes Bedürfnis mangels geeigneter Örtlichkeiten im Zug aufgeschoben werden muss. In einer Mischung aus Unverfrorenheit und Provokation stellten sich, als der Zug im Bahnhof anhielt, mehrere junge Männer auf den Bahnsteig und legten ganz öffentlich ihre private Pinkelpause ein. Nur das Händewaschen musste ausfallen – aber man kann ja nicht alles haben.
Uli Hannemann, Berlin
Der Triebkopf des ICE Manfred Pasulke hüstelte kurz und gab dann auf freier Strecke seinen Geist auf. Verzweifeltes Hämmern und Klopfen zeugte von den vergeblichen Versuchen der mobilen Brezelverkäuferin, das Malheur zu beheben. Über Lautsprecher meldete sich der Zugchef und seine Stimme verhieß nichts Gutes: »Verehrte Fahrgäste«, stotterte er aufgeregt, »wegen eines Triebkopfschadens endet dieser Zug auf der Stelle. Bitte steigen Sie zügig aus, entfernen Sie sich schnell und warten dann auf weitere Anweisungen des Bordpersonals!«
Nur mühsam gelang es den vorzüglich geschulten Zugbegleitern, die Extremsituation zu meistern, ohne Panik aufkommen zu lassen. Wir – neben mir noch etwa vierhundert Passagiere – waren vielleicht zweihundert Meter weit in ein abgeerntetes Rübenfeld gestolpert, als uns eine ungeheure Druckwelle zu Boden warf: Der Triebkopf war detoniert und sofort stand der ganze Zug in Flammen. Tröstend legte ich den Arm um den Zugchef, der im Angesicht des Infernos von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Als nur noch schwelende Trümmer an den einst so stolzen ICE 789 Manfred Pasulke von Niebüll nach Dorsten erinnerten, straffte sich seine Gestalt wieder: »Fahrgäste!«, rief er entschlossen und wischte sich mit trotziger Geste Rotz und Tränen von der Wange: »Fahrgäste, wir müssen über jene schneebedeckte Bergkette dort am Horizont gelangen. Dahinter liegt, so Gott will, ein anderer Schienenstrang mit anderen Zügen!« Es sei unsere einzige Chance, fügte er ernst hinzu. Und wir sollten unbedingt das ganze Gepäck mitnehmen: »Die Deutsche Bahn AG übernimmt keine Haftung!«
Wir machten uns auf den Weg. Schneidend kalter Wind peitschte heftige Graupelschauer in müde Gesichter, und der Morast ließ die Rädchen der Koffer blockieren. Die Stärkeren trugen das Gepäck der Schwächeren und später auch die Schwächeren selbst. Der Zugchef ging mit gutem Beispiel voran: Schwer ächzte er unter dem Gewicht einer dicken Reisenden und deren Kalbsleberkoffer, fand dennoch Zeit, hier ein aufmunterndes Wort und dort eine scharfe Ermahnung auszusprechen: »Weiter! Los – wir müssen weiter!« Ächzen, Wehklagen und das laute Schmatzen der breiigen Ackerkrume, die in den Pumps eleganter Geschäftsfrauen stand, begleitete den Treck.
Wir erreichten einen Wald. Das hielt zwar einerseits den mörderischen Wind ab, hatte andererseits jedoch zur Folge, dass wir wiederholt mit Kleidung oder Gepäck im dichten Gestrüpp hängenblieben. Dornen rissen hässliche Wunden, und vor allem kostete dies Zeit.
»So geht das nicht weiter«, beschloss der Zugchef mit Blick auf seine Zugbegleiter, die von der zusätzlichen Last ermattet waren. »Jeder muss alleine sehen, wie er weiterkommt!« Doch gar so unmenschlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen mochte, war die Entscheidung nicht. »Wir können sie doch nicht einfach so liegen lassen«, jammerte ein Enkel, als seine zusammengebrochene Großmutter am Wegesrand röchelte, und der Zugchef erbarmte sich. Er sprach ein kurzes Gebet, zog seine Dienstpistole und erlöste rasch die alte Frau von ihrem Leid. »Weiter!«
Noch viele Male bellte die Waffe des braven Beamten, bis wir endlich den Wald hinter uns gelassen hatten. Der Höhenzug schien kaum näher gerückt, und es dunkelte. Wir marschierten unentwegt weiter, manche krochen, andere blieben liegen. Elegante Geschäftsfrauen hatten blutige Lumpen um ihre aufgequollenen Füße gewickelt, und die Zugbegleiter fragten sich gegenseitig Ankunftszeiten ab, um den Schmerz zu betäuben. Kinder, die nicht weiterkonnten, weinten leise, blieben zurück, verschwanden unbemerkt für immer in der Dunkelheit. Wieder andere Kinder weinten laut … bis die Dienstpistole krachte.
Der Zugchef ließ halten, um das Nachtlager aufzuschlagen. Wir kauerten uns auf freiem Feld dicht aneinander, um die ausgekühlten, durchnässten Leiber notdürftig zu wärmen. Neben mir saß die junge Zugbegleiterin, die am Morgen noch mein Ticket kontrolliert hatte. Ihre Fähigkeit, in keiner Situation auch nur den leisesten Anflug eines Lächelns zu zeigen, hatte sie sich bis jetzt behalten. Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte diese wunderbare Frau in einem für uns beide günstigeren Moment kennengelernt. So blieb mir nur, ihre fieberheiße Stirn zu fühlen. Sie hustete. Schaurig heulten die Wölfe.
Am nächsten Morgen lag sie still und kalt in meinem Arm. Ich blies verzweifelt auf ihrer Trillerpfeife, weil ich nicht glauben wollte, dass sie uns verlassen hatte. Sie hörte nichts – sie war tot! Ich riss ihre Dienstnummer ab, um sie später ihren Angehörigen zu bringen, durchstöberte ihre Taschen, fand das Bild ihres Verlobten, fand ihren Dienstausweis: Sie war erst vierundfünfzig Jahre alt!
Seit jenem Tag habe ich schlohweiße Haare und denke an Regress. Doch sie blieb nicht das einzige Opfer dieser Nacht und wollte ich überleben, so musste ich sie vergessen. Der Zugchef blies zum Aufbruch, und drei Fahrgäste rissen mich mit aller Macht von ihrer Leiche weg. Als wir den nächsten Hügel zwischen uns und unser Lager gelegt hatten, erinnerte nur noch das Krächzen hunderter von Raben, das unheimlich im Nebel hallte, an die Nacht und den Tod und den Triebkopf.
Wie betäubt zog ich mit den anderen mit. Hügel, Felder, Wälder, das Schreien des Zugchefs, das Weinen der Fahrgäste, die Schüsse, die Schmerzen, die Entbehrungen, der Hunger und die Kälte – das alles nahm ich nur von ganz fern wahr. Wie ich heute weiß, hat mir diese Gleichgültigkeit geholfen, die nächsten Tage zu überleben.
Die nächsten Tage? Ja, denn das Umsteigen dauerte länger, als es sich jeder von uns Unglücklichen in seinem schlimmsten Alptraum hätte erträumen können. Am vierten Tag, wir überquerten gerade den Gebirgskamm, aßen wir Teile einer eleganten Geschäftsfrau, die in eine Schlucht gestürzt war. Wir mussten es tun, sonst wären wir alle gestorben, und der Zugchef versicherte uns, das wäre ohne Zuschlag möglich. Am siebten Tag sahen wir von weitem die Masten einer Oberleitung. Jubelnd fielen wir uns in die Arme, doch groß war wenig später die Ernüchterung: Zwischen uns und der gesichteten Bahnlinie wand sich ein mächtiger brauner Strom durch die Endmoränenlandschaft.
»Wir müssen schwimmen«, stellte der Zugchef lapidar fest. Das Gepäck mussten wir am Ufer zurücklassen – »aber die Deutsche Bahn AG übernimmt keine Haftung« – was angesichts der Strapazen doch sehr schade war. Die Strömung war stark und die Verluste groß. Als wir mit letzter Kraft ans andere Ufer robbten, hatten wir auch die letzte elegante Geschäftsfrau verloren.
Von weitem schien ein Lichtlein und geleitete uns direkt zum Schrankenwärterhäuschen. Der Schrankenwärter öffnete. Er trug bereits seinen Pyjama und guckte komisch. »Der Zugchef des havarierten ICE Manfred Pasulke