°luftschacht
Roman
© Luftschacht Verlag – Wien 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.luftschacht.com
Umschlaggrafik: cédrickaub http://cedrickaub.com
Satz: Jürgen Lagger
Druck und Herstellung: CPI Moravia
Leserbriefe und Fragen an: Notschek@gmx.de
ISBN: 978-3-902844-01-9
Zeitungen
Die Mansarde
Kontakte und Korrespondenz
Apfelernte und Fruchtertrag
Lebensmittelkarten
Die Warnung
Flüchtlinge
Ausgangssperre
Einkäufe
Unruhe
Der Speicher
Die Wäschezeichnung
Schuld und Müdigkeit
Der Aufbruch
Die Maler
Die Oststadt
Der Block
Die Wohnung
Die Kette
Die Umlegung
Der Schreibblock
Die Hochakademie
Für meine Mutter Irmgard
Interimistisch, nur vorübergehend ist Notschek bei uns untergekommen, ganz wie man eine Leihgabe in einem Magazin unterstellt, haben wir ihn in der Mansarde installiert, in dem ehemaligen Schlupfwinkel des Wittler, der nun seit viereinhalb Jahren fort ist. Ich finde mich also mit allen Begleitumständen dieser Beherbergung ab, mit den neuen Geräuschen, die nun von oben herunterdringen, mit der Unmenge an Gepäck, das Notschek mitgebracht hat, mit dem Geschwätz, das wir nun von frühster Stunde an von ihm hören, wenn er schon zum allerersten Tee gleich zu uns herunterkommt, oft noch in seinem Kittel, einem weißen, unförmigen Ding, die Holzpantoffeln an den Füßen. Nein, ich bin müde, ich bin dieser Beherbergung schon müde, kaum dass sie wirklich begonnen hat. Notschek ist ein anstrengender Mensch, ein Schwätzer und Bummler; er hat Unmengen Papier und sogar Bücher in seinem Gepäck, dabei liest er ständig in irgendwelchen Zeitungen und ist überall mit seinem schwarzen Notizbuch anzutreffen, obwohl er gar kein Amt ausübt. Notschek schreibt in dieses Notizbuch mit wichtiger Miene, als nähme er Personalien auf, aber das ist reine Aufschneiderei, denn Notschek übt gar kein Amt aus und kann auch von niemandem Personalien aufnehmen, dazu ist er nicht berechtigt. Dazu diese halb amtliche, halb zivile Kleidung, dieser Paletot aus Kammgarn, den er trägt, und diese großen Brillengläser, durch die er einen immer anschaut, als habe man sich mit einem Gedanken zu weit vorgewagt und er müsse nun diese unsichere Brücke stützen. Das ist, wie gesagt, reine Aufschneiderei, so wie ist es mit seiner Bildung ja gar nicht so weit her ist: Notscheks Studien sind unabgeschlossen, seine Manuskripte sind unvollendet.
Ich lasse mich mit Notschek auf nichts ein, auf gar nichts, ich will nicht in seiner Trübe fischen, seine Mansarde betrete ich nicht, schon die Treppe dort hinauf sehe ich gar nicht an. Notschek ist eine unsichere Existenz, eine schwankende, er hat keinen Beruf, das ist das Übel, früher ist er Hilfslehrer gewesen in einem kleinen Dorf dreißig Kilometer vor der Stadt, wo er in der Dorfschule Kinder unterrichtet und wahrscheinlich durchgeprügelt hat. Von dieser Zeit sucht Notschek heute zu zehren, wenn er sich in den Wirtshäusern als Lehrer ausgibt. Notschek heischt nach Anerkennung und erhält sie nirgends, das sagt Maria, die ihn ohnehin für einen Säufer hält – aber das ist nicht ganz wahr, Notschek trinkt zwar den Rotwein, aber er ist kein Säufer, so weit kann man nicht gehen. Maria meint aber, Notschek sei ein Säufer und Hasardeur, der Glücksspiele wegen, die sie jetzt im „Raben“ und in den anderen Wirtshäusern treiben, Kartenspiele und sogar Roulette, aber ob Notschek daran teilnimmt, kann ich nicht sagen. Es fehlte noch, dass ich mich mit ihm dort sehen lasse! Notschek hat natürlich keinen Halt, außer der Mansarde und dem ehemaligen Lehrerberuf, von dem er zu zehren versucht, hat er keinen Halt, und wer haltlos ist wie Notschek, der ist natürlich durch das Glücksspiel und die Säuferei gefährdet, aber noch hält Notschek sich davon fern, das weiß ich von Tomek, mit dem er täglich im „Raben“ zusammentrifft.
Notschek hält dort politische Reden, das hat Tomek mir unlängst verraten, Notschek politisiert. Das ist heute fast normal, wo jeder dahergelaufene Student im Wirtshaus über Regierungsfragen mitentscheiden will. Notschek ist für Freie Räte, für Paneuropa und für die Einführung eines Plebiszites – das sind Stichworte, die ich von Tomek erhalten habe, wie viel davon wahr ist, kann ich nicht sagen. Maria hält Notscheks Politisieren für eine Ausflucht, für eine dumme Bummelei, die zu nichts führen kann; Notschek, meint Maria, hält sich nun an die Politik und an das Politisieren im Wirtshaus, weil er seine Schullehrerstellung aufgeben musste. Daran ist bestimmt einiges wahr, anderes nicht, Notschek ist immer politisch eingestellt gewesen, in seiner Studentenzeit war er Mitglied einer sogenannten Reformpartei, und er hat Pamphlete und Kolumnen für politische Zeitschriften verfasst, für die „Ampel“ und angeblich sogar für die „Freie Zeitung“.
Notschek sieht die politische Lage als gefährlich an, als gefährlich und verfahren, eine schlechte Stimmung gibt es, sagt er, die sich weiter aufschaukeln kann. Das ist hundertmal wahr, hier hat Notschek recht, wer die Zeitungen liest und ihren hysterischen Tonfall bemerkt, der findet kaum noch die Ruhe für die alltäglichsten Verrichtungen. Aber Notschek übertreibt, er ist durch das eigene Politisieren befangen, das meint Tomek. Tomek sagt, Notschek hat sich in eine hysterische Verfassung hineingesteigert, in eine politische Hysterie, die heute charakteristisch ist; wir alle leben ja längst, so Tomek, in einer hysterischen Verfassung, und Notschek hat sich diese Haltung vollends zu eigen gemacht.
Wenn Notschek morgens zum allerersten Tee hinunterpoltert, hat er schon die Zeitungen gelesen und schwenkt sie hin und her, Zeitungen verschiedener politischer Ausrichtung, die er abonniert hat und die ihm ein Zeitungsjunge in aller Frühe in die Mansarde hinaufbringt. „Regierungskommission erlässt befristetes Embargo“, liest er uns dann vor, oder „Eklat im Innenministerium: Rücktritt gefordert“ – das sind Schlagzeilen der überregionalen Presse. Notschek verfolgt nämlich die überregionale Presse, er gibt sich nicht mit den lokalen Zeitungen zufrieden, die doch nur marginale Ereignisse verzeichnen, die nicht den Weitblick und die Kompetenz der überregionalen Presse haben, wie Notschek sagt. Notschek sitzt da, in seinem Kittel, die Teetasse in der Hand, und liest den „Kommentar des Tages“ und „Von unserem Korrespondenten“ und die „Schlaglichter“ und politisiert, während Maria das Geschirr abzuräumen versucht. Bald kommt dann Tomek, auch mit Zeitungen der überregionalen Presse, und dann gehen beide zusammen in den „Raben“, Notschek im Kammgarnmantel und die Zeitungen unterm Arm, Tomek in seiner weißen Felljacke. Ja, es ist anstrengend, diese Beherbergung ist nicht mehr lange auszuhalten, ich bin ihrer bereits überdrüssig, und täglich redet Maria auf mich ein, ich solle Notschek aus dem Hause weisen, ihm zeigen, wo die Tür ist. Aber das bringe ich nicht fertig, Notschek ist ein Gast, auch wenn er anstrengend ist. Außerdem hat Notschek in vielem Recht: Die politische Lage ist verfahren, ja, sie ist sogar unsicher. Notschek ist möglicherweise der einzige, der die Zusammenhänge ein wenig begreift, und was soll werden, wenn er fort ist?
Der Ton der Zeitungen, die wir durch Notschek erhalten, von denen auch wir profitieren, wie er immer sagt, ist in den letzten Wochen immer unruhiger geworden, hat sich von einer leichten Aufgeregtheit zu einer Unruhe und schließlich zu der von Tomek erwähnten Hysterie gesteigert; die verschiedenen politischen Richtungen scheinen sich heimtückisch zu umkreisen und zu belauern. In der einen Zeitung, dem „Boten“, die Notschek regierungstreu nennt, werden die Vorkommnisse der Politik mit großer Behutsamkeit erörtert, mit einer fast auffälligen Vorsicht; da ist immer die Rede von Gesprächen, die „in einvernehmlicher Atmosphäre“ verlaufen seien und von „guten Beziehungen“, die man vertieft habe, während in dem Konkurrenzblatt, dem „Beobachter“, die selben Vorfälle mit beißender Schärfe, mit einer ganz unnachsichtigen Kritik kommentiert werden; jeden Tag ist der „Beobachter“ angefüllt mit Forderungen nach Rücktritt von politischen Ämtern und mit Pamphleten, die dazu aufrufen, die bestehende Administration auszuhebeln, sie zu unterwühlen und umzustürzen, das ist der Wortlaut dort. Dazu ist diese Zeitung noch auf ein rotes Papier gedruckt. Zu diesen beiden Blättern kommen die Stimmen des „Freien Lichts“, Hausblatt einer obskuren heimattreuen Sekte, und der „Neuen Zeitung“, eines politisch überhaupt nicht einzuordnenden Blattes, das zwischen übertriebener Staatstreue und aufwühlerischem Umstürzlertum hin- und herschwankt, als werde die Redaktion jeden Tag neu besetzt. Neben diesen Zeitungen gibt es dann noch die unabhängigen Blätter, den „Überblick“, der auf ein kleines, querrechteckiges Format gedruckt ist, und die „Letzte Stimme“, die mehr einer Aneinanderheftung von schlecht gedruckten Flugblättern ähnelt als einer wirklichen Zeitung. In dem Durcheinander der Meinungen, das alle diese Blätter beschwören, ist aber schon lange keine Ordnung mehr zu finden: Hat man sich zu der weitblickend-behäbigen Meinung des „Boten“ durchgerungen, wird sie einem vom „Beobachter“ sogleich wieder untergraben und weggenommen, erwägt man die gefährlichen, freischärlerischen Überzeugungen des „Freien Lichtes“, stellt die „Neue Zeitung“ sie sogleich wieder in Frage.
Notschek verhält sich all dem gegenüber neutral, keiner der Zeitungen gibt er seine Stimme ganz, keine Meinung macht er sich vollständig zu eigen. Hat er einen Artikel gelesen, so ist er gleich danach schon bei einem „jedoch“, bei einem „ja, aber“, und beginnt dann, seine Überzeugungen weitläufig auseinanderzusetzen, die komplizierten Verflechtungen der Zeitungen darzustellen, die er aus eigener Anschauung zu verstehen vorgibt. Da soll es personelle und persönliche Abhängigkeiten, ja sogar verdeckte Zusammenarbeit geben, da wechseln, wie Notschek behauptet, täglich Redakteure vom „Beobachter“ zum „Boten“, vom „Freien Licht“ zur „Neuen Zeitung“, und vollends undurchschaubar seien die Besitzverhältnisse der Zeitungsverlage, wo man auf doppelte und gar dreifache Anteilschaften stoße, die sich politisch völlig widersprächen. Notschek sagt, die Mehrzahl dieser Zeitungen sei korrumpiert, sie seien in ein verdecktes, ein schmutziges Kartell eingebunden, dessen Ziel die systematische Verwirrung der Leser, ihre geistige Entmündigung sei. Nur die unabhängigen Blätter, Zeitungen wie die „Letzte Stimme“ und der „Überblick“, versuchten noch, sich dem übermächtigen Einfluss dieses Kartells entgegenzustemmen, und mit diesen Zeitungen hält er, Notschek, es; sie seien, so sagt er, noch lesbare Blätter. Die „Letzte Stimme“ erscheint inzwischen nur noch anderthalbtägig, das sind Konzessionen, die diese Zeitung bereits machen muss, denn das Blatt ist in seiner Existenz gefährdet, so steht es jeden Tag in den immer dünner werdenden „Kommentaren in eigener Sache“, gefährdet angeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Notschek meint, dies seien vorgeschobene Gründe, Vorwände, in Wirklichkeit sei die „Letzte Stimme“ einfach nicht mehr opportun, und eins stimmt: Die „Stimme“ will sich in den Ton der übrigen Blätter, den Ton der kollektiven Hysterie, einfach nicht hineinfinden; ihre Artikel und selbst ihre Kommentare sind weitblickend, höchstens vorsichtig warnend, und sie verzichten auf den aggressiven Diskurs, auf den Diskurs der Hysterie, wie Notschek es nennt.
Dies alles sind Eröffnungen, die Notschek beiläufig, mit einer Art Langeweile, macht, während er ihre Wirkung zugleich zu genießen scheint. Er steht am Küchentisch oder vor der Tür des Abortes (er nimmt nie Rücksicht auf irgendwelche Schamhaftigkeiten), schüttelt an seiner Hose herum und streicht sich den Schnurrbart, während er bedeutungsvolle Wahrheiten in der Art eines weitgereisten Lebemannes preisgibt. Dabei blickt er irgendwohin, mit einem unruhigen, schwankenden Blick, der verrät, dass Notschek natürlich keineswegs sicher ist, dass er sich in Wahrheit unsicher und auf verlorenem Posten fühlt. Seine Reden beendet Notschek dann immer mit einem langgezogenen Seufzen, einer ausgreifenden, wie suchenden Bewegung der linken Hand und schließlich mit einem unerwarteten Schütteln und Sich-Rütteln des ganzen Körpers, wobei er auf dem Absatz, auf dem Ende des Holzpantoffels, gleichzeitig schon umdreht, kehrtmacht, und hocherhobenen Hauptes, mit der vor sich wie eine Waffe gehaltenen Zeitung, den Weg in die Mansarde antritt.
Selbst auf Maria haben Notscheks betont nebenher gemachte Enthüllungen schon Einfluss ausgeübt; letztens hat sie vorgeschlagen, die „Letzte Stimme“ zu abonnieren, damit man endlich nachprüfen könne, ob Notscheks Behauptungen nicht doch einen wahren Kern hätten; dabei hat sie auf eine Weise zur Tür gesehen, als erwartete sie Notscheks Zustimmung.
Ja, es ist wahr: Notscheks Einfluss oder der Einfluss der Zeitungen, die er ins Haus bringt, bleibt nicht ohne Wirkung. Trotz ihrer Vorbehalte gegen Notschek und gegen sein Politisieren ist Maria in der letzten Zeit unruhig, nervös, sie schläft schlecht und wacht nachts immer wieder auf. Dann läuft sie im Schlafzimmer umher, rückt Dinge von einem Platz auf den anderen und beginnt schließlich, mit einer ganz ungewöhnlichen, übermüdeten Aufmerksamkeit, in den Zeitungen zu lesen, die sie tagsüber verächtlich von sich stößt. Sie liest die Schmähartikel im „Beobachter“ oder die weitschweifigen Erörterungen der Außenpolitik im „Boten“ – Dinge, die sie tagsüber als überflüssigen Unsinn bezeichnet, die sie nun aber, in der Nacht, aufregen und bis zum frühen Morgen nicht einschlafen lassen.
Notschek hat Marias Unruhe bemerkt; letzte Nacht kam er herunter und saß im Nachthemd bis zum frühen Morgen in unserem Schlafzimmer mit der Absicht, Maria die politische Lage auseinanderzusetzen, was natürlich nicht gelingen konnte: Maria war übermüdet, ich selbst konnte Notschek kaum folgen, der, sich auf einen wackligen Stuhl stützend, eine Rede über die außenpolitische Situation zu halten versuchte. Die Situation war verfahren, ich wollte Notschek nicht vor den Kopf stoßen, Maria schien seinen Rat oder wenigstens diese Art der Fürsprache zu benötigen, sie hatte selbst schon nach Notschek verlangt, aber trotzdem war sie übermüdet, und ein Schlafzimmer ist für politische Erörterungen gewiss nicht der richtige Ort. Notscheks Stimme hallte seltsam umher, und seine Worte schienen ihr Ziel zugleich immer zu treffen und zu verfehlen, während er unablässig auf Maria blickte, die Notschek mit einer Erwartung ansah, als könne er alle Rätsel zugleich benennen und auflösen. Notschek wurde immer lebhafter, sprach über politische Gerüchte, die er gehört hatte, und begann, eine dunkle Gleichförmigkeit zu prophezeien, eine falsche Ruhe, in die wir alle miteinander eingehen würden und die eine nicht abzuschätzende Gefahr darstelle. Dass Notschek diese Ausdrücke, Gleichförmigkeit und Ruhe, benutzte, konnte ich gar nicht begreifen; von dem Streit der Zeitungen schien mir alles andere auszugehen als gerade Beruhigung, und mehrmals versuchte ich, Notschek auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen. Aber Notschek ließ sich von seiner Meinung natürlich nicht abbringen, sondern erklärte, dies alles seien Vordergründigkeiten, Maskeraden, von denen er sich nicht verwirren lasse. Die politische Entwicklung ziele unzweifelhaft auf falsche Ruhe hin, eine Ruhe, die uns in Kürze ereilen werde, die alles einzuebnen drohe. Und Notschek machte mit den Händen eine Bewegung, als schiebe er zwischen den Handflächen Sand zu einer glatten, ebenen Fläche auseinander. Ich sah zu Maria, die sich im Bett aufrichtete und dabei vergaß, die Decke festzuhalten, sodass sie plötzlich im Nachthemd vor Notschek saß. Obwohl Notschek tat, als bemerke er nichts von Marias Blöße, war es doch offensichtlich, dass er sie gesehen hatte, denn er wurde immer unruhiger, ruderte mit den Armen hin und her und redete dabei über das kaum vorstellbare Maß an Protektion, das innerhalb der Zeitungen die Redakteure in ein Netz von Abhängigkeiten binde, sprach über die nicht durchschaubare Verflechtung von Interessen, welche die Öffentlichkeit, die gesamte Presse in ihrer Freiheit immer mehr einschränke, lähme, unfrei mache, schließlich fessele und so weiter.
Die ganze Situation mit dem bramarbasierenden, armerudernden Notschek und mit Maria, die da halbnackt und offenbar völlig übermüdet dasaß, erschien mir lächerlich, und ich überlegte, mit welchen Worten ich sie beenden konnte. Da hörte ich plötzlich draußen vor dem Fenster ein Geräusch, ein Knistern und Zilpen. Endlich begriff ich, dass es Vogelgezwitscher war; der Morgen hatte eingesetzt. Tatsächlich konnte man jetzt hinter den Vorhängen bläuliche Dämmerung erkennen. Mit dem Hinweis auf dieses offensichtliche Ende der Nacht gelang es mir, Notschek zum Verstummen zu bringen, sein Kolloquium abzubrechen und ihn aus dem Zimmer zu schieben. Aber noch in der Tür blieb Notschek stehen, hielt sich am Rahmen fest, redete auf Maria ein, hob den Zeigefinger und schwenkte die Zeitung wie eine Fahne.
Die Räume, die Notschek bewohnt, in denen er Unterschlupf gefunden hat, die Mansarde, wie ich diese Kammern unter dem Dach nenne, sind eigentlich eine ehemalige Dienstmädchenwohnung, die viele Jahre leer gestanden hat. Das Haus ist ja, trotz seiner äußerlichen Einfachheit, in seinen besseren Zeiten eine sogenannte Familienresidenz gewesen; die Familie meines Onkels oder dessen Eltern haben hier, wie man sagt, ein Haus geführt, haben auf großem oder doch auf größerem Fuß gelebt, und dazu gehörten standesgemäß ein paar Dienstmädchen und eine Köchin, die in der Mansarde gewohnt haben.
Die Mansarde (der Ausdruck leitet sich von dem gleichnamigen Dach her) ist sozusagen ein Teil, der untere Teil des Daches, welches das Haus wie ein hoher Hut bedeckt. Er steigt steil und geschwungen an, knickt mit einer Traufe dann flacher nach oben hin weg und schließt mit einem First breit und knapp ab. Hinter seinem steil anschwingenden Teil, der mit sogenannten Biberschwänzen gedeckt ist, befindet sich aber kein Speicher, sondern der dahinter liegende Raum ist, mit einigen Umständlichkeiten, zu einer Wohnung, eben der Dienstmädchenmansarde, ausgebaut. Alles in allem besteht diese Wohnung nur aus drei Kammern und einem hakenförmigen Flur, in den man förmlich hineinfällt. In der Mansarde gibt es keine geraden Wände, die Zimmer sind klein (es sind eigentlich Kammern), und überall stößt man auf Winkel und Einschnitte, die von den notdürftig verkleideten Balken des Dachstuhls herrühren. Der Fußboden ist aus einfachen Holzdielen, die Türen sind schwach und dünn, die Decken niedrig – trotzdem ist dies aber eine wirkliche Wohnung, eine Wohnung mit Zimmern, deren Wände tapeziert sind, keinesfalls ein dunkler Dachboden, wie man annehmen könnte. Um die Räume zu belichten, ist das Dach aber an einigen Stellen mit Gaupen durchbrochen, die von außen wie Kästen in das Dach schneiden und von innen wie Auswölbungen aus den schrägen Wänden treten. Ein Bad gibt es, streng genommen, nicht, in einer Kammer befindet sich aber, an einer gefliesten Wand, ein Waschbecken mit Spiegel. Eine Küche oder Kochstelle aber hat die Mansarde nie besessen, denn die Dienstmädchen pflegten unten, in der Küche der Herrschaft, zu essen.
Die Mansarde hat lange leer gestanden – um genau zu sein, steht sie leer seit fünf Jahren, seit dem Weggang des Wittler. Wir haben damals darauf verzichtet, sie zu vermieten, denn dies hätte zu viel Aufwand an Umbau erfordert. Man hätte die Räume herrichten, sie renovieren müssen, der Einbau einer Küche und eines Bades wäre notwendig geworden, und die mit einem solchen Umbau verbundenen Umständlichkeiten haben wir gescheut. In den letzten Jahren sind die Kammern vor allem als Abstellraum, als Lager für allerlei Dinge benutzt worden, es standen darin: Gartenmöbel aus Korbgeflecht, Bücher in Kisten, gebündelte Jahrgänge einer Zeitschrift, alte Teppiche und Kisten und Kartons, deren Inhalt ich selbst nicht mehr genau kenne – Reste aus der Wohnungseinrichtung des Wittler und aus dem Nachlass des Onkels, den ich immer noch nicht geordnet habe. Nun aber ist Notschek hier, Notschek bewohnt die Mansarde als Unterschlupf, und wie die Räume inzwischen aussehen, kann ich nicht einmal genau sagen, obwohl das unsinnig genug klingt.
Notscheks Einzug hat sich mit erschreckender Eile vollzogen. Kaum hatte ich ihm, nur als eine Idee, den Vorschlag unterbreitet, die Mansarde für einige Zeit zu nutzen, mit ihr gleichsam Vorlieb zu nehmen, bis seine Wohnungssuche erfolgreich wäre, da kam er auch schon am nächsten Tag mit einem Umzugswagen vorgefahren und wuchtete plötzlich, unterstützt von zwei Möbelpackern, seine Habe über die Stiegen flink und geschickt hinauf. Notschek hat viel Hausrat mitgebracht: Sessel aus abgeschabtem Leder, Schränke und Regale, eine Stehlampe mit grünlichem Schirm, einen alten Schreibtisch, dessen gewaltige Platte sich nur schwer um die Ecken des Stiegenhauses bugsieren ließ, und natürlich, in Kisten, seine vielen Bücher, Papiere und Ordner.
Zwei Tage lang hat Notschek dann dort oben Möbel gerückt, hat sich, wie er sagt, installiert und wollte bei dieser Einräumung durchaus keine Hilfe annehmen – die wir, Maria und ich, ihm gern gewährt hätten, schon, um festzustellen, was Notschek in der Mansarde treibt, wie er die Möbel dort umgestellt hat und wie sehr die Räume durch seinen Aufenthalt nun verändert sind. Notschek aber wies unser Angebot immer wieder zurück: Er könne es uns nicht zumuten, so erklärte er (und lächelte dabei mit zusammengezogenen Augenbrauen), in den staubigen Räumen zu arbeiten; er, Notschek, werde schon Ordnung schaffen, werde sich schon zu installieren wissen. Er bitte nur (und hier wandte er sich an Maria) um einen Eimer mit Wasser und um Besen und Putzzeug.
Notscheks Liebenswürdigkeit ließ Einwände gar nicht zu, und Maria beeilte sich, ihm das Verlangte sogleich heranzuschaffen. Sie füllte einen großen Zinkeimer mit heißem Wasser, holte Besen, Schrubber und Lappen aus der Putzkammer und stellte alles am Fuß der Treppe ab. Gleich holte Notschek das Putzzeug dann auch ab, nachdem er mit dem Finger die Temperatur des Wassers geprüft hatte, als beabsichtige er, sich darin zu baden. Kurz darauf hörten wir über uns das scharrende Geräusch des Besens.
Notschek hat das Schmutzwasser, wie er uns später erzählt, dann einfach in die Regenrinne geschüttet – eine praktische Idee, die mir im ersten Moment aber doch eigentümlich vorkam, denn wie mag Notschek dabei von unten, im Blick eines vorbeigehenden Nachbarn, ausgesehen haben?
Mit den Putzarbeiten und Möbelrückereien hat Notschek seine Installation nun schon beendet, sie für abgeschlossen erklärt, und es kann also nur eine sehr oberflächliche Ordnung sein, die er hergestellt hat. Ich selbst hatte ja ein wenig darauf gehofft, die Räume bei dieser Gelegenheit notdürftig renovieren zu können, Notschek mit einer Renovierung zu beauftragen. Die Tapeten sind schadhaft und vergilbt, an einigen Stellen hängen sie von den Wänden, der Anstrich der Türen ist fehlerhaft, er blättert ab, und obwohl die Türen aus schlechtem Holz sind, hätte es wohl noch gelohnt, sie mit Farbe aufzufrischen. Die Decken sind rissig, die Fenster undicht, die Fußböden uneben – und so fort, die ganze Mansarde ist vernachlässigt, befindet sich am Rande des Verfalls, auch wenn dieses Wort vielleicht zu dramatisch klingt.
Ich habe Notschek meine Pläne also unterbreitet, habe ihm für die Durchführung einer Renovierung, einer, wie ich betonte, oberflächlichen Renovierung, sogar Geld angeboten. Notschek aber reagierte auf meine Vorschläge unwillig, sie schienen ihn sogar abzuschrecken. Gleich trat er zurück und begann einen umständlichen Vortrag. Er, Notschek, lebe ganz einfach, ganz ohne Ansprüche, die Wohnung, die Mansarde, so wie sie jetzt sei, könne er durchaus nutzen, eine Reinigung, eine gründliche Reinigung vorausgesetzt (er betonte immer wieder die Gründlichkeit der Reinigung, so, als könne diese eine Renovierung ersetzen). Darüber hinaus sei es auch nicht ohne Gefahr, einen Zustand, der schon so lange fortbestehe, zu ändern, zu zerstören; man wisse nicht, wie sich die Mauern, die Wände darstellen würden, wenn die Tapeten erst einmal abgenommen seien, möglicherweise seien sie bereits schadhaft. Eine Reparatur von Wänden oder Mauern aber, eine Maurerarbeit, erfordere einen Aufwand und eine Geschicklichkeit, die er, Notschek, sich nicht zutraue. Er sei in handwerklichen Dingen ganz ungeschickt, ganz unerfahren, er habe zwei linke Hände (hier streckte Notschek seine großen und geröteten Hände vor, als sollte ich ihre Zweckmäßigkeit begutachten); selbst Malerarbeiten, die doch viel Geschick erforderten, könne man ihm, Notschek, guten Gewissens nicht übergeben, mit ihnen sei er schon ganz überfordert. Wie nur den Pinsel halten, sagte Notschek, ohne dass die Farbe daraus fortlaufe, wie die Farbe auftragen, ohne dass sich sofort Schlieren bildeten; wie auch einen solchen Anstrich vorbereiten; schon die Vorbereitungen einer Malerarbeit erforderten ja viel Geduld, eine Geduld, die er, Notschek, nicht aufbringen könne und auch nicht aufbringen wolle. Am Ende sei es auch unsinnig, Räume herzurichten, aufzuputzen, deren Bewohner an sie gar keine Ansprüche stellten, die sich mit einer gesäuberten, einer gereinigten Wohnung schon befriedigt zeigten, fügte Notschek hinzu.
Ich hörte mir Notscheks Reden an, die er eindringlich, mit allerlei Gesten und Handbewegungen vortrug; bei dem Wort Maurerarbeiten schien er mit den Händen in der Luft etwas übereinanderzutürmen, und als die Rede auf die Malerarbeiten kam, bewegte er die rechte Hand nach oben und unten, wie es der Maler mit dem Pinsel tut. Obwohl Notschek mit diesen Vorführungen eine handwerkliche Unerfahrenheit darstellen wollte, hatten sie eine ganz andere Wirkung: Sie verrieten, ganz gegen seine Absicht, doch eine Geschicklichkeit. Außerdem hatte Notscheks Beschreibung der Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich der Renovierung entgegenstellten, ja gezeigt, dass er die Probleme einer Handwerksarbeit durchaus zu beurteilen, ja zu überblicken imstande war, und dies verriet, ganz gegen seine Absicht, eben doch eine Erfahrenheit. Notschek hatte die Renovierungsprobleme viel schwieriger dargestellt, als sie waren, er hatte sie aufgebläht – offenbar, um sich selbst aus dem Spiel zu bringen, sich von einer Renovierung fernzuhalten – und das ärgerte mich.
Ich entgegnete, er, Notschek, stelle sich die Renovierung viel zu umfangreich, zu aufwändig vor, an Maurerarbeiten hätte ich gar nicht gedacht; wenn sie denn erforderlich würden, müsste ich sie selbstverständlich Handwerkern übergeben. Er, Notschek, solle ja nur den Anstrich der Decken und Wände etwas auffrischen, notfalls ganz ohne Vorarbeit, und die alten Tapeten fortnehmen. Ob er dann neu tapeziere oder nicht, liege in seinem Ermessen. Und ich nannte ihm den Preis, den nicht schlechten Preis, den ich für die Mansardenrenovierung zu zahlen bereit wäre.
Notschek überhörte mein Angebot, als hätte ich es gar nicht ausgesprochen. Dies seien offenbar halbe Pläne, die ich hier bewege, entgegnete er, und aus solchen wachse selten etwas Gutes. Eine Renovierung, wenn man sie denn schon durchführe, müsse man aber als Ganzheit auffassen, müsse sie in einen Rahmen stellen, und da gelte es, sich über Bedingungen und Voraussetzungen klar zu werden, ein regelrechtes Konzept zu erarbeiten. Und Notschek begann, einen Renovierungsplan zu entwickeln, der zunächst die Mansarde, dann den Speicher, dann das darunter liegende Geschoss und schließlich das gesamte Haus mit all seinen Stockwerken einbegriff; schließlich begann er sogar über den Garten zu sprechen (die Freianlagen, wie er sich ausdrückte), darüber, wie man sie verändern und den Fruchtertrag des Grundstückes systematisch steigern könnte.
Ich hörte dies alles geduldig an, die ganze Zeit über aber dachte ich: Notschek will sich nur drücken, Notschek will einfach nicht renovieren, und dieser Gedanke ärgerte mich immer weiter – so, als habe Notschek mit seiner Weigerung gegen eine Verabredung verstoßen. Das war aber in Wirklichkeit nicht der Fall, ich hatte Notschek die Mansarde ganz ohne Bedingungen angeboten, und diese Freigebigkeit, die sich nun natürlich nicht mehr zurücknehmen, nicht mehr nachträglich an Bedingungen knüpfen ließ, ärgerte mich.
Notschek zog also ein, ohne dass es zu einer Renovierung gekommen wäre, in die alten, aber gründlich gesäuberten Räume zog er ein, installierte sich. Kaum war ich noch dazu gekommen, mit ihm die wichtigsten Fragen, die Frage der Toilettenbenutzung und der Mitbenutzung der Küche, zu besprechen. Die Mansarde hat ja keine Kochstelle und nicht einmal einen Abort, also wollte ich Notschek die Mitbenutzung der Küche und des Abortes im Erdgeschoss anbieten. Aber Notschek hatte die Mitbenutzung längst vorausgesetzt und wunderte sich über meine, wie er sagte, Umständlichkeiten. Natürlich wollte ich Notschek die Mitbenutzung nicht vorenthalten, Notschek ist als Bewohner der Mansarde auf sie angewiesen, aber ich wunderte mich doch darüber, dass er hier nicht als Gast, sondern gleichsam schon als eingesessener Mitbewohner auftrat, dessen Ansprüche gewohnheitsmäßig feststehen. Inzwischen dehnt Notschek den Begriff der Mitbenutzung übrigens recht weit aus: Er sitzt beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendbrot an unserem Tisch, kommt zu jeder Tageszeit herunter, belegt im Wohnzimmer meinen Leibsessel mit Beschlag, treibt sich in der Bibliothek herum, nimmt aus den Regalen Bücher fort, ohne mich zu fragen, und steht stundenlang neben Maria in der Küche. Selbst im Schrankzimmer bei den Erbschränken habe ich ihn schon angetroffen.
Notschek rechtfertigt diese Aufenthalte nicht, sie sind für ihn eine Selbstverständlichkeit, und wenn ich sie verhindern wollte, hätte ich Notschek viel früher zurechtweisen müssen; nun kann ich ihm nicht mehr vorenthalten, was ich ihm schon lange Zeit gewährt habe.
Notschek für seinen Teil achtet darauf, die Mansarde immer sorgfältig hinter sich abzuschließen, wenn er aus dem Haus geht, und da wir aus irgendeiner Nachlässigkeit heraus keinen Zweitschlüssel besitzen, bleibt im Dunkeln, was Notschek dort oben treibt, wie viel Unordnung er schon angehäuft hat und ob die Mansarde bereits überhäuft ist.
Gestern wollte ich mir mit Werkzeug Zutritt verschaffen; Notschek war am frühen Morgen mit Tomek und einem anderen Mann, einem Kerl mit Hühnergesicht und ausgeblichenem Anzug, zu Besprechungen in den „Raben“ fortgegangen; die Gelegenheit schien also günstig, die Mansarde endlich einmal in Augenschein zu nehmen. Was soll man sagen, es sind schließlich unsere Räume, die Notschek bewohnt oder verwohnt. Ist er da, versteht er es immer, uns unter irgendeinem Vorwand den Zutritt zu verwehren: Einmal ist die Mansarde zu sehr in Unordnung, ein anderes Mal steckt Notschek über beide Ohren in Arbeit und kann keine Zeit erübrigen; dann wieder hat er wichtige Papiere auf dem Tisch, die er uns nicht zeigen kann oder darf. Wir haben also längst keinen Überblick mehr, ob Notschek die Mansarde in Ordnung hält, wie viel Unordnung dort oben schon angesammelt ist und ob das Haus durch Überhäufung bereits vom Einsturz bedroht ist.
Maria und ich, wir schlichen also in unserem eigenen Hause die Treppe hinauf, als könne der abwesende Notschek uns hören, und Maria stocherte zehn Minuten lang mit einer ausgebogenen Haarnadel im Türschloss herum – natürlich ohne dass es sich öffnen ließ. Ich spähte ins Schlüsselloch, aber konnte nur zwei geöffnete Koffer erkennen, die irgendwelche von Notscheks Lumpen enthielten, und davor die erwarteten Stapel von Post und Papier. Die Tür jedoch ließ sich nicht öffnen, es klickte und rasselte nur im Schloss. Schließlich probierte auch ich es mit Marias Haarnadel, führte den Draht ins Schlüsselloch und versuchte, die Mechanik auszulösen, aber es gelang mir nicht. Endlich, als ich gerade aufgeben wollte, die Nadel schon herauszuziehen begann, gab es plötzlich ein Klicken, und die Tür sprang auf.
Ein muffiger Geruch nach altem Papier, nach Büchern und Staub schlug uns entgegen als beträten wir ein selten besuchtes Archiv. Es war dunkel; nur undeutlich erkannte ich, dass sich in dem hakenförmigen Flur auf beiden Seiten Stapel von Ordnern und gebündelte Zeitungen türmten. Also doch, dachte ich, der Flur ist also bereits vollgestellt, wenn auch noch nicht ganz überhäuft. Maria machte Licht, eine Glühbirne glomm auf und tauchte den Raum in gelbliches Licht. Ich öffnete die Tür zur linken Kammer, die mit ihrem Gaupenfenster auf die Straße hinausblickt. Wir fanden den Raum wenig verändert: Notschek hatte nur einige der herunterhängenden Tapeten wieder angeklebt und die Risse in der Decke notdürftig mit Gips überstrichen, sodass der Verfall auf eine seltsame Weise zurückgedrängt, gleichsam rückgängig gemacht schien – so, als habe Notschek die Zeit um ein paar Jahre zurückgedreht.
Das Zimmer war angefüllt mit Notscheks Möbeln. Unter dem Fenster stand, den Raum beherrschend, Notscheks riesiger Schreibtisch, und auf seiner Platte stapelten sich Ordner, Faszikel und Zeitungen, die mit Briefbeschwerern zusammengehalten wurden. Ein Brieföffner mit messing-farbener Klinge, ein Schreibtisch-Necessaire aus schwarz geädertem Marmor mit Tintenfass, Petschaft und Löschpapier und ein Aschenbecher aus orangefarbenem Kristall verbreiteten eine etwas muffige Feierlichkeit wie in einem Herrenzimmer, aber dieser Eindruck wurde durch die Unordnung wieder aufgehoben: Da standen mehrere halbgefüllte Kaffeetassen, ein Teller mit Kuchenkrümeln und eine fast geleerte Saftflasche. Die Wände der Kammer hatte Notschek mit Regalen bestückt, und auf ihren Borden reihten sich Bücher und Ordner mit Beschriftungen; ich las: Zeitungsartikel K-P, Korrespondenz, Notizen, Exzerpte O-S. Auch der Boden war mit Papierstapeln und Ordnern vollgestellt, nur schmale Gänge zum Schreibtisch und zur Tür hatte Notschek freigelassen, und diese Anordnung erweckte den Eindruck, als sei die Einrichtung dieses Büros oder Arbeitszimmers noch nicht ganz abgeschlossen oder als würde es gerade wieder aufgelöst.
Ich ging zum Fenster, um zu lüften und die Aussicht zu prüfen – ich hatte die Mansarde längere Zeit nicht mehr betreten, und von dort oben kann man recht weitläufig die Straßen der Umgebung überblicken. Ich sah also hinaus, über die Nachbarhäuser hinweg bis zur nächsten Straßenecke, sogar die nördliche Seite des Biberplatzes mit den Geschäften konnte ich erkennen.
Plötzlich entdeckte ich dort unten aber Notschek, Notschek, der von der Besprechung im „Raben“ zurückkehrte. Gleich trat ich hinter die Gardine, als habe Notschek mich bei einer Heimlichkeit ertappt. Ich rief Maria, und schnell verließen wir die Mansarde. Es gelang uns noch, die Tür von außen zu verschließen, dann stolperten wir nach unten. Ich steuerte ins Wohnzimmer, warf mich in meinen Leibsessel und zog mir ein Zeitungsblatt heran; Maria war in die Küche geeilt.
Natürlich hätte Notschek uns in der Mansarde ruhig antreffen können, als Wirtsleute müssen wir nach dem Rechten sehen, dachte ich, aber trotzdem hätte sich eine Peinlichkeit eingestellt, die nur schwer überbrückbar gewesen wäre, und mit dem schnellen Fortgang aus der Mansarde haben wir uns und Notschek nun diese Peinlichkeit erspart.
Einige Minuten später hörte ich Notschek die Haustür aufschließen. Er warf seine Schuhe unter sich, legte den Mantel ab und ging offenbar nach oben, ohne bei mir hereingeschaut zu haben. Kurz darauf hörte ich, wie er in der Mansarde herumstapfte.
Notschek hat sich also installiert, er hat sich ausgebreitet, dachte ich, noch ist die Mansarde nicht völlig überhäuft, obwohl Notschek natürlich nahe daran ist, sie zu überhäufen, sie zum Einsturz zu bringen. Seine vielen Papiere sind übrigens unter anderem eine schwere Brandgefahr, die ich keineswegs hinnehmen kann, die uns bedroht; ich muss Notschek auf diese von ihm selbst hervorgerufene Gefahr bei erster Gelegenheit ansprechen, ihn zur Rede stellen. Schließlich ist Notschek nur Gast bei uns, er wohnt hier nur vorübergehend, wir gewähren ihm Unterschlupf. Dann fiel mir aber ein, dass ich Notschek nicht auf die Mansarde ansprechen konnte, denn dann hätte ich zugeben müssen, sie in seiner Abwesenheit betreten zu haben, und hier war wieder die Peinlichkeit zu gewärtigen. Notschek soll nur so weitermachen, dachte ich, bald wird er ohnehin alles überhäuft haben, dann werde ich ihn auf jeden Fall fortschicken müssen, dann wird dieses Fortschicken einen Anlass haben, der unangreifbar ist. Ich sah Notschek schon ausziehen, fortgehen, die Mansarde räumen, und bei dieser Vorstellung beruhigte ich mich ein wenig. Dann dachte ich aber darüber nach, welche Winkelexistenz Notschek dort oben in der Mansarde führte, wie sehr am Rande, wie geradezu randständig Notschek dort oben existierte. Notschek ist ja ohne Halt, dachte ich, die Existenz, die er in der Mansarde führt, ist ja eine haltlose, die niemand ernst nehmen kann. Mit allen Mitteln versucht Notschek, seine haltlose Winkelexistenz als etwas Bedeutendes hinzustellen, dachte ich, dabei ist sein Unterschlupf ja ein randständiger.
Übrigens hat Notschek unser Eindringen in die Mansarde auf irgendeine Weise bemerkt. Noch am selben Abend kam er nämlich herunter und beschwerte sich über die Unsicherheit, der seine Schriftstücke in diesem Hause ausgesetzt seien. Notschek stellte sich vor meinen Leibsessel, einen Stapel von Blättern unter dem Arm und in der Hand einen Brieföffner aus Messing, den er hin- und herbewegte wie einen Dolch. Diese Blätter hier, erklärte Notschek mit der bei solchen Gelegenheiten immer angenommenen Förmlichkeit, seien vertraulich; er könne es nicht verantworten, Fremden Einblicke zu gestatten. Wir als Wirtsleute hätten Sorge dafür zu tragen, dass die Mansarde während seiner Abwesenheit verschlossen bliebe, dass sie durch Aufsicht geschützt würde, erklärte Notschek, drehte sich um und stieg, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Mansarde hinauf.
Ich komme heute Morgen, früher als sonst, an dem kleinen Platz vorbei, der direkt neben der Handelsschule ist, ein dreieckiger, von wenigen Bäumen umstandener Platz – da sehe ich an der Ecke gegenüber Notschek. Er scheint dort auf etwas zu warten; er steht, Arme und Beine zusammengenommen, wie, um eine Kälte von sich abzuhalten – und es ist doch ein warmer Herbsttag. Dabei blickt er um sich, indem er immer wieder wie in Gedanken den Kopf kurz anhebt, einmal mit einem Augenschweifen um sich herum schaut und dann wieder zu Boden blickt; neben ihm steht eine große Tasche aus schwarzem Leder. Notschek sieht mich nicht, auch sein Augenschweifen entdeckt mich nicht, und ich bleibe noch zwei Minuten stehen, halb hinter dem Baum versteckt, denn es ist doch merkwürdig, dass Notschek so früh schon unterwegs ist.
Da kommt um die Ecke ein Mann, späht auf die gleiche Weise umher, erkennt Notschek und geht auf ihn zu. Die Kleidung des Mannes ist merkwürdig genug: Er trägt einen Mantel aus großkariertem, rotbräunlichem Stoff, weite, fast überlange hellgraue Hosen, und in seinem kompliziert ausgestülpten Kragen ist eine kleine Fliege aus bläulichem Samt zu sehen. Seine linke Hand umfasst ein Aktenköfferchen, die rechte begrüßt Notschek umständlich; beide sind, selbst aus dieser Entfernung ist es zu sehen, in aufgeräumtester Stimmung, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, prusten und schnauben wie zwei Schuljungen.
Der Mann im karierten Mantel deutet auf seinen Aktenkoffer, hebt ihn an, als wolle er sein Gewicht vorführen. Notschek ist ganz bei der Sache, er nimmt den Koffer ebenfalls in die Hand und wiegt ihn prüfend, als enthalte er ein Gewicht, das seinen Arm gleich zu Boden stürzen lässt. Dann zeigt er aber auf seine eigene Tasche, beklopft sie aufmerksam und gibt sie dem anderen, der an ihr die gleiche Prozedur des Abwiegens vollzieht. Plötzlich wenden sich beide ab und streben dem Ausgang des Platzes zu. Es ist aber zu sehen, dass sie ihre Taschen getauscht haben, dass Notschek also nun das Aktenköfferchen und der andere Notscheks schwarze Tasche trägt. Sie gehen die Schwalben- allee hinauf, dann biegen sie in die Johann-Krüger-Straße ein (immer in einer gewissen Eile, einer Eile, die nicht überstürzt sein will), und schon sehe ich sie auf die Vorstadt zusteuern.
Notscheks Zusammenkunft mit diesem Fremden kann ich nicht gutheißen. Notscheks Kontakte sind bereits jetzt unüberschaubar geworden: Täglich erhält er Briefe von den seltsamsten Adressen, vorgestern ist sogar die Depesche eines Diplomatischen Dienstes darunter gewesen – ein Brief, der seinen Absender an einer unauffälligen Stelle zur Schau trug. Ich will gar nicht wissen, wie viel von diesen Briefsendungen ernst zu nehmen ist, welche Post Notschek von amtlichen Stellen und welche er von windigen Freunden erhält. Notschek verwaltet seine Post, wie er erklärt hat, übrigens in Aktenbündeln, aber ohne eine gebräuchliche Ordnung – er legt sie ab, das ist das Wort, diese Allerweltsbezeichnung trifft die Art und Weise, in der Notschek seine Post ordnet: Er stapelt und schichtet sie zu Hügeln, er schiebt und rückt alles übereinander, und schon muss ich um die schwachen Dielen der Mansarde fürchten, denn dort ist alles gewiss längst überhäuft.
Ob Notschek seine Post überhaupt beantwortet, kann ich nicht sagen. Zwar nimmt er morgens immer Bündel mit adressierten Kuverts mit sich, Briefschaften, wie er sagt, aber diese Kuverts sind stets unfrankiert, und woher soll Notschek das Vermögen nehmen, diese Unmenge an Post zu frankieren?
Dazu kommen diese unmäßigen und ständigen Kontakte mit irgendwelchen Fremden. Früher ist es nur Tomek gewesen, der Notschek aufgesucht hat. Tomek ist ein unanstrengender oder doch ruhiger Geselle, der mich oder Maria nie behelligt hat: Er kam morgens an, in seiner Felljacke, mit dem ein wenig breiten, unbeweglichen Gesicht, eine Hand zum Gruß gehoben und das dunkle Haar ungeschickt gescheitelt. Gleich ging er dann mit Notschek zusammen in den „Raben“, und am späten Abend, wenn er mit ihm zurückkam, verabschiedete er sich umständlich – so, als käme er nicht am nächsten Morgen, mit der Zeitung unter dem Arm, gleich wieder vorbei.
Dies alles ist anders geworden. Tomek erscheint nur noch unregelmäßig, Notschek hat nicht mehr Zeit für ihn; nun sind es fremde Besucher, die Notschek und damit auch uns Tag und Nacht heimsuchen, die an der Klingel ziehen, an der Haustür klopfen und nachts durch die Flure schleichen, an unserer Schlafzimmertür vorbei die Mansarde hinauf. Gestern Nacht klopfte um halb drei eine untersetzte Gestalt mit einem Hühnergesicht an der Pforte, ein Kerl in einem grünlich zerschlissenen Sommeranzug; wie eine Warnung stand sein rötliches Haar im Rahmen der Tür. Ich war bereits entschlossen, diesem Besucher unter allen Umständen die Tür zu weisen, da kam aber plötzlich hinter mir, wie aus einer Geheimversenkung, Notschek hervor, wies mich mit scharfen und zugleich heimlich bittenden Blicken zurecht und wandte sich dem Gast mit einer besonderen, fast höfisch erscheinenden Aufmerksamkeit zu. Notschek verneigte sich, die Hände am Körper, und sagte eine ausländisch klingende Grußformel auf. Sofort wiederholte der Kerl die Formel, verneigte sich ebenfalls, und trat dann, strahlenden Gesichts, als sei er ein längst erwarteter Gast, an mir vorbei ins Haus. Kurz darauf waren beide in die Mansarde hinaufgegangen, und zurück blieb nur ein eigentümlich stechender Geruch, den ich zunächst nicht einordnen konnte, bis ich begriff, dass der Besucher seine Taschen offenbar bis oben mit Mottenkugeln gefüllt hatte.
Und dieser Kerl ist nur einer der vielen unangemeldeten Gäste, die uns jetzt unablässig, bevorzugt nachts, heimsuchen. Manchmal sind es seriös gekleidete Herren im Geschäftsanzug, die sich mit einem lauten und anmaßenden „Guten Tag!“ vorstellen, manchmal parfümierte Schwindler mit gebranntem Haar und feinen Schuhen, die tänzelnd und unbekümmert eintreten, meist aber heruntergekommene, armselige Gestalten, die zaghaft anklopfen, leise die Grußformel vortragen, die als eine Art Geheimzeichen zu gelten scheint (es ist ein Wort mit zischenden Konsonanten und einer wie fragend angehobenen Schlussbetonung), und die sogleich von dem immer zuvorkommenden Notschek begrüßt werden, bevor er sie mit sich auf die Mansarde nimmt.
Wir hören dann, wie Notschek mit seinen Besuchern redet oder verhandelt, denn die Wände sind dünn und durchlässig. Trotzdem begreifen wir fast nichts von dem, was da gesprochen wird; das geht dann in einem Murmeln und Räuspern stundenlang über unsere Köpfe hinweg. Manchmal tritt Notscheks heisere und übermüdete Stimme hervor, wenn er einzelne Wörter betont wie „Zusammenschluss“ oder „Bündnis“ oder „Operation“. Es sind also offenbar politische Gespräche oder Verhandlungen, die Notschek führt; Notschek konspiriert, das ist der (natürlich vollkommen absurde) Eindruck, den man gewinnen kann – oder gewinnen soll, wenn man ihm zuhört. Denn wie viel, um Himmels willen, soll man von all dem überhaupt ernst nehmen? Tag und Nacht stellen Maria und ich uns ja die Frage, wie viel von Notscheks Aktivitäten, von seiner Emsigkeit, seinen Kontakten zur ausländischen Administration reine Aufschneiderei, eine aus Eitelkeit und Geltungsdrang inszenierte Komödie ist, die Notschek uns jetzt seit Monaten vorzuspielen versucht, und wie viel davon sich auf ein wirkliches Ziel richtet, auf eine nachvollziehbare Absicht gegründet ist. Dient das Theater mit den abgerissenen Gestalten, den ausländischen Briefen und den konspirativen Treffen nur dazu, eine andere, geheime Aktivität zu verbergen? Oder ist Notschek am Ende doch so etwas wie ein Geistesgestörter, jemand, der die Grenzen zwischen seinen Vorstellungen und der Realität nicht mehr klar zu ziehen in der Lage ist?
Befragt man Notschek selbst, bedrängt man ihn (was wir oft genug tun), dann gibt er verschwommen Auskunft: Er pflege Kontakt zu politischen Freunden, sogenannten Dissidenten; die politische Lage spitze sich zu, es gelte jetzt, Vorbereitungen zu treffen; er, Notschek, stehe gottlob nicht allein, nicht auf verlorenem Posten, er erwarte täglich Nachricht – und so fort, das Weitere ist leicht vorstellbar. Dabei tritt Notschek auf seinen Füßen hin und her, weil er mit einem Stapel von Briefen, von Korrespondenz, schon wieder zur Post will. Bringt Notschek diese Kuverts aber überhaupt zur Post, und sind es wirkliche Briefe, die er schreibt und erhält? Oft kann man fast den