Linda Holeman
Der Duft von
Safran
Roman
Aus dem Englischen
von Monika Köpfer
Page & Turner
Linda Holeman
Der Duft von
Safran
Roman
Aus dem Englischen
von Monika Köpfer
Page & Turner
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel »The Saffron Gate« bei Headline Review,
an imprint of Headline Publishing Group, London.
Page & Turner Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Linda Holeman
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Frauke Brodd / www.writeandread.lu
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-06133-3
www.pageundturner-verlag.de
Für meine Schwester Shannon,
die Freude in mein Leben bringt.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich möchte mich bei allen herzlich bedanken, die meine Romane Smaragdvogel, Das Mondamulett und Der Lotusgarten gelesen haben.
Für meinen neuesten Roman Der Duft von Safran habe ich mich zur Recherche ins geheimnisvolle Marokko begeben.
Meine ersten Eindrücke waren überwältigend: die Sonne ein roter Feuerball am Abendhimmel, die Gebete von den Minaretten, der Duft von Orangen und exotischen Blumen in der warmen Luft. All das hat mich darin bestärkt, dass Marokko genau der richtige Ort für meine Heldin Sidonie O’Shea sein würde. Auch wenn meine Geschichte 1930 spielt, so steht Sidonie stellvertretend für viele Frauen, unabhängig davon, aus welcher Kultur und Zeit sie stammen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt sind.
Die junge Sidonie lebt zurückgezogen in einer amerikanischen Kleinstadt und glaubt, ihr Leben würde ewig so weitergehen. Doch dann geschieht eine Tragödie, die sie völlig aus dem Gleichgewicht bringt und durch die sie dem charismatischen Arzt Dr. Etienne Duverger begegnet. Er ist der erste Mann, der Sidonie jemals Liebe geschenkt hat. Als er plötzlich spurlos verschwindet, macht sich Sidonie allein und voller Verzweiflung auf die lange Reise ins ferne Marokko, wo sie ihren Geliebten vermutet. Und als sie endlich in Marrakesch ankommt, erfährt sie Dinge, die sie zutiefst erschüttern und sie zwingen, alles, woran sie glaubte, in Frage zu stellen.
Marokko und seine reiche Kultur üben eine große Faszination auf mich aus. Ich wollte das Land mit all meinen Sinnen aufnehmen und durch Sidonie lebendig werden lassen: nicht nur das Leben in der vibrierenden, antiken Stadt Marrakesch, sondern auch Eindrücke der abenteuerlichen und beschwerlichen Reise durch das Land. Frauen, die am Flussufer farbenfrohe Kleider waschen; fröhlich winkende, verstaubte Kinder; Männer, die ihre Esel mit bloßen Fersen antreiben; die atemberaubende Kulisse grüner Täler zwischen kargen Bergen; der wirbelnde Tanz der Berber in ihren blauen Kaftanen, die sich zu Trommeln und Händeklatschen bewegen; Nomadenfrauen mit Hennatattoos an Händen, Füßen und in den Gesichtern; wilde Kamele und in den kalten Nächten eine so tiefe Stille, dass man sie wie eine Melodie wahrnimmt. Sidonie sollte wie ich in einem Nomadenzelt mitten in der Sahara liegen, unter Decken aus Ziegenfell, die Einsamkeit des weiten Landes erfahren, aber auch die Geschäftigkeit einer Stadt.
Wie würde sie mit diesen fremden Erfahrungen zurechtkommen? Sie ist eine zerbrechliche Heldin, als sie in Marokko ankommt. Doch sie nimmt die Herausforderungen dieses exotischen Landes an und verändert sich. Sie beginnt statt zarter Aquarelle farbkräftige Ölbilder zu malen, und sie lernt, voller Hingabe zu lieben.
Es ist eine Geschichte um dunkle Geheimnisse und Lügen, um Zauberkraft und wilde Leidenschaft und darüber, wie eine Frau ihre eigenen ungeahnten Stärken entdeckt und ihr Glück findet.
Ich hoffe, Sie werden Sidonie in Ihr Herz schließen, sie voller Spannung auf ihrer Reise begleiten und in Der Duft von Safran die Magie und Schönheit Marokkos entdecken.
Mit herzlichen Grüßen
Die Nacht bringt Sterne hervor, so wie die Sorge
uns die Wahrheit offenbart.
Philip James Bailey
EINS
Straße von Gibraltar
April 1930
Wir waren in den Levante geraten. Dieses Wort hörte ich zum ersten Mal, als ein Grüppchen von Spaniern an Deck kam, die aufs Meer hinausdeuteten und die Köpfe schüttelten.
Viento de Levante, sagte einer von ihnen laut, spuckte aus und fügte etwas hinzu, was ich nicht verstand, doch an seinem missmutigen Gesichtsausdruck konnte ich unschwer erkennen, dass es sich um einen Fluch handelte. Dann küsste er das Kreuz, das er um den Hals trug.
Die Spanier begaben sich zum Deckaufbau der Fähre, wo sie sich mit dem Rücken zur Wand auf die Fersen hockten. Die Hand schützend vor die Flamme gehalten, versuchten sie, sich ihre kleinen, selbst gedrehten Zigaretten anzuzünden. Plötzlich zog ein feuchter, immer dichter werdender Nebel auf. Dies wie auch die Tatsache, dass die Spanier ihre Kreuze geküsst hatten, schien mir ein eher beunruhigendes Vorzeichen.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu dem Mann in mittleren Jahren, der neben mir an der Reling stand. Als wir an Bord gegangen waren, hatte ich ihn mit einem Gepäckträger Englisch reden hören, daher wusste ich, dass er, wie ich, Amerikaner war. Seine aufgedunsenen, rot geäderten Wangen und die Tränensäcke unter den Augen zeugten von einem ausschweifenden Leben. Wir waren die einzigen zwei amerikanischen Passagiere an Bord. »Was haben die Männer gesagt? Was bedeutet ›Levante‹?«
»Levante«, sagte er und knöpfte seinen Mantel zu. »Levante ist das spanische Wort für ›Osten‹. Und ›levantar‹ heißt ›aufziehen‹. Es handelt sich um einen heftigen Wind aus dem Osten.«
Ich kannte den Scirocco und den Mistral, die Winde, die den Mittelmeerbewohnern häufig zusetzten. Doch vom Levante hatte ich noch nie gehört.
»Verdammter Mist«, sagte der Mann, um dann rasch hinzuzufügen: »Verzeihung, aber so ein Wind kann einen jede Menge Zeit kosten. Wenn es uns nicht gelingt, ihm vorauszueilen, könnte es sein, dass wir wieder kehrtmachen müssen.«
Trotz des Windes nahm ich sein Parfüm wahr, das zu blumig und schwer war. »Vorauseilen? Wird der Wind nicht einfach über uns hinwegwehen?«
»Schwer zu sagen. Hier, am westlichen Rand der Straße von Gibraltar, wird er seine größte Stärke erreichen.« Mit einem Mal hob sich sein Hut wie von unsichtbarer Hand gelüpft, und obwohl er rasch nach seiner Kopfbedeckung zu greifen versuchte, die sich in geringer Entfernung vor uns in der Luft drehte, stieg der Hut in die Lüfte empor und entschwand. »Verdammter Mist!«, rief er und legte den Kopf in den Nacken, um den tief hängenden schweren Himmel nach ihm abzusuchen, ehe er sich wieder mir zuwandte. »Bitte verzeihen Sie, Mrs …?«
»O’Shea. Miss O’Shea«, sagte ich. Mein Cape bauschte sich im Wind und wirbelte um mich herum wie bei einem sich drehenden Derwisch. Mit einer Hand presste ich den Stoff an die Brust, während ich mit der anderen meinen Hut festhielt. Auch wenn er mit mehreren Nadeln an meinem Haar befestigt war, spürte ich, wie der Wind an ihm zerrte, und hatte das beunruhigende Gefühl, er könnte sich jeden Moment von meinem Kopf lösen. Ich bekam kaum mehr Atem, teils wegen des Windes, teils weil mir die Angst die Luft abschnürte.
»Könnte … könnte das Schiff … womöglich kentern?« Das Wort »untergehen« brachte ich nicht über die Lippen.
»Ich muss mich abermals wegen meiner mangelnden Manieren entschuldigen, Miss O’Shea. Kentern?« Er blickte über meine Schulter hinweg zum Schiffsheck. »Es passiert nicht mehr allzu oft, dass ein Schiff in der Straße von Gibraltar untergeht. Nicht bei den leistungsstarken Motoren, mit denen diese Fähren heutzutage ausgestattet sind.«
Ich nickte, obwohl mich seine Worte nicht besonders beruhigten. Vor kurzem war ich mit dem Schiff von New York nach Marseille gereist und von dort aus weiter bis zur äußersten Südspitze Spaniens und hatte abgesehen von ein, zwei Tagen rauen Seegangs auf dem Atlantik keine schlimmen Erfahrungen gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet dieser schmale Seeweg mit bösen Überraschungen aufwarten könnte.
»Dieses Klima ist so unvorhersehbar«, fuhr der Mann fort, »und manchmal kann es recht garstig sein. Der Levante dauert in der Regel drei Tage, und falls der Kapitän beschließen sollte, die Reise nicht fortzusetzen, werden wir gezwungen sein, zu einem dieser schrecklichen kleinen Häfen an der spanischen Küste zurückzukehren, um dort bis mindestens Samstag festzusitzen.«
Samstag. Es war Mittwoch. Ich hatte in Marseille schon viel zu lange warten müssen. Jeder Tag, der verging, verstärkte die Panik, die ich in mir verspürte, seit ich ihn, Etienne, zuletzt gesehen hatte.
Der Wind blies mir salzige Gischt ins Gesicht, und ich rieb mir mit den behandschuhten Fingern die Augen, teils um meinen getrübten Blick zu klären, aber auch um das Bild meines Verlobten vor meinem geistigen Auge zu vertreiben. Wo er jetzt wohl sein mochte?
Der Mann nahm den Faden wieder auf: »Sie sollten besser nach drinnen gehen. Dieser Sprühnebel … Nicht lange, und Sie werden von Gischt und Nebel durchtränkt sein. Sie wollen doch sicher nicht krank in Tanger ankommen. Nordafrika ist kein Ort, an dem man krank sein sollte.« Er musterte mich eingehender. »Nordafrika ist ein Ort, an dem man stets seine fünf Sinne beisammenhaben sollte.«
Seine Worte trugen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich rief mir in Erinnerung, wie ich vor nicht einmal zehn Tagen von Fieber geschwächt in dem schmalen Bett in Marseille gelegen hatte. Mutterseelenallein.
Der Mann musterte mich noch immer. »Miss O’Shea? Begleitet Sie jemand auf Ihrer Reise?«
»Nein«, rief ich gegen den pfeifenden Wind an. »Nein, ich reise allein.« Allein. Hatte ich das Wort lauter ausgesprochen als beabsichtigt? »Kennen Sie Tanger?« Mir wurde bewusst, welch groteskes Bild wir für die Spanier abgeben mussten, wie wir da an Deck standen und uns gegen den Wind anschreiend unterhielten. Halbwegs von dem überhängenden Schiffsaufbau geschützt, war es ihnen gelungen, ihre Zigaretten anzuzünden, und nun betrachteten sie rauchend und mit zusammengekniffenen Augen den Himmel. Offensichtlich war der Levante keine neue Erfahrung für sie.
»Ja«, schrie der Mann, »ja, ich war schon einige Male dort. Kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen!« Er legte mir eine Hand an den Rücken und schob mich sanft zur Tür. Als wir den schmalen Gang betraten, der zum Aufenthaltsraum führte, fiel die Tür krachend hinter uns ins Schloss, und mit einem Mal spürte ich eine große Erleichterung, dem Wind entronnen zu sein. Ich strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die mir an den Wangen klebten, und rückte mein Cape zurecht.
»Können Sie mir ein Hotel in Tanger empfehlen? Nur für ein, zwei Nächte; ich muss nämlich weiter nach Marrakesch. Ich bin mir nicht sicher, welche Route die beste ist … Ich habe einige Reiseberichte gelesen über die Strecke Tanger – Marrakesch, aber in jedem stand etwas anderes, sodass ich jetzt genauso schlau bin wie zuvor.«
Er musterte mein Gesicht. »Ich würde Ihnen raten, im Hotel Continental in Tanger abzusteigen, Miss O’Shea«, sagte er gedehnt. »Es ist zurzeit das schickste, und man trifft dort immer einige Amerikaner und Briten. Auch die wohlhabenden Europäer quartieren sich dort ein. Es befindet sich innerhalb der alten Stadtmauer und ist ein sicherer Hafen.«
»Ein sicherer Hafen?«, wiederholte ich.
»Sie sollten sich in Tanger ein wenig vorsehen. Sie wissen schon: diese engen, gewundenen Straßen und Gassen. Dort verliert man schnell die Orientierung. Und die Menschen …« Er unterbrach sich, ehe er fortfuhr: »Doch im Continental herrscht die koloniale Atmosphäre vergangener Zeiten. Ja, ich kann Ihnen dieses Hotel nur empfehlen. Oh …«, sagte er, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen, »und es gibt dort keine Franzosen. Die übernachten entweder bei Verwandten oder sie logieren im Cap de Cherbourg oder dem Val Fleuri.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, sprach er weiter. »Abends herrscht in der Lounge des Continental reger Betrieb. Cocktails und Barmusik, Sie wissen schon, wenn man diese Dinge mag«, sagte er und sah mich aufmerksam an. »Für mich ist das nichts, aber für eine Dame wie Sie, könnte ich mir denken, ist es das Richtige.«
Ich nickte.
»Aber Sie sagten, Sie wollen nach Marrakesch weiterreisen?«, fragte er. »Quer durch das Land also?«
Wieder nickte ich.
Er hob die Augenbrauen. »Aber doch gewiss nicht allein. Treffen Sie Freunde in Marrakesch?«
»Ich hatte eigentlich vor, mit dem Zug zu fahren«, sagte ich ausweichend, beeilte mich angesichts seines fragenden Ausdrucks jedoch hinzuzufügen: »Es gibt doch eine Zugverbindung nach Marrakesch, nicht wahr? Ich habe gelesen …«
»Ich sehe schon, Sie kennen Nordafrika nicht, Miss O’Shea.«
Das stimmte, ich kannte Nordafrika nicht.
Ebenso wie ich Etienne kaum kannte, wie mir in diesem Moment wieder allzu klar wurde.
Da ich schwieg, ergriff der Fremde wieder das Wort. »Es ist keine Reise für Zartbesaitete. Und gewiss keine Reise, die ich einer jungen Dame ohne Begleitung ans Herz legen würde. Überhaupt, eine Ausländerin in Nordafrika …« Er hielt inne. »Ich würde Ihnen unbedingt davon abraten. Bis nach Marrakesch ist es ein weiter Weg. Und es ist ein verfluchtes Land, man weiß nie, was einen erwartet. In jeder Beziehung.«
Ich schluckte. Mit einem Mal war mir zu heiß, und das schummrige Licht in dem Korridor tauchte alles in ein blendendes, nebliges Weiß, während das Tosen des Windes und das monotone Stampfen der Motoren abebbten.
Ich hoffte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Nicht hier.
»Sie fühlen sich nicht wohl«, sagte der Mann, und seine Stimme klang in meinen Ohren wie durch Watte gedämpft. Mir war schwindelig. »Kommen Sie und setzen Sie sich.«
Ich spürte seine Hand an meinem Ellbogen, die mich weiterdrängte, und wie sich meine Füße ohne mein Zutun bewegten. Mit meinem wehen Bein hatte ich schon bei ruhiger See meine Mühe, mich an Deck fortzubewegen, umso schwieriger war es unter diesen Umständen. Ich stützte mich mit der Hand an der Wand ab, und als ich ins Straucheln geriet, lehnte ich mich an den Arm des Mannes, um nicht zu stürzen. Dann fühlte ich einen resoluten Druck an den Schultern, und schon saß ich auf einem harten Stuhl. Die Arme vor dem Bauch gekreuzt, beugte ich mich vor und atmete mit geschlossenen Augen tief ein, bis ich spürte, wie das Blut wieder in den Kopf zurückfloss. Als ich den Oberkörper wieder aufrichtete und die Augen öffnete, sah ich, dass wir in dem engen, rauchgeschwängerten Aufenthaltsraum saßen, der gesäumt war von Reihen im Boden verankerter Metallstühle. Er war etwa halb gefüllt mit Passagieren, in denen ich aufgrund ihrer Gesichtszüge und Kleidung Spanier oder Nordafrikaner erkannte, aber auch mit Reisenden, deren physische Merkmale mir keinen Aufschluss über ihre Nationalität gaben. Mein Helfer saß neben mir.
»Danke, es geht mir schon besser.«
»Sie sind nicht die Einzige, der der Seegang schwer zusetzt«, sagte er.
Ich bemerkte, dass um mich herum einige stöhnten, Kinder schrien – offensichtlich waren andere Passagiere ebenfalls seekrank.
»Also, was den Zug nach Marrakesch betrifft …«, sagte er. »Sie haben recht: Es gibt eine Zugverbindung. Doch sie verläuft nicht von Tanger aus. Sie müssen zuerst nach Fes oder Rabat gelangen und von einer dieser Städte den Zug nehmen. Fes würde ich Ihnen jedoch nicht empfehlen, die Stadt liegt ziemlich abgelegen im Landesinneren. Mit Rabat wären Sie auf der sichereren Seite, obwohl Sie, um dorthin zu gelangen, einen Wagen und Fahrer mieten müssen. Überhaupt, warum beenden Sie Ihre Reise nicht in Rabat, wenn Sie schon nicht in Tanger bleiben und dennoch ein wenig von Marokko sehen wollen?«
»Nein, das geht nicht, ich muss nach Marrakesch. Ja, nach Marrakesch«, wiederholte ich und befeuchtete meine Lippen, die furchtbar trocken waren. Mit einem Mal hatte ich schrecklichen Durst.
»Um ehrlich zu sein, würde ich nicht auf den Zug von Rabat nach Marrakesch vertrauen, Miss O’Shea. Wie gesagt, die Verbindung ist alles andere als zuverlässig: Die Gleise verschieben sich ständig oder werden von Kamelen oder diesen grässlichen Nomaden blockiert. Am besten wäre es, Sie nehmen sich für die gesamte Strecke einen Wagen mit Fahrer. Andererseits – diese lausigen Sandpfade, die als Straßen gelten –, na ja, die Franzosen sind stolz auf sie, doch sie führen oft durch abgelegenes Gebiet, und man wird ganz schön durchgerüttelt, bestimmt nicht das, was Sie gewohnt sind.«
Ich blinzelte und setzte mich gerade hin, bemüht, all diese Einzelheiten zu verarbeiten – allesamt ernüchternd, wie mir dämmerte.
»Und auch auf den Straßen sind Sie nicht vor Unbill gefeit, bestimmt werden Sie auf die alten Routen ausweichen müssen, im Grunde nichts weiter als Karawanenpisten aus Sand, die für Kamele und Esel gemacht sind, aber gewiss nicht für Automobile. Wie ich sagte, gibt es Städte, die näher an Tanger liegen. Außerdem sollten Sie besser an der Küste bleiben, wegen der kühlen Winde. Der Hochsommer ist im Anzug, und der bedeutet in Marokko unerträgliche Hitze. Wenn Sie also unbedingt Tanger verlassen müssen, würde ich Ihnen raten, in Rabat Station zu machen. Oder meinetwegen auch nach Casablanca weiterzureisen. Die Stadt ist weitaus zivilisierter als …«
»Vielen Dank für Ihre Informationen«, sagte ich. Er wollte mir ja nur helfen, schließlich hatte er keine Ahnung, warum ich so dringend nach Marrakesch musste.
»Nichts für ungut, aber wirklich, Miss O’Shea, Marrakesch. Ich nehme an, Sie haben Familie dort. Oder wenigstens Freunde. Niemand reist nach Marrakesch, ohne eine Anlaufstelle zu haben. Außerdem gibt es nur Franzosen dort, müssen Sie wissen. Haben Sie jemanden in Marrakesch?«
»Ja«, sagte ich und hoffte, überzeugend zu klingen, obwohl ich mir selbst nicht sicher war. Die Antwort würde ich erst bekommen, wenn ich in Marrakesch ankam. Mit einem Mal wollte ich nichts mehr davon hören und auch keine weiteren Fragen beantworten. Statt mich in meinem Vorhaben zu bestärken, auf eigene Faust das westliche Nordafrika zu durchqueren, ließ diese Unterhaltung meine Unsicherheit und Ängste nur noch größer werden.
»Bitte fühlen Sie sich nicht gezwungen, mir länger Gesellschaft zu leisten. Es geht mir schon wesentlich besser, wirklich. Und nochmals vielen Dank«, sagte ich und versuchte zu lächeln.
»Na gut«, sagte er und stand auf.
War das Erleichterung, was ich in seinen Augen sah?, fragte ich mich. Wie musste ich wohl auf ihn wirken – so allein, gänzlich unvorbereitet, so … verzweifelt? Wirkte ich verzweifelt auf ihn?
Als er den Aufenthaltsraum verließ, fiel mein Blick auf die spanische Familie mit drei kleinen Kindern, die mir gegenübersaß. Das kleinste Kind, ein Mädchen, hielt eine winzige Puppe hoch, wie um sie mir zu zeigen.
Unvermittelt durchfuhr mich ein unbestimmter Schmerz, und ich schrieb es meinem Durst und meinen Ängsten zu.
Der Levante wurde noch grimmiger. Aufgrund des rauen Seegangs war es schwer zu sagen, ob wir wieder kehrtgemacht hatten – eine Möglichkeit, die der Amerikaner angedeutet hatte – oder unsere Reise fortsetzten. Die Fähre bahnte sich einen Weg durch die sturmgepeitschten Wellen, und der monotone Rhythmus, in dem unser Schiff die hohen Wogen erklomm und wieder hinabstürzte, verstärkte meine Seekrankheit noch. Anderen erging es nicht besser; einige eilten an Deck, um sich dort, wie ich vermutete, an die Reling geklammert, zu übergeben. Plötzlich beugte sich das kleine spanische Mädchen nach vorn und erbrach sich. Ihre Mutter wischte mit der Hand ihren Mund sauber, um sie dann auf ihren Schoß zu ziehen und ihr übers Haar zu streichen. Der säuerliche Gestank in dem Raum wurde zusehends schlimmer, es war unerträglich heiß und stickig. Ich fuhr mir mit dem Ärmel übers Gesicht, froh, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Wenn ich doch nur, wie die meisten anderen Passagiere, eine Flasche Wasser mitgenommen hätte, schalt ich mich. Alle saßen reglos da, während sich ihre Körper im Rhythmus des Schiffes hoben und senkten, und schwiegen, während zuvor beim Auslaufen aus dem spanischen Hafen noch ein aufgeregtes Stimmengewirr geherrscht hatte. Sogar die kleinen Kinder waren nun still, nur das Mädchen wimmerte leise in den Armen seiner Mutter.
Wieder dachte ich daran, dass das Schiff kentern könnte. Und wieder wurde mir klar, in welch missliche Lage ich mich gebracht hatte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie gefährlich eine solche Reise war.
Erneut wurde unser Schiff von einer Welle ergriffen, einer besonders hohen diesmal, und ich wurde auf den Sitz neben mir geschleudert. Dabei stieß ich mit dem Ellbogen an die harte Sitzfläche, und ein heftiger Schmerz fuhr mir durch die Hüfte, sodass ich unwillkürlich aufschrie, wie andere ringsumher auch. Und noch immer sprach niemand ein Wort; alle setzten sich lediglich aufrecht hin und schwiegen. Ich schlug die Hand vor den Mund und schluckte immer wieder die Magensäure hinunter, die mir, indem sie die Bewegungen des Schiffes nachahmte, die Kehle hinauf- und hinabfloss. Ich schloss die Augen und versuchte, tief einzuatmen und nicht auf den Wind zu achten, der um die Fenster des Decks heulte, versuchte, nicht den Geruch einzuatmen, der von den ekelhaften Pfützen auf dem Boden aufstieg.
Und dann, so langsam, dass ich es kaum bemerkte, ließ das Schwanken des Schiffes nach. Ich setzte mich gerade hin und bemerkte, dass ich durch die Fenster nicht mehr das Steigen und Fallen der Meeresoberfläche sehen konnte. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich wieder fester und vertrauter an, und mein Magen beruhigte sich.
Als einer der Spanier die Tür öffnete und rief: »Tanger, Ya llegamos!«, atmete ich erleichtert auf, und beifälliges Gemurmel erhob sich. Den Worten des Spaniers meinte ich zu entnehmen, dass er die Stadt erspäht hatte oder dass wir uns ihr näherten. Also waren wir dem Levante vorausgeeilt, hatten den Sturm in der Mitte der Straße von Gibraltar hinter uns gelassen, wo er sich austobte. Dankbar schloss ich die Augen, und als ich sie wieder aufschlug, waren einige der Kinder zu den Fenstern gerannt. Endlich erhob sich ein immer lauter werdendes Stimmen- und Sprachengewirr, während der Raum von einer allgemeinen Euphorie ergriffen wurde. Und dann standen alle auf, streckten die Glieder und verschafften sich Bewegung, sammelten plaudernd Kinder und Gepäckstücke ein. Die Familie, die mir gegenübergesessen hatte, ging hinaus, das kleine Mädchen noch immer auf dem Arm seiner Mutter, die Puppe an sich gepresst. Auch ich erhob mich, spürte jedoch sofort wieder Schwindel und Übelkeit, ob aufgrund des noch immer schwankenden Schiffs, als Folge meines Dursts und der Tatsache, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, oder meiner kurz zurückliegenden Erkrankung, konnte ich nicht sagen.
Ich setzte mich wieder.
»Miss O’Shea? Wie schade, dass Sie nicht an Deck gekommen sind, um unser Einlaufen zu beobachten. Ein grandioser Anblick in diesem Sonnenlicht … Oh, aber Sie leiden noch immer unter dem Wetter, wie ich sehe«, sagte der Amerikaner stirnrunzelnd, und mir wurde bewusst, dass ich noch immer blass im Gesicht sein musste. »Kann ich Ihnen helfen, jemanden …?«
Ich schüttelte den Kopf und unterbrach ihn. »Nein, nein.« Auch wenn sein Hilfsangebot verlockend klang, so war mir mein noch immer andauernder Schwächeanfall peinlich. »Ich ruhe mich noch ein wenig aus, dann wird es bestimmt besser. Nochmals vielen Dank, Sie waren äußerst freundlich. Aber nun lassen Sie sich bitte nicht länger aufhalten, gehen Sie ruhig, ich bitte Sie.«
»Wie Sie wollen«, sagte er. »Aber hüten Sie sich vor den Schwarzhändlern, die überall im Hafen herumhängen. Nehmen Sie ein petit taxi oder, falls es keines gibt, einen Karren. Und bezahlen Sie nur die Hälfte des verlangten Preises. Nur die Hälfte. Sie werden Ihnen zwar die Geschichte von ihren zehn hungrigen Kindern und von ihrer kranken Mutter erzählen, aber bleiben Sie standhaft. Nur die Hälfte, keinesfalls mehr.«
Ich nickte abermals und hoffte inständig, er möge jetzt gehen, damit ich die Augen zumachen konnte, um mein Schwindelgefühl zu bekämpfen.
»Dann auf Wiedersehen, Miss O’Shea, ich wünsche Ihnen viel Glück. Das werden Sie brauchen, wenn Sie tatsächlich auf eigene Faust nach Marrakesch reisen wollen.« Ich hörte, wie er sich langsamen, schweren Schrittes entfernte.
Nach wenigen Momenten, als nur noch gedämpfte Rufe von draußen hereindrangen, stand ich allein in dem Raum. Ich streifte mir die Handschuhe über und begab mich an Deck, ins warme Sonnenlicht. Sobald ich durch die Tür trat, war das Schwindelgefühl verschwunden; die Luft war frisch, barg den Geruch des Meeres und ein anderes, scharfes Aroma, Zitrusduft vermutlich. Es war ein frischer, sauberer Duft. Ich atmete tief ein, und mit jedem Atemzug fühlte ich mich stärker. Währenddessen warf ich einen neugierigen Blick auf Tanger, soweit es von der Fähre aus zu sehen war.
Der Amerikaner hatte nicht zu viel versprochen, es war eine wahrlich grandiose Aussicht. Ein Amphitheater war zu erahnen, und vom Hafen zogen sich in einem Meer aus Palmen weiße Häuser den Hang hinauf. Minarette, deren Spitzen in der Sonne glänzten, ragten weit in den Himmel. Die Stadt strahlte eine fremdländische Schönheit aus, ganz anders als die Betriebsamkeit in den industriellen Hafenanlagen von New York oder Marseille. Wie angewurzelt stand ich da und betrachtete die Palmen, die sich sanft in der Brise wiegten. Schließlich löste ich den Blick von der Stadt und wandte ihn dem Hafen zu. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Da waren nur Männer – wo waren die Frauen? Einen kurzen Augenblick lang kam mir der absurde Gedanke, dass es sich bei all den Männern um Mönche handelte … aber wie konnte das sein? War Tanger nicht eine muslimische Stadt? In der nächsten Sekunde gewahrte ich meinen Irrtum: Die Kapuzenmäntel, die die Männer trugen, hatten mich in die Irre geführt. Wie hießen die Gewänder noch mal? Der Name wollte mir nicht mehr einfallen. Bestimmt erfüllten die Kapuzen den Zweck, ihre Träger vor der heißen Sonne zu schützen, oder es war eben ein Brauch. Weite Kapuzen, die sich seitlich über die Gesichter wölbten.
Und aus einem unerfindlichen Grund flößten mir diese Kapuzengewänder, die ihre Träger gesichtslos machten, eine unheilvolle Vorahnung ein.
Mit einem Mal wurde mir klar: Ich war vollkommen fremd hier, und niemand war da, um mich zu begrüßen.
Während ich mich mit der Hand an dem dicken, rauen Seil entlangtastete, schritt ich über die Landungsbrücke.
Es gab keine Wachen, keine Grenzkontrollen. Ich wusste, dass Tanger ein Freihafen war – die genaue Bezeichnung lautete »Internationale Zone von Tanger« – und dass Ankommende oder Abreisende keinerlei Beschränkungen unterlagen.
Als ich das Ende der Gangway erreichte, erspähte ich mein Gepäck, das an Deck nass geworden war, sodass die Kreidebeschriftung verschmiert und kaum mehr zu lesen war. Meine zwei schweren Koffer standen verwaist da, denn ich verließ als letzter Passagier das Fährschiff. Als ich auf die Gepäckstücke zuschritt und mir den Kopf zerbrach, ob ich genügend Kraft haben würde, sie zu tragen, kam ein kleiner dunkler Mann auf mich zu. Der schmutzige weiße Turban saß wie ein verschlungenes Nest auf seinem Kopf, und er führte einen struppigen, grauen Esel am Zügel, der einen Karren zog. Er sprach mich an, doch ich bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, dass ich ihn nicht verstand. Dann fragte er mich auf Französisch, wohin ich wolle.
»Ins Hotel Continental, s’il vous plaît«, erwiderte ich, denn ein anderes Hotel hätte ich ihm ohnehin nicht nennen können.
Er nickte und streckte die Hand mit dem Handteller nach oben aus und nannte mir auf Französisch einen Preis in Sous.
Ich rief mir die Worte des korpulenten Amerikaners ins Gedächtnis: Nordafrika ist ein Ort, an dem man stets seine fünf Sinne beisammenhaben sollte. Was, wenn dieser Mann, der so eifrig nickte, keinerlei Absicht hatte, mich ins Hotel zu fahren? Was, wenn er mich an einen verborgenen Ort brachte und mich dort zurückließ, nachdem er mich meines Geldes und Gepäcks beraubt hatte?
Wenn er nicht noch Schlimmeres im Schilde führte.
Die Tragweite meines Tuns – allein hierherzureisen, ohne irgendeine Anlaufstelle zu haben, jemanden, der mir in der Not hätte helfen können – fiel mir wie Schuppen von den Augen.
Ich sah den Mann an, dann die anderen Männer, von denen es hier wimmelte. Einige starrten mich unverhohlen an, während andere mit gesenktem Kopf vorbeieilten, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Hatte ich eine andere Wahl?
Ich befeuchtete die Lippen und sagte, ich würde die Hälfte des Preises zahlen, den er genannt hatte. Er runzelte die Stirn, schlug sich gegen die Brust und schüttelte heftig den Kopf, während er sich erneut seiner mir fremden Sprache bediente. Schließlich nannte er auf Französisch einen anderen Preis, einen, der in der Mitte zwischen seinem ersten Angebot und meinem lag. Er wich meinem Blick aus, und ich fragte mich, ob aus Scheu oder aus Verschlagenheit. Wieder überlegte ich, ob ich mein Schicksal in seine Hände legen konnte, und haderte abermals mit mir. Schon jetzt war ich von der Hitze benommen und wusste, dass ich mein Gepäck höchstens ein paar Meter würde tragen können, bevor ich es wieder absetzen müsste. Ich öffnete meine Handtasche und nahm ein paar Münzen heraus. Als ich sie in die Hand des Mannes legte, bemerkte ich erschrocken einen Trauerrand unter meinen Fingernägeln.
Es war, als ob dieser schwarze Kontinent bereits ein Teil von mir geworden wäre, obwohl ich erst wenige Schritte auf ihm getan hatte.
Mit erstaunlicher Leichtigkeit hob der Mann meine beiden Gepäckstücke auf den offenen Eselskarren. Er deutete auf den Platz neben sich, und ich stieg hinauf. Nachdem er die Zügel leicht auf den Rücken des Esels hatte schnalzen lassen, atmete ich erneut tief ein.
»Hotel Continental«, sagte der Mann wie zur Bekräftigung meines Fahrtziels.
»Oui. Merci«, antwortete ich und betrachtete verstohlen sein Profil, ehe ich den Blick geradeaus richtete.
Hier war ich also in Nordafrika. Unzählige Meilen lagen noch vor mir, aber immerhin hatte ich es schon mal bis hierher geschafft – dem Ausgangspunkt meiner langen Reise auf dem unbekannten Kontinent.
Alles in Tanger war fremd für mich – die Architektur, die Gesichter, Sprache und Kleidung der Menschen, die Bäume, Gerüche, ja sogar die Luft. Nichts erinnerte mich an zu Hause – mein ruhiges Heim in Albany im nördlichen Teil des Bundesstaates New York.
Und als ich zurückblickte, in Richtung der Fähre, wurde mir bewusst, dass mir in Amerika nichts mehr geblieben war, nichts und niemand.