Simon Schott
Der Barpianist
Kriegserinnerungen eines Überlebenskünstlers
Autobiographie/Memoir
Fischer e-books
Simon Schott wurde 1917 geboren. Schon als Schüler liebte er Jazz. Klavierspielen lernte er »bei Ohr«. Nach dem Abitur wurde er sofort als Soldat eingezogen und nach Frankreich beordert. Als der Krieg vorbei war, blieb er in Paris und spielte viele Jahre lang Klavier in Harry's New York Bar. Simon Schott lebt heute in München.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Privatbesitz des Autors
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400257-6
Name geändert
Ich möchte Ihnen anheimstellen, dieses einmal als Vorwort und später als Nachwort zu lesen, denn im außerirdischen Bereich gibt es bekanntlich Situationen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einer Ebene liegen. Es ist möglich, dass Sie mit dem Begriff »außerirdisch« im Zusammenhang mit mir im Augenblick nicht viel anfangen können. Vielleicht müsste man dazu etwas Grundsätzliches sagen. Der einzige Unterschied zwischen einem Außerirdischen wie mir und einer oder einem Außerirdischen wie Ihnen besteht darin, dass ich weiß, wo ich herkomme. Während Sie es vielleicht nicht wissen. Ich wusste es bereits als kleines Kind, bekam es aber erst fünfundsechzig Jahre später zum ersten Mal offiziell bestätigt. Und zwar in London, als ich eines Tages zufällig die Marylebone Road entlanglief und rasch in einen breiten Gebäudeeingang schlüpfte, um einen Wolkenbruch abzuwarten. Ich sah eine Kasse, vor der vier Leute Schlange standen, gesellte mich dazu und kaufte eine Eintrittskarte. Eine Eintrittskarte für das London Planetarium, in dem ich noch nie gewesen war.
Und so saß ich mit einem Mal ganz unvorhergesehen in einem dunklen, kreisrunden Kinosaal, in dem sich gerade hoch oben in der Kuppel ein stellares Geschehen abspielte, welches das Sterben und die Geburt eines Sternes zeigte. Die sympathische Stimme einer namhaften Astronomin sprach über den Sternenstaub, der überall im Kosmos vorhanden sei. Und wie bei bestimmten Voraussetzungen aus dieser wichtigen stellaren Materie Sterne entstehen. Es sei heute erwiesen, dass der Sternenstaub alle Lebensbausteine enthält, erklärte uns die Astronomin; und wenn wir überhaupt leben auf unserer Mutter Erde, verdanken wir dies dem Sternenstaub. »We are made of stardust! We are children of the stars!«, sagte sie wörtlich.
Das war es, was ich schon von klein auf gefühlt und gewusst hatte und was mich alle Ereignisse um mich herum aus einer völlig anderen Sicht erleben ließ: Ich war ein Kind der Sterne und nicht in der Lage zu verstehen, wie die anderen Kinder der Sterne sich hassen, betrügen und in grausamen, unmenschlichen Kriegen gegenseitig zerfleischen konnten.
***
Das Interesse am letzten Weltkrieg wird immer weiterleben. Man wird nicht aufhören, sich zu fragen: Was war damals wirklich los? Wie konnte dieses oder jenes bloß geschehen?
Ganz offensichtlich sind es die widersprüchlichen Facetten dieses Krieges, welche die Menschen von heute verwirren. So stehen bei den meisten Berichten die Gräuel im Mittelpunkt, bei anderen wiederum die Helden. Aber es gibt noch einen dritten Aspekt dieser Zeit, über den bisher niemand zu sprechen wagte.
Warum erwähnt keine Dokumentation die Unzahl ganz normaler, militärisch leicht verschlampter Haufen? Einheiten, die sich in Frankreich oder sonst wo geradezu festkrallten und denen es nur mit tausend Listen gelang, nicht an die russische Front versetzt zu werden? Wieso erzählt niemand von den Hunderttausenden von Landsern, die sich durch den Krieg mogelten, sich drückten, wo sie konnten, und nur ein Ziel vor Augen hatten: lebend wieder nach Hause zu kommen? Schließlich erbrachten sie mit ihrer Weigerung, im Krieg zu sterben, den sicheren Beweis, dass nicht alle gewillt gewesen waren, dem Führer zu folgen!
Und noch eine interessante Frage: Wieso wurde in solchen Kompanien nie ein Wort über Konzentrationslager und die anderen Nazigräuel gesprochen? Warum spielte diese Kategorie Landser so hartnäckig Vogel Strauß? Ließ ihre private Überlebensstrategie vielleicht nicht zu, dem grausamen Schicksal anderer gerade ins Auge zu blicken?
Auch ich war einer von diesen Überlebenskünstlern, wenngleich etwas anderer Art. Und ich erzähle Ihnen alles, was mir widerfahren ist, genau, wie es sich zugetragen hat. Denn ich bin sicher, dass die Menschen von heute auch diese weniger bekannte Seite des Krieges kennenlernen möchten.
***
Was auch immer die Chroniken über den Krieg berichten mögen, niemand kann genau sagen, wann er angefangen hat. Für jeden Menschen auf diesem Erdball begann er zu einer anderen Stunde, einer anderen Minute, einer anderen Sekunde. Ein Krieg ist eine höchst persönliche, eine durch und durch individuelle Angelegenheit. Denn da ist keiner, der ihn ganz genauso erlebt hat wie ein anderer.
Erst eine Generation später setzt das große Verallgemeinern ein, wenn Schicksale über einen Kamm geschoren werden. Wenn viele, unglaublich kluge Leute, die zwanzig Jahre nach Kriegsende geboren wurden, einem erklären, weshalb dieses oder jenes geschah. Einen Krieg kann man nicht erklären. Man kann ihn nur überleben. Jeder auf seine Art.
Mein Übergang von Frieden zu Krieg lief in einem Zeitraum von schätzungsweise sieben Stunden auf elegante und kontrastreiche Weise ab. Ich war damals Gefreiter einer Nachrichtenkompanie und lag mit vier anderen Gefreiten und einem Oberfunker auf der kargen Stube einer Kaserne. Jeder hatte in seinem Spind ein Maßband hängen, das bis auf 19 Zentimeter zusammengeschnitten war: Unser zweijähriger Wehrdienst ging zu Ende, neunzehn Tage trennten uns noch von der zivilen Freiheit. Die meisten von uns richteten ihre Gedanken nur noch auf das Leben außerhalb der Kaserne und brachen alle Rekorde, um bereits zwei bis drei Minuten nach Dienstschluss ausgehfertig in ihrer maßgeschneiderten Angeberuniform dem Kasernentor zuzueilen. Diese maßgeschneiderten Uniformen waren natürlich zweiter Hand von den im Vorjahr Ausgeschiedenen erstanden und sollten beim eigenen Ausscheiden an die nächste Gefreitengeneration weiterverscherbelt werden.
Ich schwang mich an diesem Abend sehr euphorisch auf die Plattform der Straßenbahn, denn ich hatte – es schien fast unglaublich – eine Verabredung mit einer Gräfin. Vorher musste ich noch schnell zu meiner Großmutter nach Pasing. Mein Freund Fritz Fuhr hatte mir zwar zehn Mark gepumpt, aber für eine Gräfin reichte das nicht. Bei meiner Großmutter angekommen, setzte ich mich sofort ans Klavier und spielte »Du goldener Stern, du goldenes Aug’«. Meine Großmutter sang mit, und ich spielte es vier- bis fünfmal, bis ihr Tränen in den Augen standen. Darauf schenkte sie mir wie immer zehn Mark, ohne dass ich Gewissensbisse haben musste. Ich wusste, dass sie dieses Lied über alles liebte und es ihr größte Freude bereitete, es mit mir am Klavier zu singen. Und sie wusste, dass ich wieder einmal Geld brauchte.
Um zehn vor acht drückte ich mich vor dem feudalen Portal des Regina Palast Hotel herum und geriet in Schwierigkeiten. Ich kannte meine Gräfin nur vom Telefon. Hier war allerhand los. Taxis fuhren vor, und Leute strömten aus und ein. Es standen auch mehrere Mädchen da, die anscheinend auf ihren Tanzpartner warteten, aber keine sah wie eine Gräfin aus. Ich sprach eine Rotblonde an, die ziemlich aufgetakelt war, und sie sagte, wenn ich mit aufs Zimmer wolle, würde es hundert Mark kosten. Ich gab zur Antwort, dass ich keine hundert Mark und auch keine Zeit hätte, weil ich mit einer Gräfin verabredet sei. Einem unscheinbaren jungen Mädchen, das neben ihr stand und unser Gespräch mitgehört hatte, stieg Schamröte ins Gesicht, und ich vernahm ein schüchternes Murmeln: »Ich bin Elisabeth Saalbach [1]. Sind Sie der Gefreite Schott?« Ich nickte, nahm die Gräfin bei der Hand und verschwand mit ihr durch die Drehtür ins Innere.
Die Regina Palast Hotel Tanzbar in München war damals genauso berühmt wie das Femina in Berlin. Das Rund der Tanzfläche befand sich zwei Meter unter das Niveau der Tischreihen versenkt, und die sensationelle Schweizer Jazzband Teddy Stauffer spielte ungeniert 30 Mann stark all die englischen und amerikanischen Jazz- und Swingnummern, welche von den Nazis verboten worden waren und die meinen Lebensinhalt darstellten. Ich kannte jeden Titel, jeden Akkord und jedes Wort der englischen Texte. Ich war schon von Kind auf klavierbesessen gewesen, hatte ohne eine Stunde Unterricht – bei Ohr – jeden Schlager und all die wunderschönen Melodien von amerikanischen und englischen Jazzschallplatten abgehört und gelernt, die es auf dem Schwarzmarkt gab. Solche verbotenen Schellackplatten bekam man nur gegen sündteures Geld, und ich musste vor meinem Abitur nebenbei viele Nächte in einer Bar in Schwabing Piano spielen, um sie mir leisten zu können.
Der Oberkellner begrüßte mich wie immer sehr freundlich, weil arme Leute mehr Trinkgeld geben, und im Nu schwebte ich mit meiner Gräfin auf der Tanzfläche. Sie war bescheiden, sympathisch und fühlte sich gut an.
»Sie haben eine schöne Uniform«, meinte sie beim Foxtrott. »Sind Sie gerne Soldat?«
»Wahnsinnig gern«, sagte ich. »Ich krieg immer Bauchschmerzen, wenn ich Marschmusik, Bum-Bum und dumme, aufgeblasene Proleten herumschreien höre. Ich bin misstrauisch gegen jeden, der schreit.«
»Ich glaube, Sie sind ein Snob«, stellte sie fest. »Ihre Militärzeit muss ja schrecklich für Sie sein.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich kann mich wunderbar verstellen und durchmogeln. Und in unserer Kantine steht ein Klavier. Ich hab nur noch neunzehn Tage. Dann seh’n die mich nie wieder!«
Das war natürlich ein gravierender Irrtum.
Als ich mit Elisabeth wieder am Tischchen mit dem hübschen Lampion saß und ihr mit dem Rotweinglas zuprostete, sah ich, dass mich von nebenan ein Leutnant böse anstarrte. Er tuschelte mit seiner hübschen blonden Begleiterin, stand auf und kam zu mir herüber.
»Sind Sie sich klar darüber, was Sie eben getan haben?«, fragte er scharf.
Ich hievte mich gehorsam hoch, damit die Blonde einen guten Eindruck von seiner Allmacht bekam. Mit meinem lange trainierten Untertanenblick und leicht verängstigtem Unterton in der Stimme erklärte ich scheinheilig: »Nein, Herr Leutnant! … Meinen Herr Leutnant, ich hätte meiner Tischdame nicht zuprosten dürfen?«
»Quatsch! … Sie wissen ganz genau, dass es verboten ist, Swing zu tanzen! … Und werden Sie mir ja nicht frech! … Name? … Einheit?«
»Gefreiter Schott, 1. N47, Herr Leutnant!« Da fiel mir ein kluger Schachzug ein, und ich setzte rasch hinzu: »Darf ich Ihnen meine Begleiterin vorstellen, Herr Leutnant: Gräfin Saalbach.«
Das haute ihn doch eine Sekunde lang um, und er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Schließlich schlug er die Hacken zusammen, verbeugte sich leicht vor Elisabeth und verschwand zu seiner Blonden.
Elisabeth runzelte die Stirn. »Mussten Sie denn unbedingt bei dem mit mir angeben?«
»Sie haben das Spiel nicht ganz verstanden«, sagte ich. »Normalerweise würde er morgen eine Meldung an meine Einheit machen. Das gibt zehn Tage Arrest. Ich habe ihn aber gewarnt, indem ich ihm eine Gräfin vorstellte. Da wittert so ein Streber sofort Beziehungen, die ihm schaden könnten. Und er hat meine Warnung verstanden. Sie haben gesehen, dass er gleich kleiner wurde.«
Der Leutnant und seine Blonde blieben nicht lange, und Elisabeth und ich konnten wieder Swing tanzen.
»Jetzt sehen Sie sich nur einmal diesen Blödsinn mit dem Swing an«, sagte ich zu ihr. »Der Leutnant macht den Wechselschritt, den er in seinem Tanzkurs gelernt hat. Und wir wechseln den Schritt nicht, sondern lassen den einen Fuß eine Zehntelsekunde auf dem Parkett. Ist denn so etwas wert, dass das Propagandaministerium ein nationales Verbot erlässt, nur weil es aus Amerika kommt?«
Um drei viertel zwölf fuhr ich die Gräfin mit der letzten Straßenbahn nach Hause. Elisabeth entpuppte sich als Tiefstaplerin. Sie war ein kluges Kind und hatte ein liebes Wesen. Ich mochte sie.
Von der Endhaltestelle Bogenhausen waren es noch zehn Minuten zu Fuß zu ihrer Tante, bei der sie wohnte. Wir gingen schweigend Hand in Hand, und ich hatte den Eindruck, dass ich ihr nicht unsympathisch war. Ich musste an die schwierige chromatische Akkordfolge von Duke Ellingtons »Prelude to a Kiss« denken und überlegte, dass ich bei Elisabeth sehr behutsam vorgehen musste, um zu einem Kuss zu kommen. Es würde sicher mein Image heben, wenn ich auf Stube 117 erzählen konnte, dass ich eine Gräfin geküsst hatte. Ich legte mir eine Vorgehensweise zurecht und begann, einmal ganz kurz und leicht ihre Hand zu drücken. Sie erwiderte meinen Händedruck, und damit wusste ich schon einiges. Nun musste ich ihr ein Kompliment machen, und ich konnte ihr mit ehrlichem Gewissen sagen, dass ich sie reizend fände und froh wäre, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Als Nächstes wurde fällig, dass ich ihr im Gehen so nebenbei ein paar Mal zart die Hand küsste. Obwohl sie auch dagegen nichts hatte, entschloss ich mich doch für die sichere Masche. Elisabeth war zartfühlend und verletzlich. Sie konnte man nicht einfach an sich ziehen und ihr einen Kuss auf den Mund knallen. Da würde sie auf und davon rennen. Also nahm ich ihre beiden Hände, als wir vor dem Haus ihrer Tante standen, hielt ihr meine gespitzten Lippen zum Babykuss entgegen, und ganz automatisch berührte sie mit ihrem Mund leicht den meinen. Als wir es ein zweites Mal versuchten, wurde es eine lange Umarmung. Daraufhin eilte Elisabeth ins Haus. Ich war mir klar darüber, dass man mit ihr mindestens drei Monate befreundet sein musste, ehe da mehr passierte.
Da keine Straßenbahn mehr fuhr, machte ich mich auf den langen Fußmarsch durch die ganze Stadt. Aber es war eine schöne Nacht. Ich bildete mir überhaupt nichts darauf ein, dass ich mit Mädchen gut umgehen konnte. Ich liebe Frauen. Für mich sind Frauen das Höchste im Leben, und ich mache mich nie über eine lustig. Ich meine es immer ernst, bei jeder Einzelnen.
Ich kannte Elisabeths Bruder, den Grafen Saalbach. Er war Funker in der dritten Kompanie unserer Kaserne. Da er in einem ganz anderen Block hauste, wäre ich sicher nie mit ihm zusammengetroffen, wenn ich nicht eines Tages unglaubliche Jazzpianoklänge aus Richtung Kantine gehört hätte, als ich über den Kasernenhof lief. Wir wurden sofort Freunde. Ich musste diesen unauffälligen Jungen bewundern, denn er war nach dem Konservatorium bereits Konzertpianist gewesen. Und dann fasste er einen Entschluss, der mir einmalig erschien: Er fand, dass ihm etwas fehle, wenn er in der Musik nur die klassische Richtung kannte. Also ging er ein Jahr nach New York und arbeitete als Jazzpianist mit einer Band schwarzer Musiker in Harlem. Er erzählte mir, dass er am liebsten nicht mehr zurückgekommen wäre. Dass aber seine Eltern darauf bestanden hätten, als sie seinen Einberufungsbefehl erhielten. Ich an seiner Stelle wäre bestimmt dort geblieben.
Eine Kirchturmuhr schlug ein Uhr. Als ich nach dem Friedensengel über die Isarbrücke schlenderte und zum hellen Sternenhimmel hochsah, überkam mich wieder diese eigenartige Empfindung. Ich wusste seit meiner Kindheit, dass die Sterne und ich etwas miteinander zu tun hatten. Aber was? Wieso stieg in ganz bestimmten Momenten in mir ein Gefühl von Heimat auf, wenn ich den Anblick der Sterne länger auf mich einwirken ließ? Das war eine Sache, die ich niemandem erzählen durfte. An diesem Abend kamen mir die Sterne seltsam vor. Sie wollten mir etwas sagen. Aber ich verstand ihre Botschaft nicht.
Um zehn nach zwei erreichte ich die Saarstraße. Ein kluger Kopf hatte an die Straßenecke eine Telefonzelle so hingestellt, dass man sie von der Kaserne aus nicht sehen konnte. Das erwies sich als ungeheuer praktisch, wenn man nach dem Zapfenstreich ankam und zufällig mit dem Wachhabenden des Tages befreundet war. Dann genügte ein Anruf, und man wusste, wo man im gegebenen Moment über die Mauer klettern konnte, ohne dass man Gefahr lief, in den Hintern geschossen zu werden. So kam ich ungeschoren aufs Zimmer und sank ruck, zuck in Tiefschlaf.
Es war im Nachhinein nicht mehr genau festzustellen, in welcher Sekunde, in welcher Minute, ja sogar in welcher Stunde der Zweite Weltkrieg für mich begann. Das schrille Klingeln, die Alarmrufe und das Getrampel auf den Gängen vernahm ich zuerst nur halb im Traum. Dann rüttelte mich jemand und rief: »Verdammt nochmal, Schotti, jetzt wach endlich auf!« Im Zimmer brannte Licht, und alle trabten schon auf den Gängen. Nur Fritz Fuhr, in voller Montur, stand noch da und versuchte, mich wachzukriegen. Ich hatte bestimmt nicht sehr viel mehr als eine Stunde geschlafen, aber ich begriff sofort, dass wieder einmal mitten in der Nacht einer von diesen blöden Probealarmen angesetzt worden war, die in letzter Zeit Mode zu werden schienen.
Die Kompanie stand längst im Hof angetreten, als ich mich in der Dunkelheit von hinten an meinen Platz in der dritten Reihe schlich. Schlaue Soldaten stehen immer in der dritten Reihe. Und schon begann die Hetzjagd nach der Stoppuhr, wie jedes Mal, wenn der Ernstfall geprobt wurde: erst der Sturm auf die Bekleidungskammer, wo nagelneue Klamotten und Waffen ausgegeben wurden, dann fieberhaftes Umkleiden und hastiges Abliefern der alten Ausrüstung. Und zum Schluss wie immer die deprimierendste Andeutung des Kriegsfalls. Jeder bekam einen großen Sack mit der Adresse der Angehörigen, in den er, sekundenschnell, alle seine kleinen privaten Habseligkeiten werfen musste. Von da an war man kein Mensch mehr. Nur noch eine Nummer. Aber es handelte sich ja nur um einen Probealarm, und am nächsten Tag würden wir den Sack wieder auspacken. Zum Schluss rannten wir wieder auf den Hof, um erneut in Reih’ und Glied anzutreten.
Die erste leichte Besorgnis beschlich mich, als alles mäuschenstill blieb und keiner brüllte, welch lahme Enten wir seien und dass man uns am nächsten Tag schon den Arsch aufreißen würde. Der Leutnant vom Dienst ließ rühren und schritt in Gedanken versunken vor uns auf und ab. Schließlich blieb er stehen und sagte: »Wir warten auf den Kompaniechef.«
Es dauerte zehn Minuten, bis dieser in seinem Geländewagen ankam, den Leutnant zur Seite nahm und leise auf ihn einsprach. Dann wandte er sich uns zu: »Wir müssen auf den Kurier von der Division warten«, erklärte er. »Sie können sich unterhalten.«
Keiner von uns sprach ein Wort. Uns war bewusst geworden, dass dies verdammt nach einem Ernstfall aussah. Aber wir konnten es noch nicht glauben. Unwillkürlich blickte ich zu den Sternen hoch, die tausendfach am schwarzen Nachthimmel über der Kaserne flimmerten. Jetzt erahnte ich ihre Botschaft, die ich wenige Stunden zuvor nicht verstanden hatte. Mein leichtsinniges Leben würde nun in eine Phase neuer, andersartiger Erfahrungen treten. Aber da ich mit den Sternen im Bund war, hatte ich das Gefühl, dass ich beschützt würde. Ich musste mich nur wie ein Kind der Sterne verhalten: allen Lebewesen freundlich gesinnt bleiben und meine Sympathien weiterhin nie den Starken, immer nur den Unterdrückten zukommen lassen.
Dieses mit Schweigen ausgefüllte Warten auf den Kurier der Division bedeutete vermutlich für jeden von uns ein zwanzig Minuten langes In-sich-Hineinhorchen. Dann hörten wir das Motorrad brummen, ein Melder mit Stahlhelm stieg ab, überreichte dem Kompaniechef ein großes rotes Kuvert und brauste wieder davon. Von nun an ging alles unglaublich rasch vor sich.
Der Kompaniechef brach das Siegel, studierte schweigend den kurzen Einsatzbefehl, steckte ihn ein und nickte dem Hauptwachtmeister zu. Der las seine Namensliste herunter, und jeder Einzelne rief »hier«. Die Fahrer eilten zu den Kraftfahrzeughallen, holten ihre Lkw, Geländewagen und Motorräder heraus und stellten sie in Abmarschformation auf. Da wir in voller Marschausrüstung auf dem Hof standen, brauchte der Spieß nur »Aufsitzen« zu brüllen, selbst zu seinem Geländewagen zu laufen und die Hand zu heben. Und schon fuhr die Kolonne hinter dem Kompaniechef her aus der Kaserne und verschwand, um nie mehr hier gesehen zu werden.
Bei dem ganzen routinemäßigen Ablauf der Militärmaschinerie hatte sich etwas Eigenartiges, ja geradezu Unheimliches ereignet: Ich stand als Einziger noch auf dem Hof und blickte benommen den Schlusslichtern der Kolonne nach. Ich war nicht aufgerufen worden!
Da trat aus dem Schatten der Kraftfahrzeughallen noch eine vergessene Gestalt. Und als sie näher kam, erkannte ich unseren Schirrmeister Peter Ruhstorfer, der für den motorisierten Fuhrpark zuständig war.
»Was zum Teufel ist da eigentlich mit uns los?«, erkundigte ich mich bei ihm. »Wieso sind wir nicht aufgerufen worden?«
Er nahm den Stahlhelm ab und grinste übers ganze Gesicht. »Schon mal was von Massel gehört? Sobald es hell wird, wirst du hier eine Menge o-beiniger Zivilisten mit Koffern und Rucksäcken antanzen sehen. Alles Reservisten, die heute Nacht ihren Stellungsbefehl bekommen haben.«
»Ja und?«
»Es muss eine Reservekompanie aufgestellt werden, das ist doch klar. Ich bin als Schirrmeister eingeteilt. Dazu können sie nur einen alten Hasen brauchen. Wir kriegen zwanzig neue Laster, und die kosten eine Menge Geld. Da darf nicht mal ein Kratzer drankommen.«
»Und was, glaubst du, habe ich hier zu tun?«
»Du wirst Rechnungsführer.«
Das haute mich um. Peter Ruhstorfer sagte, er müsse sich nochmal rasch in die Klappe hieven, und verschwand im Gebäude. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns trotz des großen Dienstgradunterschieds geduzt hatten. Der Krieg hatte für mich noch kaum begonnen, und schon änderte sich alles Mögliche.
Schließlich stieg auch ich die Treppe hoch. Ich war überhaupt nicht müde, als ich Stube 117 betrat. Die Türen der leeren Spinde standen offen, und der Raum machte einen fremden, verlassenen Eindruck. Ich legte mich angekleidet aufs Bett, verschränkte die Hände hinterm Nacken und dachte nach.
Mit mir war also tatsächlich das geschehen, was Jules Verne »Durchbruch der Zeitebene« genannt hatte. Vergangenheit und Gegenwart waren ineinandergeflossen. Und auch die Zukunft schien mit ihnen ohne Abgrenzung auf einer Linie dahinzuströmen.
Denn jetzt erst verstand ich die plötzliche Eingebung, die ich fünf Monate zuvor gehabt hatte, als wir zum Morgenappell auf dem Kasernenhof standen und der Spieß »Wer kann Rad fahren?« rief. Auf diese bekannte Tour fiel kein länger gedienter Soldat mehr herein, höchstens ein Rekrut. Denn dann hieß es zwangsläufig für den Dummen, der sich meldete: »Sie gehen nach Dienstschluss in die Küche und schälen Kartoffeln!« Oder: »Sie übernehmen diese Woche die Toilettenreinigung!« Damals starrten mich meine sämtlichen Freunde entgeistert an, als ich alter Routinier meine Hand hochschnellen ließ. Viel später stellte sich heraus, dass mir dieser Reflex das Leben rettete. Jedenfalls rief unser Hauptwachtmeister damals ganz unerwartet: »Melden Sie sich beim Rechnungsführer. Der braucht jemand, der für ihn in die Stadt radelt.«
Während die anderen exerzierten, durfte ich vierundzwanzig Briefmarken, zwei weiche Bleistifte und Stempelfarbe für ein rotes Stempelkissen besorgen und begriff sofort, dass sich hier eine Chance bot. Ich kam rasch in die Kaserne zurück und legte eine saubere, peinlich genaue Aufstellung über die mitgegebene Summe, die Beträge der Einkäufe und den Restgeldbestand vor. Der Rechnungsführer war sichtlich beeindruckt und notierte meinen Namen. Von nun an radelte ich fast jede Woche ein paar Mal für ihn in die Stadt. Und als sein Gehilfe Urlaub bekam, saß ich auf dessen Platz und arbeitete mit bestechender Präzision und ins Auge fallendem Eifer. Das war sicher der Grund, weshalb man mir jetzt diesen wunderschönen Heimatposten bei einem Reservistenhaufen zugeteilt hatte. Bis so eine Kompanie einsatzfähig in den Krieg zog, dürfte noch viel Wasser die Isar hinunterfließen. Da konnte ich noch lange in der Regina Bar Swing tanzen. Meine Sterne meinten es gut mit mir.
Die Morgendämmerung drang bereits ins Zimmer. Ich stand auf und sah zum Fenster hinaus auf den verlassenen Hof. Ich musste an meinen Vater denken, der immer wieder gesagt hatte: »Der Verrückte macht todsicher einen Krieg.« Und wir hatten es nicht geglaubt!
Auf einmal bemerkte ich, dass sich weit hinter den Kraftfahrzeughallen allerhand rührte. Anscheinend begann für die dritte Kompanie der Krieg erst jetzt, denn ich sah Motorräder und Funkwagen Aufstellung nehmen. Ich lief die Treppe hinab und marschierte über die Kasernenhöfe. Die dritte Kompanie war kein so disziplinierter Haufen wie wir. Die Leute standen in Grüppchen herum und quasselten. Gerade als sie auf die Fahrzeuge stiegen, entdeckte ich meinen Freund Saalbach. Er kam mir blass und niedergeschlagen vor. Ich drückte ihm die Hand, wünschte ihm Glück und erzählte ihm, dass ich hierbleiben würde.
»Schotti, tu mir einen Gefallen«, sagte er. »Pass auf Elisabeth auf! Versprichst du mir das?«
»Mach ich, Paul!«
Die Motoren wurden angelassen, ein Befehl hallte über den Hof, und ich trat zur Seite. Langsam setzte sich auch diese Kolonne in Marsch …
***
Tatsächlich! Schon vom frühen Vormittag an pilgerten Zivilisten durchs Kasernentor, viele schwer bepackt mit Koffern, Taschen, Rucksäcken. Die glaubten anscheinend, sie würden ein Einzelzimmer mit Schrankwand bekommen. Aber was auch immer später über unsere unglaublich kriegsbesessene Bevölkerung geschrieben wurde, ich persönlich sah nicht einen Einzigen, der besonders vergnügt ausgesehen hätte. Alle machten sie lange Gesichter, und man sah ihnen an, wie gewaltig ihnen der Abschied von zu Hause und die ungewisse Zukunft eines Krieges an die Nieren ging.
Und schon wieder begann Geschäftigkeit in den Block der ersten Kompanie einzuziehen. Auf den Gängen hörte man Schritte und Stimmen. Ich lag auf der Klappe und versuchte gerade, ein Auge zuzudrücken, als Schirrmeister Peter Ruhstorfer zu mir hereinkam, um mir ein paar Ratschläge zu erteilen.
»He! Du willst doch nicht etwa auf dieser Sechs-Mann-Bude bleiben?«, rief er schon unter der Tür. Er setzte sich auf eine Bettkante. »Als Rechnungsführer kannst du auf keinen Fall bei Rekruten wohnen. Such dir sofort ein Unteroffizierszimmer! Am besten gleich das neben meinem. Und stell dich ja nicht mehr beim Appell in die Reihen! Du hast jetzt den Posten eines Unteroffiziers. Das musst du gleich von Anfang an klarstellen, Schotti!«
Es war nett von ihm, dass er mich als Freund betrachtete. Woher wusste er überhaupt, dass mich meine Kumpel Schotti genannt hatten? Ich ging gleich mit ihm los und besetzte die Ein-Mann-Stube neben seinem Zimmer. Dann trabte ich in die Kantine, trank eine Tasse Malzkaffee und kaufte drei Zigarren sowie die Morgenzeitung mit der dicken schwarzen Überschrift KRIEG GEGEN POLEN. Damit verzog ich mich auf die Rechnungskanzlei, die von nun an mein Arbeitsplatz sein würde.
Ich sperrte die Tür ab, ließ mich in den bequemen Drehsessel sinken, legte die Füße auf den Schreibtisch, zündete mir eine Zigarre an und überflog die Zeitungsberichte. Aber nur ganz kurz, da die Meldung von den Unruhen in Danzig und dass man deshalb den Polen den Krieg erklären musste, Larifari war. Hitler wollte sich Polen unter den Nagel reißen; so wie er sich Österreich, das Sudetenland und die Tschechei angeeignet hatte. Das war mir klar. Und diesmal ging es eben nur mit Gewalt.
Als Nichtraucher drückte ich die Zigarre schon nach dem dritten Zug aus und richtete mein Augenmerk auf den Telefonapparat vor mir, weil mir einfiel, welche Möglichkeiten sich da boten. Ich konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Stadt telefonieren! Als Erstes wählte ich Elisabeths Nummer, und es wurde ein langes Gespräch. Die kleine Gräfin war bestürzt über den Krieg und in ungewöhnlicher Sorge um ihren Bruder.
»Er kommt in gefährlichen Situationen überhaupt nicht zurecht«, befürchtete sie. »Er ist nicht clever wie du.«
»Du unterschätzt ihn, Elisabeth«, meinte ich. »Wenn es jemand fertig bringt, in Harlem als Deutscher von den Schwarzen akzeptiert zu werden, muss er verdammt clever sein! Viele weiße New Yorker trauen sich in so ein Viertel gar nicht rein!«
Ich sagte ihr, dass ich ihrem Bruder hatte versprechen müssen, mich um sie zu kümmern, und das schien sie zu freuen.
Dann telefonierte ich mit meiner Großmutter, die wahnsinnig aufgeregt war. Und zum Schluss probierte ich, ob man von diesem Schreibtisch aus auch ein Ferngespräch durchbekäme, und rief meine Eltern an. Mein Vater klang sehr ruhig.
»Hauptsache, du bist erst mal nicht dabei«, meinte er. »Aber mach dich auf vier bis fünf Jahre gefasst. England und Frankreich haben einen Vertrag mit Polen und werden da nicht zusehen. Und wenn es bei denen schlecht läuft, kommen die Amerikaner zu Hilfe. Und in Russland wird er auch einfallen, wenn ihm der Treibstoff für die Panzerdivisionen ausgeht.«
Ich dachte später noch oft an dieses Telefonat. Denn mit ein paar Sätzen hatte mein Vater den gesamten Kriegsverlauf vorausgesagt. Mein Vater hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht und wusste, wie der Hase läuft. Ihm konnte keine Nazipropaganda ein X für ein U vormachen. Außerdem war sein bester Freund, der sozialdemokratische Bürgermeister des kleinen Ortes, in dem wir damals lebten, bereits 1933 im KZ Dachau zu Tode gefoltert worden. Das Wissen darum hatte meinem Vater die Sinne geschärft.
Klingeln schrillten auf den Gängen und rissen mich aus meinen Gedanken. Ich schloss die Tür auf und spähte hinaus. Peter Ruhstorfer kam herbei und meinte, bei diesem ersten Appell würden alle eingeteilt, und da sollten wir uns besser sehen lassen.
Die Zivilisten waren bereits eingekleidet und versuchten verzweifelt, sich in Reih’ und Glied aufzustellen. Ein verunsicherter Reserve-Kompaniechef war anwesend, ein kleiner dicker Spieß und ein paar aus dem Zivilleben gerissene Reserve-Unteroffiziere, die noch nervös an ihren Uniformen nestelten. Peter Ruhstorfer stand neben mir und lächelte belustigt über den armseligen Haufen, aber mir taten die Leute leid. Nachdem die Namen verlesen waren, wurden die Kameraden den verschiedenen Dienstbereichen zugeteilt. Ruhstorfer ließ sich zwei gelernte Mechaniker für seine Schirrmeisterei geben und sagte zum Spieß, dass auch der Rechnungsführer für seine Arbeiten einen Mann brauche. Darauf rief der neue Spieß:
»Wer kann mit Geld umgehen? War einer von Ihnen bei einer Bank beschäftigt?«
Ein etwa vierzigjähriger hagerer Mann mit leicht gebeugtem Rücken rührte sich: »Ich bin Bankdirektor!«
»Es heißt nicht, ich bin«, korrigierte ihn der Spieß. »Es heißt, ich war Bankdirektor! Melden Sie sich anschließend beim Rechnungsführer!«
Zehn Minuten später klopfte der Bankdirektor an der Rechnungskanzlei, trat ein, sagte, dass er Berger heiße, und versuchte, strammzustehen.
»Vor mir brauchen Sie nicht strammzustehen, und legen Sie bloß das blöde Gewehr weg, ich hasse Gewehre«, erklärte ich, denn ich sah, dass der Mann völlig verängstigt war. »Wir beide haben den schönsten Druckposten ergattert. Hier kann Ihnen überhaupt nichts passieren!«
Ich deutete auf einen Stuhl, und er nahm sichtlich erleichtert Platz. Er konnte noch gar nicht an so viel Glück glauben und zerfloss beinahe vor Dankbarkeit. Ich fand schnell heraus, dass er wegen eines Herzfehlers panische Angst vor dem Exerzieren und der harten Rekrutenausbildung hatte.
Als Erstes gab ich ihm ein paar Strichlisten, die ich in einem der leeren Schränke entdeckt hatte, und zeigte ihm, wie man sie ausfüllte. Dann ging ich in die Schreibstube zum Spieß hinüber, um das angekündigte Paket neuer Formblätter für die Rechnungskanzlei zu holen, das inzwischen eingetroffen war.
»Als aktiver Rechnungsführer der vorherigen Kompanie kennen Sie sich ja Gott sei Dank mit dem ganzen Kram aus«, meinte der Spieß, und ich hütete mich, ihn darüber aufzuklären, dass ich niemals aktiver Rechnungsführer gewesen war.
Als ich wieder in meiner Rechnungskanzlei saß, um zusammen mit Berger das Riesenpaket Formblätter auszupacken, erlebte ich eine böse Überraschung: Alles, was ich in den wenigen Tagen beim Rechnungsführer gelernt hatte, konnte ich vergessen! Für den Kriegsfall hatte man völlig neue Formblätter entworfen. Das ganze Rechnungssystem für Wehrsold, Tagegelder, Verpflegungseinheiten, Urlaubs- und Dienstreisetagessätze war umgestaltet worden. Dazu gab es eine zwölf Seiten lange, klein gedruckte Gebrauchsanweisung.
»Wissen Sie was, lieber Freund?«, sagte ich zu meinem Bankdirektor. »Ich gehe jetzt in die Kantine und spiele Klavier. Vielleicht als Erstes den Song ›Pennies from Heaven‹ von Johnston. Der passt am besten zu einem Rechnungsführer. Und Sie rauchen inzwischen die beiden Zigarren auf meinem Schreibtisch, telefonieren mit Ihrer Frau und studieren anschließend in aller Ruhe die verdammte Gebrauchsanweisung. Sie kennen sich in solchen Dingen besser aus als ich und werden schon herausfinden, was die Idioten mit den zwölf Seiten Kleingedrucktem meinten. Und wenn Sie das Ganze verstanden haben und alles können, dann bringen Sie es mir bei. Wir müssen uns das Leben so leicht wie möglich machen.«
Zu dieser Tageszeit befand sich niemand im Kantinennebenraum, in dem das Klavier stand, und ich spielte über eine Stunde. Hauptsächlich die Harlem-Nummern, die ich von meinem Freund Graf Saalbach gelernt hatte. Ich versuchte sie so zu phrasieren wie Nat Gonella oder Coleman Hawkins auf seinem sagenhaften Tenor-Sax. Ich besaß ja genügend amerikanische und englische Jazzplatten, die es immer noch im Schwarzhandel gab und die ich bei meiner Großmutter aufbewahrte und abhörte. Wo mochte Saalbach wohl im Augenblick sein? War er schon in Polen? Und was mochten seine Freunde in Harlem über die Deutschen und diesen verrückten Krieg denken? Und welche Gedanken schwirrten im Augenblick in Australien, in Asien oder Afrika in den Gehirnen der Menschen herum?
Ich hatte es schwer, weil ich mit niemandem über meine Gefühle und Ansichten und meine sonderbare Beziehung zu den Sternen reden konnte. Nicht einmal mit meinem Vater. Der wusste zwar mit dem Begriff »Patriotismus« auch nichts anzufangen. Aber er hatte kein Interesse am Kosmos. Als ich klein war, hielten mich meine Eltern doch tatsächlich für mondsüchtig, schleppten mich zum Arzt und erzählten ihm, dass sie mich oft mitten in der Nacht am Fenster stehend vorfänden. Ich würde wie versteinert den Mond anstarren. Dabei hatte ich mit dem Mond überhaupt nichts am Hut. Der hatte mich nie interessiert. Es waren die Sterne, zu denen ich mich magisch hingezogen fühlte. In Gedanken sprach ich mit ihnen, erzählte ihnen meine kleinen Sorgen, fragte sie um Rat. Danach ging es mir jedes Mal bedeutend besser. Mein Kummer hatte sich in Luft aufgelöst, und ich wusste, dass ich beschützt wurde.
Eine andere Eigenheit von mir, die schon im Volksschulalter auftrat und meinen Eltern allerhand Kopfzerbrechen bereitete, war mein Desinteresse an, ja meine leidenschaftliche Aversion gegen Religion und Geschichte. Sowohl das Alte Testament wie auch die Geschichtsbücher handelten hauptsächlich von Streitigkeiten, Fehden und Kriegen. Alles Hässliche und Gemeine befand sich darin peinlich genau vermerkt. Ich wollte nichts über Kriege lernen und konnte mir weder deren Anlässe noch ihre Jahreszahlen merken. Aber vor jedem Weihnachten bat ich meinen Vater, mir einen Globus zu schenken. Zu damaligen Zeiten eine teure Angelegenheit. Als ich schließlich einen bekam, saß ich stundenund tagelang davor und wollte mich nicht mehr davon trennen. Am liebsten hätte ich ihn ins Bett mitgenommen. So sah also die Erdkugel aus! Unser Planet, der zum Sternenhimmel gehörte und der inmitten der Milliarden Sonnen und Planeten seine Bahn zog um seine Sonne. Die Menschen waren furchtbar dumm, besonders die Gescheiten. Niemand kapierte, dass das hier unten und dort oben alles ein und dieselbe Sache war. Dass wir dazugehörten!
Von dem Augenblick an, in dem man das erkennt, entwickelt sich zwangsläufig eine andere Weltsicht. Man kann die ewige Rivalität zwischen den Völkern nicht mehr verstehen, den Krieg, den Hass gegen jeden. Nur weil er an etwas anderes glaubt, sich anders kleidet, ein wenig anders aussieht. Es müsste jedem bei seiner Geburt ein Globus in die Wiege gelegt werden. Damit er später nie und nimmer diese entsetzliche Überheblichkeit aufkommen lässt. Damit er begreift, dass er nur Gast unter anderen Gästen auf dieser großen Kugel ist. Ein nach kosmischen Maßstäben völlig unbedeutender Planet unter Billiarden anderen.
Als ich über den Hof ging, kam mir Peter Ruhstorfer entgegen, der sich in der Kantine Zigaretten holen wollte.
»Ich war eben beim Kompaniechef«, berichtete er.
»So?«, fragte ich. »Weshalb denn?«
»Er kennt sich noch nicht so recht aus. Aber er ist ganz in Ordnung.«
»Und? … Was hat er dir erzählt?«
»Er hat mir gar nichts erzählt. Er hat sich nur meine Ratschläge angehört und zu Herzen genommen.«
»Bravo!«, sagte ich. »Wenn ich richtig verstehe, hast du ihm erklärt, was er zu tun hat?«
»Genau!« Peter Ruhstorfer grinste hintergründig. »Übrigens, du wirst morgen zum Unteroffizier befördert.«
»Machst du einen Witz?«
»Warum sollte ich einen Witz machen? Mit so was macht man keine Witze! Ich habe ihm klargemacht, dass niemals Ordnung in diesen Haufen kommt, solange hier ein Rechnungsführer eingesetzt ist, der als Gefreiter herumlaufen muss!«
Ich war sprachlos. Schließlich fragte ich: »Du meinst wirklich, dass er mich befördert?«
Peter Ruhstorfer nickte, gab mir einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter und trabte in Richtung Kantine davon. Ich konnte es nicht recht glauben. Doch schon am nächsten Morgen um neun musste ich beim Kompaniechef antreten und bekam meine Beförderung mitgeteilt und in den Wehrpass eingetragen.
Ich ging zum Bekleidungsfritzen, ließ mir eine andere Uniform geben, lieferte mein Gewehr ab und erhielt dafür eine Pistole. Nach Dienstschluss packte ich meine maßgeschneiderte Angeberuniform in braunes Packpapier und lief damit zum Schneider in der Saarstraße, der den Gefreitenwinkel abtrennte und die Unteroffiziersepauletten annähte.
Anschließend gab ich in der Kantine eine Runde für Peter Ruhstorfer und den Bankdirektor aus, weil das so Sitte war. Ich selbst saß eher nachdenklich vor meinem Bier, nicht nur weil ich Bier nicht mochte. Ich empfand wieder das gleiche Staunen wie vergangene Nacht, als ich von der in den Krieg fahrenden Kolonne zurückgeblieben war. Auch jetzt hatte sich wieder etwas Eigenartiges ereignet. Ein menschliches Wesen, das den Krieg und den Militarismus so abgrundtief verachtete wie niemand sonst, war noch vor Ablauf der zweijährigen Dienstzeit zum Unteroffizier befördert worden.
Mein Bankdirektor Berger hatte in der Zwischenzeit unter anderem auch die neue Besoldungsordnung fleißig studiert. Er erklärte mir, dass ich jetzt alle zehn Tage eine Menge Moneten ausbezahlt und dazu noch ein festes Monatsgehalt überwiesen bekäme. Und Peter Ruhstorfer machte mich darauf aufmerksam, dass es nun keinen Zapfenstreich mehr für mich gäbe und ich nachts heimkommen konnte, wann es mir passte. Beides ein Riesenfortschritt für mein Privatleben in der Regina Bar.
Ich probierte das gleich am nächsten Abend aus und verabredete mich mit Elisabeth. Vorher besuchte ich aber noch meine Großmutter, spielte mehrere Male ihr Lied und nahm zum ersten Mal kein Geld dafür. Was mir ein gutes Gefühl gab.
Als ich mit Elisabeth die Regina Bar betrat, fiel mir – aus meiner Gymnasialzeit – sofort der Ausspruch der alten Römer »O quae mutatio rerum« ein. Welche Veränderung der Dinge!
Der Ober, der mich immer so herzlich begrüßt hatte, war nicht mehr da – vermutlich eingezogen –, die Bar halb leer, Teddy Stauffer und seine tolle Jazzband verschwunden. An seiner Stelle spielte eine deutsche Kapelle brave deutsche Schlager. Immerhin mit einer achtköpfigen Saxophonreihe.
Elisabeth, die nur an den Krieg und ihren Bruder zu denken schien – tatsächlich hatten England und Frankreich inzwischen ihre Kriegserklärung bekannt gegeben –, war an diesem Abend still und niedergedrückt.
»Wärst du mir böse, wenn ich dir sagen würde, dass ich gar keine Lust verspüre zu tanzen?«, fragte sie schüchtern.
»Aber natürlich nicht, Elisabeth!«, gab ich zur Antwort. »Das hier ist heute nicht der richtige Platz für uns. Komm, wir zahlen sofort und gehen.«
Wenig später schritten wir Hand in Hand durch die nächtlichen Straßen. Wie der Krieg anfing, langsam alles zu verändern! Die Stadt machte einen völlig fremden, beinahe unheimlichen Eindruck. Eine Geisterszenerie, schwarz und düster. Nicht etwa, weil der Himmel heute bedeckt war, sondern wegen der fehlenden Lichter in den Fenstern. Wegen eines möglichen Fliegeralarms war Verdunkelung angeordnet worden, und überall hatten die Menschen schwarze Tücher vor die Fenster gehängt. Auch die gesamte Straßenbeleuchtung fehlte. Aus welchem Grund aber die Straßenbahnen hell erleuchtet wie riesenhafte Raupen an der weit entfernten Kreuzung auftauchten und vorüberkrochen, darauf konnten Elisabeth und ich uns keinen Reim machen.
Am Stachus setzten wir uns auf die Bank des offenen Trambahnhäuschens und warteten auf die Siebzehn.
»Was muss man denn machen, Simon, um im Krieg zurechtzukommen?«, fragte mich Elisabeth deprimiert. »Ich fühle mich so hilflos. Ich habe schreckliche Angst. Alles ist so unheimlich, und was wird da noch auf uns zukommen?«
»Ich weiß es nicht, Elisabeth«, sagte ich. »Ich glaube, Krieg ist eine Sache, auf die wir keinen Zugriff haben. Und an der wir nicht das Geringste ändern können. Wir haben ihn nicht gemacht. Wir müssen versuchen, unser Leben weiter zu leben. Bemühe dich einfach, ganz normal zu leben. Und sobald du Angst hast, rufst du mich an. Du hast ja meine Nummer.«
Elisabeth seufzte.
»Danke, du bist lieb. Ja, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Wir können nichts tun. Wir müssen das Ganze dem da oben überlassen. Das wolltest du doch sagen?«
»Ja, in etwa. Wenn du es so nennen willst und nicht unbedingt an den alten Mann mit Bart denkst. Jedenfalls kommt es mir so vor, als ob dort oben irgendetwas mit uns in Beziehung steht, um auf uns achtzugeben.«
***
Auch an einen Krieg gewöhnt man sich. Meiner lief ja außerordentlich sanft an. Ich saß bequem in meiner Rechnungskanzleistube, brauchte zu keinem Appell anzutreten, niemand kommandierte mich herum, niemand schrie mich an. Ich musste mir keinen Geschützdonner anhören oder in Granattrichtern herumkriechen. Auch mit meinen Formblättern kam ich jetzt prima zurecht. Ich hatte auf Anhieb kapiert, was mein Bankdirektor, Rekrut Berger, herausgefunden hatte.
Doch langsam begann der Krieg sein wahres Gesicht zu zeigen. Die erste kalte Dusche kam an einem Freitagvormittag, wenige Minuten nach neun. Vor mir auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon. Ich schrieb noch eine kurze Zahlenreihe zu Ende und hob ab. Aber niemand meldete sich. Ich rief ein paar Mal: »Hallo … hallo … ist da jemand?« Bekam aber keine Antwort. Eben wollte ich auflegen, als ich so etwas wie das verhaltene Wimmern eines Kleinkindes zu vernehmen glaubte. Ich rief nochmal in den Apparat, und nun hörte ich Elisabeths schwache Stimme, die »Paul« rief und laut zu schluchzen begann.
»Was ist denn los, Elisabeth?«, fragte ich beunruhigt. »Was ist mit Paul?«
»Mein Bruder ist tot.«
Ich konnte es nicht fassen. Ich fand kein Wort, das ich hätte sagen können. Dann rief ich: »Bist du bei deiner Tante?« Und als ihr Ja kam, setzte ich hinzu: »Bleib, wo du bist! Ich komme so schnell wie möglich!«
Ich schnallte mein Koppel um, setzte die Schirmmütze auf, schnappte mir irgendeinen Aktenordner und sagte zu Berger:
»Wenn jemand nach mir fragen sollte, sagst du, ich sei bei der Zahlmeisterei vom Regiment. Ich würde denen vorschlagen, die Strichlisten wieder einzuführen.«
Man fand so gut wie kein Taxi mehr, die Benzin-Rationalisierung war verordnet worden, und mit der Straßenbahn brauchte ich eine Dreiviertelstunde bis zu Elisabeths Tante. Die alte Dame hatte sich hingelegt, und Elisabeth führte mich ins Wohnzimmer, wo wir uns auf ein altes Plüschsofa setzten. Elisabeth weinte nicht mehr, aber sie schmiegte sich an mich, und ich hielt sie umschlungen. So saßen wir über zwei Stunden und schwiegen, oder redeten nur ein paar kurze Worte. Dabei erfuhr ich, dass sie und Paul Zwillinge gewesen waren, was ich nicht gewusst hatte, und was im Nachhinein die Sorge Pauls um seine Schwester und Elisabeths große Angst um ihren Bruder erklärte.
Gegen Mittag musste ich Elisabeth leider verlassen, um wieder in der Kaserne aufzutauchen. Aber gleich nach Dienstschluss fuhr ich erneut zu ihr. Am nächsten Tag konnte ich sie schon ab Mittag besuchen, weil Samstag war. Zusammen mit ihrer Tante setzten wir den Text für die Trauerkarten auf, und ich fuhr mit der Straßenbahn zu einer Druckerei, die ich kannte und bei der ich die fertigen Karten mit Trauerrand-Briefumschlägen schon um fünf Uhr abholen konnte. Anschließend kaufte ich auf dem nächsten Postamt noch fünfzig Briefmarken. So verbrachten wir den Abend mit Adressenschreiben, was Elisabeth und ihre Tante ein ganz klein wenig von ihrem Schmerz ablenkte.
Zwischendurch ging ich in ihre Küche, kochte eine Hafersuppe, stellte Kartoffeln auf und machte ein Omelett, weil die beiden Frauen den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen hatten. Die Nacht verbrachte ich auf dem Sofa, und am Morgen bereitete ich das Frühstück. Es war Sonntag. Um zehn gingen Elisabeth und ihre Tante zur Kirche, während ich ein Nickerchen machte.
Draußen vor dem Fenster zog sich ein grauer Tag dahin mit Nieselregen und leichtem Nebel. Ich stand den beiden Frauen bei so gut ich konnte und fühlte ihre Dankbarkeit, ohne dass viele Worte fielen. Am späten Nachmittag packte Elisabeth einen Koffer, und ich begleitete sie zum Bahnhof. Dort nahm sie den Zug nach Heilbronn, wo ihre Eltern wohnten.
Es vergingen zwei Wochen, in denen ich nichts von Elisabeth hörte. Der Polenfeldzug war inzwischen zu Ende gegangen, als ich einen zweiten Schock erlebte, die zweite kalte Dusche, die mir in meiner bequemen Schreibstube zeigte, dass wir Krieg hatten. Von einigen Besuchen bei meiner Großmutter abgesehen, ging ich fast überhaupt nicht mehr aus. Die Regina Bar machte keinen Spaß mehr, und wo sollte ich mich sonst herumtreiben?
Eines Morgens kam Peter Ruhstorfer mit einer Liste in der Hand in meine Schreibstube und sagte ernst:
»Du weißt schon, dass du gottverdammten Massel hast? Sieh dir mal diese Liste an!«
Er warf die drei Blätter auf meinen Scheibtisch, stellte sich ans Fenster, wandte mir den Rücken zu und klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen. Ich konnte mit dem Text dieser Blätter erst nicht viel anfangen, weil er nur Namen enthielt, hinter denen ein Kreuz stand.
»Was sind das für Leute?«, fragte ich. »Sind das welche, die in Polen gefallen sind?«
»Ja. Und zwar die von unserer Division. Die dritte Seite musst du lesen!«
Tatsächlich, da standen Namen von Kameraden unserer Kompanie! Plötzlich zuckte ich zusammen. Unteroffizier Kalz und alle elf Leute seines Trupps waren tot!
Ruhstorfer drehte sich um und sah, dass ich begriffen hatte.
»Du warst doch beim Kalz?«, sagte er. »Das war doch dein Trupp, oder nicht?«
Ich nickte und saß eine ganze Weile wie erschlagen da. Wenn ich mich damals nicht beim Appell auf die Frage »Wer kann Rad fahren?« gemeldet hätte, läge ich jetzt auf einem Heldenfriedhof.
»Komm, gehen wir in die Kantine und trinken wir einen«, meinte Peter Ruhstorfer, der mich aufmuntern wollte.
Eigenartigerweise war aber er es, der auf den Schreck einen Schnaps kippte. Ich trank nur eine Tasse Malzkaffee. Peter musste wieder zu seinen Fahrzeugen. Und ich ging in den Nebenraum der Kantine und setzte mich ans Klavier. Eine Zeit lang blickte ich gedankenversunken auf die weißen und schwarzen Tasten vor mir, ohne sie zu berühren. Ich dachte darüber nach, ob sich mein kurzes, aber nicht uninteressantes Leben überhaupt gelohnt hätte, wenn ich in Polen umgekommen wäre. Ich fragte mich, warum mich die geheimnisvollen Kräfte dort oben am Leben ließen. Hatte ich noch irgendetwas Besonderes zu erledigen?
Unwillkürlich begann ich die hübsche Melodie »Why Was I Born?« von Jerome Kern zu spielen, zu der Oscar Hammerstein folgende Lyrics geschrieben hatte, die mich immer eigenartig berührten:
Why was I born? Why am I living?
What do I get? What am I giving?
Why do I want a thing I don’t hope for?
What can I hope for?
I wish I knew.
Why do I try to draw you near me?
Why do I cry? You never hear me.
I’m a poor fool, but what can I do?
Why was I born to love you?
Das Lied hatte nicht nur einen schönen Text, sondern auch schöne Akkorde. Eigentlich war ich noch nie richtig verliebt gewesen. War dies eine so wichtige Angelegenheit, dass ich deshalb am Leben bleiben sollte? Oder gab es einen anderen Grund? Oder gar keinen Grund?
***