Klaus-Peter Wolf

Ostfriesengrab

Kriminalroman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Klaus-Peter Wolf

Klaus-Peter Wolf lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach Jahren im Ruhrgebiet an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Bislang sind seine Bücher in 24 Sprachen übersetzt und über elf Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«.

Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Online-Bestsellerliste; einige Bücher der Serie werden derzeit prominent für das ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie, München

Coverabbildung: Martin Stromann/Ostfriesland-Bild

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-400131-9

Eigentlich, dachte Ann Kathrin Klaasen, müsste ich dem Mörder dankbar sein. Ich wäre sonst nie um diese Jahreszeit hierher gefahren.

Natürlich kannte sie den zauberhaften Schlosspark Lütetsburg. Ihre Freundin Ulrike hatte hier geheiratet. Damals hatte Ann Kathrin Klaasen sich vorgenommen, immer wieder zu diesem Ort der Ruhe zurückzukehren, um zwischen dem jahrhundertealten Baumbestand Einkehr zu halten und zu sich selbst zu finden.

Von ihrem Haus im Distelkamp in Norden bis zum Schlosspark waren es nur wenige Minuten. Doch wer lange am Meer wohnt, gewöhnt sich an das Geräusch der Wellen und hört es irgendwann nicht mehr, dachte sie, traurig darüber, dass ein Kriminalfall nötig war, um sie an diesen wunderbaren Ort zurückzuführen.

Jetzt wurde sie von der Farbenpracht der Rhododendron- und Azaleenblüten geradezu überflutet. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete nur ein. Der Geruch war überwältigend. Wie konnte jemand in dieser Oase für die Seele einen Menschen umbringen?

Die Nordsee konnte man hier nicht hören. Der Park hatte eine ganz eigene Geräuschkulisse. Das Surren nektartrunkener Insekten war wie ein Hintergrundgeräusch, über dem das Knistern der Zweige und Blätter lag, mit denen der Wind spielte, als hätte er bei seinem langen Weg übers Meer vergessen, wie schön es auf dem Festland sein konnte.

Ihre Freundin Ulrike hatte in der hölzernen Nordischen Kapelle geheiratet. Ann Kathrin Klaasen war dem ostfriesischen Häuptlingsgeschlecht derer zu Innhausen und Knyphausen zutiefst dankbar, dass sie diesen Ort ermöglicht hatten. Sie nahm sich vor, mit ihrem Sohn Eike hierhin zu gehen. Es konnte doch nicht sein, dass er in der Nähe aufwuchs, aber das CineStar in Emden besser kannte als diesen Park. Womöglich gab es hier mehr zu sehen als im Kino, dachte sie.

Sie öffnete die Augen wieder und ließ die Farbenpracht auf sich wirken. Dies zarte Grün, das sich mit Lachsrot und Sonnengelb mischte, erinnerte sie an die ersten Eindrücke ihrer Kindheit, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal ein Museum besucht hatte und er versuchte, ihr die hingetupften Bilder der Impressionisten nahezubringen. Sie war begeistert gewesen von den Bildern und noch mehr davon, wie sehr ihr Vater sich mit ihr beschäftigte. Er versuchte, ihr den Blick für die Welt zu öffnen. »Schönheit«, sagte er, »muss man auch sehen können.«

Aber was jetzt auf sie wartete, war sicherlich nicht schön. Sie hatte die Leiche noch gar nicht gesehen. Sie stand am Eingang des Parks.

Der uniformierte Kollege Paul Schrader interessierte sich nicht für die Schönheit der Landschaft. Er wirkte merkwürdig betreten, wie jemand in einer Beziehungskrise oder wie ein Mensch mit einem schlechten Gewissen, dachte Ann Kathrin. So wie er jetzt dastand und auf seine Schuhe sah, benahmen sich Täter oft ganz kurz vor ihrem Geständnis. Typischerweise kaute er auch noch auf der Unterlippe herum und war ganz in sich gekehrt, als müsse er erst selbst mit etwas klarkommen, bevor er es dann der Umwelt anvertrauen konnte.

Neben ihr reckte Weller sich und atmete tief durch. »Weißt du, woran ich gerade denke, Ann?«

»Ja, daran, dass wir mal wieder Urlaub machen sollten.«

»Genau«, log er. In Wirklichkeit hatte er an etwas ganz

Abel von der Spurensicherung kam ihnen an den Wasserläufen entlang entgegen. Er hielt ein Fotostativ wie einen Baseballschläger in der Hand, so als müsse er sich damit verteidigen. Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten hing die Kamera um seinen Hals. Er zeigte auf eine mächtige farnblättrige Buche und rief: »Warum bin ich nicht Landschaftsgärtner geworden oder Florist oder … « Er breitete die Arme aus. Seine Worte kamen mit der Energie der Verzweiflung. »Oder warum fotografiere ich nicht einfach so etwas hier? Meinst du, es gibt schon einen Bildband von diesem Park?«

Abel hatte schon viele Leichen gesehen. Er war eigentlich ein abgebrühter Hund, fand Ann Kathrin. Manchmal sogar zu kalt. Was er fotografiert hatte, musste ihn sehr, sehr erschüttert haben. Er hatte jede professionelle Abgrenzung verloren und war kurz davor, seinen Job hinzuschmeißen. So kannte sie ihn nicht.

Sie begann, sich innerlich darauf einzustellen, gleich etwas Grauenhaftes zu sehen.

Zunächst fragte sie Paul Schrader: »Wo ist der Zeuge, der uns angerufen hat?«

Er saß auf einer Bank vor dem Freundschaftstempel und

»Der ist ZDF-Redakteur«, sagte Schrader und klang wenig begeistert.

Weller hörte nur ZDF und hakte gleich nach: »Ist die Presse mal wieder vor uns da?«

»Er hat die Leiche gefunden.«

Misstrauisch fragte Weller: »Was macht das Fernsehen hier?«

»Urlaub!«, rief Gunnar Peschke, stand auf und kam zu den Beamten herüber. Sie wunderten sich, dass er ihre Worte verstanden hatte. Er nahm ihre Verunsicherung wahr und lächelte: »Ich bin Musikredakteur. Kinderlieder. Musikboxx zum Beispiel. Gut hinhören ist sozusagen mein Geschäft.«

Der Mann gefiel Ann Kathrin. Eine imposante Erscheinung. Offensichtlich nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Er musste dasselbe gesehen haben, das Abel so aus der Fassung gebracht hatte. Und er war dabei allein gewesen, nicht umrahmt von Polizeibeamten und Kollegen. Er hatte sie informiert und dann hier gewartet.

»Sind Sie den Anblick von Leichen gewöhnt?«, fragte Ann Kathrin Klaasen.

»Nein«, lächelte er. »Dafür bin ich nicht zuständig. Im Kinderfernsehen befassen wir uns nicht mit so etwas. Das machen meine Kollegen vom Abendprogramm. Ich habe mehr mit Piraten zu tun, Hexen und Gespenstern. Sie verstehen … «

Er erzählte, dass er in Norddeich im Fährhaus wohnte und täglich mit dem Rad zu längeren Touren aufbrach. Heute Morgen war er der erste Gast im Schlosspark Lütetsburg gewesen. Es war nicht mal jemand da, um Geld zu kassieren. Er hatte am Eingang einen Euro eingeworfen. Jetzt fragte er sich, wie jemand in der Lage war, so ein Paradies zu unterhalten mit nur einem Euro Eintrittsgeld.

Weller spürte einen Stich Eifersucht, weil er merkte, dass dieser Gunnar Peschke seiner Ann Kathrin durchaus gefiel. Das machte ihn umso kritischer: »Warum sind Sie nicht wie die anderen Touristen am Meer? Warum radeln Sie nicht am Deich lang?«

Milde lächelnd zeigte Gunnar Peschke mit der offenen Hand die Schönheiten der Landschaft, in der sie sich befanden. »Schauen Sie sich um. Braucht man dafür eine Erklärung?«

Ann Kathrin nickte und sah Weller missbilligend an. Das machte ihn noch wütender auf diesen ZDF-Redakteur.

»Kennen Sie die Tote?«, fragte Weller.

»Nein«, antwortete Gunnar Peschke. »Ich glaube nicht. Obwohl … «

»Obwohl was?«, setzte Weller sofort nach.

Gunnar Peschke winkte ab. »Ach, schauen Sie doch selbst.«

»Ihre Personalien haben die Kollegen ja bereits aufgenommen«, stellte Weller fest.

»Natürlich«, maulte Schrader. »Denkt ihr, wir haben hier Blumen gepflückt?«

Ann Kathrin Klaasen atmete noch einmal tief durch. Dann sagte sie: »Okay. Sehen wir uns den Tatort an.«

 

Als Ann Kathrin Klaasen vor der Leiche stand, erschrak sie vor sich selbst. Sie erwischte sich bei dem Gedanken: Mein Gott, wie schön!

Die Frau sah nicht aus wie eine Tote. Nicht einmal wie eine Frau. Sondern eher wie ein Engel, der zwischen den Blüten hin und her hüpfte und sich in den Zweigen verfangen hatte. Die Füße berührten den Boden nicht. Die Gesetze der Schwerkraft schienen nicht zu existieren, denn sonst hätte dieser Körper doch herunterfallen müssen.

Ann Kathrin schüttelte sich, um ihre eigene voyeuristische Betrachtungsweise loszuwerden und stattdessen mit den Augen der Kriminalkommissarin zu sehen.

Die Frau war nackt und offensichtlich am ganzen Körper rasiert worden. Nur das strahlend blonde Kopfhaar hatte der Mörder ihr gelassen. Die glatten Haare umgaben ihr Gesicht wie ein Heiligenschein.

Wer immer das war, dachte Ann Kathrin, er hat sich Zeit genommen, um die Leiche zu frisieren. Wieso hatte der Wind diese Arbeit nicht längst zunichte gemacht?

Es gefiel ihr nicht, wie die zwei jungen Polizisten aus Norden mit ihren Kindergesichtern staunend vor der Toten standen. Sie warf ihnen nicht vor, dass sie so gafften. Niemanden konnte dieses Bild unbeeindruckt lassen, und genau das machte Ann Kathrin Angst. Dieses Bild durfte niemals in der Presse erscheinen.

Die Beine der Frau waren weit gespreizt, doch nicht wie bei dem Opfer eines Sexualverbrechens, sondern eher wie bei einer Eiskunstläuferin, die elfenhafte Sprünge vollzieht, um die Jury zu beeindrucken.

Ein Arm der Toten war weit ausgestreckt und zeigte auf die Sonne. Der ganze Körper schien sich auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, den er anstrebte: einen Punkt hoch oben, unerreichbar über den Wolken.

»Sie sieht aus«, sagte Weller, »als wollte sie in die Baumkronen dahinten springen.«

Ann Kathrin nickte. »Ruf Abel. Ich will hier jeden Zentimeter fotografiert haben. Die Gesamtsituation. Er soll auch weit weggehen, dass wir ja alles haben. Wie eine Landkarte. Der Täter will uns irgendwas sagen.«

Für einen Moment glaubte Weller, auf irgendeinen blöden Trick hereinzufallen. Vielleicht war das hier so eine ähnliche Sendung wie »Vorsicht, Kamera!«. Deshalb hatte sie auch der ZDF-Typ gerufen. Legten die neuerdings Kripoleute rein? Das Gelände war groß und unübersichtlich genug, um hier jede Menge Kameras zu installieren. Würde sich die

»Seid ihr überhaupt sicher, dass die tot ist?«, fragte Weller die anwesenden Beamten.

»Du hast sie dir noch nicht von hinten angesehen«, sagte Paul Schrader.

Ann Kathrin kam näher und erkannte mit Schaudern, dass die Fußnägel der Toten in den gleichen Farben angemalt waren wie die Rhododendron- und Azaleenblüten, zwischen denen sie zu schweben schien.

Inzwischen war Weller hinter der Leiche und verstand, warum Abel seinen Beruf aufgeben wollte. Die Tote war mit gut einem Dutzend Stahlstangen aufgespießt worden, um sie in diese Lage zu bringen und so zu halten. In ihrem Kopf, in ihrem Rücken, ihren Ellbogen und Knien, überall steckten diese silbernen Lanzen.

Weller drehte sich um und schlug mit der Faust nach Rhododendronblüten, als seien die daran schuld.

Jetzt kam Ann Kathrin. »Ich glaube, das willst du gar nicht sehen«, sagte er und versuchte sie davon abzuhalten, doch sie schob ihn zur Seite und antwortete: »Niemand will so etwas sehen. Aber es ist unser Beruf.«

Seitdem die beiden ein Verhältnis miteinander hatten, wollte er sie dauernd beschützen. Einerseits rührte Ann Kathrin dies, andererseits hatte sie Angst, dass er sie vor Kollegen damit lächerlich machte.

Sie musste sich sofort eingestehen, so etwas wirklich noch nie gesehen zu haben. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wurde ihr nicht schlecht, sondern sie begann die Situation kalt einzuscannen und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen. Fotos würden das hier nicht richtig wiedergeben können, fürchtete sie.

»Staatsanwalt Scherer müsste längst hier sein«, sagte sie. »Ich will, dass er das hier sieht.«

Weller sagte: »Ich fürchte, wir können sie hier nicht lange so hängen lassen, Ann … «

»Der Park muss natürlich für Besucher gesperrt werden«, betonte Ann Kathrin, »aber wir können sie leider nicht so bald da runterholen. Wir brauchen Spezialisten. Hier können Tausende Spuren sein, die wir nicht sehen. Genmaterial und … «

Für die vielen Speere im Rücken der Leiche entdeckte Ann Kathrin Klaasen merkwürdig wenig Blut. Der ganze Tatort kam ihr auf eine bestürzende Art klinisch sauber vor.

»Wer immer das gewesen war«, folgerte Weller, »erstens hatte er Bärenkräfte oder ein paar Gehilfen, und zweitens hatte er endlos viel Zeit.«

Ann Kathrin gab ihm recht: »Ja, der Täter war bestimmt nicht in Eile. Er hat sich Zeit fürs Detail gelassen. Er wollte sie uns genau so präsentieren. Das war ihm wichtig. Und dabei hat er nichts dem Zufall überlassen. Selbst das Sonnenlicht spielt mit in seiner Inszenierung.«

»Du meinst«, fragte Weller, »bei Regen wäre das Ganze ins Wasser gefallen?« Er fasste sich an die Stirn. »Ein Täter, der erst den Wetterbericht abhört und den Mord nur am Vorabend eines sonnigen Tages begeht, damit die Wolken das ästhetische Erlebnis der Polizei nicht stören, wenn sie die Leiche findet?«

»Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht«, sagte Ann Kathrin Klaasen. »Aber er hat einen Plan. Für ihn ist kein Aufwand zu hoch, um den Plan zu verfolgen.«

Ann Kathrin hatte nie in ihrem Leben Probleme mit Heuschnupfen gehabt, doch plötzlich bekam sie eine Art Niesanfall, der nicht zu stoppen war. Ihr tat schon alles weh, so heftig war die Niesattacke.

Da entdeckte Weller etwas in dem Baum, in den die tote nackte Elfe aus den Rhododendronsträuchern zu springen schien. Da oben hing ein Paket. Das Papier lachsrot, mit goldenen Bändern umwickelt.

Weller schickte einen der jungen Beamten hoch. Er stellte sich beim Klettern so ungeschickt an, dass Weller am liebsten selbst die Äste hochgekraxelt wäre.

Das Paket war aktenkoffergroß, nicht sehr schwer und verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk. Nachdem Abel es genügend von allen Seiten fotografiert hatte, fanden sie darin die Kleidung der Toten. Ordentlich gewaschen, gebügelt und gefaltet. Außerdem ein Portemonnaie mit 43 Euro 21, eine Kontokarte der Sparkasse Aurich-Norden und einen Personalausweis. Sie hieß Mareike Henning, war 24 Jahre alt und wohnte in Dornumersiel.

Ann Kathrin Klaasen sah Paul Schraders Reaktion auf den Personalausweis und fragte ihn, eine Pause zwischen ihren Niesanfällen nutzend: »Kennst du die Tote?«

»O ja.«

»Dienstlich?«

Er nickte. »Ja. Und ich fürchte, das wird für uns keine besonders angenehme Situation werden.«

»Warum? Ich verstehe nicht«, sagte Ann Kathrin Klaasen. Dann nieste sie so heftig, dass Schrader einen Schritt nach hinten machte. Mit rot geplatzten Äderchen in den Augäpfeln fragte Ann Kathrin: »Was stimmt nicht mit ihr?«

Schrader schluckte, als würde er nach einer Ausrede suchen.

Ann Kathrin fuhr ihn an: »Du hast die Leiche sofort erkannt, stimmt’s? Deswegen standest du am Eingang herum, als ob dir einer in die Weichteile getreten hätte.«

Er nickte. »Ja. Aber ich habe gehofft … ich habe einfach gehofft, dass ich mich irre.«

Ann Kathrin fand, dass Paul Schrader einen jämmerlichen Anblick bot, so als hätte er sich gerade in die Hose gemacht.

»Was soll das heißen?«, fragte sie.

»Ich … ich hab das … den Fall nur aufgenommen, aber dann nicht weiter bearbeitet. Sie hat sich bedroht gefühlt … Also, es war so ein kleiner Verkehrsunfall und dann, na ja … «

»Was denn jetzt? War es ein Verkehrsunfall oder hat sie sich bedroht gefühlt?«

»Ja, wohl beides. Ich gebe es ja zu – sie ist uns tierisch auf die Nerven gegangen. Ich war froh, die Sache dann los zu sein. Inzwischen lag sie ja auch bei der Staatsanwaltschaft.«

»Wieso ist sie dir auf die Nerven gegangen?«

»Sie hat dauernd angerufen, und dann kam ihr Mann und ihr Vater und – ach!« Schrader machte eine Geste, als müsste er lästige Insekten vertreiben.

Er musste gar nicht mehr sagen. Ann Kathrin ahnte, worauf das alles hinauslief. Mareike Henning war bedroht worden. Sie hatte sich um Hilfe an die Norder Polizei gewendet, und jetzt war sie tot.

Ann Kathrin Klaasen warf Weller nur einen Blick zu. Der hatte schon sein Handy in der Hand und forderte die Akte bei der Staatsanwaltschaft an.

Als Staatsanwalt Scherer im kloblauen Anzug am Tatort erschien, waren Ann Kathrin und Weller bereits auf dem Weg nach Dornumersiel, um die Angehörigen des Opfers zu informieren.

 

Weller zupfte nervös an seinen Barthaaren herum. Er lenkte den Wagen mit einer Hand und kämpfte gegen das ständig schlimmer werdende Gefühl an, jetzt unbedingt eine rauchen zu müssen. Der Gedanke, jetzt gleich einem Vater oder einem Ehemann erklären zu müssen, was mit Mareike Henning passiert war, machte ihn völlig fertig. Es war nicht das erste Mal, dass er Angehörige vom Tod eines geliebten Menschen unterrichten musste. Aber dieser Fall hier war doch etwas Besonderes.

Er schluckte. »Ann, du willst doch nicht wirklich … ich meine, was sollen wir denen denn erzählen?«

»Die Wahrheit«, sagte sie. »Was denn sonst?«

»Das kann ich nicht, Ann.«

»Vielleicht nicht ganz so drastisch und in allen

Weller war ein bisschen beleidigt. Sie sprach zu ihm, als ob er ein Neuling wäre. Er spürte, dass es eigentlich seine Aufgabe war, die Nachricht zu überbringen. Er musste aufpassen, in der Beziehung zu Ann Kathrin nicht untergebuttert zu werden. Er wollte in ihren Augen nicht zum Schwächling werden. Zu gern wäre er ihr Beschützer gewesen. Aber er wusste nicht, wie er diese Stellung erringen sollte. Sie schien ihm wesentlich gefasster als er selbst es war.

Die Familie Henning wohnte in einem neuen Einfamilienhaus, nicht weit vom Deich entfernt, mit gepflegtem Vorgarten. Mindestens hundert Tulpen reckten ihre weißen, lila, roten und gelben Köpfe der Sonne entgegen. Die Eingangstür war zur Hälfte aus milchigem Glas. Ann Kathrin sah sofort, dass jemand nachträglich ein gusseisernes Gitter auf die Tür montiert hatte.

Bevor sie klingeln konnte, kläffte drinnen ein Hund los.

Sie hörte, dass innen mindestens drei Ketten von der Tür gelöst wurden, bevor jemand den Schlüssel im Schloss drehte. Zunächst konnte sie nur den Schattenumriss eines massiven Körpers erkennen.

Die Tür wurde nur einen Spalt geöffnet, dann sah sie Peter Henning, den stiernackigen Vater des Opfers. Er war gerade erst fünfzig geworden, hatte aber schon eine Vollglatze. Er hielt seinen Schäferhund am Halsband fest. Der Hund bellte und fletschte die Zähne. Ann Kathrin zweifelte keine Sekunde daran, dass der Hund zubeißen würde, wenn sein Herrchen ihn losließe.

Er musterte Weller und Ann Kathrin misstrauisch. Ann

»Mein Name ist Ann Kathrin Klaasen. Ich bin Hauptkommissarin bei der Kripo in Aurich. Das ist mein Kollege, Kommissar Frank Weller.«

Peter Henning öffnete beim Sprechen kaum die Lippen. Trotzdem hatten seine Worte einen aggressiven Unterton: »Ach, jetzt kümmern Sie sich endlich? Na, das wird ja auch Zeit.«

Ann Kathrin wollte nur ungern hier draußen buchstäblich zwischen Tür und Angel die Todesnachricht überbringen. Gleichzeitig hatte sie wenig Lust, ins Haus zu gehen. Die ganze Situation wirkte feindselig auf sie.

Sie überlegte noch, wie sie es am besten sagen konnte, da zischte Peter Henning: »Glauben Sie ja nicht, dass ich die Dienstaufsichtsbeschwerde zurücknehme! Wir sind ordentliche Steuerzahler und gesetzestreue Bürger. Wir haben ein Recht auf Schutz durch den Staat. Die letzten Wochen waren ein einziger Albtraum für uns!«

Der Hund kratzte mit den Pfoten an der Tür. Herr Henning riss ihn zurück und nahm das Halsband enger, so dass das Tier gewürgt wurde.

»Wir haben uns sogar diese scharfe Töle hier angeschafft, und wenn ich was hasse, dann sind es Schäferhunde!«, schimpfte Henning.

»Bitte bringen Sie den Hund in ein separates Zimmer, damit wir in Ruhe miteinander reden können«, sagte Ann Kathrin.

Herr Henning nickte und schloss die Tür, um Ann Kathrins Aufforderung nachzukommen. Er brachte den Hund in die Küche, wo er zwar keine Ruhe gab, aber zumindest waren Weller und Ann Kathrin jetzt vor seinen Zähnen sicher.

Herr Henning öffnete erneut die Tür und ging dann einfach ins Wohnzimmer voran. Jetzt sah auch Weller den Baseballschläger neben der Tür stehen und die drei Ketten, mit denen die Tür gesichert war. Hier fühlte sich wirklich jemand bedroht …

Die Möbel waren zu groß für diesen Raum, fand Ann Kathrin. Drei klobige Sessel und eine monströse Couch mit fünf Sitzen standen um ein altes Wagenrad herum, auf dem eine dicke, blank gewienerte Glasplatte lag. Direkt über dem Tisch hing noch ein Wagenrad. Es war zur Lampe umfunktioniert worden. Im wuchtigen Wohnzimmerschrank, Eiche rustikal, standen Porzellanfiguren als Buchstützen. Kleine Elfen oder Engelchen mit Flügeln und blonden Haaren. Alles staubfrei.

Die Blätter der beiden Gummibäume in der Ecke glänzten wie lackiert. Jemand putzte hier gründlich und versorgte die Pflanzen, folgerte Ann Kathrin. Mareike?

»Haben Sie das Schwein?«, fragte Peter Henning. »Ist der Spuk endlich vorbei?«

Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Henning, es tut mir sehr leid. Aber ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen … «

Sie musste nicht weiterreden. Er wusste sofort Bescheid.

Er taumelte einen Moment wie ein angeschlagener Boxer im Ring. Er suchte mit den Händen Halt in der Luft. »Mir wird schlecht«, hauchte er, und dann kippte er um.

Ann Kathrin und Weller hielten den Zweizentnermann und ließen ihn vorsichtig auf dem Teppich nach unten gleiten, um einen harten Aufprall seines Körpers zu verhindern. Seine Augenlider flatterten. Sein teigiges Gesicht war blutleer.

Er versuchte, sofort wieder aufzustehen, und wehrte störrisch Ann Kathrins und Wellers Hilfe ab, doch dann knickte er in den Knien ein.

Der Schäferhund sprang in der Küche gegen die Tür und jaulte.

Ann Kathrin sah die Badezimmertür halb offen stehen. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, sagte sie und verschwand im Bad. Sie ließ Weller nur für wenige Sekunden mit Peter Henning alleine. Weller hielt Hennings Kopf.

Sie rieb sich die Augen und nieste zweimal heftig. Ich bin neuerdings gegen irgendetwas allergisch, dachte sie und schämte sich fast dafür, so als sei es unanständig, eine Allergie zu entwickeln.

Als Ann Kathrin aus dem Badezimmer zurückkam, kniete Henning bereits auf Weller und würgte ihn.

»Ihr habt sie auf dem Gewissen! Ihr Schweine! Ich mach euch alle fertig! Mir ist jetzt sowieso alles egal!«, keuchte Peter Henning.

Es war Weller peinlich, doch Ann Kathrin musste eingreifen. Sie packte Hennings rechte Hand, riss sie von Wellers Hals auf Hennings Rücken und legte ihm Handschellen an. Kaum hatte sie den Mann gebändigt, war ihr das Ganze auch schon unangenehm. Wie sah das denn im Bericht aus, wenn sie dem Vater des Mordopfers Handschellen anlegen musste, um ihm die Nachricht überbringen zu können?

Sie musste an Paul Schrader denken. Ich fürchte, das wird für uns keine besonders angenehme Situation werden. Da hatte er wohl mächtig untertrieben.

Auf Ann Kathrins Bitten ging Weller, um runterzukommen, vor die Tür und rauchte dort eine Zigarette. Er hielt die Tür geöffnet und hörte zu, wie Ann Kathrin sich von Peter Henning beschimpfen ließ. Sie war eine geduldige Frau. Jeder andere Kollege hätte sich das verbeten. Doch Weller kannte ihre Methode genau. Sie ließ die Leute erst mal reden, und in einem Wutanfall gaben sie besonders viel von sich preis. Jetzt, so kurz nach der Tat, kochten die Emotionen besonders hoch, und dann war die Chance, dass jemand etwas ausplapperte, das er eigentlich geheim halten wollte, groß.

Wenn nur die Hälfte der Informationen richtig war, die Henning in einem Wortgewitter auf Ann Kathrin einprasseln ließ, dann hatte er allen Grund, wirklich sauer zu sein. Angeblich hatte er bereits Anfang März Anzeige bei der Norder Polizei erstattet, weil seine Tochter bedroht wurde.

»Ich dachte schon, ihr steckt mit der Russenmafia unter einer Decke!«, brüllte er. »Schmieren die euch, oder was? Wer von euch steht alles auf ihrer Gehaltsliste?«

»Ich jedenfalls nicht«, sagte Ann Kathrin Klaasen so ruhig wie möglich, »und mein Kollege Weller auch nicht. Für den lege ich gerne meine Hand ins Feuer. Welchen unserer Kollegen verdächtigen Sie denn, von der Mafia geschmiert worden zu sein, wie Sie das so schön ausdrücken?«

Henning schnaufte und scharrte mit dem Fuß, wie ein Stier, der gleich losgehen will. Er drückte sein Kinn auf die Brust und schielte Ann Kathrin mit nach oben verdrehten Augen an.

»Sie war ein tolles Mädchen, meine Mareike. Ein Engel! Und ihr, ihr habt sie denen zum Fraß vorgeworfen! Ihr habt sie geopfert!«

»Was hätten wir denn Ihrer Meinung nach tun sollen, Herr Henning?«

Er lachte bitter. Die wenigen Haare an seinen Schläfen standen jetzt ab, als seien sie elektrisch.

»Ihr hättet sie hoppnehmen müssen! Ihr hattet doch alles! Namen, Adressen, alles! Was brauchtet ihr noch?«

Weller sah den Schäfchenwolken zu, die der Wind in Richtung Holland trieb. Dann schloss er einen Moment die Augen. Die Sonne war angenehm auf der Haut, und er fragte sich, warum er diesen Job eigentlich machte. Was hatte ihn dazu getrieben, Kommissar zu werden? Warum musste er sich täglich mit diesem Dreck beschäftigen? Entweder menschlicher Abfall oder Akten, um was anderes geht es doch nicht, dachte er.

Er rieb sich die Stelle am Hals, die Peter Henning gerade

Sie wird jeden Respekt vor mir verlieren, wenn das so weitergeht, dachte Weller. Ich muss jetzt irgendwie die Handlungsführung übernehmen.

Er ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie auf dem Steinboden aus. Bevor er ins Haus zurückging, bückte er sich und hob die Kippe auf. Er wollte sich nicht noch vorwerfen lassen, eine Umweltsau zu sein. Seit die Freiräume für Raucher auch in Ostfriesland immer kleiner geworden waren, trug er einen kleinen Ascher mit sich, in dem er die Zigarettenkippe verschwinden ließ. Er kam sich blöd dabei vor. Jahre-, ja jahrzehntelang hatte er gedankenlos Asche und Zigarettenabfälle um sich herum verstreut, wie die Möwen ihren Kot an der Küste. Neuerdings rauchte er nur noch mit schlechtem Gewissen und fühlte sich schuldig dabei, wenn jemand die Spuren entdeckte.

So, dachte er, fühlen sich Täter, wenn sie die Spuren am Tatort beseitigen, um nicht überführt zu werden.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, saß Peter Henning, die Hände immer noch mit Handschellen gefesselt, in einem breiten Ledersessel, während Ann Kathrin vor ihm auf und ab ging. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte. Ihr »Verhörgang« gab ihr ein Mindestmaß an Sicherheit.

»Wissen Sie«, sagte Ann Kathrin, »was mir komisch vorkommt? Wenn Ihre Tochter von der Russenmafia bedroht wurde, wieso haben Sie sich dann nicht bei der Polizei gemeldet, wenn sie die ganze Nacht über nicht zu Hause war? Haben Sie sie überhaupt nicht vermisst? Wenn mein Sohn bedroht werden würde, ich wüsste immer, wo er sich aufhält und … «

Sie fand jetzt selbst den Vergleich unpassend und schluckte die weiteren Sätze hinunter.

Er wand sich im Sessel wie ein an Land geworfener Fisch

»Ich dachte doch, sie sei in Sicherheit«, jammerte er. »Sie hat es hier nicht mehr ausgehalten. Sie konnte doch ohne Tabletten überhaupt nicht mehr einschlafen. Sie schreckte nachts hoch, schrie vor Angst und … Wir haben sie zu ihrer Freundin Silke gebracht.«

»Wer ist wir?«

»Na, der Markus und ich. Also, der Markus ist ihr Freund … Die sind nicht verheiratet, aber die leben zusammen, hier oben über uns.«

»Wo ist Markus jetzt?«

Ann Kathrins Frage traf Herrn Henning unvorbereitet. Er sackte in sich zusammen.

»Er … er ist doch nach Berlin gefahren, um … Er wollte herausfinden, ob die Typen wirklich da wohnen.«

»Welche Typen?«

Er stöhnte. »Sie haben echt überhaupt keine Ahnung, was? Sie sind völlig blind. Vielleicht ist es besser, wenn ich meinen Anwalt anrufe, Herrn Hinrichs. Wir müssen Markus retten, nicht dass die den auch noch … «

Seine Stimme erstarb.

»Ich werde Ihnen jetzt die Handschellen abnehmen, und dann erzählen Sie der Reihe nach. Und Sie machen keine Mätzchen.«

Jetzt meldete Weller sich zu Wort. »Ich stehe hier«, sagte er drohend, »und bei der ersten falschen Bewegung, da … «

»Nein, keine Sorge, ich … ich … Mein Gott, Sie müssen das doch verstehen! Ich wollte Ihnen nichts tun. Ich bin nur im ersten Moment … «

»Schon gut«, beschwichtigte Ann Kathrin ihn. »Kommissar Weller wird keine Anzeige erstatten wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder so etwas. Wir vergessen den Vorfall einfach. Aber jetzt reden wir vernünftig miteinander. Wer immer Ihre Tochter umgebracht hat – wir alle haben ein Interesse daran, ihn zu finden.«

Peter Henning war einverstanden und wirkte, als sei es ihm auch ernst. Doch er wollte zunächst seinen Schwiegersohn in spe anrufen.

Ann Kathrin war dagegen. »So eine Botschaft überbringt man nicht per Telefon. Wenn Sie ihn jetzt auf dem Handy anrufen und er mit dem Auto unterwegs ist – stellen Sie sich mal vor, was das auslösen kann.«

»Er … er müsste schon bald wieder hier sein. Er wollte doch nur gucken, ob in der Markgrafenstraße 13 wirklich ein Herr Pjotr Sidorov wohnt.«

»Und deswegen fährt er nach Berlin?«, fragte Weller ungläubig.

Peter Henning ballte die rechte Faust. Die Knöchel traten weiß hervor.

Weller stellte sich so hin, dass er notfalls einen Angriff parieren konnte. Aber Peter Henning schlug mit der Faust nur mehrfach gegen die Sessellehne.

»Ja klar – wenn Sie uns geholfen hätten, wäre ja alles leichter gewesen!«

Dann erstickte Peter Hennings Stimme in einem Schwall von Tränen.

Ann Kathrin kannte das. Manche Menschen wurden, wenn sie die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Angehörigen bekamen, zunächst aggressiv. Andere fingen an zu lachen,

Erst langsam sickerte so eine Nachricht in die menschliche Seele hinein. Es dauerte manchmal Tage, bis der Schmerz jemanden wirklich erfasste. Bei Mareike Hennings Vater war es jetzt so weit.

 

In den Akten las sich das alles kühl, sachlich, ja unspektakulär. Die Emotionen waren raus, es war Papier geworden. Ann Kathrin war froh, im Büro aus der aufgeheizten Stimmung heraus zu sein und sich dem Fall sachlicher widmen zu können.

Ihre Nase spielte immer noch verrückt. Sie hatte bereits die zweite Packung Papiertaschentücher aufgebraucht. Ihre Augen tränten, und Weller gab ihr mit einer zarten Anspielung den Tipp, für heute Feierabend zu machen.

»Du hast die Nase voll, Ann«, lächelte er. »Mach Feierabend. Du hast eh noch mehr als hundert Überstunden abzufeiern.«

Weller machte sich einen doppelten Espresso. Ann Kathrin lehnte ab. Sie trank ein Glas heißes Wasser. Sie hatte das Gefühl, das könnte ihr jetzt guttun.

Nach Lage der Akten hatte alles ganz harmlos angefangen. Mareike Henning hatte am Sonntagmorgen mit ihrer Freundin Silke Beewen einen Ausflug nach Norddeich gemacht. Sie parkten direkt am Deich in der Nähe vom Diekster Köken, um einen Spaziergang am Meer zu machen. Neben ihnen stand ein schwarzer Porsche. Als Mareike Henning ausstieg, kam der Fahrer des Fahrzeugs, Herr Meuling, und beschimpfte sie, sie habe beim Aussteigen mit der Tür sein Fahrzeug beschädigt. Mareike Henning bestritt diese Behauptung, außerdem sei ja sein Fahrzeug deutlich sichtbar unbeschädigt. Sie habe seinen Wagen nicht einmal berührt.

Silke Beewen nahm das Ganze auch in Augenschein. Die beiden Frauen empfanden Herrn Meuling als recht aggressiv und schlugen schließlich vor, doch die Polizei zu rufen, wenn er glaube, dass sie etwas beschädigt hätten. Die Polizei würde zweifellos sofort feststellen, dass kein Schaden entstanden sei.

Daraufhin entfernte sich Herr Meuling.

Die beiden Freundinnen gingen am Deich spazieren, und als sie nach einer knappen Stunde zurückkamen, klebte an Mareike Hennings Wagen ein Zettel, sie möge bitte Herrn Dieter Meuling in Duisburg anrufen, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, wie sie sich die Schadensregelung vorstelle. Daneben die Handynummer von Meuling.

Mareike Henning nahm das nicht ernst. Eine Woche später erschienen bei ihr zwei Polizeibeamte aus Norden, denn Dieter Meuling hatte inzwischen die Polizei um Mithilfe gebeten. Sein Wagen sei beschädigt worden, Frau Henning hätte Fahrerflucht begangen. Er hätte aber ihr Kennzeichen notiert. Die Beamten kamen, weil Mareike Henning wegen Fahrerflucht angezeigt worden war.

Glücklicherweise war an diesem Abend die Freundin, Silke Beewen, ebenfalls anwesend. Auch Peter Henning befand sich im Haus.

Mareike Henning stellte fast ein bisschen belustigt fest, dass Fahrerflucht immer nur der begeht, der wegfährt, nicht der, der bleibt. Dies sei ein Prinzip von Flucht. Der schwarze Porsche sei weggefahren, sie selbst habe dort ihr Fahrzeug stehenlassen und sei am Deich spazieren gegangen. Von Fahrerflucht könne also gar keine Rede sein.

Die Beamten gaben sich damit zufrieden und baten Frau Henning, sich mit Herrn Meuling in Verbindung zu setzen. Frau Henning schrieb ihm einen Brief, in dem sie noch einmal erklärte, sie habe keinen Schaden verursacht und deshalb wolle sie auch keinen begleichen. Sie äußerte sich natürlich sehr

Wenige Tage später erhielt Mareike Henning aus Duisburg von Herrn Meuling einen Brief, in dem er sie aufforderte, zweihundertsechzig Euro an ihn zu zahlen, damit sei der Schaden erledigt.

Sie lehnte das ab. Daraufhin erhielt sie einen Einschreibebrief aus Berlin, Absender Pjotr Sidorov, aus 10117 Berlin-Mitte, Markgrafenstraße 13. In dem Brief bezeichnete Herr Sidorov sich als Inkassobeauftragter und schrieb wörtlich, bei Nichtzahlung könne Mareike Henning »todsicher davon ausgehen«, dass die Kommunikation mit ihr in einer Sprache fortgesetzt werde, die sie dann auch verstehe. Die Zahlung müsste bis zum 15.April eingegangen sein. Angegeben war die Kontonummer von Herrn Meuling aus Duisburg. Bezeichnenderweise hatte das Inkassobüro von Herrn Sidorov keinen Briefkopf und der Brief war nicht unterschrieben.

Mit diesem Einschreibebrief ging Frau Henning sofort zur Polizeiinspektion Norden, Am Markt 10. Dort nahm PK Schrader die Strafanzeige wegen Bedrohung und Nötigung auf. Schrader leitete die Angelegenheit wenige Tage später an den Kollegen Jürgen Harms vom Ermittlungsdienst weiter. Dieser übergab alles der Staatsanwaltschaft Aurich.

Aus einem internen Vermerk ging hervor, dass Mareike Henning, ihr Verlobter und ihr Vater in regelmäßigen Abständen bei der Polizeiinspektion anriefen, um von Schrader zu erfahren, wie der Stand der Dinge sei. Er lehnte dies ab und sagte ihnen, wenn sie etwas wissen wollten, müssten sie sich einen Anwalt nehmen, nur der könne Akteneinsicht verlangen.

Insbesondere wollte Frau Henning natürlich wissen, ob es in Berlin wirklich einen Herrn Sidorov gab und ob er ein stadtbekannter Schläger sei. Sie versuchte einzuschätzen, wie bedrohlich die Situation wirklich war.

Inzwischen verstrich der ihr gesetzte Termin 15.April, ohne dass die Untersuchungen vorangekommen waren. Die Staatsanwaltschaft Aurich gab den Vorgang zur weiteren Ermittlung nach Berlin.

Unter dem Briefkopf des Polizeipräsidenten in Berlin lag ein Tätigkeitsbericht vom 21.April vor. Inzwischen war die Frau Henning gesetzte Frist also um eine Woche überschritten.

Kopfschüttelnd las Ann Kathrin Klaasen Weller den Bericht aus Berlin vor: »Tatsächlich ist in 10117 Berlin-Mitte eine Markgrafenstraße 13 nicht existent. Vielmehr ist in 10969 Berlin (Kreuzberg) in der Verlängerung der in Berlin-Mitte befindlichen Markgrafenstraße die Markgrafenstraße 1214 vorhanden. Es handelt sich gemäß am gestrigen Tag geführter Ermittlungen vor Ort um ein reines Büro/Geschäftshaus. Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Inkassounternehmens oder einer Person namens Pjotr Sidorov waren nicht vorhanden. Gemäß Aussagen ist für das Gebäude die Delta-Lloyd-Immobilien, Lietzenburger Straße 51, 10789 Berlin, verwaltend tätig. Aufgrund von Urlaub der Sachbearbeiterin sei jedoch in dringenden Fällen mit dem zuständigen Hausmeister Rücksprache zu halten. Herr Bauer gab auf fernmündliche Nachfrage an, im fraglichen Haus sei tatsächlich kein Inkassounternehmen tätig, ein Herr Sidorov sei ihm unbekannt. Einwohnermelderechtlich konnte innerhalb Berlins eine Person namens Pjotr Sidorov nicht ermittelt werden. Der Vorgang wird von hier aus der Staatsanwaltschaft Aurich zurückgesandt.«

Weller nippte an seinem Espresso. »Ja, was hast du denn geglaubt? Natürlich gab es diesen Sidorov nicht. Entweder hat der Meuling den bloß erfunden, um Druck auf Frau Henning zu machen, oder … «

Ann Kathrin walkte sich das Gesicht durch und atmete schwer. » … oder die Herren machen das regelmäßig. Stell dir das doch mal vor. Es ist ein einträgliches Geschäft. Die

Weller stellte seinen Espresso ab und nahm Ann Kathrins Idee auf: »Stell dir mal vor«, sagte er, »die machen das nur zehnmal am Tag. Macht bei zweihundertsechzig Euro schon zweitausendsechshundert. Das ist mehr, als ich im Monat verdiene.«

Ann Kathrin stand auf und ging wieder auf und ab. »Es ist auch clever von ihnen, nicht ein paar tausend Euro zu verlangen, denn dann würde sich jeder einen Anwalt nehmen und kämpfen. Aber das ist genau so eine Summe, die man noch verschmerzen kann. Hauptsache, man ist den ganzen Ärger los.«

»Und dann?«, fragte Weller, » Glaubst du, weil sie nicht gezahlt hat, haben sie sie im Lütetsburger Schlosspark aufgespießt? Als so eine Art abschreckendes Beispiel für andere? Warum haben sie sie nicht einfach zusammengeschlagen?«

Ann Kathrin stülpte die Lippen nach vorn und versuchte, durch die Nase einzuatmen. Sie hatte von den brutalen Methoden der sogenannten Moskau-Inkassostellen gehört. Es waren Schlägertypen. Aber das hier?

»Wir können nicht ignorieren, dass sie bedroht wurde

Weller wollte schon zum Telefon, um die Kollegen in Duisburg anzurufen, aber er deutete Ann Kathrins Blick richtig. Das wollte sie nicht.

»Wir werden nicht den gleichen Fehler noch einmal machen und uns hier zerfasern.«

Weller ließ das Telefon und zog die Akten von Ann Kathrins Schreibtisch zu sich herüber. »Die Kollegen in Duisburg waren doch bestimmt schon bei Herrn Meuling und haben ihn vernommen. Nachdem es keinen Sidorov in Berlin gab, mussten sie ihm das doch zuschreiben. Es kann ja eigentlich nur so sein, dass er den Brief selbst geschrieben hat. Auf jeden Fall – wenn einer den Aufenthaltsort von Sidorov kennt, dann doch er.«

»Tja«, sagte Ann Kathrin, »siehst du, und dieser Schritt ist nicht erfolgt.«

»Jetzt verstehe ich auch, warum Schrader so irritiert war. Wenn uns da einer draufkommt, dann stehen wir da wie die letzten … «

Ann Kathrin unterbrach Weller: »Es ist noch viel schlimmer. Blätter mal weiter hinten. Frau Henning hat sich einen Anwalt genommen. Ich kenne ihn übrigens. Herrn Hinrichs. Er hat dreimal Akteneinsicht verlangt und äußert sich in den Briefen an die Staatsanwaltschaft sehr verwundert darüber, warum sie nicht weiter tätig wird. Er bittet, die Sorgen seiner Klientin ernst zu nehmen.«

Ann Kathrin stand jetzt hinter Weller und blätterte für ihn in den vor ihm liegenden Akten. Bei einem gelben Papier mit dem Briefkopf Kirsch & Hinrichs und dem blauen Stempel darauf: Abschrift, blieb sie hängen.

»Wir haben im Auftrag unserer Mandantin zwischenzeitlich noch einmal versucht, in Erfahrung zu bringen, ob nun eine Vernehmung von Herrn Meuling erfolgt ist, wie wir sie

»Scheiße«, sagte Weller und klappte die Akte zu. »Wir sitzen bis zum Hals drin, Ann.«

Sie sah ihn an und kämpfte mit dem Niesreiz. »Und jetzt?«

»Jetzt machen wir erst mal Feierabend. Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Wir können es nicht mehr rausholen. Zumindest nicht lebendig.«

Ann Kathrin sah Weller an, was er dachte. So schrecklich er alles fand, etwas an der ganzen Sache freute ihn: Staatsanwalt Scherer hatte diese Schlappe zu verantworten.

Zwischen Scherer und Weller gab es seit vielen Jahren einen schwelenden Konflikt. Niemand konnte mehr genau sagen, wie es angefangen hatte. Vielleicht war es Scherers oft unangemessen belehrende Art, die Weller so sehr gegen ihn aufbrachte. Damit erinnerte Scherer ihn an seinen Vater, und unter dessen engstirniger Erziehung hatte Weller viel zu lange gelitten. In Wellers Akten stand sogar, dass er ein Autoritätsproblem hatte.

Ann Kathrin und Weller wollten gerade das Büro verlassen, als ein Besucher für sie gemeldet wurde. Markus Sassen, der Lebensgefährte von Mareike Henning, hatte sich unten an der Pforte gemeldet und wollte den ermittelnden Kommissar sprechen.

Weller hatte keine Lust. Er drängte Ann Kathrin, das Gespräch auf später zu verschieben. »Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit, die heißt Arbeitszeit, und eine Zeit, die heißt Freizeit. Sie unterscheiden sich grundlegend voneinander.« Dann trumpfte er sogar mit Weisheiten auf wie: »In der Ruhe liegt die Kraft.«

Ann Kathrin versprach ihm, nur kurz mit Markus Sassen zu reden.

In der Backstube in Norden war heute Pizzatag. Es gab die große Pizza zum Preis einer kleinen. Die Pizzen schmeckten dort wirklich gut, die Altbierbowle auch, und Weller liebte die Atmosphäre in dieser alten Norder Kneipe.

Er wollte Ann Kathrin dahin ausführen. Sie konnten auch gut einen über den Durst trinken, von dort war es nicht weit bis ins Körnerviertel, in dem Ann Kathrin im Distelkamp 13 wohnte.

Inzwischen war er praktisch bei ihr eingezogen. Seine Wohnung in Aurich behielt er nur noch pro forma. Im Grunde ärgerte er sich jeden Monat darüber, wenn er die Miete dafür zahlen musste. Die 350 Euro hätten sie an anderer Stelle brauchen können, fand Weller. Aber Ann Kathrin wollte die Bindung noch nicht so offiziell machen. Vielleicht, befürchtete Weller, hoffte sie insgeheim immer noch, dass ihr Ehemann Hero zu ihr zurückkam.

Weller hielt Hero Klaasen für einen ziemlichen Idioten. Man musste schon ganz schön verrückt sein, um so eine Frau zu verlassen, dachte er.

 

Ann Kathrin fand es unangemessen, im Büro mit Markus Sassen zu reden oder gar im Verhörraum, aber es gab oben in der Polizeiinspektion ein extra Zimmer für die sensible Befragung von Kindern. Der Raum sah aus wie ein Wohnzimmer mit Spielecke. Hier erzählten nicht nur Kinder von ihren Missbrauchserfahrungen, hier fanden auch vergewaltigte Frauen

Die Puppe dort auf dem roten Spielteppich mit den Verkehrszeichen erinnerte Ann Kathrin an ein kleines Mädchen, das ihr, indem sie die Puppe würgte, zeigte, wie sie den Mord an ihrer Mutter miterlebt hatte.

Komischerweise hatte Ann Kathrin hier oben in diesem Zimmer keinen Heuschnupfen mehr. Was immer die Allergie ausgelöst hatte – hier war es nicht vorhanden, dachte sie und folgerte daraus, dass sie jedenfalls nicht gegen Hausstaub allergisch war, denn die Teppiche hier konnten mal wieder einen Staubsauger vertragen.

Markus Sassen hatte kurz geschnittene Haare und kluge Augen. Seinen Mund fand Ann Kathrin etwas zu groß, fast mädchenhaft. Sein Adamsapfel hüpfte die ganze Zeit nervös rauf und runter. Er trug Jeans, ein Baumwollhemd und eine braune Lederjacke.

Er sei gerade aus Duisburg zurückgekommen. Er habe sich das Schwein vorknöpfen wollen. Seine Stimme überschlug sich fast. Es platzte alles geradezu aus ihm heraus. Ann Kathrin hatte sich noch nicht mal vorgestellt.

Weller legte das neue digitale Diktiergerät auf den Tisch und schaltete es ein. Das rote Lämpchen leuchtete. Alles, was in diesem Raum gesprochen wurde, nahm dieses hoch empfindliche Ding auf. Es war nicht mehr nötig, direkt in ein Mikrophon zu sprechen.

Eigentlich hätte Weller Markus Sassen vorher fragen

Markus Sassen hatte gerade erst vom Tod seiner Freundin erfahren und war sofort nach Aurich gekommen. Er nannte Peter Henning seinen Schwiegervater und betonte, dass er seinen Kummer nicht wie dieser im Schnaps ersäufen werde.

»Haben Sie ihn schon verhaftet?«, fragte er.

Ann Kathrin stellte die Gegenfrage: »Wen?« Aber sie ahnte natürlich die Antwort.

»Na, den Meuling, dieses Schwein! Wen denn sonst? Ich war gerade da. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber in seiner Villa habe ich ihn nicht angetroffen.«

Markus Sassen sprach das Wort Villa