Ein Kommentar zu den
„Acht Versen zur Geistesumwandlung“
von Geshe Langri Thangpa
Zur Person:
Regine Leisner hat sich seit 1980 intensiv mit dem tibetischen Buddhismus beschäftigt und war über viele Jahre eine der engsten Mitarbeiterinnen von Dagyab Kyabgön Rinpoche. Heute ist sie im Bereich der psychologischen Beratung und des Coaching tätig. Sie ist Autorin verschiedener weiterer Bücher.
1. Auflage 1994
2. Auflage 1997
3. Auflage 2008
© Tibethaus Deutschland e.V.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: C. Hackethal, E. Hessel, A. Ansmann
Satz: A. Ansmann
Druck und Bindung: Gruner Druck GmbH, D-Erlangen
Bezugsadresse:
Tibethaus Deutschland e.V.
Friesengasse 13, 60487 Frankfurt
ISBN 978-3-931442-02-6
ISBN (ebook) 978-3-931442-89-7
Lojong (tib. blo-sbyong) praktizieren heißt, den eigenen Geist oder das eigene Denken (tib. lo, blo) in einer ganz bestimmten Weise zu üben, zu läutern oder umzuwandeln (tib. jong, sbyong). Dies geschieht durch die kompromisslose Anwendung buddhistischer Lehrinhalte auf alle nur vorstellbaren Situationen des täglichen Lebens. Werden die Inhalte des Lojong Punkt für Punkt in den Belehrungen vermittelt, erscheinen sie uns in der Theorie wohlbekannt und eher harmlos. In klug kombinierter Form zu praktischen Handlungsanweisungen zusammengefügt, erweisen sie sich jedoch als absolute Herausforderung, ja, als ein wahrer Sprengsatz für das Ego.
Wenn wir uns darauf einlassen, bedeutet das, dass wir unsere bisherigen Vorstellungen, Konzepte und Bewertungen in Bezug auf Freund und Feind, Schaden und Nutzen, Glück und Leid etc. neu überdenken, sie von einer anderen, tieferen Warte her betrachten und verstehen müssen. Die Lojong-Praxis ist darauf angelegt, eine Revolution in unserem Denken und Handeln herbeizuführen, indem sie unsere gewohnten Verhaltensnormen und unser altes Wertesystem als hinfällig erklärt und uns in ganz neue Zusammenhänge stellt, die uns auf den ersten Blick oft unbegreiflich vorkommen mögen.
Die Lojong-Praxis verspricht für alle Bemühungen reichen Lohn: Tiefere Einsicht, Zufriedenheit und Glück jetzt und später, und schließlich die vollkommene Befreiung. Es heißt in den Texten, dass sich für einen Lojong-Praktizierenden Hindernisse und widrige Umstände in ihr Gegenteil verwandeln und zu Ursachen für glückliche Zustände und günstige Entwicklungen werden. Tatsächlich kann man an Menschen, die sich über lange Zeit hinweg intensiv mit der Übung des Lojong beschäftigt haben, eine besondere Heiterkeit und Gelassenheit feststellen. Obwohl sie in ihrem Leben ebenso viele Schwierigkeiten zu bestehen haben mögen wie jeder andere, scheinen sie das subjektiv nicht so zu empfinden.
Wenn wir für uns herausfinden wollen, was es damit auf sich hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als es auszuprobieren. Daher wollen wir uns nun anhand eines bekannten Lojong-Textes, nämlich der ı Acht Verse zur Geistesumwandlung„ von Geshe Langri Thangpa, etwas mit den Grundlagen des Lojong beschäftigen und später vielleicht einige Wochenendseminare der Vertiefung des Themas durch ausgewählte Übungen, Meditationen und Gespräche widmen. Zunächst aber einige Bemerkungen zur Entwicklung des Lojong innerhalb der buddhistischen Geschichte.
Die Übungen des Lojong können auch als die Essenz der Mahayana-Praxis bezeichnet werden. Sie basieren also zum einen auf Bodhicitta, dem Erleuchtungsbewusstsein eines Bodhisattva, und zum anderen auf einem zumindest intellektuellen Grundverständnis von Shunyata, der Leerheit aller Erscheinungen von inhärenter Existenz. Die einzelnen Themen des Lojong
wie etwa Liebe und Mitleid für alle Lebewesen, Bescheidenheit, Achtsamkeit, Geduld, Friedfertigkeit und Einsicht in die Natur der Realität sind bis zu den Lehrreden des Buddha zurückzuverfolgen. Ihre spezifische Behandlung, insbesondere die Hervorhebung von Leerheit und Bodhicitta, wurzelt in den Prajnaparamita-Texten.
Als der große indische Reformator Atisha im 11. Jahrhundert den Buddhismus in Tibet nach einer Epoche des Niedergangs zu neuer Blüte brachte, lag ihm vor allem daran, die Gefahr einer neuerlichen Degeneration für die Zukunft möglichst auszuschalten. Daher legte er großen Wert auf die Verwendung knapper, zusammenfassender Grundlagentexte und auf die sorgfältige, direkte, durch kompetente Meister durchgeführte Ausbildung von Gelehrten, die den richtigen Umgang mit diesen Texten und der gesamten buddhistischen Lehre in Theorie und Praxis vermitteln konnten. (Er selbst verfasste zu diesem Zweck Schriften wie ı Die Lampe auf dem Pfad zur Erleuchtung„, die zur Wurzel aller Lamrim-Texte wurde.)
Die so entstandene Schule buddhistischer Gelehrter oder Geshes ist bekannt unter dem Namen ı Alte Kadampa-Tradition„ (im Gegensatz zur ı Neuen Kadampa-Tradition„, die sich von Je Tsongkhapa herleitet). Die Geshes des Alten Kadampa, also die Schüler und Nachfolger von Atisha seit dem 11. Jahrhundert, sind bis heute zu Recht berühmt für ihre einzigartigen Qualitäten, nicht nur, was die souveräne Beherrschung der gesamten buddhistischen Lehre einschließlich des Tantra anbelangt, sondern vor allem wegen der unglaublich konsequenten, kompromisslosen Anwendung der Lehre auf ihr eigenes Denken und Handeln, die in dieser Form vielleicht nie wieder erreicht wurde. Hört man Belehrungen über die Biographien dieser Kadampa-Geshes, so schwankt man manchmal zwischen Kopfschütteln und Bewunderung, fühlt sich aber immer aufgerüttelt und inspiriert durch die zielgerichtete Unnachgiebigkeit, mit der sie auch die letzten Schlupfwinkel des Ego ı ausräucherten„ und sämtliche aufsteigenden Geistesgifte, auch die subtilsten, sofort ins Auge fassten und kühl zurückwiesen.
In diesen Kreisen also wurde erstmals der Begriff Lojong verwendet für die Gesamtheit aller Übungen, die den Geist nein, nicht nur ein bisschen verbessern und etwas trainieren, sondern: radikal umwandeln sollen. Zunächst wurden diese Unterweisungen geheim gehalten und nur immer vom Lehrer an einen ausgewählten, streng limitierten Kreis von Schülern weitergegeben, und das mit gutem Grund, denn jeder ı vernünftige„ Mensch kann auch heute noch in den Lojong-Belehrungen gefährliche Anweisungen zur Verführung religiöser Spinner sehen, denen jegliche Einsicht in den Lauf der Welt abhanden gekommen ist und die ein schlimmes Ende nehmen werden.
Später wurde die strenge Handhabung jedoch etwas gelockert, und es entstanden verschiedene bekannte Lojong-Texte, die weitere Verbreitung fanden. Die bekanntesten davon sind vielleicht das ı Geistestraining in sieben Stufen„ von Geshe Chekawa, einem Schüler von Geshe Sharawa, und unsere hier behandelten ı Acht Verse zur Geistesumwandlung„ (tib. jig gyad ma, tshig brgyad ma) von Geshe Langri Thangpa, einem Schüler von Geshe Potowa. Seinen Text könnte man auch ı Die acht Herausforderungen„ oder ı Die acht Zumutungen„ nennen!
Wir werden nun diese acht Verse kurz durchgehen und, wie bei uns üblich, bei jedem einzelnen auch die Frage der Relevanz für einen heute praktizierenden westlichen Buddhisten stellen. Dabei ist ohnehin zu bedenken, dass jede Lojong-Übung von verschiedenen Ebenen der Praxis oder des Bewusstseins her zu sehen und zu verstehen ist, die sich etwa folgendermaßen unterteilen lassen:
A) Die Ebene der authentischen, natürlichen, fast mühelosen Ausübung durch einen echten Bodhisattva.
B) Die Ebene der noch angestrengten vorbereitenden Übung eines angehenden Bodhisattva und Mahayana-Praktizierenden.
C) Die Ebene der Annäherung eines gewöhnlichen Praktizierenden und Mahayana-Anhängers, der zumindest für Dharma-Gedankengänge Interesse und Vertrauen aufbringt.
D) Die Ebene eines gewöhnlichen Menschen, der nicht an Dharma denkt.
Wir selbst schwanken natürlich irgendwo zwischen C und D und werden bei der Betrachtung der acht Verse diesem Umstand Rechnung tragen müssen. Dabei genügt es nicht, wenn wir einfach akzeptieren, dass wir diese höheren Fähigkeiten und Qualitäten irgendwie erreichen sollten. Es wird vielmehr notwendig sein, danach zu fragen, ob es plausible Gedankengänge gibt, die es uns ermöglichen, sie tatsächlich erreichen zu können. Es hat wenig Sinn, wenn wir zwischen dem Geisteszustand eines Bodhisattva und unserem eigenen eine unüberbrückbare Kluft sehen, die jede Gemeinsamkeit verhindert. Jeder Bodhisattva stand einmal da, wo wir jetzt stehen; und es muss ihm vernünftig und sinnvoll erschienen sein, sein Denken so zu verändern, dass seine großartige innere Entwicklung überhaupt möglich wurde. Seine Qualitäten sind nicht vom Himmel gefallen, und sie sind auch kein Geschenk des Buddha. Wir werden uns also fragen müssen: ı Was führt uns dahin, so zu denken und zu empfinden? Wie baut sich eine solche Geisteshaltung klar und folgerichtig auf?„
Gleichzeitig sollten wir aber auch versuchen, auf dem Wege der meditativen Vorstellung vorwegnehmend zu erfahren, was sich auf Ebene A und B abspielt. Diese wirkungsvolle Methode wurde von Lama Tsongkhapa als Übung nachdrücklich empfohlen, sie bringt uns die angestrebten Zustände intuitiv näher und setzt in unserem Bewusstsein einen kraftvollen Eindruck für die zukünftige Verwirklichung.
Obwohl also auch Anfängern empfohlen wird, sich versuchs- und annäherungsweise damit zu beschäftigen, muss man sich doch immer vor Augen halten, dass Lojong alles andere als eine Anfängerpraxis ist: Da lässt es jemand ungerührt darauf ankommen, dass man ihn beschimpft, verleumdet, auslacht und schlecht behandelt, ohne auch nur an Gegenwehr zu denken aber auch ohne von neurotischem Selbsthass oder unterdrückten Aggressionen vergiftet zu sein, sondern, im Gegenteil, erfüllt von Liebe, Mitleid und Weisheit: Wie soll man eine solche Geisteshaltung benennen oder einordnen? In bürgerlichen Kategorien lässt sich das offenbar nicht mehr ausdrücken. Es ist die klare, unbewegte, furchtlose, gelassene Geisteshaltung des spirituellen Kriegers, der die Augen unbeirrbar auf sein Ziel geheftet hat und weiß, was er tut. Sein Ziel aber ist sehr hoch gesteckt. Ob sein Handeln anderen vernünftig oder verrückt erscheint, ist für ihn ohne Belang.
Alle Lebewesen sind für mich höher zu schätzen als das wunscherfüllende Juwel. Mit einem Geist, der nach dem höchsten Nutzen strebt, werde ich mich ihnen gegenüber in der höchsten Wertschätzung üben.
Wo immer und mit wem auch immer ich zusammenkomme, werde ich mich darin üben, mich stets als den Geringsten von allen zu betrachten und den anderen aus der Tiefe meines Herzens höchste Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen.
Bei allem, was ich tue, werde ich meinen Geist beobachten und mich darin üben, konflikterzeugende Geistesregungen, da sie mir und anderen schaden, gleich bei ihrem Entstehen energisch und gründlich abzuwehren.
Ich werde mich darin üben, den Wesen von üblem Charakter, die mit karmischen Vergehen und schrecklichen Qualen beladen sind, zu begegnen wie einem kostbaren Schatz, der schwer zu finden ist und deshalb hochgeschätzt wird.
Wenn andere mich aus Missgunst beschimpfen, verleumden usw., also mir Unrecht tun, werde ich mich darin üben, die Demütigung anzunehmen und ihnen den Sieg anzubieten.
Wenn jene, für die ich viel getan und in die ich große Hoffnungen gesetzt habe, mir Unrecht tun und Schaden zufügen, auch dann werde ich mich darin üben, sie als großartige Lehrer anzusehen.
Mit einem Wort: Ich werde mich darin üben, mein direktes und indirektes Wohlergehen und Glück restlos allen [Lebewesen] zu schenken und jeglichen Schaden und alles Leiden der Mütter mit Respekt auf mich zu nehmen.
Mittels all dieser [Übungen], die nicht befleckt sind vom Makel des konzepthaften Denkens in Verbindung mit den acht [weltlichen] Erscheinungen, werde ich mich darin üben, alle Erscheinungen als illusionär zu erkennen und mich dadurch von den Fesseln des Festhaltens zu befreien.
Unter Anleitung von Dr. Jampa Panglung Rinpoche aus dem Tibetischen übersetzt von Regine Leisner
Alle Lebewesen sind für mich höher zu schätzen als das wunscherfüllende Juwel. Mit einem Geist, der nach dem höchsten Nutzen strebt, werde ich mich ihnen gegenüber in der höchsten Wertschätzung üben.
Erwartungsgemäß beginnt die Übung damit, dass wir die Bodhicitta-Motivation in uns wachrufen, den ı Geist, der nach dem höchsten Nutzen strebt„. Zunächst verblüfft uns die lapidare Behauptung, dass die Lebewesen für uns höher zu schätzen seien als ein wunscherfüllendes Juwel. Über diesen Vergleich lohnt es sich, kurz nachzudenken. In der Symbolwelt des alten Indien ist das wunscherfüllende Juwel, wie schon der Name sagt, ein Sinnbild für die Erfüllung aller Wünsche und Bedürfnisse in diesem Leben, und zwar wie durch Zauberei, ohne Gegenleistung und in unbegrenzter Fülle. Wer über dieses Juwel verfügt, leidet keinen Mangel mehr, weder Hunger noch Durst, weder Hitze noch Müdigkeit, und materielle Armut schon gar nicht; eine äußerst erfreuliche Vorstellung.
Wenn wir nun alle Lebewesen noch höher schätzen sollen als dieses Symbol unbedingter Erfüllung, müssen wir schon nach dem Grund fragen. Was bekommen wir denn von ihnen geschenkt? Welche Wünsche erfüllen sie uns? In den Belehrungen heißt es immer, dass wir alle Ziele, die über dieses Leben hinausweisen, nur mit Hilfe der anderen Lebewesen erreichen können. Indem wir ihnen Liebe, Güte und Mitleid entgegenbringen, gelangt unser eigenes Bewusstsein zur Reife. Aber was heißt das? Benutzen wir also die Lebewesen als Steigbügelhalter für unsere spirituelle Karriere? Oder benutzen sie uns durch einen schlauen Trick, so dass wir uns nun in Ewigkeit plagen müssen, um ihre Leiden zu lindern und sie zu befreien?