Thomas Mann
Der alte Fontane
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 14.1: Essays I (1893-1914), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Erstdruck dieses Textes in: Die Zukunft (Berlin), 19. Jg., Bd. 73, Nr. 1, 1. Oktober 1910, S. 1-21.
E-Book-Umsetzung: pagina GmbH, Tübingen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Hinweise zur Zitierfähigkeit dieser Ausgabe:
Die grauen Zahlen in geschweiften Klammern markieren jeweils den Beginn einer neuen, entsprechend paginierten Seite in der genannten Buchausgabe.
ISBN 978-3-10-400370-2
Ein neuer Band von Briefen Theodor Fontanes ist erschienen, – etwas ganz Entzückendes. Wir haben nun die beiden Bände der Familienbriefe und zwei mit Briefen an seine Freunde. Sind noch mehr da? Man soll sie herausgeben! Und zwar meine ich namentlich solche Äußerungen, die aus späten Tagen stammen, Briefe des alten Fontane; denn die des mittleren und jungen sind im Vergleich damit unbeträchtlich. Scheint es nicht, daß er alt, sehr alt werden mußte, um ganz er selbst zu werden? Wie es geborene Jünglinge giebt, die sich früh erfüllen und nicht reifen, geschweige denn altern, ohne sich selbst zu überleben, so gibt es offenbar Naturen, denen das Greisenalter das einzig gemäße ist, klassische Greise, sozusagen, berufen, die idealen Vorzüge dieser Lebensstufe, als Milde, Güte, Gerechtigkeit, Humor und verschlagene Weisheit, kurz, jene höhere Wiederkehr kindlicher Ungebundenheit und Unschuld, der Menschheit aufs vollkommenste vor Augen zu führen. Zu Diesen gehörte er; und es sieht aus, als habe er das gewußt und es eilig gehabt, alt zu werden, um recht lange alt zu sein. 1856, mit siebenunddreißig Jahren, schreibt er an seine Frau: »Daran, daß ich anfange, an Musik Gefallen zu finden, merk’ ich deutlich, daß ich alt werde. Musik und die schönen Linien einer Statue fangen an, mir wohlzuthun; die Sinne werden feiner, und die erste Regel des Genusses lautet: Nur keine Anstrengung! In der Jugend ist das Alles anders.« Dreiundzwanzig Jahre später schreibt er an seinen Verleger Hertz: »Ich fange erst an. Nichts liegt hinter mir, Alles vor mir, ein Glück und ein Pech zugleich. Auch ein Pech. Denn es ist nichts Angenehmes, mit Neunundfünfzig als ein ›ganz kleiner Doktor‹ dazustehen.« Vierzig Jahre später giebt er sein Meisterwerk …
{246}Man betrachte seine Bildnisse: das jugendliche im ersten Bande der Briefe an seine Freunde etwa neben der späten Profilaufnahme, die den Nachlaßband schmückt. Man vergleiche das blasse, kränklich-schwärmerische und ein Bischen fade Antlitz von dazumal mit dem prachtvollen, fest, gütig und fröhlich dreinschauenden Greisenhaupt, um dessen zahnlosen, weiß überbuschten Mund ein Lächeln rationalistischer Heiterkeit liegt, wie man es auf gewissen Altherren-Porträts des achtzehnten Jahrhunderts findet, – und man wird nicht zweifeln, wann dieser Mann und Geist auf seiner Höhe war, wann er in seiner persönlichen Vollkommenheit stand.
Dies Bild zeigt den Fontane der Werke und Briefe, den alten Briest, den alten Stechlin, es zeigt den unsterblichen Fontane. Der sterbliche, nach Allem, was man hört, war mangelhafter und hat die Leute wohl oft enttäuscht. Er ist Siebenzig, als er zu seiner Tochter von der Kraft und Frische spricht, die zum Vergnügen viel mehr noch als zum Arbeiten gehöre, und gesteht, daß die Frage: »Was soll der Unsinn?« ganz und gar von ihm Besitz zu nehmen drohe. Aber er bildet sich wohl nur ein, daß er jener Art Frische je recht eigentlich theilhaft gewesen ist, und er hat wohl nur vergessen, daß der mißmuthige Quietismus der »berühmten Frage« ihn mehr oder weniger zu allen Zeiten besessen hat. »Um sich hier zu amusiren«, schreibt er, siebenunddreißigjährig, aus Paris, »bedarf es gewisser guter und schlechter Eigenschaften, die ich beide nicht habe. Zunächst muß man Französisch können; und das ist eine große Tugend, die ich nicht habe. Außerdem muß man Libertin sein, Hazard spielen, Mädchen nachlaufen, Rendezvous verabreden, türkischen Tabak rauchen, das Billardqueue zu handhaben wissen und so weiter. Wer von Alledem nichts hat und weiß, der ist ein verlorenes Subjekt und thut gut, seine Koffer zu {247}packen, wenn er sich den Schwindel angesehen und seine Kunstvisiten im Louvre und in Versailles beendet hat.« Das ist eine etwas grämliche Äußerung für einen Mann in der Blüthe der Jahre, der zum erstenmal Paris auf sich wirken läßt. Aber es ist die Äußerung einer geistig beladenen, von der Verpflichtung zur Produktion absorbierten Existenz, die sich zum Vergnügen nothwendig übellaunig und widerwillig verhält; und es ist namentlich die Äußerung einer zwar dauerhaften und zu späten Meisterleistungen bestimmten, aber nervös gequälten Konstitution, für welche die Jugend kein angemessener Zustand war und die zur Harmonie eigentlich erst im Alter gelangen konnte, wo weder wir selbst noch die anderen »Frische« von uns verlangen, und wo die Frage: »Was soll der Unsinn?« zu einer natürlichen, menschlich erlaubten und darum sympathischen Grundstimmung wird.
{248}