Jared Diamond
Warum macht Sex Spaß?
Die Evolution der menschlichen Sexualität
Sachbuch
Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
FISCHER E-Books
Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Professor für Physiologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. In den letzten 25 Jahren hat er rund ein Dutzend Expeditionen in entlegene Gebiete von Neuguinea geleitet. Für seine Arbeit auf den Gebieten der Anthropologie und Genetik ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Nach »Der dritte Schimpanse« und »Arm und Reich« hat er zuletzt bei S. Fischer den Bestseller »Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen« veröffentlicht.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel
Why is Sex Fun? Evolution of Human Sexuality
im Verlag Basic Books, A Member of the Perseus Books Group
© 1997 Jared Diamond
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400092-3
Für Marie
meine beste Freundin,
die Mutter unserer Kinder, meine
Partnerin und Frau
Die Sexualität ist ein fesselndes Thema, ist sie doch die Quelle unserer größten Freuden. Aber oft wird sie auch zu einer Ursache des Unglücks, und vieles davon erwächst aus den Konflikten zwischen den in der Evolution entstandenen Rollen von Mann und Frau.
Dieses Buch ist ein spekulativer Bericht über die Entwicklung der heutigen menschlichen Sexualität. Meist machen wir uns nicht klar, wie ungewöhnlich die sexuellen Praktiken der Menschen im Vergleich zu allen anderen Lebewesen sind. Selbst das Sexualleben unserer unmittelbaren affenähnlichen Vorfahren, so die begründete Vermutung der Fachleute, sah ganz anders aus als unser eigenes. Auf unsere Vorfahren müssen gezielte Evolutionskräfte eingewirkt und diese Abweichungen verursacht haben. Was waren das für Kräfte, und was ist eigentlich so seltsam an uns?
Zu begreifen, wie unsere Sexualität sich entwickelt hat, ist nicht nur für sich gesehen faszinierend, sondern es hilft uns auch, unsere anderen typisch menschlichen Eigenschaften zu verstehen: Kultur, Sprache, Eltern-Kind-Beziehung und die Beherrschung komplizierter Werkzeuge. Die Paläontologen führen die Evolution dieser Errungenschaften in der Regel auf die Entwicklung des großen Gehirns und des aufrechten Ganges zurück, aber ich werde darlegen, dass unsere bizarre Sexualität für ihre Entstehung ebenso unentbehrlich war.
Zu den ungewöhnlichen Aspekten der menschlichen Sexualität, auf die ich näher eingehen werde, gehören die Wechseljahre der Frau, die Rolle des Mannes in der menschlichen Gesellschaft, der private Charakter der Sexualität, Sexualität zum Zweck des Vergnügens anstatt der Fortpflanzung und die Vergrößerung der weiblichen Brust schon vor der Stillzeit. Laien halten diese Merkmale meist für so selbstverständlich, dass sie scheinbar keiner Erklärung bedürfen. Bei näherem Hinsehen erweist es sich jedoch als überraschend schwierig, sie zu begründen. Auch die Funktion des Penis und die Gründe, warum nur Frauen und nicht Männer die Babys stillen, werde ich erörtern. Die Antwort auf diese beiden Fragen scheint auf der Hand zu liegen, aber selbst hinter ihnen lauern ungelöste Probleme.
Aus diesem Buch werden Sie keine neuen Stellungen für mehr Spaß beim Geschlechtsverkehr lernen, und es hilft auch nicht, die Beschwerden während der Menstruation oder der Wechseljahre zu lindern. Es befreit Sie nicht von Ihrem Kummer, wenn Sie entdecken, dass Ihr Partner eine Affäre hat, das gemeinsame Kind links liegen lässt oder Sie zugunsten des Kindes vernachlässigt. Aber es hilft Ihnen vielleicht zu verstehen, warum Ihr Körper sich so und nicht anders verhält. Und vielleicht begreifen Sie auch, warum Sie manchmal zu selbstzerstörerischem Sexualverhalten neigen, und dann kann diese Einsicht dazu beitragen, dass Sie Distanz zu Ihren Instinkten gewinnen und intelligenter mit ihnen umgehen.
Einige Kapitel sind in anderer Form als Artikel in den Zeitschriften Discover und Natural History erschienen. Es ist mir eine Freude, vielen Wissenschaftskollegen für Gespräche und Kommentare zu danken; Roger Short und Nancy Wayne danke ich für die kritische Durchsicht des gesamten Manuskripts, Ellen Modecki für die Abbildungen und John Brockman für den Vorschlag, das Buch zu schreiben.
Angenommen, Ihr Hund hätte ein Gehirn wie Sie und könnte sprechen. Wenn Sie ihn dann fragen würden, was er von Ihrem Sexualleben hält, wären Sie von der Antwort wahrscheinlich überrascht. Sie würde sich etwa so anhören:
Diese widerlichen Menschen, die machen Sex an jedem Tag des Monats! Barbara hat sogar Lust darauf, wenn sie genau weiß, dass sie nicht fruchtbar ist – zum Beispiel kurz nach der Periode. John ist ständig scharf auf Sex, und ihm ist es völlig gleichgültig, ob seine Wünsche zu einem Kind führen können oder nicht. Aber der Gipfel ist: Barbara und John haben sogar miteinander geschlafen, während sie schwanger war! Dieselbe Ungeheuerlichkeit erlebe ich, wenn Johns Eltern zu Besuch kommen; dann kann ich auch bei denen hören, wie sie es treiben, obwohl Johns Mutter schon vor Jahren diese Sache durchgemacht hat, die sie Wechseljahre nennen. Jetzt kann sie keine Kinder mehr bekommen, aber Sex will sie immer noch, und Johns Vater tut ihr den Gefallen. Was für eine Kräftevergeudung! Und das Sonderbarste von allem: Barbara und John, aber auch Johns Eltern machen die Schlafzimmertür zu und treiben es im Geheimen, nicht vor ihren Freunden wie jeder anständige Hund!
Um zu verstehen, wie Ihr Hund zu dieser Ansicht kommt, müssen Sie sich von Ihrer menschlichen Perspektive freimachen, die bestimmt, was normales Sexualverhalten ausmacht. Wir halten es heute zunehmend für engstirnig und entsetzlich vorurteilsbeladen, wenn wir diejenigen verunglimpfen, die nicht unseren eigenen Maßstäben entsprechen. Jede Art einer solchen Engstirnigkeit ist mit einem verpönten »Ismus« verbunden – zum Beispiel Rassismus, Sexismus, Eurozentrismus oder Phallozentrismus. Zu dieser Liste der modernen »Ismus-Sünden« fügen Tierschützer heute auch die Sünde des »Spezies-ismuse« hinzu. Besonders verschroben, speziesistisch und menschenfixiert sind unsere Maßstäbe für das Sexualverhalten, denn die menschliche Sexualität ist, gemessen an den dreißig Millionen anderen Tierarten auf der Erde, höchst anormal. Ebenso anormal ist es auch im Vergleich zu den Millionen Pflanzen-, Pilz- und Mikroorganismenarten, aber diese erweiterte Sicht möchte ich außer Acht lassen, denn ich habe meinen eigenen Zoozentrismus noch nicht vollständig verarbeitet. Das vorliegende Buch beschränkt sich auf Erkenntnisse über unsere Sexualität, die wir gewinnen können, wenn wir unsere Perspektive durch die Einbeziehung anderer Tierarten erweitern.
Befassen wir uns zunächst einmal mit der Frage, was normale Sexualität nach den Maßstäben der fast 4300 Säugetierarten auf der Erde ist, von denen wir Menschen nur eine sind. Die meisten Säugetiere leben nicht in Kleinfamilien, in denen ein Mann und eine Frau als Paar verbunden sind und gemeinsam für die Nachkommen sorgen. Stattdessen sind sowohl die Männchen als auch die Weibchen vieler Arten, zumindest während der Brutzeit, Einzelgänger, die sich nur zum Kopulieren begegnen. Die Männchen bieten also keine väterliche Fürsorge; der einzige Beitrag, den sie für die Nachkommen und ihre vorübergehende Partnerin leisten, ist der Samen.
Selbst sehr soziale Säugetiere, wie beispielsweise Löwen, Wölfe, Schimpansen und viele Huftiere, bilden innerhalb ihrer Herde, ihres Rudels oder ihrer Gruppe keine Paare von Männchen und Weibchen. In einer solchen Herde/Gruppe usw. gibt es keine Anzeichen dafür, dass ein Männchen bestimmte Jungtiere als seine eigenen Nachkommen erkennt und sich ihnen auf Kosten anderer Jungen in der Gruppe besonders widmet. Tatsächlich konnten Wissenschaftler, die sich mit Löwen, Wölfen und Schimpansen beschäftigen, erst in den letzten Jahren durch DNS-Analysen herausfinden, welches Männchen welche Jungen gezeugt hat. Aber wie alle Regeln, so hat auch diese ihre Ausnahmen. Eine Minderheit erwachsener Säugetiermännchen kümmert sich wirklich um die eigenen Nachkommen, zum Beispiel die Zebramännchen mit ihren vielen Partnerinnen, Gorillas, die sich einen Harem halten, männliche Gibbons, die monogam bei einem Weibchen bleiben, und Tamarins, gesellig lebende Kleinaffen, bei denen sich ein erwachsenes Weibchen einen Harem von zwei Männchen hält.
Sexualität findet bei sozialen Säugetieren meist in der Öffentlichkeit statt, unter den Blicken anderer Gruppenmitglieder. Weibliche Berberaffen zum Beispiel kopulieren während ihrer Brunstzeit mit allen Männchen des Rudels und machen keine Anstalten, diesen Vorgang vor den jeweils anderen Männchen geheimzuhalten. Die am besten belegte Ausnahme von dem Prinzip der öffentlichen Sexualität findet man bei Schimpansengruppen: Hier zieht sich ein erwachsenes Männchen mit dem brünstigen Weibchen einige Tage lang zurück – menschliche Beobachter sprechen von einer »eheähnlichen Gemeinschaft«. Aber dasselbe Schimpansenweibchen, das sich mit einem Partner zum Sex zurückzieht, treibt es unter Umständen während der gleichen Brunstperiode auch öffentlich mit anderen erwachsenen Männchen.
Die Weibchen der meisten Säugetierarten machen mit unterschiedlichen Mitteln ausdrücklich auf die kurze Brunstphase aufmerksam, in der ihr Eisprung stattfindet und sie befruchtet werden können. Diese Ankündigung kann optisch erfolgen (zum Beispiel indem sich der Bereich um die Vagina rot färbt), aber auch durch Geruch (indem ein bestimmter Duftstoff abgegeben wird) oder durch Verhalten (beispielsweise indem das Weibchen sich vor einem Männchen hinkauert und die Vagina zur Schau stellt). Die Weibchen werben nur während der fruchtbaren Tage um Sexualität. In der übrigen Zeit sind sie für die Männchen weniger oder gar nicht attraktiv, weil sie nicht die erforderlichen Erregungssignale aussenden; Männchen, die dennoch während der unfruchtbaren Tage Annäherungsversuche machen, werden abgewiesen. Der Sex dient also ganz entschieden nicht dem Vergnügen und wird kaum einmal von seiner Befruchtungsfunktion getrennt. Auch diese Verallgemeinerung lässt Ausnahmen zu: Bei wenigen Arten, so bei Bonobos (Zwergschimpansen) und Delphinen, wird Sexualität deutlich von der Fortpflanzung getrennt.
Und schließlich sind die Wechseljahre als regelmäßig vorkommendes Phänomen bei den meisten wildlebenden Säugetieren nicht sicher nachgewiesen. »Wechseljahre« bedeutet dabei das völlige Verschwinden der Fruchtbarkeit im Laufe einer Zeitspanne, die viel kürzer ist als die vorangegangene Fortpflanzungsphase und auf die eine unfruchtbare Lebensphase von nennenswerter Länge folgt. Wildlebende Säugetiere sind entweder bis zu ihrem Tod fruchtbar, oder ihre Fruchtbarkeit nimmt mit fortschreitendem Alter ganz allmählich ab.
Stellen wir nun einmal der oben beschriebenen Sexualität von Säugetieren das menschliche Sexualverhalten gegenüber. Folgende Merkmale unseres Geschlechtslebens halten wir für selbstverständlich und völlig normal:
Die meisten Männer und Frauen in den meisten menschlichen Kulturkreisen gehen irgendwann eine langfristige Paarbeziehung (»Ehe«) ein, in der die Angehörigen dieses Kulturkreises einen Vertrag mit gegenseitigen Verpflichtungen sehen. Die Partner betreiben immer wieder Sex, und zwar vorwiegend oder ausschließlich miteinander.
Die Ehe ist nicht nur eine sexuelle Beziehung, sondern auch eine Partnerschaft zum gemeinsamen Großziehen der daraus entstehenden Kinder. Insbesondere übernehmen Mann und Frau gemeinsam die elterliche Fürsorge.
Obwohl ein Mann mit einer Frau ein Paar bildet – oder gelegentlich auch mit mehreren Frauen einen Harem –, leben Menschen nicht wie Gibbons in einem Territorium, das sie gegen andere Paare verteidigen, sondern sie sind Teil einer Gesellschaft, in der sie mit anderen Paaren kooperieren und Zugang zu einem gemeinsamen Territorium haben.
Sex unter Eheleuten findet in der Regel im Privatbereich statt; es ist ihnen nicht gleichgültig, ob andere Menschen anwesend sind.
Der Eisprung ist bei Menschen nicht offensichtlich, sondern versteckt, das heißt, die kurze fruchtbare Phase rund um den Eisprung ist für potentielle Sexualpartner und meist auch für die Frau selbst nur schwer zu erkennen. Die sexuelle Bereitschaft einer Frau geht über die fruchtbare Phase hinaus und erstreckt sich auf den ganzen oder fast den ganzen Menstruationszyklus. Deshalb findet Geschlechtsverkehr bei Menschen auch zu Zeiten statt, die sich nicht für die Befruchtung eignen. Oder anders gesagt: Sex dient bei Menschen vorwiegend dem Vergnügen und nicht der Befruchtung.
Alle Frauen, die älter als vierzig oder fünfzig Jahre sind, machen die Wechseljahre durch, und die Fruchtbarkeit kommt völlig zum Erliegen. Bei Männern findet meist nichts Entsprechendes statt: Einzelne Männer können zwar in jedem Alter Probleme mit der Fortpflanzungsfähigkeit haben, aber eine Häufung in bestimmten Altersgruppen oder ein totales Ende der Fruchtbarkeit gibt es nicht.
Mit den Normen gehen auch Normverletzungen einher: Wir bezeichnen etwas einfach deshalb als »Norm«, weil es häufiger vorkommt als das Gegenteil (die »Verletzung der Norm«). Das gilt für die Normen der menschlichen Sexualität ebenso wie für alle anderen. Beim Lesen der letzten beiden Seiten fallen einem natürlich sofort die Ausnahmen von den beschriebenen allgemeinen Regeln ein, aber als allgemeine Regeln gelten sie dennoch. So gibt es zum Beispiel auch in Kulturen, die durch Gesetz oder Gewohnheit die Monogamie vorsehen, viel vorund außereheliche Sexualität, und häufig ist sie nicht Teil langfristiger Beziehungen. Die Menschen erleben auch Liebesabenteuer, die nur eine Nacht dauern. Andererseits unterhalten sie über viele Jahre oder Jahrzehnte Beziehungen, während Tiger und Orang-Utans nur die kurzfristige Verbindung kennen. Die in den letzten fünfzig Jahren entwickelten genetischen Vaterschaftstests haben gezeigt, dass die Mehrzahl der amerikanischen, britischen und italienischen Babys tatsächlich vom Ehemann oder dem Lebensgefährten der Mutter gezeugt wurden.
Manch einer sträubt sich vielleicht dagegen, dass menschliche Kulturen als monogam bezeichnet werden; der Begriff »Harem«, den die Zoologen auf Zebras und Gorillas anwenden, ist eigentlich das arabische Wort für eine Einrichtung der Menschen. Viele Menschen praktizieren sequentielle Monogamie. Die Polygynie, langfristige, gleichzeitige Beziehungen eines Mannes mit mehreren Frauen, ist heute in manchen Ländern gestattet, und in einigen Kulturen kommt auch die Polyandrie vor: langfristige, gleichzeitige Beziehungen einer Frau mit mehreren Ehemännern. Vor der Entstehung staatlicher Einrichtungen war die Polygynie sogar in den meisten traditionellen menschlichen Kulturen anerkannt. Aber selbst in offiziell polygynen Gesellschaftsformen haben die meisten Männer jeweils nur eine Frau, und nur sehr wohlhabende Männer können es sich leisten, mehrere Frauen für sich zu gewinnen und zu ernähren. Die großen Harems, die einem bei dem Begriff Polygamie einfallen, zum Beispiel die der heutigen arabischen und indischen Herrscherhäuser, sind nur in einer Gesellschaft auf Staatsebene möglich, die in der menschlichen Evolution sehr spät entstand und wenigen Männern die Anhäufung großer Reichtümer ermöglichte. Die Verallgemeinerung ist also richtig: Die meisten Erwachsenen in den meisten menschlichen Gesellschaften sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt in einer langfristigen Paarbeziehung gebunden, die oft nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Praxis monogam ist.
Ein weiterer Anlass zum Widerspruch ist wahrscheinlich meine Behauptung, die Ehe der Menschen sei eine Partnerschaft zum gemeinsamen Großziehen der aus ihr hervorgehenden Babys. Die meisten Kinder erhalten von der Mutter mehr Zuwendung als vom Vater. In einigen modernen Gesellschaften stellen ledige Mütter einen beträchtlichen Anteil der erwachsenen Bevölkerung, aber in traditionellen Kulturen war es für unverheiratete Frauen viel schwieriger, Kinder mit Erfolg großzuziehen. Auch hier gilt die Verallgemeinerung nach wie vor: Die meisten Kinder erhalten vom Vater eine gewisse elterliche Fürsorge in Form von Erziehung, Schutz und der Versorgung mit Nahrung, Wohnung und Geld.
Alle diese Aspekte – langfristige Sexualbeziehungen, gemeinsame Elternschaft, Nähe zu den Sexualbeziehungen anderer, Sex im Privatbereich, versteckter Eisprung, erweiterte Bereitschaft der Frauen zum Sex, Sex als Vergnügen und die Wechseljahre der Frau – machen das aus, was wir als normale menschliche Sexualität bezeichnen. Wenn wir von den sexuellen Gewohnheiten der Elefantenrobben, Beutelmäuse oder Orang-Utans lesen, deren Leben so ganz anders aussieht als unseres, sind wir angeregt, amüsiert oder abgestoßen. Das Leben dieser Tiere erscheint uns seltsam, aber das erweist sich als speziesistische Interpretation. Nach den Maßstäben der 4300 anderen Säugetierarten auf der Erde und selbst nach den Maßstäben unserer engsten Verwandten, der Menschenaffen (Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans), sind wir die Seltsamen.
Aber ich bin noch schlimmer als zoozentrisch: Ich tappe in die noch engstirnigere Falle des Mammalozentrismus. Werden wir normaler, wenn wir nach den Maßstäben der Nichtsäugetiere gemessen werden: Tatsächlich findet man bei anderen Tiergruppen ein breiteres Spektrum an Sexual- und Sozialsystemen als bei den Säugetieren. Während die Jungen der meisten Säugetierarten nur von der Mutter, aber nicht vom Vater versorgt werden, gilt für manche Vogel-, Frosch- und Fischarten genau das Umgekehrte: Hier sorgt der Vater allein für seine Nachkommen. Bei manchen Arten von Tiefseefischen wiederum ist das Männchen nur ein parasitisches Anhängsel des Weibchens; und einige weibliche Spinnen und Insekten fressen den Partner unmittelbar nach der Kopulation auf. Während Menschen und die meisten anderen Säugetiere sich immer wieder paaren, praktizieren Lachse, Tintenfische und viele andere Tiere den großen Fortpflanzungsknall, in der Fachsprache Semelparität genannt: Sie pflanzen sich ein einziges Mal fort, und dann folgt der vorprogrammierte Tod. Das Paarungssystem mancher Vogel-, Frosch-, Fisch- und Insektenarten (und auch einiger Fledermäuse und Antilopen) hat Ähnlichkeit mit einer Single-Bar: an einer festgelegten Stelle, dem Balzplatz, halten sich viele Männchen auf und konkurrieren um die Aufmerksamkeit der hinzukommenden Weibchen, von denen sich nun jedes einen Partner sucht (wobei oft mehrere Weibchen dasselbe Männchen auswählen), mit ihm kopuliert und sich dann wieder davonmacht, um die so entstandenen Jungen ohne seine Hilfe aufzuziehen.
Außerhalb der Gruppe der Säugetiere kann man einige Tierarten anführen, deren Sexualverhalten unserem eigenen in bestimmter Hinsicht ähnelt. Die meisten europäischen und nordamerikanischen Vogelarten gehen Paarbindungen ein, die mindestens eine Paarungssaison lang erhalten bleiben, in einigen Fällen sogar das ganze Leben, und bei denen sich sowohl der Vater als auch die Mutter um die Jungen kümmern. Die meisten dieser Vogelarten unterscheiden sich aber insofern von uns, als jedes Paar sein eigenes Revier beansprucht. Die Paare der meisten Seevögel dagegen ähneln uns darin, dass ihre Paare dicht nebeneinander in Kolonien brüten. Alle diese Vogelarten zeigen aber im Gegensatz zu uns den Eisprung deutlich an; die sexuelle Bereitschaft der Weibchen und der Geschlechtsakt beschränken sich im Wesentlichen auf die fruchtbare Zeit rund um den Eisprung, der Sex dient nicht dem Vergnügen, und die wirtschaftliche Kooperation der Partner ist nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. In vielen der zuletzt genannten Aspekte ähneln uns dagegen die Bonobos oder Zwergschimpansen: Ihre Weibchen sind während mehrerer Wochen des Brunstzyklus zur Sexualität bereit, sie betreiben Sex vorwiegend zum Vergnügen, und zwischen vielen Angehörigen eines Rudels besteht ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Kooperation. Aber bei den Bonobos gibt es keine festen Paarbeziehungen, der Eisprung ist nicht versteckt, und die Väter erkennen und versorgen ihre Jungen nicht. Und bei praktisch allen Tierarten fehlen im Gegensatz zu uns die fest umrissenen weiblichen Wechseljahre.
Auch eine nichtmammalozentrische Sichtweise spricht also für die Interpretation unseres Hundes: Die Seltsamen sind wir. Wir wundern uns über das in unseren Augen sonderbare Verhalten der Pfauen oder der Beutelmäuse mit ihrem großen Fortpflanzungsknall, aber in Wirklichkeit liegen diese Geschöpfe eindeutig innerhalb der Bandbreite der Vielgestaltigkeit im Tierreich, und tatsächlich sind wir die sonderbarste Spezies von allen. Speziesistische Zoologen stellen Theorien darüber auf, warum der Hammerkopf aus der Gruppe der Flughunde sein Paarungssystem mit einem Balzplatz entwickelt hat, aber das Paarungssystem, das am lautesten nach einer Erklärung schreit, ist unser eigenes. Warum haben wir uns so anders entwickelt?
Noch drängender wird diese Frage, wenn wir uns mit unseren engsten Verwandten unter den Säugetieren vergleichen: mit den Menschenaffen (im Unterschied zu Gibbons und Kleinaffen). Am nächsten stehen uns die afrikanischen Schimpansen und Bonobos, von denen wir uns nur in etwa 1,6 Prozent unseres genetischen Materials (DNS) im Zellkern unterscheiden. Fast ebenso nah sind wir mit den Gorillas (2,3 Prozent Unterschied) und den südostasiatischen Orang-Utans (3,6 Prozent Unterschied) verwandt. Unsere Vorfahren sind »erst« vor etwa sieben Millionen Jahren von den Vorfahren der Schimpansen und Bonobos abgewichen; von den Vorfahren der Gorillas trennen uns neun und von denen der Orang-Utans vierzehn Millionen Jahre.
Verglichen mit der Lebensdauer eines einzelnen Menschen klingt das nach gewaltigen Zeiträumen, aber nach evolutionären Zeitmaßstäben sind es nur Augenblicke. Das Leben existiert auf der Erde seit mehr als drei Milliarden Jahren, und komplexe große Tiere mit einer harten Schale tauchten vor über einer halben Milliarde Jahren explosionsartig in großer Vielgestaltigkeit auf. In der relativ kurzen Zeit, in der sich unsere Ahnen und die Vorfahren der Menschenaffen getrennt entwickelt haben, haben wir uns nur in wenigen bedeutsamen Eigenschaften und in einem bescheidenen Ausmaß von unseren Verwandten entfernt, auch wenn einige dieser bescheidenen Unterschiede – vor allem der aufrechte Gang und das größere Gehirn – gewaltige Folgen für unser abweichendes Verhalten hatten. Zusammen mit Körperhaltung und Gehirngröße bildet die Sexualität die Dreiheit der entscheidenden Merkmale, in denen sich die Vorfahren von Menschenaffen und Menschen auseinanderentwickelten. Orang-Utans sind oft Einzelgänger: Männchen und Weibchen tun sich nur zum Kopulieren zusammen, und die Männchen zeigen keine väterliche Fürsorge; ein Gorillamännchen sammelt einen Harem von mehreren Weibchen um sich, paart sich aber mit jedem Einzelnen von ihnen nur im Abstand von mehreren Jahren, nämlich nachdem das Weibchen sein Jüngstes entwöhnt hat, sich wieder im Menstruationszyklus befindet und noch nicht wieder schwanger ist; Schimpansen und Bonobos schließlich leben in Rudeln ohne dauerhafte Paarbeziehungen und ohne eine besondere Bindung zwischen Vater und Nachkommen. Welche entscheidende Rolle unser großes Gehirn und der aufrechte Gang für unser sogenanntes Menschsein gespielt haben, liegt auf der Hand – es zeigt sich darin, dass wir uns einer Sprache bedienen, Bücher lesen, fernsehen, den größten Teil unserer Lebensmittel kaufen oder anbauen, alle Kontinente und Ozeane besiedeln, Angehörige unserer eigenen und anderer Spezies in Käfige sperren und die meisten anderen Tier- und Pflanzenarten ausrotten, während die Menschenaffen immer noch sprachlos im Urwald nach wilden Früchten suchen, kleine Gebiete in den Tropen der Alten Welt bewohnen, keine Tiere einsperren und keine andere Spezies in ihrer Existenz bedrohen. Welche Rolle spielte unsere sonderbare Sexualität beim Erwerb dieser Kennzeichen des Menschlichen?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen unserer sexuellen Andersartigkeit und unseren anderen Unterschieden zu den Menschenaffen? Zu diesen Unterschieden gehören neben dem aufrechten Gang und dem großen Gehirn (wahrscheinlich als deren Folge) die vergleichsweise geringe Behaarung, die Abhängigkeit von Werkzeugen, die Beherrschung des Feuers und die Entwicklung von Sprache, Kunst und Schrift. Wenn einer dieser Unterschiede die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass wir unsere sexuelle Andersartigkeit entwickeln konnten, sind die Zusammenhänge sicher nicht geklärt. So ist zum Beispiel nicht zu erkennen, warum der Verlust der Körperbehaarung den als Vergnügen dienenden Sex reizvoller machen sollte oder warum die Beherrschung des Feuers zu den Wechseljahren beitragen soll. Ich argumentiere deshalb genau umgekehrt: Sex als Vergnügen und Wechseljahre waren für die Beherrschung des Feuers sowie für die Entwicklung von Kunst, Sprache und Schrift ebenso wichtig wie der aufrechte Gang und das große Gehirn.
Der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Sexualität ist die Erkenntnis, dass es sich um ein evolutionsbiologisches Problem handelt. Als Darwin in seinem großen Werk Die Entstehung der Arten das Phänomen der biologischen Evolution erkannte, bezog er die meisten Belege aus der Anatomie. Er schloss daraus, dass die meisten Strukturen der Tiere und Pflanzen eine Evolution durchmachen, das heißt, sie neigen dazu, sich von Generation zu Generation zu verändern. Außerdem gelangte er zu der Erkenntnis, dass die natürliche Selektion die wichtigste Triebkraft des entwicklungsgeschichtlichen Wandels ist. Mit diesem Begriff meinte Darwin, dass Pflanzen und Tiere sich in ihrer anatomischen Anpassung unterscheiden, dass bestimmte Anpassungen ein Individuum in die Lage versetzen, mit größerem Erfolg zu überleben und sich fortzupflanzen als andere Individuen und dass diese besonderen Anpassungen deshalb in einer Population von Generation zu Generation häufiger werden. Später konnten die Biologen nachweisen, dass Darwins Überlegungen nicht nur auf die Anatomie, sondern auch auf Physiologie und Biochemie zutreffen: Auch mit seinen physiologischen und biochemischen Eigenschaften passt ein Tier oder eine Pflanze sich als Reaktion auf die Umweltbedingungen an eine bestimmte Lebensweise an.
In jüngerer Zeit haben die Evolutionsbiologen gezeigt, dass die Sozialsysteme der Tiere ebenfalls eine Evolution durchmachen und sich anpassen. Selbst unter engverwandten Tierarten sind manche unter Umständen Einzelgänger, andere leben in kleinen Gruppen, und wieder andere bilden große Verbände. Aber das Sozialverhalten wirkt sich auf Überleben und Fortpflanzung aus. Ein Beispiel: Je nachdem, ob die Nahrung für eine Art gehäuft an einer Stelle oder weit verstreut vorkommt, und je nach der Gefährdung durch natürliche Feinde kann entweder das Einzelgängerdasein oder das Leben in der Gruppe für Überleben und Fortpflanzung nützlicher sein.
Ähnliche Überlegungen gelten auch für die Sexualität. Wahrscheinlich sind manche sexuellen Eigenschaften für Überleben und Fortpflanzung vorteilhafter als andere, je nachdem, wie eine Spezies mit Nahrung versorgt ist, welchen Gefahren sie durch natürliche Feinde ausgesetzt ist und welche anderen biologischen Eigenschaften sie hat. Ich möchte an dieser Stelle nur ein Beispiel nennen, eine Verhaltensweise, die der Logik der Evolution auf den ersten Blick diametral zu widersprechen scheint: den sexuellen Kannibalismus. Bei manchen Arten der Spinnen und Gottesanbeterinnen wird das Männchen während der Kopulation oder unmittelbar danach regelmäßig vom Weibchen aufgefressen. Dieser Kannibalismus ereignet sich sicher mit Zustimmung des Männchens, denn die Männchen solcher Arten nähern sich dem Weibchen, machen keinerlei Fluchtversuche und beugen manchmal sogar Kopf und Brust zum Mund des Weibchens, sodass dieses den Partner schon zum größten Teil verspeisen kann, während der Hinterleib noch übrigbleibt und den Akt der Samenablagerung vollendet.
Wenn man sich die natürliche Selektion als das Streben nach bestmöglichem Überleben vorstellt, scheint ein solcher kannibalistischer Selbstmord keinen Sinn zu ergeben. Aber in Wirklichkeit strebt die natürliche Selektion nach bestmöglicher Fortpflanzung der Gene, und das Überleben ist in den meisten Fällen nur eine Strategie, die wiederholt Gelegenheiten zur Weitergabe der Gene schafft. Angenommen, solche Gelegenheiten ergeben sich nur selten und unvorhersehbar, und die Zahl der bei solchen Gelegenheiten gezeugten Nachkommen wächst mit dem Ernährungszustand des Weibchens. Genau das ist bei manchen Arten der Spinnen und Gottesanbeterinnen, die in niedriger Populationsdichte leben, tatsächlich der Fall. Ein Männchen hat Glück, wenn es überhaupt einmal auf ein Weibchen trifft, und dass sich der gleiche Zufall ein zweites Mal ereignet, ist unwahrscheinlich. Dann besteht die beste Strategie des Männchens darin, dass es bei der einen glücklichen Gelegenheit möglichst viele Nachkommen mit seinen Genen zeugt. Und je besser das Weibchen ernährt ist, desto mehr Kalorien und Proteine kann es den Eiern mitgeben. Ein Männchen, das sich nach der Paarung davonmacht, würde wahrscheinlich nicht noch einmal ein Weibchen finden, und sein Weiterleben wäre nutzlos. Bietet es sich aber stattdessen dem Weibchen als Nahrung an, schafft es die Möglichkeit, dass das Weibchen mehr Eier produziert, die die Gene des Männchens tragen. Außerdem lässt ein Weibchen, dessen Mund durch das Knabbern am männlichen Körper abgelenkt ist, die Kopulation mit den Geschlechtsorganen des Männchens über längere Zeit zu, sodass mehr Samen abgelegt und mehr Eier befruchtet werden. Unter Evolutionsgesichtspunkten benimmt sich das Spinnenmännchen völlig logisch; sein Verhalten erscheint uns nur deshalb seltsam, weil sexueller Kannibalismus für uns Menschen aus anderen biologischen Gründen von Nachteil wäre. Die meisten Männer haben in ihrem Leben mehr als einmal die Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr, auch gut genährte Frauen bringen in der Regel nur ein Kind oder höchstens Zwillinge auf einmal zur Welt, und die Frau könnte bei einer Mahlzeit keinen so großen Teil vom Körper des Mannes verspeisen, dass die Nährstoffversorgung für ihre Schwangerschaft sich dadurch nennenswert verbessern würde.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie die Entwicklung sexueller Strategien in der Evolution sowohl von ökologischen Faktoren als auch von den biologischen Eigenheiten der jeweiligen Spezies abhängt, und beide sind von Art zu Art verschieden. Bei Spinnen und Gottesanbeterinnen