Christine Westendorf
Und jeder tötet, was er liebt
Christine Westendorf
Und jeder tötet, was er liebt
Roman
editionfredebold
fredebold&partner gmbh
schaafenstraße 25, 50676 köln
Copyright © 2008 fredebold & partner gmbh
Originalausgabe: „Und jeder tötet, was er liebt“
Titelabbildung: Fotolia.de/Mette Photos
Autorenfoto: © 2006 Dagmar Bressel
Covergestaltung: Andrea Lorenz-Beier, Köln
Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
ISBN (epub) 978-3-939674-71-9
ISBN (eBook pdf) 978-3-939674-72-6
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Die Figuren und deren Namen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Für meine Eltern
Was war dein Platz als Kind?
Ein Baum, ein alter Fliederbusch. Hinaufklettern, schauen, der Blick frei bis zum Horizont. Sich hinsetzen, die Äste loslassen und dann mit den Beinen baumeln. Kühn, wie der Pirat der sieben Meere.
Esther Lüdersen lenkte ihren Wagen durch die Nacht. Es war eine dieser Sommernächte, die einen Zauber in sich bergen. Ein sanftes Schimmern, vielfarben changierend, geheimnisvoll, so wie das Innere einer geöffneten Muschel im Fluss. Unscheinbar lag sie in der Hand, sobald sie herausgefischt worden war. Doch wenn man am Ufer stand und beobachtete, wie ihr Perlmutt, durch das Sonnenlicht reflektiert, auf dem Sandboden des Wassers aufblitzte, war sie ein wunderbarer Schatz.
Es war eine Nacht, in der man einander lieben sollte. Leidenschaftlich, ohne Sehnsucht je zu stillen. Wo einem Vieles in den Sinn kam – wenn es sich nur warm anfühlte und aufregend. Esther hingegen spürte nichts als ihre verkrampften Halswirbel. Ein unangenehmes Kribbeln. Sie nahm die linke Hand vom Steuer und massierte ihren schmerzenden Nacken. Dabei ließ sie den vergangenen Tag, den Besuch bei ihrem Vater, noch einmal an sich vorbeiziehen.
Woche für Woche das gleiche Ritual, welchen Sinn sollte das haben? Wilfried hatte ihr auch heute nichts gesagt. Kein Wort über das, was zwischen ihnen stand. Stattdessen hatte er über seine Mitbewohner gelästert und über das Personal des Altersheims. Es war wie immer gewesen. Nur sie konnte etwas daran ändern. Wenn sie ihn mit ihren Fragen in die Enge treiben würde, ihn provozierte, damit er endlich den Mund aufmachte. Aber Esther war nicht in der Lage dazu. Wilfried brachte es fertig, sie zum Schweigen zu bringen, noch bevor das erste Wort fiel. Sie war bald sechzig Jahre alt, höchste Zeit loszulassen und die Wahrheit selbst zu suchen. Der Anfang dazu war gemacht. Die Haut auf ihrer Nasenspitze spannte sich, heute hatte die Sonne kraftvoll geschienen. Schön wäre es, jetzt in diesem Dorf zu sein in der Toskana. Den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als in den Himmel zu schauen, sich vorzustellen, wie wunderbar die Crostinis am Abend schmecken würden. Das Aroma von Trüffeln, Tomaten oder Steinpilzen; Vorfreude schon auf der Zunge. Dazu dieser tiefrote, erdige Wein, gewonnen aus den Trauben des Hanges, der zu ihren Füßen lag. Oder ganz woanders sein. Überall sein, nur nicht auf dem Rückweg aus diesem kleinen Kaff nördlich von Hamburg. Ja, es war an der Zeit, wieder auf Reisen zu gehen. Möglicherweise ließ sich Alfons überreden; hätte er Lust, sie zu begleiten, so wie früher. Esther lächelte. Damals hatten sie gewusst, warum sie zusammenlebten. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Aussichtslos dagegen die Besuche bei Wilfried; Esther würde ihren Vater nicht mehr ändern. Es würde immer sein wie heute, selbst wenn sie von nun an jeden Tag mit ihm verbringen würde. Vielleicht erwarte ich zu viel, dachte sie müde. Schließlich konnte ihr Wilfried die Suche nach der Wahrheit nicht abnehmen. Niemand konnte das tun.
Esther Lüdersen starrte auf die Straße, die Fahrt über Land war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Hätte sie sich für den Weg über die Schnellstraße entschieden, läge sie bestimmt schon im Bett, der Kater zusammengerollt schlafend am Fußende. Fast sehnte sie sich nach Alfons sägendem Schnarchen aus dem Nebenzimmer.
Müdigkeit, keine Fixpunkte fürs Auge, Esther trommelte mit ihren Fingerspitzen gegen das Lenkrad, um die einschläfernde Gleichförmigkeit des Motorengeräusches zu übertönen. Sie fuhr auf einer ebenen, wie mit dem Lineal gezogenen Allee, als sie im Rückspiegel plötzlich zwei Scheinwerfer bemerkte, die sich ihr schnell näherten. Esther starrte durch den Spiegel nach hinten.
Der Wagen fuhr jetzt dicht hinter ihr, dann setzte er unvermittelt zum Überholen an. Ein röhrender Auspuff, der sie an Formel-1-Rennen denken ließ. Wahrscheinlich waren es junge Leute, die sich einen Spaß daraus machten, die Grenzen des Motors auszutesten und ihr ganz nebenbei einen Schrecken einzujagen. Esther hielt das Steuer mit beiden Händen fest. Neben sich konnte sie gerade noch die Umrisse des Beifahrers sehen, genauer, seinen mit einer Baseballkappe beschirmten Kopf. Wissen vor Kraft nicht wohin, die kleinen Machos, dachte sie, als der andere Wagen plötzlich viel zu früh auf ihre Fahrspur driftete und sie dabei rammte. Die versuchten tatsächlich, sie von der Straße zu drängen.
„Idioten!“
Esther mühte sich, gegenzuhalten, aber es war schon zu spät. Der Wagen schlingerte, kam von der Fahrbahn ab, Sand regnete auf die Frontscheibe. Als der Peugeot endlich stand, hing er mit seiner rechten Seite schief in einem Graben. Esther gab Gas, es ruckelte. Die Reifen gruben sich tiefer in den Sand ein. Doch sie gab weiter Gas, bis die Räder durchdrehten, und würgte, in einem letzten Versuch, sich zu befreien, den Motor ab.
Dann war es still. Kein sanftes Schimmern – Dunkelheit. Keine Straßenlaterne in der Nähe, kein Haus; kein Mensch weit und breit, den sie um Hilfe bitten konnte. Das andere Auto war fort. Esther griff auf den Sitz neben sich, er war leer. Sie schaltete die Innenbeleuchtung an und fand dann das Handy zusammen mit ihrer Handtasche im Fond auf der Beifahrerseite. Zum Glück war es heil geblieben.
Esther hörte ihrer eigenen Stimme zu: „Hier ist das Band von Alfons und Esther Lüdersen. Wir sind im Moment leider nicht zu Hause, aber wenn Sie uns nach dem Signalton eine Nachricht aufs Band sprechen, rufen wir umgehend zurück.“
„Alfons? Ich hatte eben einen Unfall! So’n paar junge Leute haben mich von der Straße gedrängt. Auf dieser Nebenstrecke der Pinneberger Chaussee zwischen Hetlingen und Heist, du weißt schon, welche. Das Auto hängt fest. Bitte hole mich ab, beeile dich. Ich lasse mein Handy an. Alfons?“
Der Anrufbeantworter schaltete sich ab, die Nachrichtenzeit war überschritten.
Wieder Stille. Esther aktivierte die Warnblinkleuchte. Orangefarbenes Licht in gleichmäßigem Rhythmus. Davor, dahinter, darüber hinaus Dunkelheit. Dunkelheit und Stille.
Hoffentlich war Alfons zu Hause und, wie so oft beim Spätfilm, nur auf dem Sofa eingenickt. Esther stellte sich vor, wie er sich gerade hochrappelte, weil er durch das durchdringende Fiepen des Anrufbeantworters geweckt worden war.
Und hoffentlich war kein Benzin ausgelaufen, sonst könnte es hier demnächst heller werden, als ihr lieb war. In jedem Fall schien es besser, draußen auf Alfons zu warten. Außerdem würde sie auf der Straße eher auf sich aufmerksam machen können, falls tatsächlich noch jemand so spät unterwegs sein sollte. Die Fahrertür war verzogen, ließ sich nicht öffnen. Esther kletterte auf die andere Seite und stieg aus. Sie stolperte. Der Graben war sandig, sie sackte bis zu den Knöcheln ein. Kein Wunder, dass die Räder keinen Halt gefunden hatten. Sie zerrte die Handtasche und ihre Jacke hervor, kroch aus dem Graben heraus. Das linke Knie tat ihr weh, fühlte sich an, als sei es geschwollen. Ansonsten schien sie unverletzt zu sein, Esther dachte an Olaf. Er würde sich Sorgen machen, wenn sie ihn nicht kurz informierte.
Olaf war nicht ihr Sohn, doch er hätte es sein können. Einmal seinem Alter nach, vor allem aber durch die innere Nähe, die die beiden miteinander verband.
Sie humpelte ein paar Schritte auf der dunklen Landstraße. Die Luft war frischer hier draußen, der leichte Wind hatte die Schwüle des vergangenen Sommertages vertrieben. Sie legte sich die Jacke um ihre Schultern.
„Olaf? Ich komme heute nicht mehr in die Stadt. Hatte eben einen Unfall, der Peugeot steckt im Graben fest. Ich bin hier in der Pampa, auf dieser Nebenstrecke zwischen Hetlingen und Heist. .... Nein, nicht so schlimm, mir ist nichts weiter passiert. Hör mal, du kannst gern bei mir übernachten. Alfons holt mich sicher gleich ab, wahrscheinlich versucht er gerade, mich anzurufen. Wir treffen uns dann morgen nach deiner Arbeit in der Wohnung.“
„Ich könnte ein Taxi nehmen und in einer halben Stunde bei dir sein. Hast du Geld dabei?“
„Ach was, nicht nötig. Alfons hat nichts davon gesagt, dass er heute noch mal fort will. Er ist vermutlich nur eingeschlafen und deshalb nicht schnell genug ans Telefon gekommen. Wo sollte er schon sein um diese Zeit. Er kommt bestimmt jede Minute, er hat’s ja nicht weit.“
„Wie ist das denn überhaupt passiert?“
Aus der Ferne sah Esther zwei Scheinwerfer auf sich zukommen.
„Olli, ich muss Schluss machen. Ich glaube, Alfons ist da.“
Sie stellte sich auf die Mitte der Fahrbahn und winkte. Der Wagen kam langsam näher, vielleicht war es doch nicht ihr Mann. Er hätte entweder schon das Fernlicht aufflammen lassen oder gehupt, in jedem Fall irgendein Zeichen gegeben, dass sie ihn erkannte. Gut, dann würde sie eben andere Menschen um Hilfe bitten. Einen Moment lang zögerte Esther, ließ die Arme sinken. Würden Fremde diese Situation richtig einschätzen? Eine Frau allein in der Nacht am Straßenrand, dahinter ein Auto, das von der Fahrbahn abgekommen war. Was, wenn sie aus Angst vor einer Falle an ihr vorbeifahren würden? Zum Glück hielt das Auto an. Blieb vor ihr stehen, die Scheinwerfer blendeten sie.
„Hallo, können Sie mir Esther erstarrte.
Zwei Männer sprangen aus dem Wagen heraus, liefen auf sie zu. Die Gesichter waren schwarz maskiert wie bei Motorradfahrern. Esther hatte keine Zeit zu fliehen, sofort richtete einer eine Pistole auf sie. Jemand presste ihr etwas auf Mund und Nase. Der Geruch von Äther, dann wurde es dunkel um sie. Dunkelheit und Stille.
„Morgen gibt’s Gemüsesuppe“, bestimmte Anna Greve.
„Och, ssschon wieder so ’ne Plörre, kannst du nicht mal Eierpfannkuchen machen?“
Ben, ihr ältester Sohn, brachte, seit er eine Zahnspange tragen musste, bei den scharfen S-Lauten nur noch einen Zischton hervor.
Auf Annas Stirn bildete sich die erste Ärgerfalte an diesem Nachmittag.
„Morgen gibt’s Gemüsesuppe, Pfannkuchen übermorgen.“
„Nee, dasss iss uncool, nie geht mal wasss sofort.“
Ben trat gegen die Küchentür und stürmte nach oben.
„Hau ab, Blödmann, ich war zuerst da!“
Bens jüngerer Bruder Paul hatte den Platz vor dem Badezimmerspiegel für seine Haarpflege in Beschlag genommen und war deswegen gerade von seinem älteren Bruder angerempelt worden. Aber auch Paul hatte, wie meistens in der letzten Zeit, offensichtlich kein Interesse an Verständigung. Er war elf Jahre alt, Ben dreizehn.
„Selber Blödmann, du Baby, verssschimmel doch mit deinem bescheuerten Haargel.“
Aus dem ersten Stock drangen bekannte Töne zu Anna Greve hinunter, das übliche Türengeknall und anschließend laute Musik. Manchmal war die Streiterei unter den Jungen wirklich nicht auszuhalten. Früher waren sie so gut miteinander ausgekommen, aber seit sich die Pubertät in ihren Kindern breit machte, gab es nur noch Krieg.
„Ruhe da oben.“
Anna stellte die abgewaschenen Töpfe weg und räumte den Geschirrspüler aus. Sie musste Geduld haben, ihre Berufstätigkeit war auch für die Jungen eine neue Situation. Mit der Zeit würden sie sich schon daran gewöhnen, schließlich arbeitete die Kommissarin gerade erst wieder seit ein paar Tagen beim Landeskriminalamt in Hamburg. Tom, Annas Mann, hatte versprochen, sich morgen um die Kinder zu kümmern, denn es konnte spät werden. Anna Greve sollte ihre neue Abteilung kennenlernen. Normalerweise übernahm Elisabeth die Betreuung der Kinder am Nachmittag, doch ihre Mutter musste am nächsten Tag zu einem schon oft verschobenen Zahnarzttermin. Anna wusste, wie sehr Elisabeth vor der anstehenden Parodontosebehandlung graute. Grinsend holte Anna die Lebensmittel aus dem Kühlschrank, dann betrachtete sie all die Sachen, die sich nun vor ihr auf der Arbeitsplatte auftürmten, und ließ sich zurück in ihren Stuhl fallen. Ein Kaffee und eine Zigarette waren jetzt genau das Richtige. Sie streckte die Füße unter dem Küchentisch aus und sah dem ersten Rauchkringel nach, der sich gerade vor ihren Augen auflöste. Die letzten Jahre waren wie im Fluge vergangen in ihrem kleinen Dorf am Rande der Lüneburger Heide. Anna hatte in ihrem Leben schon vieles gesehen und sehnte sich damals, als sie schwanger geworden war, nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Jetzt war eine neue Lebensphase angebrochen, große Veränderungen lagen vor ihr. Die unangenehmste würde wohl der tägliche Weg zur Arbeit werden. Anna lebte südlich von Hamburg und das Landeskriminalamt befand sich im Norden der Stadt. Das hieß, zweimal am Tag durch den Elbtunnel zu fahren, in Zukunft würde sie wohl einen guten Teil ihrer täglichen Freizeit im Stau stehen. Und sie würde sich wieder mit der hässlichen Seite der Wirklichkeit beschäftigen müssen. Größer konnte der Kontrast zu ihrem bisherigen gewohnten Leben kaum sein.
Langsam kam Esther Lüdersen zu Bewusstsein. Stille. Sie öffnete die Augen, aber da war nichts. Nur Dunkelheit. Benommen betastete sie ihre Wangen. Sie war nicht blind, sondern fühlte etwas Kratziges in ihrem Gesicht, wie die Wollstrumpfhosen, die sie als Kind so gehasst hatte. Jemand hatte ihr eine Mütze oder etwas Ähnliches über den Kopf gezogen. Durch ein frei geschnittenes Loch für die Nase konnte sie zwar einigermaßen atmen, doch das Paketklebeband, mit dem die Mütze fixiert war, schnürte an ihrem Hals. Sie begann, daran zu reißen, aber sie traute sich nicht, es ganz zu entfernen. Esther spürte, wie ihr Herz klopfte, schnell und unregelmäßig. Was würde sie sehen, wenn sie sich befreite? Sie blieb reglos liegen und wünschte sich, aus diesem bösen Traum zu erwachen. Doch nach einer Weile konnte sie die wirkliche Welt nicht mehr ausblenden. Dies war kein böser Traum, sie war wach und von irgendwoher hörte sie ein dumpfes Brummen, wie von einer alten Heizungsanlage.
„Hilfe, hört mich jemand?“
Esther horchte in die Stille hinein. Doch wer auch immer sie verschleppt hatte, ließ sich jetzt nicht blicken. Sie musste an den entführten Gastwirtssohn denken, dessen Geschichte sie vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Man hatte ihn elendig in einem Erdloch sterben lassen. Würde ihr ein ähnliches Schicksal bevorstehen?
Vorsichtig tasteten sich ihre Finger vorwärts. Sie fühlte einen unebenen, feuchten Estrich mit diversen Rissen und Löchern. Wieder hörte sie das brummende Geräusch, wahrscheinlich war die Heizung gerade erneut angesprungen. Die Luft roch abgestanden und muffig, ja, jetzt war sie sich ganz sicher, dass man sie in einem Keller gefangen hielt. Ihr Kopf war leer, das Denken fiel ihr schwer. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer das Auto, wie es mit aufgeblendeten Scheinwerfern vor ihr Halt gemacht hatte. Wie sie sich gefreut hatte, dass ihr jemand zu Hilfe kam. Zwei Männer mit Motorradmasken, eine Pistole, der Geruch von Äther. War sie entführt worden? Wozu? Um Alfons zu erpressen? Weswegen? Durst! Ihr Hals fühlte sich wund an, vielleicht kam das von der Betäubung. Ihre Beine waren nass, anscheinend hatte sie in die Hose gepinkelt. Ihr Magen knurrte. Wie konnte man nur in einer solchen Lage Hunger haben? Trotzdem, Esther hatte Hunger, aber vor allem Durst. Was machte eine Entführung für einen Sinn, wenn sich danach niemand zeigte? Andererseits ging es hier nicht um sie. Sie war das Opfer, nicht diejenige, die zahlen sollte. Opfer konnten geopfert werden. Opfer verdursteten, erstickten, verhungerten wie der bedauernswerte Junge in seinem Erdloch. Nein, Esther wollte kein Opfer sein. Wütend begann sie, mit ihren Fäusten gegen die Tür des Gefängnisses zu trommeln. Sie schlug zu, mit aller Kraft. So lange, bis ihre Hände schwer wurden und sie an der Tür entlang zu Boden rutschte und zu weinen anfing. Esther weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Sie suchte nach einem Gedanken, nach irgendetwas, das sie tröstete.
„Alfons wird kommen und mich befreien.“
Esther zwang sich, ruhig und tief zu atmen. Sie wusste, ihr Mann würde nicht aufgeben, bis er sie gefunden hätte. Alfons würde sie retten, und dann würden sie zusammen auf Reisen gehen. So wie früher.
Anna Greve stand vor dem Gebäude von Dezernat 6. Im Glas der modernen Fassade spiegelte sich der lebhafte Autoverkehr, der an diesem wie an jedem anderen Werktag das Bild der Stadt prägte. Hier, in der Dienststelle des LKA im Hamburger Stadtteil Alsterdorf, würde ihre neue berufliche Heimat sein. Schwungvoll trat sie durch die Drehtür und suchte sich ihren Weg zur Abteilung 03.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Die Stimme gehörte einer älteren Frau, die gebeugt über der Tastatur ihres Computers saß und sie nun erwartungsvoll ansah.
„Das fängt ja gut an“, murmelte Anna. Dann sagte sie laut: „Mein Name ist Anna Greve, die neue Kollegin in der Abteilung von Herrn Kuhn. Ich bin doch richtig hier?“
„Oh, Frau Greve, tut mir sehr leid, der Chef hat sie erst morgen erwartet. Er ist im Moment zusammen mit Herrn Weber auf einem Lokaltermin, müsste aber bald zurück sein. Nehmen Sie doch Platz.“ Die Sekretärin lächelte und gab ihr die Hand. „Ich heiße Antonia Schenkenberg. Na, dann wollen wir einmal hoffen, dass sich der Ton hier von nun an etwas ändert.“
Wie konnte das gemeint sein, waren die anderen Mitarbeiter etwa ewig schlecht gelaunte Despoten? Anna versuchte, diese Vorstellung sofort wieder aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie sah sich um. Der wackelige Stuhl mit seiner abgenutzten, schartigen Sitzfläche lud nicht gerade zum Ausruhen ein. Man musste mit allem rechnen, wenn man sich darauf setzte, das Harmloseste war da wohl noch ein Ziehfaden in ihrer Leinenhose. Anna fand, dass er sich sehr gut in das Gesamtbild fügte, denn mit Ausnahme der Pflanze und dem kleinen Foto auf Frau Schenkenbergs Schreibtisch gab es nichts Persönliches in diesem Raum.
Eine Männerstimme war auf dem Flur zu hören: „... ja, genauso machen wir es.“
Schritte kamen näher, machten vor der Tür Halt, dann betrat ein kleiner Mann mit Halbglatze, gefolgt von einem zweiten, deutlich größeren, den Raum. Frau Schenkenberg informierte den Kleinen, und nun stand Anna zum ersten Mal ihrem künftigen Chef gegenüber.
„Frau Greve, ich bin untröstlich über dieses Missverständnis. Sie waren uns für morgen früh angekündigt, ich hoffe, Sie können uns verzeihen. Normalerweise weiß ich, was sich Damen gegenüber gehört.“ Martin Kuhn lächelte sie an. „Kaffee? Sie sind nicht zufällig mit Jan Greve verwandt, dem Mittelfeldgenie beim Hamburger Fußball-Club? Fußball ist meine Leidenschaft, ich bin im Vereinsvorstand, Sie verstehen also meine Neugierde.“
„Jan ist mein Schwager, aber ich spiele auch ganz gut Fußball.“
Ein irritierter Blick traf Anna, dann hatte er zu seinem gönnerhaften Lächeln zurückgefunden.
„Wir müssen unbedingt mal zusammenkommen, vielleicht beim nächsten Heimspiel?“
Kuhn hielt mitten in der Bewegung inne. „Weber, seien Sie so nett und stellen sich selber vor, ich muss dringend telefonieren.“
Anna fühlte sich wie auf einem Kaffeeklatsch, dieser Mann hatte so gar nichts von einem Kriminalrat.
„Hallo, Frau Greve.“ Weber schüttelte ihr die Hand. „Wir kennen uns doch.“ Er sah Martin Kuhn hinterher. „So ist der Chef, immer auf ’m Sprung, immer sehr beschäftigt.“
Anna lächelte nicht. Weber blickte betreten um sich und sagte: „Tschuldigung, Frau Greve, ich muss eben kurz etwas erledigen. Ich bin gleich wieder da.“
Anna sah ihrem neuen Kollegen irritiert hinterher. Ob man hier rauchen durfte? Sie verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken und überlegte. Woher sollte sie Weber kennen? Unvermittelt erinnerte sie sich an einen jungen Mann, dem sie während ihrer Ausbildung auf der Akademie begegnet war. Weber. Damals war er gebeugt gegangen und sehr dünn, fast schlaksig gewesen. Sein feines, viel zu langes rotblondes Haar hatte schon damals dringend einen neuen Schnitt benötigt. Genau wie heute. Weber musste jetzt, wie Anna, Anfang 40 sein, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Sie fragte sich, ob seine vielleicht angeborene Unterwürfigkeit verhindert hatte, dass er auf der Karriereleiter weiter nach oben geklettert war. Anna hatte ihn nie gemocht, nur war ihr das früher gar nicht bewusst gewesen, dazu hatte es einfach zu wenig Berührungspunkte gegeben. Warum musste es ausgerechnet diese Abteilung sein? Weber war zurückgekommen, lächelte schüchtern. Wenig erheitert über die Aussicht, in Zukunft mit ihm, dem Nacktmulch, wie die Kollegen Weber früher genannt hatten, zusammenzuarbeiten, rang sie sich zu ein wenig Freundlichkeit durch.
„Ich habe ein paar Sachen für meinen Einstand im Auto. Wollen Sie mir tragen helfen?“
Zehn Minuten später, jeder hatte ein Glas Sekt, der durch die Zeit im Wagen lauwarm geworden war, in der Hand, kam die unvermeidliche Ansprache des Dienststellenleiters Martin Kuhn. Er machte es kurz und sah bereits nach ein paar allgemein gehaltenen Sätzen und guten Wünschen auf die Uhr.
„Kollegen, ich muss los. Lecker übrigens die Häppchen, Frau Greve.“
Sie zog die Augenbrauen hoch, denn auf Kuhns Teller lag noch ein angebissenes Krabbenbrötchen, von dem er mehr als die Hälfte übrig gelassen hatte. Erleichtert löste sich die kleine Gemeinschaft auf.
„Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihren Arbeitsplatz.“
Weber führte sie zu einer Tür neben dem Sekretariat von Frau Schenkenberg. Es war ein kleiner Raum. In der Mitte befanden sich zwei zusammengeschobene Schreibtische, an der Wand zu ihrer Linken stand ein Aktenschrank, der aus allen Nähten zu platzen drohte. Dem Eingang gegenüber lag zum Glück ein großes Fenster, durch das genügend Licht ins Zimmer fiel. Ihr Büro war bewohnbar, auch wenn sie es mit Weber teilen musste. Wer wohl die mickrigen Pflanzen auf der Fensterbank vergessen hatte? Drei Töpfe, ein Blumenkasten aus Terrakotta. Daneben zwei Plastiksprühflaschen mit Flüssigkeiten undefinierbaren Inhalts. Wasser? Anna widerstand der Versuchung, die Feuchte der Blumenerde in den Töpfen zu prüfen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und ertappte sich bei dem Wunsch, der Tag möge endlich zu Ende gehen.
Als sie am Abend wieder einen Blick in den Aufenthaltsraum warf, lag ein Großteil ihrer mitgebrachten Häppchen noch immer unberührt auf dem Tisch. Sie sahen durch das stundenlange Herumstehen in der warmen Luft ziemlich mitgenommen aus. Die Mayonnaise hatte sich stellenweise dunkel verfärbt, auf einigen Schnittchen begann sich der Braten an den Enden bereits zu wellen. Sie entsorgte das Essen im Mülleimer. Auf morgen, sagte Anna zu sich selbst. Dann kippte sie den Rest aus der Sektflasche in ihr Glas, prostete sich zu und trank es anschließend in einem Zug leer.
Schwere Schritte polterten die Treppe herunter, die Tür wurde aufgeschlossen.
„Na, aufgewacht?“
Esther glaubte nicht, dass man eine Antwort von ihr erwartete.
„Ich hab dir doch gesagt, George, die Dröhnung war nicht stark genug. Die Alte hat ganz schön was auf den Rippen.“
Sie spürte, wie ihr Körper zu zittern begann, mit großer Anstrengung zwang sich Esther zu einer festen Stimme.
„Warum haben Sie mich entführt? Sind Sie verrückt geworden?“
Sie hielt den Atem an und hoffte, man würde sie nicht schlagen. Die Männer schienen verdutzt, für Esther verstrichen endlose Sekunden, bis endlich einer der beiden antwortete.
„Du hältst das Maul, wir stellen hier die Fragen, ist das klar?“
„Kann ich etwas Wasser haben?“
Jetzt lachten sie, die Entführer befanden sich wieder auf vertrautem Terrain. Die beiden Männer stellten ihr zwei Eimer hin und warfen noch einen Stapel alter Tageszeitungen hinterher.
„Sieh zu, hier ist dein Badezimmer und eine Erfrischung. Das Essen müssen wir noch aus dem .Vierjahreszeiten‘ bestellen.“
Die Tür wurde zugeschlagen. Esther startete einen letzten Versuch, ihre Lage zu verbessern.
„Halt“, rief sie, „ich kann mich mit dieser Maske überhaupt nicht zurechtfinden.“
„Kannst sie jetzt abmachen. Aber wenn wir reinkommen, hast du das Ding wieder auf deinem hässlichen Schädel, klar?“
Als die Männer fort waren, konnte Esther Lüdersen sich endlich die quälende Maske von ihrem Gesicht herunterziehen. Das Licht traf sie unvermittelt, ihre Augen brannten und ihr wurde schwindelig. Sie lehnte sich an die Wand, atmete dabei tief in den Bauch ein. Dann blinzelte sie vorsichtig an die Decke und stellte erleichtert fest, dass sich ihre Augen mittlerweile an die Helligkeit gewöhnt hatten. Esther schaute sich in ihrem Gefängnis um, sie befand sich in einem fensterlosen Kellerraum von ungefähr sechzehn Quadratmetern. Als einzige Möblierung lag eine am Fußteil aufgesprungene Matratze in der Ecke. Sie war allein, hier gab es nichts als Dreck und ein paar Kellerasseln. Künstliches Licht kam aus einer in die Deckenfassung geschraubten nackten Glühbirne. Ihr Hals wurde eng. Wie sollte sie hier jemals wieder lebendig herauskommen? Alfons würde sicher alles dafür tun, sie zu befreien, aber jetzt musste sie einen Teil des Weges allein bewältigen. Was hatte es für einen Sinn, kampflos auf den Tod zu warten? Esther war kein Opfer, sie würde mehr tun, als zu zappeln und um Hilfe zu flehen. Verbissen begann sie die Tür zu untersuchen, die im Unterschied zum Rest des Raumes neu aussah und aus Metall war. Irgendwo in den unendlichen Weiten ihrer Handtasche müsste noch das rote Messer sein, das Alfons ihr aus der Schweiz mitgebracht hatte. Esther hätte ihn auf dieser Reise gerne begleitet, so wie früher, aber Alfons hatte erklärt, dass sie dort keine gemeinsame Zeit miteinander haben würden. Seine Tage in Zug seien vollgestopft mit Terminen. Statt ihrer hatte er Frau Stadelmeier mitgenommen, eine Sekretärin aus der Firma, die vorzügliches Schweizerdeutsch sprach. Frau Stadelmeier war nicht die erste Mitarbeiterin gewesen, die in den Genuss einer Geschäftsreise mit Alfons kam. Das sanfte Schimmern, seine Sehnsucht, dehnte sich von Zeit zu Zeit aus auf andere Frauen. Trotzdem wusste Esther, dass er sie noch immer liebte. Sie hatte gelernt, das eine vom anderen zu trennen. Ja, sie war sogar in der Lage gewesen, sich über das Mitbringsel aus der Schweiz zu freuen.
„Ein Messer wie dieses muss man immer dabei haben. Irgendwann wirst du mir noch einmal dankbar dafür sein.“
Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen. Esther hob die Decke von der Matratze, aber da war keine Tasche. Ihre Entführer waren nicht so einfühlsam gewesen, ihr die braunlederne Begleiterin, ihre Nachtcreme und die Taschentücher sowie das Schweizermesser dazulassen. Bis ihr etwas Besseres einfiel, würde sie also träumen und auf Alfons warten. Trotzdem war die Lage nicht aussichtslos: Hotel „Vierjahreszeiten“ hatten die Männer gesagt. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie sich noch immer in heimischen Gefilden aufhielt und nicht in irgendeinem Kaff in Weißrussland oder Polen.
Olaf Maas saß auf dem blauen Velourssessel in Esther Lüdersens Wohnzimmer und steckte sich die vierte Zigarette an. Dann schaltete er den Fernseher ein und hoffte, dass ihn die bewegten Bilder von seinen Sorgen ablenken würden. Nach der Schicht auf dem Gemüsegroßmarkt hatte ihn sein erster Weg zurück in Esthers Wohnung geführt, aber sie war nicht da gewesen. Er hatte mehrfach vergeblich ihre Handynummer gewählt, sie jedoch nicht erreicht. Jetzt tat sich gar nichts mehr, die Leitung war tot.
„Was soll ich bloß alleine vor Gericht“, sagte Olaf zu sich. „Walter ist ohne sie aufgeschmissen. Mal sehen, ob ihr Mann etwas weiß.“
Olaf begann, dessen Nummer zu wählen, doch als er bei der letzten Zahl angelangt war, legte er auf. Er nahm seine Lederjacke vom Stuhl und lief los.
Wenig später klingelte er an der Tür des Lüdersen’schen Anwesens.
„Ich möchte Ihre Frau sprechen.“
Alfons Lüdersen musterte den ungebetenen Besucher abfällig. „Ich auch. Esthers Liebe zu Leuten Ihres Schlages in allen Ehren, aber zwischendurch könnte sie auch mal nach Hause kommen und sich ein wenig um mich kümmern.“
„Ja, haben Sie ihre Nachricht etwa nicht gekriegt? Ich denke, Sie wollten sie abholen.“
„Moment mal.“ Lüdersen schaute, die neugierigen Blicke der Nachbarn fürchtend, um sich und bat Olaf Maas schnell herein. „Was reden Sie da?“
„Esther hat mich letzte Nacht angerufen und etwas von einem Autounfall erzählt. Sie hat doch bei Ihnen aufs Band gesprochen.“
„Ich bin früh zu Bett gegangen, mich hat niemand angerufen.“
Er untersuchte den Anrufbeantworter.
„Die Kassette fehlt. Wenn ihr nur nichts passiert ist. Warum muss sie auch ständig versuchen, Leuten wie Ihnen wieder auf die Beine zu helfen. Wie oft habe ich ihr gesagt, lass die Finger von dem Pack, das am Hauptbahnhof herumlungert.“
Alfons Lüdersen machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in sein Arbeitszimmer. Mistkerl, dachte Olaf, schließlich wusste er am besten, wovon hier gesprochen wurde. Olaf Maas kannte sich aus, er war selbst ein Teil des Packs gewesen. Wie kam Lüdersen überhaupt dazu, diese Leute zu verdächtigen? Alle waren sie froh, dass Esther sich für sie verantwortlich fühlte.
Das war nicht immer so gewesen. Am Anfang hatte Olaf sie für eine reiche Ziege gehalten; gelangweilt von ihrem Leben, in dem es nichts wirklich Wichtiges gab.
„Die is’ am Missionieren, passt bloß auf“, hatte er zu den anderen gesagt. Er hatte sich geirrt. Esther hatte nicht viel über sich gesprochen, aber er hatte ihre große Wut auf die Kreise gespürt, denen sie entstammte.
„Leute, die sich nur um sich selbst drehen. Ein bisschen Charity veranstalten, kurz vor Weihnachten, und sich anschließend den guten Menschen ans Revers heften. Goldene Nadeln, wie hübsch.“
Esther hatte eine Wut auf Hamburg, auf ihre Stadt. Die Stadt, in der sich Millionäre tummelten. „Reiche Pfeffersäcke“, wie sie sie nannte.
Da gab es Erben traditionsreicher Kaufmannsdynastien und Gewinner des Neuen Marktes, Verleger, Werbeleute, Produzenten. Jede Menge Geld.
„Die Armut ist Hamburg zu nah gekommen“, hatte Esther oft gewettert. „Damen im Pelzmantel stolpern bei ihren Einkäufen am Neuen Wall über Obdachlose, und die Behörden sprechen Platzverweise für ihre Prachtstraßen aus oder karren das Pack in die Vorstädte.“
Dahin, wo sie den Touristen nicht auf den ersten Blick den Appetit auf dieses sagenhafte Tor zur Welt verdarben. Und dass sie das tun mussten, war schließlich auch eine Überlebensfrage.
„Was wäre Hamburg ohne Tourismus? Wer soll da noch anständig verdienen?“, hatte Esther mit bitterem Lächeln den Leserbrief eines Händlers vom Jungfernstieg zitiert.
Atemlos, die Sonne auf der Haut. Immer einen Schritt schneller sein als der Gegner. Spüren, wie der Schweiß den Rücken hinunterrinnt. Da, der Pass, ein letzter Sprint, dann war Jan am Zug. Lief vor das Tor, jetzt musste er schießen. Doch er verzögerte, wechselte die Ecke, im letzten Moment erst zog er ab, unhaltbar ins linke obere Eck. Der Torwart streckte sich vergeblich, sah dem Ball hinterher ... ein wunderbarer Schuss!
Dieser kurze Augenblick der Stille, bevor der Jubel von den Rängen losbrechen würde, war mit nichts zu vergleichen. Jan lupfte sein Trikot über den Kopf, wofür er vom Schiedsrichter die Gelbe Karte bekam. Dann lief er in Richtung Fankurve und führte ein brasilianisch anmutendes Tänzchen mit der Eckfahne auf, bevor sein Freund David ihn von den Beinen riss.
„Klasse, Alter!“
Über sich ein Gewirr von Körpern, Hände, die nach ihm griffen. Jan hatte Mühe zu atmen. Das Gewicht der Mannschaftskameraden drückte schwer auf seine Brust, aber Jan Greve hatte vor allem deshalb Mühe zu atmen, weil er glücklich war. Durch sein Tor war ihr Team der Meisterschaft ein entscheidendes Stück näher gekommen. Endlich gehörte er wieder dazu. Vergessen waren die vergangenen sechs Monate, die Schmerzen und die Niedergeschlagenheit, als die Diagnose, ein doppelter Bänderriss, festgestanden hatte. Er strafte sie alle Lügen, die ihm keine Chance mehr gaben, ihn als Sportinvaliden abstempeln wollten. Jans Blick richtete sich auf die Tribüne. Ob sie heute gekommen war?
Die Sonne glühte rot am Abendhimmel, als Anna Greve auf ihrer Lieblingsstrecke durch die Lüneburger Heide lief. Atemlos auch sie, Mücken stachen durch ihr klebriges Trikot in die nackten Beine, doch sie bemerkte es nicht. Ihre Gedanken waren weit weg, fast schienen sie in einem anderen Leben zu sein.
Früher, wenn Tom unterwegs gewesen war, hatte Anna zumeist den Telefondienst für die Druckerei übernommen. Für ihre gemeinsame Existenz sei das wichtig, hatte er gemeint. Es mache einen guten Eindruck, wenn nicht immer nur der Anrufbeantworter liefe. Ein vernünftiger Gedanke, sie hatte geglaubt, dass er ihr nicht schwerfallen würde, ihm diesen Gefallen zu tun. Anna zeichnete gern und gar nicht mal schlecht. Sie hatte sogar eine Galerie gefunden, die ihre Bilder ausstellen wollte. Doch immer wenn es ihr gelungen war, sich etwas Zeit freizuschaufeln, die Jungen beschäftigt oder unterwegs gewesen waren, wenn es ihr gelang, die Berge an Hausarbeit zu ignorieren, und sie anfing, sich auf eines der Bilder zu konzentrieren, gerade dann schrillte der Geschäftsanschluss in seiner ohrenbetäubenden Lautstärke durch das Haus. Zuerst schien es ihr Zufall, irgendwann dann Fluch zu sein. Sie begann, sich leer zu fühlen, so, als habe sie kein eigenes Leben. Und das stimmte ja auch, Anna lebte nur noch für die Bedürfnisse ihrer Familie. Sie hatte keine Kraft und auch keine Quelle mehr, aus der sie schöpfen konnte. Lag stundenlang im Bett, zu müde für alles. Irgendwann hatte Anna zu ihrem Alltag zurückgefunden, hatte ihre Familie versorgt und war sogar glücklich damit gewesen, aber sie hatte aufgehört zu malen.
Eines Tages, als die Füße ihres Nesthäkchens größer geworden waren als ihre eigenen und das Armdrücken mit dem Älteren zu ihren Ungunsten auszugehen drohte, hatte Anna den Entschluss gefasst, wieder zu arbeiten. Keine Malerei, kein Halbtagsjob in einer Boutique, nein, Anna Greve wollte genau dort wieder anfangen, wo sie vor vierzehn Jahren aufgehört hatte. Als Kommissarin beim LKA. Jetzt erfüllte sich ihr Traum, Anna lachte. Sie lachte so sehr, dass sie Seitenstiche davon bekam. Ob er heute gespielt hatte?
Esther träumte, Alfons hielte sie im Arm. Endlich fror sie nicht mehr. Gähnend drehte sie sich auf der Matratze, als sie mit dem geschwollenen linken Knie an etwas Hartes stieß. Esther rieb sich die Stelle und suchte. Wenn das ein Stein gewesen war, würde sie ihn mit aller Kraft gegen die Metalltür schmettern. Sie zog das Ding unter der Matratze hervor, es war ein Buch. Ziemlich ramponiert, aber fest gebunden.
„Christa Wolf – Kindheitsmuster“, las Esther vorn auf dem Einband.
Welche Muster? Kindheitsmuster? Esther hatte kaum Gelegenheit gehabt, welche zu entwickeln. Kindheit, diese Zeit hatte sie übersprungen, sie war lieber schnell erwachsen geworden. Als ihre Mutter starb, war Esther noch klein gewesen. Wilfried, ihr Vater, hatte sich bemüht. Hatte den Kühlschrank gefüllt und die Heizung eingeschaltet. Aber ihre Tränen machten ihn hilflos, manchmal sogar ärgerlich, und Esther wurde so vor der Zeit erwachsen.
Kindheitsmuster, so ein Mist. Als Kind hatte sie den Mangel gelebt, den Verlust, die Leere. Sie war gewesen wie von innen ausgehöhlt. Wie ein Schokoladenweihnachtsmann oder Osterhase. Eine süße Fassade, dahinter ein großes Nichts. Mit diesem Nichts war sie herumgelaufen, bis sie Alfons kennenlernte.
Alfons hatte ihr Lachen zurückgeholt. Auf einem Betriebsausflug der väterlichen Firma hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen und sich sofort verliebt. Er war ein fröhlicher Mann, ansehnlich mit seinem dunklen Haar und dem spöttischen Ausdruck im Gesicht. Esther hatte die koketten Blicke der anderen Frauen bemerkt, die er genoss, aber nur unverbindlich beantwortete. Sie fühlte sich plump in seiner Gegenwart, hatte herumgestottert, nie hätte sie gedacht, dass er ihre Gefühle erwidern würde. Alfons war jedoch den ganzen Tag nicht von ihrer Seite gewichen, hatte etwas vom Buffet und ein Glas Sekt für sie geholt. Er gab ihr das Gefühl, seine Königin zu sein. Am Abend hatten sie ohne die anderen nebeneinander draußen auf dem Achterdeck gesessen und auf die Elbe geschaut, über ihnen der funkelnde Sternenhimmel. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und Esther wollte, dass dieser Tag nie zu Ende gehen würde. So hatte es angefangen, damals. Esther war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte noch nie mit einem Mann geschlafen, aber mit ihm zusammen war alles ganz leicht gewesen. Alfons hatte zärtliche Hände.
Alfons hatte zärtliche Hände, aber Esther war nicht seine Königin. Er arbeitete zu viel. Wilfried hatte es genauso gemacht, vielleicht war das auch ganz in Ordnung. Esther wollte einen Menschen, für den sie das Wichtigste sein konnte. Esther wünschte sich ein Kind. Alfons hatte nichts dagegen, im Prinzip, aber nie kam der richtige Zeitpunkt. Zehn Jahre vergingen, Esther war fünfunddreißig und noch immer keine Mutter, als das große Nichts zurückkehrte. Wieder versuchte sie, es zu füllen, diesmal vor allem mit zu viel Wein.
Kindheitsmuster. Esther schlug die erste Seite des Buches auf.
– Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. –
Was für ein Unsinn. Das Vergangene war tot, musste tot sein. Wie hätte sie sonst weitermachen können? Sie hatte das Vergangene von sich abgetrennt, sich fremd gestellt, ihre Wurzeln verleugnet. Aber konnte das überhaupt gelingen? Ein Blick in den Spiegel zeigte Esther die Augen ihrer Mutter.
Kindheitsmuster. Esther weinte.
„Hast du der Alten ’nen Porno gegeben?“
Hinter der Tür saßen die Entführer. Der Große schwieg, der Dunkle machte sich lustig über ihren Schmerz. Das gehässige Lachen des Dunklen dröhnte Esther in den Ohren. Wenn sie sich nicht schnell etwas einfallen ließ, würde sie ihrer Mutter wahrscheinlich bald sehr viel näher sein, als ihr lieb war. Sie ballte ihre Fäuste zusammen. Nein, Esther war kein Opfer. Sie würde um ihr Leben kämpfen, mit allen Mitteln verhindern, dass diese Fremden es ihr nahmen. Wenn es ihr gelingen würde, die Männer gegeneinander auszuspielen, hätte sie vielleicht eine Chance, am Leben zu bleiben. Esther straffte den Rücken, sie hatte einen Plan.
„Ich müsste ganz dringend auf die Toilette, und der Eimer ist voll.“
„Warum schwitzt du dein Problem nicht einfach aus?“
„Ich bitte Sie.“
„Ist ja gut.“
Hinter der Tür wurde ein Stuhl gerückt.
„Vergiss die Maske nicht, sonst kannst du was erleben.“
Gehorsam zog sich Esther die schwarze Maske über den Kopf und war sofort wieder benebelt von deren intensivem Schweißgeruch. Schwere Schritte kamen näher, sie erkannte den Großen an seinem polternden Gang. Esther hatte die Männer noch nie gesehen, die Sinne durch ihre partielle Blindheit geschärft, hatte sie sich jedoch ein Bild von beiden gemacht. Sie unterschieden sich sehr voneinander, das konnte ich deutlich heraushören.
Es gab den Großen, der sich schon öfter den Kopf an der Glühbirne angestoßen hatte, daher also mindestens ein Meter neunzig sein musste. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig. Der Große fesselte sie so, dass es nicht unnötig wehtat. Er war ihre Chance, hier lebend wieder herauszukommen. Der Dunkle war dagegen ein unangenehmerer Zeitgenosse. Es schien ihm Spaß zu machen, andere Menschen zu quälen. Deshalb nannte sie ihn auch insgeheim den Dunklen, weil er für sie eine dunkle Seele hatte. Beide sprachen mit osteuropäischem Akzent, aber der Dunkle war wesentlich wortgewandter und intelligenter.
„Ich hoffe, du musst nur pinkeln, das Zeitungspapier ist nämlich aus.“
Er stellte den leeren Eimer ab.
„Einen Augenblick. Können Sie mir hoch helfen? Mir ist schwindelig.“
Der Große beugte sich über sie. In dem Moment, in dem er sie am Arm hielt, drückte sie ganz fest seine Schulter.
„Keine leichte Arbeit, die Sie hier tun. Ich hoffe, sie wird wenigstens gut bezahlt.“
„Mach dir nicht unseren Kopf, Alte.“ Das war der Dunkle aus dem Nebenraum.
„Ich habe sehr viel Geld“, flüsterte Esther. „Viel mehr, als Sie für diese miese Entführung bekommen. Ich biete Ihnen das Doppelte, wenn Sie mich gehen lassen.“
„Ruhig.“
„Denken Sie darüber nach! Warum nicht das Optimale herausholen?“
Sie hörte, wie ihr Urinstrahl den Metalleimer traf, und hoffte, dass er sich abgewendet hatte. Esther konnte einiges aushalten, aber die Vorstellung, in dieser demütigenden Haltung von einem fremden Mann beobachtet zu werden, war ihr unerträglich.
Nun fesselte der Große sie wieder und schloss die Tür zum Nebenraum. Esther war stolz auf sich, sie hatte einen Keim gesät, vielleicht würde er aufgehen. Dann könnte sie Alfons ein Zeichen schicken, den Rest würde er erledigen. Alfons – wie sehr sie ihn vermisste. Auch wenn er ihre Stärke nie gemocht hatte. Manchmal glaubte Esther, ihm wäre es lieber gewesen, sie wäre noch immer das schüchterne Mädchen, das er beschützen könnte. Das große Nichts in der schönen Schokoladenverpackung. Ihr Engagement für die Obdachlosen verärgerte ihn auf jeden Fall. Vielleicht weil ihre Aufmerksamkeit nun nicht mehr ausschließlich ihm galt. Als Esther sich vor einem Jahr eine kleine Wohnung direkt in der Stadt gemietet hatte, war seine spöttische Frage gewesen: „Ist unser Haus nicht groß genug?“
„Ich brauche einen Lagerraum für all die Sachen, Alfons“, hatte sie geantwortet. „Und eine Übernachtungsmöglichkeit.“
Er hatte nur die Schultern gezuckt und war in sein Büro gefahren.
Ja, Esther hatte sich befreit, vor vielen Jahren schon. Das große Nichts war verschwunden und mit ihm die vielen Weinflaschen, die sie hatte leer trinken müssen, als ginge es um ihr Leben. Heute war sie stark und glücklich. Auch wenn das Zusammensein mit Alfons seine Tiefe verloren hatte, glaubte sie doch daran, dass er eines Tages gelernt haben würde, sie so zu lieben, wie sie war. Stark und glücklich. Sie musste nur hier herauskommen. Vielleicht sollte dieser Keller eine weitere Prüfung sein auf ihrem Weg. Aber sie würde sich aus diesem Loch befreien und dann endlich mit Alfons leben, wieder seine zärtlichen Hände spüren. Genauso wie früher.
„Alex, glaubst du, die Alte ist reich?“
George war an den Tisch zurückgekehrt, auf dem die Spielkarten noch unverändert mit dem Rücken nach oben lagen.
„Kann schon sein, warum?“ Alexander musterte ihn aufmerksam.
„Ich frage mich, wofür man sie bestrafen will.“
„George, du wirst hier nicht fürs Denken bezahlt, vergiss es und mach deinen Job. Ist sowieso bald vorbei.“
„Was heißt das? Sie sollte doch erst mal ein paar Tage hier bleiben, und dann lassen wir sie laufen, hast du gesagt. Du hast etwas von einem Denkzettel gesagt.“
„Der Auftraggeber hat seine Pläne geändert, es wird nicht mehr lange dauern.“
„Die Frau hat Geld“, sagte George fest. „Sie hat mir doppelte Kohle geboten, wenn wir sie laufen lassen. Wer ist eigentlich unser Auftraggeber?“
„Da schau her“, entgegnete Alexander zornig, „du hast hinter meinem Rücken mit ihr verhandelt!“
Er schlug George mit der Faust ins Gesicht, Blut begann aus dessen Nase in Richtung Mund zu laufen.
„Vergiss niemals, wer hier der Boss ist.“
George wischte sich mit einem Taschentuch sauber. Er hatte schon oft etwas abbekommen, wenn Alex aus der Haut fuhr, und dieser kleine Schlag war eigentlich nicht der Rede wert. Trotzdem, niemals zuvor hatte sich George so mies behandelt gefühlt wie gerade jetzt.
„Schon gut, ich wollte nichts ohne dich machen. Aber warum sollten wir nicht versuchen, mehr Geld herauszuholen?“
„Weil wir Profis sind, Arschloch. Wenn sich herumspricht, dass wir die Opfer laufen lassen, sind wir erledigt.“
Alex kratzte sich am Kinn, dann tätschelte er Georges Arm und sagte: „Lass mich nur machen.“
Endlich Wochenende! Anna Greve war in den nächsten Heideort gefahren, um einzukaufen. Der Weg zum Markt führte durch einen Buchenwald, dessen leuchtendes Grün sie fröhlich machte und auf die Farben des Sommers einstimmte. Es war ein klarer Junimorgen. Anna hatte sich nur ein leichtes Leinenkleid übergezogen und war flüchtig mit dem Kamm durch ihre kurzen schwarzen Haare gestrichen, die sowieso fielen, wie sie wollten. Es war viel zu warm, um sich aufzustylen, deshalb trug sie heute auch kein Make-up auf, nicht mal eine getönte Tagescreme.
Sie pfiff gerade die Melodie eines Sommerhits vom vergangenen Jahr, als ihr Pfeifen von der gegenüberliegenden Straßenseite beantwortet wurde. Drei Bauarbeiter sahen zu ihr herüber, grinsten herausfordernd. Ihre Oberkörper waren nackt, nur einer von ihnen war jedoch so gebaut, dass er sich das leisten konnte. Anna grinste zurück.
„Na, Jungs.“
Bevor sie sich umdrehte, hob sie den linken Mittelfinger und streckte ihn den Männern entgegen. Dann stürzte sie sich lachend in das sommerliche Marktgetümmel.
Sie schlenderte von Stand zu Stand, kaufte einen prächtigen Strauß aus feuerrotem Klatschmohn und blauen Kornblumen, den sie mit einer Hand kaum halten konnte, und blieb dann vor einer Auslage mit Lammkeulen stehen.
„Was sollen die kosten?“
Die Marktfrau musterte Anna.
„Für dich ganz günstig, weil heute so ein schöner Tag ist.“
Sie zeigte Anna eine frische Lammkeule, packte aber, als sie sich einig geworden waren, eine ganz andere ein.
„Ich will die erste haben, keine von den alten, die du heute Nachmittag sowieso in den Müll wirfst.“
Als sie alles besorgt hatte, setzte sich Anna in das Straßencafé neben dem Marktplatz und genoss ihren Cappuccino. Anschließend lud sie die Einkäufe in ihren Wagen ein, zuerst die Lammkeule. Heute würde sie ein Festessen zubereiten, denn Jan wollte sie besuchen kommen. Annas Herz klopfte bei dem Gedanken an ihn. In der letzten Zeit hatten sie einander wenig gesehen, denn als Fußballprofi beim HFC war er ein vielbeschäftigter Mann. Vor fünfzehn Jahren waren Tom und Jan zusammen nach Deutschland gekommen. Aus Dänemark, aus dem grenznahen Gebiet, in dem die Landschaft schön und die Arbeitslosigkeit groß ist. Beide hatten hier ihr Glück gefunden. Tom hatte Anna kennengelernt, die Druckerei gegründet, Söhne gezeugt, Jan hatte seine Affären und den Sport.