Thomas Mann
Frühe Erzählungen
1893–1912
FISCHER E-Books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Covergestaltung: Stefan Gelberg
Coverabbildung: © Archiv S. Fischer Verlag
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 2.1: Frühe Erzählungen (1893-1912), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, 2. Auflage. Frankfurt am Main 2008.
E-Book-Umsetzung: pagina GmbH, Tübingen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400310-8
Dem genialen Künstler, Hermann Bahr
Wie ich mir mechanisch eine neue Cigarette drehe und die braunen Stäubchen mit feinem Prickeln auf das weißgelbe Löschpapier der Schreibmappe niedertaumeln, will es mir unwahrscheinlich werden, daß ich noch wache. Und wie die feuchtwarme Abendluft, die durch das offene Fenster neben mir hereingeht, die Rauchwölkchen so seltsam formt und aus dem Bereich der grünbeschirmten Lampe ins Mattschwarze trägt, steht es mir fest, daß ich schon träume.
Da wird’s natürlich schon ganz arg; denn diese Meinung wirft der Phantasie die Zügel auf den Rücken. Hinter mir knackt heimlich neckend die Stuhllehne, daß es mir jäh wie hastiger Schauder durch alle Nerven fährt. Das stört mich ärgerlich in meinem tiefsinnigen Studium der bizarren Rauchschriftzeichen, die um mich irren, und über die einen Leitfaden zu verfassen, ich bereits fast entschlossen war.
Aber nun ist die Ruhe zum Teufel. Tolle Bewegung in allen Sinnen. Fiebrisch, nervös, wahnsinnig. Jeder Laut keift. Und mit all dem verwirrt steigt Vergessenes auf. Einst dem Sehsinn Eingeprägtes, das sich seltsam erneut; mit dem Fühlen dazu von damals.
Wie interessiert ich es bemerke, daß mein Blick sich gierig erweitert, als er die Stelle im Dunkel umfaßt! Jene Stelle, aus der sich lichte Plastik stets deutlicher hervorhebt. Wie er es einsaugt; eigentlich nur wähnt, aber doch selig. Und er empfängt immer mehr. Das heißt giebt sich immer mehr; macht sich immer mehr; zaubert sich immer mehr .... immer .... mehr.
Nun ist es da, ganz deutlich, ganz wie damals, das Bild, das Kunstwerk des Zufalls. Aufgetaucht aus Vergessenem, wiedergeschaffen, geformt, gemalt von der Phantasie, der fabelhaft talentvollen Künstlerin.
Nicht groß: klein. Auch kein Ganzes eigentlich, aber doch vollendet wie damals. Doch unendlich im Dunkel verschwimmend, nach allen Seiten. Ein All. Eine Welt. – Licht zittert darin und tiefe Stimmung. Aber kein Laut. Nichts dringt hinein von dem lachenden Lärm ringsum. Wohl nicht jetzt ringsum, aber damals.
Ganz unten blendet Dammast; quer zacken und runden und winden gewirkte Blätter und Blüten. Darauf durchsichtig hingeplattet und dann schlank ragend ein Krystallkelch, halb voll blassem Gold. Davor träumend hingestreckt eine Hand. Die Finger liegen lose um den Fuß des Kelches. Um den einen geschmiegt ein duffsilberner Reif. Blutend darauf ein Rubin.
Schon wo es nach dem zarten Gelenk im Formencrescendo Arm werden will, verschwimmt es im Ganzen. Ein süßes Rätsel. Träumerisch und regungslos ruht die Mädchenhand. Nur da, wo sich über ihr mattes Weiß weich eine hellblaue Ader schlängelt, pulsiert Leben, pocht Leidenschaft langsam und heftig. Und wie es meinen Blick fühlt, wird es rascher und rascher, wilder und wilder, bis es zum flehenden Zucken wird: Laß ab ....
Aber schwer und mit grausamer Wollust lastet mein Blick, wie damals. Lastet auf der Hand, in der bebend der Kampf mit der Liebe, der Sieg der Liebe pulsiert ..... wie damals ..... wie damals .....
Langsam löst sich vom Grunde des Kelches eine Perle und schwebt aufwärts. Wie sie in den Lichtbereich des Rubins kommt, flammt sie blutrot auf und erlischt jäh an der Oberfläche. Da will wie gestört alles schwinden, wie sehr der Blick sich müht, zeichnend die weichen Konturen aufzufrischen.
Nun ist es dahin; im Dunkel zerronnen. Ich atme tief – tief auf, denn ich bemerke, daß ich das vergessen hatte darüber. Wie damals auch. – – –
Wie ich mich müde zurücklehne zuckt Schmerz auf. Aber ich weiß es nun so sicher wie damals: Du liebtest mich doch .... Und das ist es, warum ich nun weinen kann.
Wir vier waren wieder ganz unter uns.
Der kleine Meysenberg machte diesmal den Wirt. In seinem Atelier soupierte es sich ganz charmant.
Das war ein seltsamer Raum, hergerichtet in einem einzigen Stile: bizarre Künstlerlaune. Etrurische und japanesische Vasen, spanische Fächer und Dolche, chinesische Schirme und italienische Mandolinen, afrikanische Muschelhörner und kleine antike Statuen, bunte Rokkoko-Nippes und wächserne Madonnen, alte Kupferstiche und Arbeiten aus Meysenbergs eigenem Pinsel, – das alles war im ganzen Raum auf Tischen, Etagèren, Konsolen und an den Wänden, welche überdies gleich dem Fußboden mit dicken orientalischen Teppichen und verblichenen gestickten Seidenstoffen bedeckt waren, in schreienden Zusammenstellungen arrangiert, welche gleichsam auf sich selbst mit Fingern wiesen.
Wir vier, das heißt der kleine, braunlockige, bewegliche Meysenberg, Laube, der blutjunge, blonde, idealistische Nationalökonom, welcher, wo er ging und stand, über die gewaltige Berechtigung der Frauenemanzipation dozierte, Dr. med. Selten und ich, – wir vier also hatten uns in der Mitte des Ateliers auf den allerverschiedensten Sitzvorrichtungen um den schweren Mahagonitisch gruppiert und sprachen seit geraumer Zeit dem vortrefflichen Menü zu, das der geniale Gastgeber für uns komponiert hatte. Mehr noch vielleicht den Weinen. Meysenberg ließ wieder mal was draufgehn.
Der Doktor saß in einem großen, altertümlich geschnitzten Kirchenstuhl, über den er sich beständig in seiner scharfen Weise lustig machte. Er war der Ironiker unter uns. Welterfahrung und -Verachtung in jeder seiner wegwerfenden Gesten. Er war der Älteste unter uns vieren. Wohl schon um die dreißig herum. Auch hatte er am meisten »gelebt«. »Wüscht!« sagte Meysenberg, »aber er ist amüsant.«
Man konnte dem Doktor das »Wüscht« in der That ein wenig ansehen. Seine Augen hatten einen gewissen verschwommenen Glanz, und das schwarze, kurzgeschnittene Kopfhaar wies am Wirbel bereits eine kleine Lichtung auf. Das Gesicht, welches in einen spitz zugeschnittenen Bart verlief, zeigte, von der Nase zu den Mundwinkeln hinablaufend, ein paar spöttische Züge, welche ihm manchmal sogar einen bitteren Nachdruck verleihen konnten. –
Beim Roquefort waren wir schon wieder mitten in den »tiefen Gesprächen«. Selten nannte es so, mit dem wegwerfenden Hohne eines Mannes, welcher es sich, wie er sagte, »längst zur einzigen Philosophie gemacht hat, dies von der betreffenden Regie da oben wenig umsichtig inscenierte Erdenleben völlig frag- und skrupellos zu genießen, um dann die Achseln zu zucken und zu fragen: »Besser nicht?«
Aber Laube, auf geschickten Umwegen richtig in sein Fahrwasser gekommen, war schon wieder ganz außer sich und gestikulierte von seinem tiefen Polsterstuhl aus verzweifelt in der Luft herum.
»Das ist es ja! Das ist es ja! Die schmachvolle soziale Stellung des Weibes (er sagte nie »Frau«, sondern immer »Weib«, weil sich das naturwissenschaftlicher machte) wurzelt in den Vorurteilen, den blöden Vorurteilen der Gesellschaft!«
»Prosit!« sprach Selten sehr sanft und mitleidig und goß ein Glas Rotwein hinunter.
Das nahm dem guten Jungen die letzte Ruhe.
»Ach Du! ach Du!« fuhr er in die Höhe, »Du alter Cyniker! Mit Dir ist ja nicht zu reden! Aber Ihr«, wandte er sich herausfordernd an Meysenberg und mich, »Ihr müßt mir recht geben! Ja oder nein?!«
Meysenberg schälte sich eine Orange.
»Halb und halb ganz gewiß!« sagte er mit Zuversicht.
»Nur weiter«, ermunterte ich den Redner. Er mußte sich wieder erst einmal auslassen, eher gab er doch keinen Frieden.
»In den blöden Vorurteilen und der bornierten Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sage ich! All die Kleinigkeiten – ach Gott, das ist ja lächerlich. Daß sie da nun Mädchengymnasien einrichten und Weiber als Telegraphistinnen oder so was anstellen, – was hat das zu sagen. Aber im Großen, im Großen! Welche Anschauungen! Etwa was das Erotische, das Sexuelle anbelangt, welche beschränkte Grausamkeit!«
»So«, sagte der Doktor ganz erleichtert und legte seine Serviette weg, »nun wird’s wenigstens amüsant.«
Laube würdigte ihn keines Blickes.
»Seht«, fuhr er eindringlich fort und winkte mit einem großen Dessertbonbon, den er hernach mit wichtiger Gebärde in den Mund schob, »seht, wenn zwei sich lieben und er führt das Mädchen ab, so bleibt er ein Ehrenmann nach wie vor, hat sogar ganz schneidig gehandelt, – verfluchter Kerl das! Aber das Weib ist die Verlorene, von der Gesellschaft Ausgestoßene, Vervehmte, die Gefallene. Ja, die Ge-fal-le-ne! Wo bleibt der moralische Halt solcher Anschauung?! Ist der Mann nicht gerade so gut gefallen? Ja, hat er nicht ehrlo-ser gehandelt als das Weib?! … Na, nun redet! Nun sagt was!«
Meysenberg sah nachdenklich dem Rauch seiner Cigarette nach.
»Eigentlich hast Du recht«, sagte er gutmütig.
Laube triumphierte über das ganze Gesicht.
»Hab’ ich? hab’ ich?« wiederholte er nur immer. »Wo ist die sittliche Berechtigung zu solchem Urteil?«
Ich sah Doktor Selten an. Er war ganz still geworden. Während er mit beiden Händen ein Brotkügelchen drehte, blickte er mit jenem bitteren Gesichtsausdruck schweigend vor sich nieder.
»Wollen aufstehen«, sagte er dann ruhig. »Ich will Euch eine Geschichte erzählen.« – –
Wir hatten den Speisetisch beiseite gerückt und es uns ganz hinten in dem mit Teppichen und kleinen Polstersesseln traulich hergerichteten Plauderwinkel bequem gemacht. Eine von der Decke niederhängende Ampel erfüllte den Raum mit einem bläulichen Dämmerlicht. Schon lagerte sich eine leise wogende Schicht Cigarettenrauch unter dem Plafond.
»Na, leg’ los«, sagte Meysenberg, indem er vier Gläschen mit seinem französischen Benediktiner füllte.
»Ja, ich will Euch die Geschichte gern einmal erzählen, weil wir doch so darauf gekommen sind«, sagte der Doktor, »gleich fix und fertig in Novellenform. Ihr wißt ja, daß ich mich einmal mit dergleichen beschäftigt habe.«
Ich konnte sein Gesicht nicht recht sehen. Er saß, ein Bein über das andere geschlagen, die Hände in den Seitentaschen seines Jacketts, zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte ruhig zu der blauen Ampel hinauf.
»Der Held meiner Geschichte«, begann er nach einer Weile, »hatte in seinem kleinen norddeutschen Heimatort das Gymnasium absolviert. Mit neunzehn oder zwanzig Jahren bezog er die Universität P., eine übermittelgroße Stadt Süddeutschlands.
Er war der vollendete »gute Kerl«. Kein Mensch konnte ihm böse sein. Lustig und gutmütig-verträglich war er gleich der Liebling aller seiner Kameraden. Er war ein hübscher, schlanker Junge mit weichen Gesichtszügen, munteren braunen Augen und zärtlich geschwungenen Lippen, über welchen der erste Bart zu sprossen begann. Wenn er, den hellen runden Hut auf den schwarzen Locken zurückgesetzt, die Hände in den Hosentaschen, durch die Straßen flanierte, neugierig um sich schauend, warfen ihm die Mädchen verliebte Blicke zu.
Dabei war er unschuldig, – rein am Leibe wie an der Seele. Er konnte mit Tilly von sich sagen, er habe noch keine Schlacht verloren und kein Weib berührt. Das erste, weil er noch keine Gelegenheit dazu gehabt hatte, und das zweite, weil er ebenfalls noch keine Gelegenheit dazu gehabt hatte. –
Kaum war er vierzehn Tage in P., als er sich natürlich verliebte. Nicht in eine Kellnerin, wie es das gewöhnliche ist, sondern in eine junge Schauspielerin, ein Fräulein Weltner, naive Liebhaberin am Goethe-Theater.
Man sieht zwar, wie der Dichter so treffend bemerkt, mit dem Trunk der Jugend im Leib – Helenen in jedem Weib; aber das Mädchen war wirklich hübsch. Kindlich zarte Gestalt, mattblondes Haar, fromme, lustige grau-blaue Augen, feines Näschen, unschuldig-süßer Mund und weiches, rundes Kinn.
Er verliebte sich zuerst in ihr Gesicht, dann in ihre Hände, dann in ihre Arme, welche er gelegentlich einer antiken Rolle entblößt sah, – und eines Tages liebte er sie ganz und gar. Auch ihre Seele, welche er noch gar nicht kannte.
Seine Liebe kostete ihn ein Heidengeld. Mindestens jeden zweiten Abend hatte er einen Parkettplatz im Goethe-Theater. Alle Augenblicke mußte er der Mama um Geld schreiben, wofür er die abenteuerlichsten Erklärungen ausheckte. Aber er log ja um ihretwillen. Das entschuldigte alles.
Als er wußte, daß er sie liebte, war das erste, daß er Gedichte machte. Die bekannte, deutsche »stille Lyrik«.
Damit saß er oft bis spät in die Nacht unter seinen Büchern. Nur die kleine Weckuhr auf seiner Kommode klapperte einförmig, und draußen verhallten hin und wieder einsame Schritte. – Ganz oben in der Brust, wo der Hals beginnt, saß ihm ein weicher, lauer, flüssiger Schmerz, welcher oft in die schweren Augen hinaufquellen wollte. Aber weil er sich schämte, wirklich zu weinen, so weinte er es nur in Worten auf das geduldige Papier hinunter.
Da sagte er es sich in weichen Versen, wehmütigen Klangfalls, wie sie so süß und lieblich sei und er so krank und müde, und wie eine große Unrast in seiner Seele sei, welche ins Vage trieb, weit–weit, wo unter lauter Rosen und Veilchen ein süßes Glück schlummerte, aber er war gefesselt …
Gewiß, es war lächerlich. Ein jeder würde lachen. Die Worte waren ja auch so dumm, so nichtssagend hilflos. Aber er liebte sie! Er liebte sie!
Gleich natürlich, nach dem Selbstgeständnis, schämte er sich. Es war ja eine so armselige, knieende Liebe, daß er nur still ihr Füßchen hätte küssen mögen, weil sie gar so lieblich, oder ihre weiße Hand, dann wollte er ja gerne sterben. An den Mund wagte er garnicht zu denken. – –
Als er einmal nachts erwachte, stellte er sich vor, wie sie nun wohl daläge, das liebe Haupt in den weißen Kissen, den süßen Mund ein wenig geöffnet, und die Hände, diese unbeschreiblichen Hände mit dem zartblauen Geäder auf der Decke gefaltet. Dann warf er sich plötzlich herum, drückte das Gesicht ins Kopfkissen und weinte lange in der Dunkelheit.
Damit war der Höhepunkt erreicht. Er war nun so weit, daß er keine Gedichte mehr machen und nicht mehr essen konnte. Er mied seine Bekannten, ging kaum noch aus und hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. Dabei arbeitete er gar nicht mehr und mochte auch nichts lesen. Er wollte nur immer so vor ihrem Bilde, das er sich längst gekauft, müde weiterdämmern, in Thränen und Liebe. – –
Eines Abends saß er mit seinem Freunde Rölling, mit dem er schon früher auf der Schule vertraut gewesen war, und der Mediziner war wie er, aber schon in höheren Semestern, bei einem beschaulichen Glase Bier in irgend einem Kneipenwinkel.
Da stellte Rölling plötzlich resolut seinen Maßkrug auf den Tisch.
»So, Kleiner; nun sag’ mal, was Dir eigentlich ist.«
»Mir?«
Aber dann gab er es doch auf und sprach sich aus, über sie und sich. –
Rölling wackelte mißlich mit dem Kopfe.
»Schlimm, Kleiner. Nichts zu machen. Bist nicht der erste. Völlig unnahbar. Lebte bislang bei ihrer Mutter. Die ist zwar seit einiger Zeit tot, aber trotzdem – durchaus nichts zu machen. Gräßlich anständiges Mädel.«
»Ja glaubtest Du denn, ich …«
»Na, ich glaubte, Du hofftest …«
»Ach Rölling! …«
»… Ah – a so. Pardon, nun komm’ ich erst ins Klare. So sentimentalisch hatte ich mir das ja gar nicht gedacht. – Also dann schick’ ihr ein Bouquet, schreib’ ihr dazu keusch und ehrfurchtsvoll, flehe um schriftliche Erlaubnis ihrerseits, ihr Deine Aufwartung machen zu dürfen, zum mündlichen Ausdruck Deiner Bewunderung.«
Er wurde ganz blaß und zitterte am ganzen Leibe.
»Aber … aber das geht ja nicht!«
»Warum nicht? Jeder Dienstmann geht für vierzig Pfennig.«
Er zitterte noch mehr.
»Herrgott, – wenn das möglich wäre!«
»Wo wohnt sie noch gleich?«
»Ich – weiß nicht.«
»Das weißt Du noch nicht mal?! Kellner. Das Adreßbuch.«
Rölling hatte es schnell gefunden.
»Gelt? Solange lebte sie in einer höheren Welt, nun wohnt sie auf einmal Heustraße 6a, dritte Etage; siehst Du, hier steht’s: Irma Weltner, Mitglied des Goethe-Theaters … Du, das ist übrigens eine scheußlich billige Gegend. So wird die Tugend belohnt.«
»Bitte, Rölling …!«
»Na ja, schon gut. Also das machst Du. Vielleicht darfst Du ihr mal die Hand küssen, – Gemütsmensch! Die drei Meter für den Parkettplatz wendest Du diesmal an das Bouquet. –«
»Ach Gott, was kümmert mich das lumpige Geld!«
»Es ist doch schön, von Sinnen zu sein!« deklamierte Rölling. – –
Am folgenden Vormittag schon ging ein rührend naiver Brief nebst einem wunderschönen Bouquet nach der Heustraße ab. – Wenn er eine Antwort von ihr erhielte, – irgend eine Antwort! Wie wollte er aufjubelnd die Zeilen küssen! – – –
Nach acht Tagen war die Klappe des Briefkastens an der Hausthür abgebrochen von dem vielen Öffnen und Schließen. Die Wirtin schimpfte.
Die Ränder unter seinen Augen waren noch tiefer geworden; er sah wirklich recht elend aus. Wenn er sich im Spiegel sah, erschrak er ordentlich; und dann weinte er vor Selbstmitleid.
»Du, Kleiner«, sagte Rölling eines Tages sehr entschieden, »das geht nicht so weiter. Du gerätst ja immer mehr in Dekadenz. Da muß etwas geschehn. Morgen gehst Du einfach zu ihr.«
Er machte seine kränkelnden Augen ganz groß.
»Einfach … zu ihr …«
»Ja.«
»Ach das geht ja nicht; sie hat es mir ja nicht erlaubt.«
»Das war ja überhaupt dumm mit dem Geschreibsel. Das hätten wir uns auch gleich denken können, daß sie Dir nicht unbekannterweise gleich schriftliche Avancen machen würde. Du mußt ein-fach zu ihr gehn. Du bist ja doch schon glückstrunken, wenn sie einmal Guten Tag zu Dir gesagt hat. Ein Scheusal bist Du ja auch nicht gerade. Sie wird Dich schon nicht ohne weiteres hinauswerfen. – Morgen gehst Du.«
Ihm war ganz schwindlich.
»Ich werde nicht können«, sagte er leise.
»Dann ist Dir nicht zu helfen!« Rölling wurde ärgerlich. »Dann mußt Du halt sehen, wie Du’s allein überwindest!« – – –
Nun kamen, wie draußen mit dem Mai der Winter ein letztes Ringen versuchte, Tage schweren Kampfes.
Aber als er dann eines Morgens aus tiefem Schlaf erwachte, nachdem er sie im Traum gesehen, und sein Fenster öffnete, da war es Frühling.
Der Himmel war licht – ganz lichtblau, wie in einem milden Lächeln, und die Luft hatte ein so süßes Gewürz.
Er fühlte, roch, schmeckte, sah und hörte den Frühling. Alle Sinne waren ganz Frühling. Und es war ihm, wie wenn der breite Sonnenstreif, der drüben über dem Hause lag, in zitternden Schwingungen bis in sein Herz flösse, klärend und stärkend.
Und dann küßte er stumm ihr Bild und zog ein reines Hemd an und seinen guten Anzug und rasierte sich die Stoppeln am Kinn und ging in die Heustraße. –
Es war eine seltsame Ruhe über ihn gekommen, vor der er fast erschrak. Aber sie blieb doch. Eine traumhafte Ruhe, als ob er es gar nicht selbst wäre, der da die Treppen hinaufging und nun vor der Thür stand und die Karte las: Irma Weltner – –
Da auf einmal durchfuhr es ihn, daß es ein Wahnsinn sei, und was er denn wollte, und daß er schnell umkehren müsse, bevor ihn jemand sähe.
Aber es war nur, wie wenn durch dieses letzte Aufstöhnen seiner Scheu der irre Zustand von vorhin endgültig abgeschüttelt sei, dann zog eine große, sichere, heitere Zuversicht in sein Gemüt, und während er bislang wie unter einem Druck gestanden, unter einer lastenden Notwendigkeit, wie in der Hypnose handelte er nun mit freiem, zielsicherem, jauchzendem Willen.
Es war ja Frühling! –
Die Glocke klapperte blechern durch die Etage. Ein Mädchen kam und öffnete.
»Das gnädige Fräulein zu Hause?« fragte er munter.
»Zu Hause – ja – aber wen darf ich …«
»Hier.«
Er gab ihr seine Karte, und während sie dieselbe forttrug, ging er mit einem übermütigen Lachen im Herzen einfach gleich hinterher. Als das Mädchen ihrer jungen Herrin die Karte überreichte, stand er auch schon im Zimmer, aufrecht, den Hut in der Hand.
Es war ein mäßig großer Raum mit einfachem, dunklem Ameublement.
Die junge Dame hatte sich von ihrem Platz am Fenster erhoben; ein Buch auf dem Tischchen neben ihr schien eben beiseite gelegt. Er hatte sie niemals so reizend gesehen, in keiner Rolle, wie in der Wirklichkeit. Das graue Kleid mit dunklerem Brusteinsatz, das ihre feine Gestalt umschloß, war von schlichter Eleganz. In dem blonden Gekraus über ihrer Stirn zitterte die Maisonne.
Sein Blut quirlte und rauschte vor Entzücken, und als sie nun einen erstaunten Blick auf seine Karte warf und dann einen erstaunteren auf ihn selbst, da brach, indem er zwei schnelle Schritte auf sie zu that, seine warme Sehnsucht in ein paar bangen, heftigen Worten hervor:
»Ach nein … böse dürfen Sie nicht sein!!«
»Was ist denn das für ein Überfall?« fragte sie belustigt.
»Aber ich mußte Ihnen doch, wenn Sie mir’s auch nicht erlaubt haben, ich mußte Ihnen doch einmal mündlich sagen, wie ich Sie bewundere, gnädiges Fräulein –« Sie deutete freundlich auf einen Sessel, und indem sie sich setzten, fuhr er etwas stockend fort: »Sehen Sie, – ich bin nun schon mal so einer, der immer gleich alles sagen muß und nicht nur so immer alles … alles mit sich herumtragen kann, und da bat ich denn … warum haben Sie mir eigentlich gar nicht geantwortet, gnädiges Fräulein?« unterbrach er sich treuherzig.
»Ja – ich kann Ihnen nicht sagen«, erwiderte sie lächelnd, »wie aufrichtig mich Ihre anerkennenden Worte und der schöne Strauß erfreut haben, aber … das ging doch nicht, daß ich da gleich so … ich konnte ja nicht wissen …«
»Nein, nein, das kann ich mir nun auch ganz gut denken, aber nicht wahr, jetzt sind Sie mir auch nicht böse, daß ich so ohne Erlaubnis …«
»Ach nein, wie kann ich wohl!«
»Sie sind erst seit ganz kurzer Zeit in P.?« fügte sie schnell hinzu, feinfühlig eine verlegene Pause verhütend.
»Doch schon etwa sechs bis sieben Wochen, gnädiges Fräulein.«
»So lange? Ich dachte, Sie hätten mich vor anderthalb Wochen zuerst spielen sehen, als ich Ihre freundlichen Zeilen erhielt?«
»Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein!! Ich hab’ Sie ja während der ganzen Zeit beinah jeden Abend gesehen! In allen Ihren Rollen!«
»Ja, warum sind Sie denn da nicht schon früher gekommen?« fragte sie harmlos erstaunt.
»Hätte ich schon früher kommen sollen –?« erwiderte er ganz kokett. Er fühlte sich so namenlos glücklich ihr gegenüber im Sessel, mit ihr in zutraulichem Gespräch, und so unfaßlich war ihm die Situation, daß er fast fürchtete, es möchte wieder wie sonst ein trauriges Erwachen dem süßen Traume folgen. So munter-behaglich war ihm zu Sinn, daß er fast ganz gemütlich ein Bein über das andere geschlagen hätte, und dann wieder so überschwenglich selig, daß er ihr am liebsten gleich aufjauchzend zu Füßen gesunken wäre … Das ist ja alles dumme Mimerei! ich habe dich ja so lieb … so lieb!! …
Sie wurde ein bißchen rot, lachte aber herzlich erheitert über seine lustige Replik.
»Pardon, – Sie mißverstehen mich. Ich sagte das allerdings etwas ungeschickt, aber Sie müssen nicht so schwer von Begriffen sein …«
»Ich werde mich bemühen, gnädiges Fräulein, von jetzt an – noch leichter von Begriffen zu sein …«
Er war vollkommen außer Rand und Band. Das erzählte er sich nach dieser Erwiderung gleich noch einmal. Da saß sie! Da saß sie! Und er bei ihr! Er raffte immer wieder all sein Bewußtsein zusammen, um sich zu zeigen, daß er es wirklich selbst war, und seine ungläubig-seligen Blicke glitten immer wieder über ihr Antlitz und ihre Gestalt … Ja, das war ihr mattblondes Haar, ihr süßer Mund, ihr weiches Kinn mit dieser leisen Neigung zur Doppelung, das war ihre helle Kinderstimme, ihre liebliche Sprache, welche jetzt außerhalb des Theaters den süddeutschen Dialekt ein wenig hervortreten ließ; das waren, wie sie nun noch einmal, ohne auf seine letzte Antwort weiter einzugehen, seine Karte vom Tische nahm, um von seinem Namen noch einmal des genaueren Kenntnis zu nehmen, – das waren ihre geliebten Hände, die er so oft im Traume geküßt, diese unbeschreiblichen Hände, und ihre Augen, die sich nun wieder auf ihn richteten – mit einem Ausdruck, dessen interessierte Freundlichkeit sich noch stetig steigerte! Und ihre Sprache galt wieder ihm, wie sie nun mit Fragen und Antworten das Plaudern fortsetzte, das sich, hin und wieder stockend, dann wieder mit Leichtigkeit von ihrer beider Herkunft über ihre Beschäftigungen und über Irma Weltners Rollen fortspann, deren »Auffassung« ihrerseits er natürlich unumschränkt belobte und bewunderte, obgleich eigentlich, wie sie selbst lachend abwehrte, blitzwenig daran »aufzufassen« war.
Es klang in ihrem lustigen Lachen immer eine kleine Theater-Note mit, wie wenn etwa der dicke Papa soeben einen Moserschen Witz ins Parkett dirigiert hätte; aber es entzückte ihn, wenn er dazu mit ganz naiv unverhüllter Innigkeit ihr Gesicht betrachtete, dermaßen, daß er mehrmals die Versuchung niederkämpfen mußte, ihr schnell zu Füßen zu sinken und ihr seine große, große Liebe ehrlich zu gestehen. –
Eine volle Stunde mochte vergangen sein, als er endlich ganz bestürzt auf seine Uhr blickte und sich eilig erhob.
»Aber wie lange halte ich Sie denn auf, Fräulein Weltner! Sie hätten mich längst fortschicken sollen! Sie sollten das doch allmählich wissen, daß einem die Zeit in Ihrer Nähe …«
Er machte es unwissentlich ganz geschickt. Er war schon fast ganz von der lauten Bewunderung des Mädchens als Künstlerin abgekommen; seine treuherzig vorgebrachten Komplimente wurden instinktiv immer mehr rein persönlicher Natur.
»Aber wie spät ist es denn? Warum wollen Sie denn schon gehen?« fragte sie mit einer betrübten Verwunderung, welche, wenn sie gespielt war, jedenfalls realistischer und überzeugender wirkte, als jemals auf der Bühne.
»Lieber Gott, ich habe Sie lange genug gelangweilt! Eine ganze Stunde!«
»Ach nein! Ist mir die Zeit schnell vergangen!« rief sie jetzt mit zweifellos aufrichtiger Verwunderung. »Schon eine Stunde!? Da muß ich mich allerdings beeilen, noch etwas von meiner neuen Rolle in den Kopf zu bekommen – für heute Abend – sind Sie im Theater heute Abend? – auf der Probe konnte ich noch gar nichts. Der Regisseur hätte mich beinahe geprügelt!«
»Wann darf ich ihn umbringen?« fragte er feierlich.
»Lieber heut’ als morgen!« lachte sie, indem sie ihm zum Abschied die Hand reichte.
Da beugte er sich mit aufwallender Leidenschaft nieder auf ihre Hand und preßte seine Lippen darauf in einem langen, unersättlichen Kusse, von dem er sich, wie es auch zur Besonnenheit in ihm mahnte, nicht trennen konnte, nicht trennen von dem süßen Duft dieser Hand, von diesem seligen Gefühlstaumel.
Sie zog ihre Hand etwas hastig zurück, und als er sie wieder anblickte, glaubte er auf ihrem Gesicht einen gewissen Ausdruck der Verwirrung zu bemerken, über den er wahrscheinlich sich hätte von Herzen freuen können, den er aber als Ärger über sein unschickliches Benehmen deutete, und über den er sich einen Moment schamvoll grämte.
»Meinen herzlichsten Dank, Fräulein Weltner«, sagte er schnell und in förmlicherer Weise als bisher, »für die große Freundlichkeit, die Sie mir erwiesen haben –«
»Ich bitte Sie; ich bin sehr erfreut, Sie kennen gelernt zu haben.«
»Und nicht wahr?« bat er nun wieder in seinem früheren treuherzigen Ton, »eine Bitte werden Sie mir auch nicht abschlagen, gnädiges Fräulein, nämlich – daß … ich einmal wiederkommen darf!«
»Natürlich! … das heißt … gewiß, – warum nicht!« Sie ward ein wenig verlegen. Seine Bitte schien nach dem seltsamen Handkusse etwas unzeitgemäß.
»Ich würde mich sehr freuen, wieder einmal mit Ihnen plaudern zu können«, fügte sie dann jedoch mit ruhiger Freundlichkeit hinzu und reichte ihm noch einmal die Hand.
»Tausend Dank!«
Noch eine kurze Verbeugung, dann war er draußen. Auf einmal wieder, als er sie nicht mehr sah, wie im Traum.
Aber dann fühlte er aufs neue die Wärme ihrer Hand in der seinen und auf seinen Lippen, dann wußte er wieder, daß es wirklich Wirklichkeit war, und daß seine »verwegenen«, seligen Träume wahr geworden. Und er taumelte wie betrunken die Treppe hinunter, seitwärts auf das Geländer gebeugt, welches sie so oft berührt haben mußte, und welches er küßte, mit jubelnden Küssen, – von oben bis unten. –
Unten, vor dem von der Straßenfront ein wenig zurückweichenden Hause, war ein kleiner Hof- oder gartenartiger Vorplatz, an dessen linker Seite ein Fliederbusch die ersten Blüten trieb. Da blieb er stehen und barg sein glühendes Gesicht in dem kühlen Gesträuch und trank lange, während sein Herz pochte, den jungen, zarten Duft.
Oh – o wie er sie liebte! – – –
Rölling und ein paar andere junge Leute waren schon eine Weile mit Essen fertig, als er das Restaurant betrat und sich erhitzt und mit einem flüchtigen Gruße zu ihnen setzte. Einige Minuten saß er ganz still und sah sie nur nach der Reihe mit einem überlegenen Lächeln an, als machte er sich im Geheimen über sie lustig, die so dasaßen und Cigaretten rauchten und garnichts wußten.
»Kinder!!« schrie er dann auf einmal, indem er sich über den Tisch beugte, »wißt Ihr was Neues? Ich bin glücklich!!«
»Aha?!« sagte Rölling und sah ihm sehr ausdrucksvoll ins Gesicht. Dann reichte er ihm mit einer feierlichen Bewegung über dem Tische die Hand.
»Meinen tiefgefühltesten Glückwunsch, Kleiner.«
»Wozu denn?«
»Was ist denn los?«
»Ja so, das wißt Ihr noch garnicht. Also es ist sein Geburtstag heute. Er feiert Geburtstag. Schaut ihn mal an; – ist er nicht ganz wie neugeboren?!«
»Nanu!«
»Donnerwetter!«
»Gratuliere!«
»Du, also da müßtest Du eigentlich …«
»Natürlich! – Kell-ner!« –
Man mußte ihm zugestehen, er wisse seinen Geburtstag zu feiern. – – – – –
Dann, nach mühevoll mit sehnender Ungeduld herunter gewarteten acht Tagen, wiederholte er seinen Besuch. Sie hatte es ihm ja erlaubt. All die exaltierten états d’âme, die das erste Mal die Liebesscheu in ihm wachgerufen, kamen da schon in Wegfall.
Nun, und dann sah und sprach er sie halt öfter. Sie erlaubte es ihm ja immer wieder aufs neue.
Sie plauderten ungezwungen miteinander, und ihr Verkehr wäre fast freundschaftlich zu nennen gewesen, hätte sich nicht hin und wieder plötzlich eine gewisse Verlegenheit und Befangenheit, etwas wie eine vage Ängstlichkeit bemerkbar gemacht, die sich gewöhnlich bei beiden gleichzeitig zeigte. Es konnte in solchen Momenten das Gespräch plötzlich stocken und in einem sekundenlangen, stummen Blick sich verlieren, der dann, gleich dem ersten Handkuß, den Anlaß dazu gab, den Verkehr in augenblicklich steiferer Form fortzusetzen. –
Einige Male durfte er sie nach der Vorstellung nach Hause begleiten. Welche Fülle von Glück bargen für ihn diese Frühlingsabende, wenn er an ihrer Seite durch die Straßen wanderte! Vor ihrer Hausthür dankte sie ihm dann herzlich für sein Bemühen, er küßte ihr die Hand und ging mit einer jubelnden Dankbarkeit im Herzen seines Weges.
An einem dieser Abende war es, als er sich nach dem Abschiede, schon einige Schritte von ihr entfernt, noch einmal umwandte. Da sah er, daß sie noch in der Thür stand und scheinbar am Boden etwas suchte. – Doch wollte es ihm dünken, als habe sie erst bei seiner schnellen Wendung plötzlich die Haltung des Suchens angenommen. – – –
»Gestern Abend habe ich Euch gesehen!« sagte Rölling einmal. »Kleiner, nimm den Ausdruck meiner Hochachtung. So weit hat’s wahrhaftig noch keiner mit ihr gebracht. Du bist ein Hauptkerl. Aber ein Schaf bist Du doch. Viel mehr Avancen kann sie Dir doch eigentlich gar nicht machen. Dieser notorische Tugendbold! Sie muß ja vollkommen in Dich verliebt sein! Daß Du da nun nicht mal frisch drauflos gehst!«
Er sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann begriff er und sagte: »Ach schweig!« –
Aber er zitterte.
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Dann reifte der Frühling. Schon gegen Ende dieses Mai reihte sich eine Anzahl heißer Tage, in denen kein Tropfen Regen fiel. Mit einem fahlen, dunstigen Blau starrte der Himmel auf die dürstende Erde hernieder, und die starre, grausame Hitze des Tages machte gegen Abend einer dumpfen, lastenden Schwüle Platz, die ein matter Luftzug nur desto fühlbarer machte.
An einem dieser Spätnachmittage strich unser braver Junge einsam in den hügeligen Anlagen vor der Stadt umher.
Es hatte ihn daheim nicht gelitten. Er war wieder krank; wieder trieb ihn diese durstige Sehnsucht, die er doch längst gestillt glaubte durch all das Glück. Aber nun mußte er wieder stöhnen. Nach ihr. – Was wollte er noch! – –
Von Rölling kam es, diesem Mephisto. Nur gutmütiger und weniger geistvoll.
Um dann die hohe Intuition –
ich darf nicht sagen wie zu schließen …
Er schüttelte mit einem Ächzen den Kopf und starrte weit hinaus in die Dämmerung.
Von Rölling kam es! – Oder der hatte es doch, als er ihn wieder bleich werden sah, zuerst in brutalen Worten genannt und nackt vor ihn hingestellt, was sonst noch von den Nebeln weicher, vager Melancholie umhüllt gewesen! – –
Und er wanderte immer weiter, in diesem müden und doch strebenden Schritt, in der Schwüle.
Und er konnte den Jasminbusch nicht finden, dessen Duft er schon immerfort empfand. Es konnte ja noch gar kein Jasmin blühen, aber er hatte doch immer diesen süßen, betäubenden Geruch, überall, so lange er draußen war. –
An einer Biegung des Weges, gelehnt an einen wallartigen Abhang, auf dem verstreute Bäume standen, war eine Bank. Da setzte er sich und sah geradeaus.
An der anderen Seite des Weges senkte sich bald der dürre Grasboden zum Fluß hinab, der träge vorüberglitt. Jenseits die Chaussee, schnurgerade, zwischen zwei Reihen Pappeln. Dort, mühselig den fahl-violetten Horizont entlang, schleppte sich einsam ein bäuerischer Wagen.
Er saß und starrte und wagte keine Bewegung, weil sonst auch nichts sich regte.
Und immer und immer dieser schwüle Jasmin!
Und auf der ganzen Welt diese dumpfe Last, diese lauwarme, brütende Stille, so durstig und lechzend. Er fühlte es, daß irgend eine Befreiung kommen mußte, irgendwoher eine Erlösung, eine stürmisch erquickende Befriedigung all dieses Durstes in ihm und der Natur …
Und dann sah er wieder das Mädchen vor sich, in dem hellen antiken Kostüm, und ihren schmalen, weißen Arm, der weich und kühl sein mußte –
Da stand er auf mit einem halben, vagen Entschluß und ging schneller und schneller den Weg zur Stadt. – – –
Als er stehen blieb mit einem unklaren Bewußtsein, am Ziele zu sein, schlug plötzlich ein großer Schreck in ihm empor.
Es war völlig Abend geworden. Alles war still und dunkel um ihn. Nur hin und wieder zeigte sich noch ein Mensch um diese Zeit in der noch vorstadtartigen Gegend. Unter vielen leis verschleierten Sternen stand der Mond am Himmel, beinahe voll. Ganz fern das phlegmatische Licht einer Gaslaterne.
Und er stand vor ihrem Hause. –
Nein, er hatte nicht hingehen wollen! aber es hatte in ihm gewollt, ohne daß er es wußte.
Und nun, wie er da stand und regungslos zum Monde empor sah, war es doch wohl richtig so, und sein Platz.
– Es war irgendwoher noch mehr Lichtschein da. –
Es kam von oben, aus dem dritten Stockwerk, aus ihrem Zimmer, wo ein Fenster offen stand. Sie war also nicht im Theater beschäftigt; sie war daheim und noch nicht zur Ruhe gegangen. –
Er weinte. Er lehnte am Zaun und weinte. Es war alles so traurig. Die Welt war so stumm und durstig, und der Mond war so blaß. –
Er weinte lange, weil er das eine Weile als die erdürstete Lösung und Erquickung und Befreiung empfand. Aber dann waren seine Augen trockener und heißer als zuvor.
Und diese dürre Beklommenheit preßte wieder seinen ganzen Leib, daß er stöhnen mußte, stöhnen nach – nach …
– Nachgeben – nachgeben. –
Nein! Nicht nachgeben, sondern selbst –!!
Er reckte sich. Seine Muskeln schwollen.
Aber dann spülte wieder ein stilles, laues Weh seine Kraft hinweg.
Doch lieber nur müde nachgeben.
Er drückte schwach auf den Hausthürgriff und ging langsam und schleppend die Treppen hinauf.
Das Dienstmädchen sah ihn doch etwas erstaunt an, zu dieser Stunde; aber das gnädige Fräulein sei daheim.
Sie meldete ihn nicht mehr; er öffnete gleich selbst nach kurzem Klopfen die Thür zu Irmas Wohnzimmer.
Er war sich keines Handelns bewußt. Er ging nicht zu der Thür, sondern er ließ sich gehen. Es war ihm, als habe er irgend einen Halt aus Schwäche fahren lassen, und als wiese ihn nun eine stille Notwendigkeit mit ernster, fast trauriger Gebärde dahin. Er fühlte, daß irgend ein selbständig überlegter Wille gegen diesen still-mächtigen Befehl sein Inneres nur in wehevollen Widerstreit versetzt hätte. Nachgeben – nachgeben; es würde das Richtige geschehn, das Notwendige. –
Auf sein Klopfen vernahm er ein leises Hüsteln, wie um die Kehle zum Sprechen herzurichten; dann klang ihr »Herein« müde und fragend.
Als er eintrat, saß sie an der Rückwand des Zimmers in der Sofaecke hinter dem runden Tisch im Halbdunkel; die Lampe brannte verhüllt am offenen Fenster auf der kleinen Servante. Sie blickte ihn nicht an, sondern, indem sie zu glauben schien, es sei das Mädchen, verharrte sie in ihrer müden Stellung, die eine Wange an das Rückenpolster geschmiegt.
»Guten Abend, Fräulein Weltner«, sagte er leise.
Da hob sie zusammenfahrend den Kopf und sah ihn einen Augenblick mit tiefer Erschrockenheit an.
Sie war bleich und ihre Augen waren gerötet. Ein still hingebender Ausdruck des Leides lag um ihren Mund, undeine namenlos sanfte Müdigkeit klagte in ihrem zu ihm emporgerichteten Blick und in dem Klang ihrer Stimme, als sie dann fragte:
»So spät noch?«
Da quoll es ihm in die Höhe, was er noch niemals empfunden, weil er noch niemals sich selbst vergessen hatte, ein warmes, inniges Weh, auf diesem süßen, süßen Antlitz, und in diesen geliebten Augen, welche als liebliches, heiteres Glück über seinem Leben geschwebt, den Schmerz zu sehen; ja, während er bisher nur immer Mitleid mit sich selbst empfunden hatte – ein tiefes, unendlich hingebendes Mitleid mit ihr.
Und dann blieb er so stehen wie er stand und fragte nur scheu und leise, aber sein Gefühl sprach in innigen Lauten mit:
»Warum haben Sie geweint, Fräulein Irma?«
Sie blickte stumm in ihren Schoß nieder, auf das weiße Tüchlein, das sie dort in der Hand zusammenpreßte.
Da trat er auf sie zu, und indem er sich neben ihr niedersetzte, nahm er ihre beiden schmalen, mattweißen Hände, welche kalt und feucht waren, und küßte zärtlich eine jede, und während ihm tief aus der Brust heiße Thränen in die Augen stiegen, wiederholte er mit bebender Stimme:
»Sie haben … ja geweint?«
Aber sie ließ den Kopf noch tiefer auf die Brust sinken, daß der leise Duft ihres Haares ihm entgegenhauchte, und während ihre Brust mit einem schweren, angstvollen, lautlosen Leiden rang, und ihre zarten Finger in den seinen zuckten, sah er, wie aus ihren langen, seidenen Wimpern zwei Thränen sich lösten, langsam und schwer.
Da preßte er ihre beiden Hände angstvoll an seine Brust und klagte laut auf vor verzweifeltem Wehgefühl, mit gewürgter Kehle:
»Ich kann das ja nicht … ansehn, daß Du weinst! ich halt’ das ja nicht aus!!«
Und sie hob ihr blasses Köpfchen zu ihm empor, daß sie sich in die Augen sehen konnten, tief, tief, bis in die Seele, und einander in diesem Blick sagen, daß sie sich lieb hatten. Und dann durchbrach ein jubelnd-erlösender, verzweifelt-seliger Liebesschrei die letzte Scheu, und während sich ihre jungen Leiber in aufbäumender Krampfspannung umschlangen, preßten sich ihre bebenden Lippen auf einander, und in den ersten, langen Kuß, um welchen die Welt versank, flutete durch das offene Fenster der Duft des Flieders hinein, der nun schwül und begehrlich geworden war.
Und er hob ihre zarte, fast überschlanke Gestalt vom Sitz empor, und sie stammelten einander in die offenen Lippen, wie sehr sie sich liebten.
Und dann machte es ihn seltsam erschauern, wie sie, die für seine Liebesscheu hohe Gottheit gewesen, vor der er sich stets schwach und ungeschickt und klein gefühlt, unter seinen Küssen zu wanken begann …
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Einmal in der Nacht erwachte er.
Das Mondlicht spielte in ihrem Haar, und ihre Hand ruhte auf seiner Brust.
Da sah er empor zu Gott und küßte ihre schlummernden Augen und war ein besserer Kerl als jemals.
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Ein stürmischer Gewitterregen war über Nacht niedergegangen. Die Natur war aus ihrem dumpfen Fieber erlöst. Die ganze Welt atmete einen erfrischten Duft.
In der kühlen Morgensonne zogen die Ulanen durch die Stadt, und die Leute standen vor den Thüren und rochen in die gute Luft und freuten sich.
Und wie er, seiner Wohnung zu, durch den verjüngten Frühling wanderte, eine träumerisch-selige Schlaffheit in den Gliedern, hätte er nur immer in den lichtblauen Himmel hineinjauchzen mögen – o du Süße – Süße – Süße – !!! – –
Dann, daheim an seinem Arbeitstisch, vor ihrem Bilde hielt er Einkehr und veranstaltete eine gewissenhafte Prüfung seines Inneren, was er gethan, und ob er nicht etwa bei allem Glück ein Lump sei. Das hätte ihn sehr geschmerzt.
Aber es war gut und schön.
Ihm war so glockenfeierlich im Gemüt, wie etwa bei seiner Konfirmation, und wie er hinausblickte in den zwitschernden Frühling und in den milde lächelnden Himmel, war es ihm wieder wie in der Nacht, als sähe er dem lieben Gott mit ernster, schweigender Dankbarkeit ins Angesicht, und seine Hände falteten sich, und mit inbrünstiger Zärtlichkeit flüsterte er ihren Namen als andächtiges Morgengebet in den Frühling hinaus. – – –
Rölling – nein, der sollte es nicht wissen. Es war ja ein ganz lieber Junge, aber er würde doch nur wieder seine Redensarten dazu machen und die Sache so – komisch behandeln. Aber wenn er einmal nach Hause käme, – ja, dann wollte er es abends einmal, wenn die Lampe summte, seiner Mama erzählen, – all – all sein Glück …
Und er versank wieder darin.
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Rölling wußte natürlich nach acht Tagen Bescheid.
»Kleiner!« sagte er, »denkst Du, ich bin blödsinnig? Ich weiß alles. Du könntest mir die Sache gern mal ein bißchen detailliert erzählen.«
»Ich weiß nicht, was Du sprichst. Wenn ich aber auch wüßte, was Du sprichst, würde ich nicht von dem sprechen, was Du weißt«, entgegnete er ernsthaft, indem er den Frager mit lehrhafter Miene und gestikulierendem Zeigefinger durch die geistvolle Verwickelung seines Satzes wies.
»Nun sehe einer! Ordentlich witzig wird der Kleine! Der reine Saphir! – Na, sei recht glücklich, mein Junge.«
»Das bin ich, Rölling!« sagte er ernst und fest und drückte mit Innigkeit des Freundes Hand.
Aber dem wurde es schon wieder zu sentimental.
»Du«, fragte er, »wird Irmachen nun nicht bald junge Frauen spielen? Kapotthütchen müssen ihr reizend stehen! – Übrigens – kann ich nicht Hausfreund werden?«
»Rölling, du bist unausstehlich!« – – – – – – – – – – – – – – – –
– Vielleicht plauderte Rölling. Vielleicht auch konnte die Angelegenheit unseres Helden, der dadurch seinen Bekannten und seinen bisherigen Gewohnheiten völlig entfremdet wurde, überhaupt nicht lange unbekannt bleiben. Man erzählte sich sehr bald in der Stadt, »die Weltner vom Goethe-Theater« habe ein »Verhältnis« mit einem blutjungen Studenten, und die Leute versicherten nun, an die Anständigkeit der »Person« ja auch niemals recht geglaubt zu haben. –
Ja, er war allem entfremdet. Um ihn her war die Welt versunken, und unter lauter rosa Wölkchen und Rokoko-Amoretten, welche geigten, schwebte er durch die Wochen – selig, selig, selig! Wenn er nur immer, während unmerklich die Stunden schwanden, zu ihren Füßen liegen konnte und hintüber geworfenen Kopfes ihr den Atem vom Munde trinken, – im übrigen war das ganze Leben aus, aus und vorbei. Jetzt gab es nur noch dies eine – eine, für das in den Büchern das schäbige Wort »Liebe« stand. –
Die erwähnte Position zu ihren Füßen war übrigens charakteristisch für das Verhältnis der beiden jungen Leute. Es zeigte sich darin sehr bald das ganze äußere gesellschaftliche Übergewicht der Frau von zwanzig Jahren über den Mann gleichen Alters. Er war immer derjenige, welcher in dem instinktiven Verlangen, ihr zu gefallen, sich in Worten und Bewegungen zusammennehmen mußte, um ihr richtig zu begegnen. Abgesehen von der völlig freien Hingabe der eigentlichen Liebesscenen war er es, der während ihres einfach gesellschaftlichen Verkehrs sich nicht ganz ungezwungen geben konnte und der völligen Ungeniertheit entbehrte. Er ließ sich, teils gewiß auch aus hingebender Liebe, mehr noch aber wohl, weil er der gesellschaftlich Kleinere, Schwächere war, wie ein Kind von ihr ausschelten, um dann de- und wehmütig um Verzeihung zu bitten, bis er wieder den Kopf in ihren Schoß schmiegen durfte und sie ihm liebkosend das Haar streichelte, – mit einer mütterlichen, fast mitleidigen Zärtlichkeit. Ja er blickte, zu ihren Füßen liegend, zu ihr empor, er kam und ging, wann sie es wünschte, er gehorchte jeder ihrer Launen, – und sie hatte Launen.
»Kleiner«, sagte Rölling, »ich glaube, Du stehst unter dem Pantoffel. Mir scheint, Du bist zu zahm für die wilde Ehe!«
»Rölling, Du bist ein Esel. Das weißt Du nicht. Das kennst Du nicht. Ich liebe sie. Das ist das Ganze. Ich liebe sie nicht bloß – so … so, sondern ich – liebe sie eben, ich … ach, das läßt sich ja gar nicht sagen …!!«
»Du bist halt ein fabelhaft guter Kerl«, sagte Rölling.
»Ach was, Unsinn!« – – –
Ach was, Unsinn! Diese dummen Redensarten von »Pantoffel« und »zu zahm« konnte auch wieder nur Rölling machen. Der verstand auch wirklich gar nichts davon. – Was war er selbst denn? Was war erwie