1. Auflage 2010
© Tibethaus Deutschland e.V.
Alle Rechte vorbehalten
Eingeben der Artikel: |
Susanne Bruska, Nora Fancello, Ingrid Gerson, Bernhard Heinrich, Marlies Siegel, Barbara Sittig |
Korrekturlesen: |
Andreas Euler, Christine Köllhofer |
Umschlaggestaltung: |
Andreas Ansmann, Elke Hessel, Christiane Hackethal |
Satz: |
Sabine Holz, Andreas Ansmann |
Bezugsadresse:
Tibethaus Deutschland e.V.
Kaufunger Str. 4, 60486 Frankfurt
ISBN 978-3-931442-81-1
ISBN (ebook) 978-3-931442-87-3
Die in diesem Buch veröffentlichten Texte wurden von S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche in den letzten 30 Jahren verfasst. Sie spiegeln in vielfältiger Weise seine Bemühungen wieder, zum einen die buddhistische Lehre, so wie sie in Tibet bis Mitte dieses Jahrhunderts überliefert und wie sie ihm von seinen eigenen Lehrern übertragen wurde, unverfälscht weiterzugeben und gleichzeitig Sprache und Methoden der Vermittlung zu finden, die den Menschen in unserem Kulturraum und insbesondere in Deutschland entsprechen.
Der Grund dafür ist ganz einfach:
Die Praxis des Dharma muss immer dem eigenen Geist entsprechen, weil sie sonst einfach nicht funktioniert.
Rinpoche hat an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass die Übertragung des Buddhismus in eine fremde Kultur große Bemühungen über viele Generationen hinweg erfordert und dass es dabei notwendig ist, zwischen jenen Aspekten der Tradition zu unterscheiden, die vor allem durch soziokulturelle Prägungen begründet sind und jenen Aspekten, die den Kern oder die Essenz der buddhistischen Lehre ausmachen:
Nur mühsam lässt sich erkennen, welche Bestandteile der Überlieferung kulturell geprägte Tradition sind und deshalb auf das neue Umfeld abgestimmt werden sollten, und welche Aspekte zum Kern der Lehre gehören, ohne den sie ihren Sinn verliert. Dieser Prozess wird noch viele Generationen dauern. Aber er vollzieht sich schon heute in vielen kleinen Schritten, in den persönlichen Entscheidungen vieler Einzelner, die sich dieser Frage stellen und individuelle Antworten finden. Mit der Zeit wird aus den einzelnen Impulsen eine gemeinsame, neue, westliche Form des Buddhismus entstehen.
In dieser Beschreibung kommt sowohl die große Verantwortung und Aufgabe zum Ausdruck, die auf den heutigen Praktizierenden des Buddhismus – Lehrern wie Schülern – lastet und gleichzeitig auch die Freude und Chance für jeden Einzelnen, diesen Prozess mitgestalten zu dürfen – in einem ausgewogenen Spannungsfeld zwischen Überlieferung und Forschergeist.
Rinpoche hat die meisten der vorliegenden Aufsätze im Rahmen seiner Aufgabe als spiritueller Leiter der Buddhistischen Gemeinschaft Chödzong, aus der 2005 das Tibethaus Deutschland hervorgegangen ist, geschrieben. Auch wenn die Artikel schon vor längerer Zeit verfasst worden sind und dieser historische Kontext sich auch in einigen der gewählten Beispiele widerspiegelt, so haben die Aussagen doch nichts von ihrer wegweisenden Bedeutung für den Buddhismus in unserem Kulturraum und speziell in Deutschland verloren.
Ein ganz herzlicher Dank gilt allen freundlichen Helferinnen und Helfern, die durch das Abtippen der ursprünglichen Texte, Korrekturlesen usw. an der Herausgabe dieses Buchs einen wichtigen Anteil haben.
Ein besonderer Dank gilt auch Regine Leisner, die an dem Entstehen der meisten Artikel mitgewirkt hat.
Andreas Ansmann Frankfurt, den 28.10.2010
S. E. Dagyab Rinpoche, Achtsamkeit und Versenkung, S. 9.
S. E. Dagyab Rinpoche, Vorwort in Dagmar Doko Waskönig, Mein Weg zum Buddhismus, S. 8.
S. E. Dagyab Rinpoche, Buddhistische Orientierungshilfen, S. 69.
S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche wurde 1940 in Minyak, Osttibet in einer Bauernfamilie geboren und schon im Kleinkindalter als hohe Reinkarnation entdeckt. Als Kyabgön - „Schutzherr“ - von Dagyab wurde er, wie schon seine Vorgänger seit dem 17. Jahrhundert, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Region Dagyab in Osttibet. Zusätzlich gehört er als „Hothogthu nomonhan“ zur kleinen Gruppe der ranghöchsten Tulkus. Er ist der einzige Hothogthu, der im Westen lebt. Rinpoche absolvierte das traditionelle Studium der buddhistischen Philosophie an der Klosteruniversität Drepung in der Nähe von Lhasa. Er gehört der Gelugpa-Tradition an, die auf den großen Meister Lama Tsong Khapa (1357- 1419) zurückgeht. Zusätzlich erhielt er zahlreiche Unterweisungen aus der Kagyü- und der Sakya-Tradition. 1959 floh er zusammen mit S.H. dem Dalai Lama nach Indien. Er erwarb dort den Grad eines Geshe Lharampa und leitete u.a. das Tibet House in New Delhi.
Nach Deutschland kam Rinpoche 1966 auf Einladung der Universität Bonn, wo er bis 2004 als Tibetologe (Schwerpunkt: Tibetische Kunst und Ikonographie) arbeitete. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Erst seit 1984 wurde er auch im Westen auf Bitten vieler Buddhisten als buddhistischer Lehrer tätig. Rinpoche ist der spirituelle Leiter des Tibethaus Deutschland e.V..
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle sind heute hier zusammengekommen, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie sich Frieden herstellen und erhalten lässt. In der buddhistischen Praxis ist allein das Bemühen schon eine verdienstvolle Handlung, die einen Schritt auf dem Weg zum Frieden darstellt. Ich freue mich sehr darüber und bedanke mich bei der Katholischen Hochschulgemeinde für die Möglichkeit, Ihnen dieses Thema aus der Sicht des Buddhismus zu erläutern.
Fast allwöchentlich erfahren wir durch die Presse von Kongressen und Konferenzen, die sich mit dem Thema des Weltfriedens beschäftigen. Das ist auch kein Wunder. Gewalt und Aggression haben auf der Erde in einem Maß zugenommen, dass wir uns mit Recht um den Fortbestand der Menschheit Sorgen machen müssen. Gewalt und Aggression nicht nur in der Form von Kriegen und Terroranschlägen, sondern vor allem auch in unserem scheinbar normalen Alltagsleben: Gewalt gegen die Natur, gegen Tiere, gegen Kinder, strukturelle Gewalt in Institutionen und Beziehungen, Aggressionen im Denken, Reden und Handeln, Mensch gegen Mensch, Frau gegen Mann, Jung gegen Alt, Arm gegen Reich, Verein gegen Verein, Ideologie gegen Ideologie, Rasse gegen Rasse, Nation gegen Nation.
Es ist fast ein Wunder, dass die Welt noch existiert. Aber wie existiert sie? Wohin wir sehen, finden wir Probleme. Kein Bereich des Zusammenlebens der Gemeinschaft ist mehr frei davon.
Die sogenannte Erste Edle Wahrheit des Buddhismus lautet „Leben ist Leiden“. Sie scheint mit den Jahrhunderten immer aktueller zu werden. Dabei wollen doch alle Menschen nichts anderes als glücklich sein. Und sie investieren alle Energie des Lebens in unendlich viele Versuche, das Glück zu erreichen und festzuhalten. Aber nichts funktioniert auf Dauer. Wenn wir hinausgehen und die Menschen auf der Straße fragen würden, ob sie glücklich sind – wie viele würden wohl ohne Einschränkung mit Ja antworten? Die einzelnen Menschen sind ganz gewiss nicht glücklich. Und was nun die unterschiedlichen Gruppierungen angeht, von der Familie bis zur Gemeinschaft aller Völker, so sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir uns in Kongressen Gedanken darüber machen müssen, ob die Menschheit eine Überlebenschance hat.
Wenn aber nun die Menschen nichts anderes wollen als glücklich sein, warum ist dann alles so schiefgegangen? Gibt es eine Möglichkeit, alles wieder in Ordnung zu bringen und wenn ja, wie macht man es? Fragen dieser Art werden an die Wissenschaftler und Politiker, an die Philosophen und an die Vertreter der Religionen immer drängender gestellt. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat in den letzten Jahren nirgendwo ein Publikum angetroffen, das ihn nicht zuallererst mit diesen Fragen konfrontiert hätte. Natürlich sind die Religionen in dieser kritischen Zeit ganz besonders herausgefordert, Erklärungen zu liefern und Wege aufzuzeigen. Schließlich haben sie sich selbst jahrtausendelang als diejenigen präsentiert, die die Menschen in einen heilsameren Zustand führen können.
Und in der Tat sind die Religionen von ihrem Ansatz her gut geeignet, in der gegenwärtigen Krise Hilfsmittel bereitzustellen – und wahrscheinlich sogar bessere als zum Beispiel politische Methoden. Denn alle großen Religionen streben nach Veränderung und Verbesserung der Lebenssituation jedes einzelnen Menschen und der ganzen Gemeinschaft. Die Methoden sollen dabei so gewählt sein, dass eine Veränderung von innen nach außen, gewaltfrei und undogmatisch, möglich wird. Die Betonung des Geistigen spielt dabei eine wichtige Rolle, wie wir später noch sehen werden. Ferner liefern die Religionen ein im Wesentlichen übereinstimmendes moralisches Fundament und fordern den Einzelnen auf, die engen Grenzen seiner Ego-Zentriertheit zu überwinden. Somit erfüllen sie alle Bedingungen, den Menschen zu helfen – und zwar hier und jetzt, nicht irgendwann nach dem Tode.
Bevor wir aber den Beitrag der Religionen am Beispiel des Buddhismus näher betrachten, müssen wir uns fragen: Was ist eigentlich dieser Friede, nach dem sich alle so sehr sehnen und der so schwer zu finden ist? In der menschlichen Geschichte scheint Frieden immer nur die Phase zwischen zwei Kriegen gewesen zu sein. Gibt es überhaupt so etwas wie dauerhaften Frieden? Gibt es Frieden nur innen und ist äußerer Frieden eine Utopie? Kann man ihn erzwingen? Kann er auf dem Papier hergestellt werden? Gehört im Westen der Frieden überhaupt zu den kulturellen Werten oder gilt bei uns nur das Recht des Stärkeren und Aggressiveren? Was haben wir in den letzten Jahrzehnten für den Frieden getan, außer Lippenbekenntnisse zu formulieren? Was sind die Voraussetzungen für die Entwicklung von Frieden? Wo liegen die Hindernisse?
Um diese Fragen zu beantworten, will ich nun etwas tiefer in die buddhistische Theorie einsteigen. Wie Ihnen wahrscheinlich allen bekannt ist, ist der Buddhismus keine Religion im engeren Sinn, sondern ein System von Erklärungen und Techniken zur Beseitigung von Leiden. Dabei wird so vorgegangen: Erst wird das Leiden festgestellt, dann werden die Ursachen analysiert, dann wird erklärt, wie man die Ursachen beseitigen und damit dem Leiden den Nährboden entziehen kann. Auf unser Friedens-Thema angewendet heißt das: Was sind die Ursachen von Unfrieden und wie kann man sie beheben?
Die Ursachen des Unfriedens und jeder anderen Art von Leiden liegen in der Funktionsweise des menschlichen Geistes. Wir leben in einer grundlegenden Unwissenheit über die Art und Weise, in der wir selbst und das gesamte Universum existieren. Durch diese grundlegende Unwissenheit nehmen wir uns selbst als vom Rest der Welt getrennte Einheit wahr und entwickeln das Konzept eines Ich, eines konkreten Ego. Dass dieses konkrete Ego ein Phantom ist, stört uns dabei nicht, denn wir glauben ganz fest daran. In diesem Glauben unterstützt uns unsere ganze Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane, weil wir uns unser ganzes Leben lang darin trainiert haben, nur das wahrzunehmen, woran wir ohnehin schon glauben. Nun wissen wir aber auch, dass unser Ego durch alle möglichen Veränderungen bedroht werden kann. Davor müssen wir uns schützen. Also entwickeln wir ein Verfahren, mit dem wir alles, was uns begegnet, blitzschnell sortieren und bewerten können – und zwar nach den Kategorien 1.) „Egostabilisierend, also angenehm“, 2.) „Ego-bedrohend, also unangenehm“ und 3.) „Neutral“. Nach dem Angenehmen greifen wir und versuchen, es festzuhalten. Das Unangenehme versuchen wir wegzuschieben oder zu vernichten. In diesem Spannungsverhältnis verbringen wir unser ganzes Leben. Und dabei denken wir, wir seien Herr unserer freien Entscheidungen! Dieses Greifen nach dem Angenehmen und Vermeiden von Unangenehmem ist übrigens nicht nur ein geistiger Impuls. Durch ständige zwanghafte Wiederholung beherrscht es ebenfalls unser Reden und Handeln. Wir häufen Besitz an, bauen hohe Mauern, schließen uns mit Gleichgesinnten zu Blöcken zusammen und bauen Feindbilder auf. Dass das alles der Stabilisierung des Ego und der Überwindung unserer grundlegenden Angst und Unsicherheit dient, ist uns dabei nicht bewusst. Deshalb spricht der Buddhismus von den grundlegenden Giften – Gier, Hass und Verblendung.
Sie sehen schon, dass es zwischen den Verhaltensweisen und Strategien eines einzelnen Menschen und der ganzen Gemeinschaft keinen wesentlichen Unterschied gibt. Einzelne Menschen versuchen, ihr Ego zu schützen. Gruppen jeder Größe versuchen, ihr Gruppen-Ego zu schützen. Einzelne bilden Gruppen, um sich sicherer zu fühlen. Die Motive, Verhaltensweisen und Ergebnisse sind dieselben. Nur wird es mit zunehmender Größe einer Gruppe immer schwieriger, diese Problematik zu erkennen, weil alle Elemente einer Gruppe sich gegenseitig in ihren Strategien bestätigen. Außerdem kommt noch eine gewisse Starrheit oder Trägheit hinzu, die durch die große Anzahl bedingt ist.
Nun wäre ja an den Strategien zur Stabilisierung des Ego und zur Erlangung von Glück eigentlich nichts Schlechtes, wenn sie nur funktionieren würden. Aber laut buddhistischer Lehre funktionieren sie eben nicht. Sie können gar nicht funktionieren. Warum nicht? Führen wir uns noch mal vor Augen: Das Greifen nach dem Angenehmen und das Wegschieben des Unangenehmen basieren auf der Unsicherheit des Ego, das sich selbst als getrennt von der Welt wahrnimmt. Diese Wahrnehmung wiederum basiert auf einer grundlegenden Unwissenheit. Solange diese Situation besteht, wird das Greifen nicht aufhören. Mit anderen Worten: Das Greifen nach dem Angenehmen, das Wegschieben von Unangenehmem wird niemals von selbst aufhören. Keine dauerhafte Befriedigung kann jemals erreicht werden, solange die Wurzel des Greifens fortbesteht. Das Greifen ist ein endloser Prozess, nur die Objekte wechseln. Wenn aber das Greifen nach Objekten niemals endet, die Objekte selbst aber begrenzt sind, können Sie sich leicht vorstellen, wie die Interessen der Individuen aufeinanderprallen. Im Extremfall kann dadurch der Lebensraum für alle Wesen zerstört werden – dabei wollten doch alle nur möglichst gut leben. Sie haben mit ihren falschen Methoden genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich wollten. Und nicht nur das. Durch die fortgesetzten Wiederholungen im Denken, Reden und Handeln werden ständig neue Eindrücke von Gier, Hass und Verblendung im Geist abgelagert. Aufgrund des Gesetzes von Ursache und Wirkung, Karma genannt, entsteht dadurch sozusagen eine Tendenz, sich immer wieder gleiche Situationen zu schaffen. Somit hört dieses Elend niemals von selbst auf, im Gegenteil, es verstärkt sich immer mehr. Unsere einzige Chance liegt darin, diesen Prozess zu erkennen und große Anstrengungen zu unternehmen, um ihn zu beenden. Diese Anstrengungen kann uns niemand abnehmen, aber auf der anderen Seite ist jeder Mensch in der Lage, selbst einen solchen Weg zu gehen.
Was führt nun im Leben eines einzelnen Menschen dazu, dass er eine Veränderung anstrebt? Die Antwort lautet meist: der Leidensdruck. Wenn ein Mensch der Erkenntnis nicht mehr ausweichen kann, dass alle seine Bemühungen ihm nicht das ersehnte Glück, sondern immer mehr Leid gebracht haben, wird er vielleicht versuchen, die Ursachen dafür zu finden. Im günstigsten Fall sucht er bei sich selbst, das ist die Ausgangsbasis für eine Veränderung. Im Buddhismus heißt es, durch das Abschneiden der Ursachen wird auch das Leiden beendet. Dafür gibt es nun verschiedene Wege. Man kann durch Selbstdisziplin lernen, alle unheilsamen Handlungen, die durch Gier, Hass und Verblendung motiviert sind, zu unterlassen. Dann schafft man keine negativen Eindrücke mehr im Geist und im Lauf der Zeit kann man sich so aus dem Leiden herausarbeiten. Diese Methode ist sehr sicher und einfach, sie dauert aber lange. Eventuell kann man die Schubkraft der eigenen Bemühungen dadurch verstärken, dass man sie dem Wohl anderer Lebewesen widmet. Wenn das mit großem Mitgefühl einhergeht, ist es sehr wirkungsvoll. Der kürzeste Weg liegt darin, die grundlegende Unwissenheit, die zur falschen Wahrnehmung eines konkreten Ego führt, zu beenden und damit die Wurzel aller Greifakte abzuschneiden. Das ist ein gewissermaßen mystischer Weg, der eine intensive meditative Schulung erfordert. In der Regel wird man alle drei Methoden miteinander kombinieren – die Gewichtung erfolgt durch den jeweiligen Lehrer, individuell angepasst an die Aufnahmefähigkeit des einzelnen Schülers.
Wenn wir nun versuchen, diese Methoden auf eine ganze Gesellschaft zu übertragen, um so die Wurzeln des Unfriedens abzuschneiden und Frieden möglich zu machen, stehen wir vor verschiedenen Problemen. Erstes Problem: Wie soll man eine ganze Gemeinschaft zur Erkenntnis der Situation bringen? Es gibt noch so viele Möglichkeiten zur Verdrängung und wenn der kollektive Leidensdruck erst einmal groß genug ist, ist es vielleicht für uns alle zu spät. Zweites Problem: Wie bekommt man Millionen von Menschen dazu, sich auf den Weg zu machen, sich anzustrengen, Einsicht zu entwickeln? Und das auch noch, wo es doch so viel einfacher ist, die Schuld immer auf die anderen zu schieben und seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen! Drittes Problem: Wir können uns nicht genüsslich ein Jahrhundertprogramm ausdenken, denn zu allem Überfluss stehen wir auch noch unter Zeitdruck. Das alles sieht ziemlich hoffnungslos aus. Aber nach den Worten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama bleibt uns in unserer verfahrenen Lage nichts anderes übrig, als Mut, Entschlossenheit und Hoffnung zu entwickeln. Wenn wir angesichts der herrschenden Probleme resignieren, dann sind wir wirklich verloren.
Natürlich können wir versuchen, den Menschen den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Wir können an die Menge appellieren und für die Entwicklung von mehr Moral und Verantwortungsbewusstsein der Gemeinschaft eintreten. Aber gegenüber dem übermächtigen Zwang zur Ego-Stabilisierung bleiben solche Appelle meist wirkungslos, wie die Geschichte der Menschheit gezeigt hat. Jeder wird zwar finden, dass Frieden eine gute Sache ist. Aber fast niemand wird bereit sein, bei sich selbst den Anfang zu machen – und zum Beispiel auf die Chance verzichten, einem Gegner eins auszuwischen.
Dennoch ist der Transport von Informationen eine der wenigen Möglichkeiten, die wir haben. Wir müssen uns nur bewusst sein, welche Chancen, aber auch welche Hindernisse die Kommunikation bietet. Wir müssen verstehen, dass Unfrieden von Angst und Unwissenheit kommt, also letzten Endes völlig irrational begründet ist. Deshalb ist es notwendig, den Problemen genau auf der Ebene zu begegnen, auf der sie entstehen. Es ist sinnlos, nur mit Argumenten, Fakten und Zahlen Ängste besiegen zu wollen.
Die Erfahrungen der Friedensbewegung haben gezeigt, dass man nicht viel erreichen kann, wenn die eine Gruppe der Bevölkerung Angst vor den Russen hat und die andere Gruppe Angst vor der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen. Es spielt dabei keine Rolle, welche Angst objektiv berechtigter sein mag. Beide Gruppen prallen mit ihren Ängsten erfolgreich aufeinander und trennen sich unverändert.
Wenn man Friedensarbeit machen will, muss man auch wissen, wie man am effizientesten vorgehen kann. Ich glaube, folgende Punkte sind dabei zu beachten:
1. Die Kommunikation „von Kopf zu Kopf“ muss die Information beinhalten, wodurch Unfrieden entsteht und wie Unfrieden beendet werden kann. Die Rolle der Ego-Stabilisierung sollte in leicht fassbarer und nachvollziehbarer Form deutlich gemacht werden. Ganz gleich, ob man wie die Buddhisten dieses Ego für ein Phantom hält oder nicht, auf jeden Fall ist es wohl einzusehen, dass unsere gnadenlose Ego-Verteidigung um jeden Preis eingedämmt werden muss, zugunsten eines erweiterten Blickwinkels.
2. Die Kommunikation „von Herz zu Herz“ muss den intellektuellen Austausch ergänzen. Was bedeutet das? Jeder Mensch, an den wir uns wenden, muss in seiner Gesamtheit umfassend gewürdigt werden. Wenn wir nicht eine grundlegende Achtung vor unserem Gesprächspartner und seinen Ansichten haben, werden wir versuchen, ihn gewaltsam zu überzeugen oder zu manipulieren. Das ist der verkehrte Weg. Eine echte Kommunikation ist immer ein gegenseitiger Austausch, kein einseitiges Dozieren. Verständnis und Offenheit einem anderen Wesen gegenüber sind nicht möglich, wenn wir uns für die großen Schlaumeier halten, die den anderen beibringen müssen, wie sie ihre Probleme zu lösen haben. In diesem Punkt kann man auch niemanden täuschen. Wenn der andere nicht merkt, dass wir zu einer echten Kommunikation bereit sind, wird er sich auch für uns nicht wirklich öffnen. Die Kommunikation von „Herz zu Herz“ ist ein hoher Anspruch und eine schwere Aufgabe, wenigstens am Anfang. Aber sie kann gelernt werden. Sie verbessert nicht nur die Lebensqualität des Betreffenden selbst, sondern auch die seiner gesamten Umgebung. Sie ist eine der Voraussetzungen auf dem Weg zum Frieden. Aber Kommunikation „von Herz zu Herz“ heißt nicht nur, den anderen in seinem Persönlichkeitsmuster zu akzeptieren. Wir müssen auch etwas zu geben haben, etwas ausstrahlen. Das ist auch nicht ganz so einfach. Der Buddhismus verfügt über verschiedene Erklärungen und Techniken, mit denen der Angst entgegengewirkt werden kann, z.B. Meditation über die Vergänglichkeit, über die verschiedenen Bereiche der Wiedergeburt, über Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung und so weiter. Wenn es uns gelingt, unsere eigene Angst zu vermindern und so etwas wie geistige Klarheit und Zuversicht zu vermitteln, erst dann können wir anderen helfen, ihre eigene Angst loszulassen, vorher nicht. Frieden kann auf dem Boden von Angst und Zwanghaftigkeit nicht entstehen, deshalb ist das ein ganz wichtiger Punkt.
So, nehmen wir einmal den günstigsten Fall einer Entwicklung in Richtung Frieden an. Nehmen wir an, viele Menschen würden das als ihr erklärtes Ziel betrachten, viele Menschen wären fähig, die richtigen Informationen zu vermitteln und auf eine gute Art mit anderen zu kommunizieren. Viele würden die Anstrengungen einer inneren Entwicklung auf sich nehmen, um einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Würde das Ihrer Meinung nach genügen, meine Damen und Herren, um die Gefahr eines Atomkriegs abzuwenden? Nein. Eine solche allmähliche Entwicklung wäre zwar schön und wünschenswert, aber sie würde immer noch zu lange dauern. Und, wie ich anfangs sagte, wir stehen unter Zeitdruck. Nach den Worten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama müssen wir die nächsten etwa 20 Jahre alle Kräfte auf das Überleben konzentrieren. Wenn uns das gelungen ist, können wir daran gehen, von Grund auf eine neue Form des Zusammenlebens zu entwickeln. Was uns am Überleben hindern könnte, sind Bedrohungen, die sich in der Zerstörung der Natur, im Einsatz unbeherrschbarer Technologien und in der Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten durch einen Atomkrieg manifestieren. Für den Frieden zu arbeiten ist also eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Und vor allem ist es notwendig, dass sich Ergebnisse bald einstellen. Wie sollte das wohl möglich sein? Es müsste fast ein Wunder geschehen.
Ich glaube, so etwas wie ein Wunder wäre in der Tat nötig, um die bedrohte Menschheit zu retten. Was ist eigentlich – ein Wunder? Es gibt in den verschiedenen Religionen sicherlich verschiedene Definitionen dieses Begriffes, aber ich meine damit einfach einen Sieg des Geistes. Das kann ein Sieg über die Materie, über die Zeit oder über die Wahrscheinlichkeit sein. Es handelt sich dabei in jedem Fall um eine außergewöhnliche Leistung. Menschen, die eine solche Leistung fertigbrachten, nannte man früher Heilige. Ich glaube aber, außergewöhnliche Leistungen, die einen Sieg des Geistes darstellen, können auch sogenannte gewöhnliche Menschen erbringen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen würde ich mit den Begriffen Notwendigkeit, Zuständigkeit und Selbstvergessenheit bezeichnen. Notwendigkeit heißt, es muss eine äußerst kritische Situation bestehen, in der sofort etwas getan werden muss. Zuständigkeit heißt, der Agierende muss das Gefühl haben, dass es seine Sache ist zu handeln. Er muss sehr stark motiviert sein, z.B. durch Liebe und Mitgefühl. Selbstvergessenheit heißt, die Situation muss ihn so völlig gefangen nehmen, dass er für den Moment nicht in der Lage ist, an seinen eigenen Vorteil oder auch nur an seine Möglichkeiten und Grenzen zu denken. Sie alle kennen wahrscheinlich irgendeine Geschichte von einer Mutter, die eine physikalisch nicht zu erklärende Leistung vollbracht hat, um ihrem Kind das Leben zu retten, indem sie z.B. ganz allein einen LKW hochgestemmt hat oder irgendetwas in dieser Art. Ich halte solche Leistungen für möglich, denn alle drei Faktoren kommen hier zusammen: Die Notwendigkeit, denn andernfalls würde das Kind sterben. Die Zuständigkeit und starke Motivation und die Selbstvergessenheit durch das völlige Aufgehen in der Situation.
Wir müssen uns fragen, ob solche Leistungen auch kollektiv möglich sind und ob das vielleicht der einzige Ausweg aus unserer Krise ist. Wenn ja, würde das bedeuten, dass die ganze Menschheit spontan ein Potential aktivieren könnte, das bisher verborgen war. Schauen wir uns die drei Faktoren nochmals an: Die Einsicht in die Notwendigkeit ist zwar schwierig zu verwirklichen, wird aber mit zunehmendem Leidensdruck immer unausweichlicher. Die Frage der Zuständigkeit sollte eigentlich klar sein. Schließlich kann niemand anderer als die Menschen die Probleme der Menschheit lösen. Aber leider haben Menschen in Gruppen die unselige Tendenz, dass einer immer die Lösung der gemeinsamen Probleme vom anderen erwartet. Wir sind daran gewöhnt, Verantwortung zu delegieren, zum Beispiel an Politiker und Wissenschaftler. Nur haben wir damit durchaus keine guten Erfahrungen gemacht. Diejenigen Leute, auf die wir die Verantwortung, die Macht und die Mittel konzentrieren, sind genauso besessen vom Zwang zur Ego-Stabilisierung wie alle anderen. Das macht sie anfällig für alle möglichen psychologischen und materiellen Versuchungen. Unsere moralische Entrüstung über ihre Verfehlungen und Irrtümer ist zumindest teilweise fehl am Platze. Wir würden sehr wahrscheinlich in der gleichen Lage ähnlich handeln. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass sich diese Verfehlungen und Irrtümer für uns als verhängnisvoll auswirken können. Deshalb ist es eine Frage des Überlebens, dass wir wieder lernen, mehr Verantwortung selbst zu übernehmen. Bitte glauben Sie nicht, dass ich damit für die Abschaffung der Demokratie plädiere. Ganz gleich, welche Staatsform ein Volk gewählt hat, wenn sie nur zur möglichst bequemen Selbstbedienung benützt wird, ist sie gescheitert. Die Zuständigkeit liegt also bei uns allen. Und wenn sich unsere Motivation nur aus der Einsicht ableitet, dass wir im Falle eines Krieges mit ziemlicher Sicherheit alle zugrunde gehen, ist das wenigstens etwas. Noch besser wäre eine Motivation, die auf Liebe und Mitgefühl für unsere Mitmenschen beruht, aber das wäre fürs Erste wohl zu viel verlangt. Aber wir können diese Richtung wenigstens anpeilen. Eine Motivation, die auf positiven Kräften beruht, ist einer Angstmotivation in jedem Fall überlegen.
Und nun kommt der schwierigste Punkt: Wie sollen wir durch Selbstvergessenheit an unser verborgenes Potential herankommen? Selbstvergessenheit in einer akuten Krise, wie bei der Mutter, die ihr Kind retten will, das kann man sich ja noch vorstellen. Aber bei vielen Lebewesen, über einen längeren Zeitraum hinweg? Undenkbar! Das scheint ja genau das Gegenteil von dem zu sein, was wir die ganze Zeit als zwanghafte Ego-Stabilisierung bezeichnet haben, also beinahe ausgeschlossen. Und doch muss es irgendwie möglich sein. Ich glaube, hier setzt die Aufgabe der Religionen ein, denn jetzt müssen wir versuchen, in Bereiche unseres Bewusstseins einzudringen, die uns normalerweise verschlossen bleiben. Das geht nur mit entsprechenden Anleitungen und Techniken.
In den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden war es die Rolle der Religionen und ihrer Vertreter, eine bestimmte Lehre möglichst rein zu überliefern, den Menschen Verhaltensmaßstäbe zu geben und durch Riten und Zeremonien einen religiösen Bezugsrahmen zu schaffen, an dem sie sich sowohl im Alltag als auch in Ausnahmesituationen orientieren konnten. Wenigen blieb es vorbehalten, tiefer in das Wissen der Religionen einzudringen. Dagegen gab es nur allzu viele, die die äußeren Formen bereits als das Wesentliche ansahen. Auch Erscheinungen von Fanatismus, Intoleranz und Rechthaberei kamen vor. Wir können uns natürlich denken, dass man auch die Religionen benutzen kann, um das eigene Ego zu stabilisieren. Das ist ein Irrtum, der gar nicht so selten vorkommt, auch unter Buddhisten.